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Das Jenseits kann vieles sein: Das Jenseits nach dem Tod, die Landschaft jenseits eines breiten Flusses, eine andere Zeitepoche oder eine ganz andere Welt, die heil, harmonisch und spirituell ist. Dieser Roman handelt von einer inneren Forschungsreise in andere Dimensionen der Wirklichkeit. Das Buch behandelt verschiedene Sichtweisen vom Jenseits: philosophische, buddhistische, christliche, schamanische, naturreligiöse u.a. Am Ende des Romans werden ein paar spirituelle Methoden genannt, wie man mit dem Jenseits in Kontakt kommen kann. Vor allem geht es aber im Roman um Gefühle der Sehnsucht und um Träume von einer anderen Wirklichkeit. Das wird nicht zuletzt durch die Illustrationen (Fotos, Zeichnungen, Gemälde) ausgedrückt.
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Seitenzahl: 227
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Vorwort
Jenseits der Zeit und des Meeres
Jenseits der Elbe
Jenseits des Hügels
Anteil an der geistigen Welt
Vorgeschichte, Griechenland
Die transzendente Welt
Das Moor und das Jenseits
Shunyata
Heide-Land
Der Traum, die Musik und die Gegenwelt
Die Kultstätte Lübbensteine bei Helmstedt
Das Lager im Wald
Tahiti – Träume von der Südsee
Der Weg der Studien
Die Pyramiden und die Gräber der Ägypter
Märchenwelt und Himmelswelt
Kunst, Spiritualität und das Jenseits
Träume und Techniken
Das Jenseits auf den Bergen
Dieser spirituelle Roman ist eine Art Forschungsreise zum Thema des Jenseits, der anderen Welt und Wirklichkeit.
Will man sie ganzheitlich verstehen, dann muss man mitreisen, nicht nur lesen, sondern auch Rituale machen, meditieren, in der Natur wandern und forschen, alte Kultstätten besuchen und vieles mehr.
Der Protagonist der Geschichte ist Thor, der für den kritischen, forschenden Menschen schlechthin steht.
Er führt Gespräche mit realen Menschen und fiktiven Wesen, die ihm in Visionen erscheinen. Sophie steht für das Wissen und die Philosophie, Heidrun für das reale, naturverbundene Leben und eine moderne Naturspiritualität, Schwester Mechthild für den christlich-mystischen Weg. Wodan repräsentiert die alte, prähistorische Spiritualität.
Das Buch behandelt verschiedene Sichtweisen vom Jenseits: philosophische, buddhistische, christliche, schamanische, naturreligiöse u.a.
Am Ende des Romans werden ein paar spirituelle Methoden genannt, wie man mit dem Jenseits in Kontakt kommen kann.
Vor allem geht es aber im Roman um Gefühle der Sehnsucht und um Träume von einer anderen Wirklichkeit. Das wird nicht zuletzt durch die Illustrationen (Fotos, Zeichnungen, Gemälde) ausgedrückt.
Wolf E. Matzker, Oktober 2021
Immer wieder musste er an seinen Vater denken, der schon lange tot war. Schon lange im JENSEITS weilte, wenn man das so sagen konnte. Immer mal wieder musste er an den Fluss Suscha denken, einen Nebenfluss der Oka, wo sein Vater als Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen war.
Im Internet und in seinen Atlanten suchte Thor nach dem Fluss, aber es war nicht leicht, den kleinen Nebenfluss zu finden. War sein Vater bei Mzensk gewesen, als Soldat der Heeresgruppe Mitte? Bei Wikipedia fand er einen kurzen Artikel über den Fluss, der natürlich nichts über das Jenseits aussagte – wie auch? In Mzensk gibt es eine Himmelfahrtskirche – ob sein Vater sie gesehen hatte? Thor schaute auf das Foto bei Wikipedia.
Dass man Grenzen nicht überschreiten konnte, die der Zeit, die zur anderen Seite, das fand Thor bedauerlich. Im Gegensatz zu den normalen Menschen machte er sich darüber immer wieder seine Gedanken.
Ob man jetzt und heute einfach nach Russland fahren konnte? Vermutlich nicht. Thor konnte kein Russisch. Ohne die Sprache stößt man an eine nicht zu überwindende Grenze. Ins Jenseits konnte man nicht telefonieren. Er konnte nichts nachfragen. Die Aufzeichnungen seines Vaters waren nicht ausführlich genug. Thors Vater war damals im Dezember 1941 bis Yefremov gekommen, aber sie mussten den Ort schon im Dezember wieder verlassen, wurden von der Roten Armee zurückgeschlagen. Ob er damals gedacht hatte, dass damit der Barbarossa-Traum vorbei war? Ausgeträumt? Auf dem Rückzug zündeten sie dann russische Bauernhäuser an. Aus Wut? Bei Minus dreißig Grad. Was ist aus all den Menschen geworden? Gab es für sie ein stilles Jenseits?
Später fanden sie Quartier in russischen Dörfern, westlich von Yeremov. Vysokino, so steht es heute auf der Karte. Sein Vater hatte es anders geschrieben. Er hatte sich dort mit einer Lydia angefreundet. In welchem Jenseits war sie gelandet? Oder wurde sie von russischen Soldaten einfach nur erschossen, wegen Kollaboration mit dem Feind?
Gibt es ein schönes Jenseits, warm und freundlich, oder sieht es nur wie ein verbranntes Bauernhaus aus und stinkt bestialisch nach verbranntem Menschenfleisch?
Es stellte sich ohnehin die Frage, was er heute in Russland herausfinden könnte, und ob das erhellend sein könnte. Vielleicht sollte er besser alles ruhen lassen. Vergangen ist eben vergangen.
Aber ist es wirklich vergangen?
Ist wirklich alles ausgelöscht, was einmal erlebt wurde, ist alles vollständig ausgelöscht? Könnte er in Russland Spuren finden? Könnte er sich erinnern, als Stellvertreter seines Vaters sozusagen? Hat ihm sein Vater gewisse Erfahrungen vererbt? Die Angst vor schneller Auslöschung, einfach so, ohne tieferen Sinn, ohne Bedeutung?
Die GROSSE NATUR lässt entstehen und zerstört es wieder, immer wieder, seit ewigen Zeiten ist das ihr Spiel.
Thor stellte sich selbst die Frage, warum ihn das alles überhaupt interessierte, jetzt, nach so vielen Jahrzehnten.
Er schaute sich die Karten an, wie weit die Wehrmacht 1941 gekommen war. Jenseits des Dnjepr, ein 2201 km langer Strom, der von Norden durch Kiew ins Schwarze Meer fließt, jenseits der Oka, ein 1480 km langer Fluss, der zur Wolga fließt. Bis zum 1870 km langen Don waren sie nicht gekommen, schon gar nicht jenseits des Don, noch weniger jenseits der 3530 km langen Wolga.
Die Elbe ist 1094 km lang. Der Rhein 1232 km. Die Donau 2857 km. Aber sie fließen nur zum Teil durch Deutschland. Es gibt keinen langen Fluss, der vollständig durch Deutschland fließt. 727 km fließt die Elbe durch dieses Land.
Wenn man sich die Zahlen bewusst macht, dann wird einem der Unterschied zum eigenen Land deutlich. Ein kleines Land, und das noch seit ewigen Zeiten zersplittert in kleinste Regionen. Jede hat eine Burg, jede einen Fürsten.
Irgendwie hat sich Deutschland schon immer überschätzt. Ein Land der Größenwahnsinnigen? Man wollte immer größer sein, als man tatsächlich war. Man bildete sich etwas ein. Manchmal war man auch ganz gut, aber nie immer, niemals auf jedem Gebiet. Und der Krieg war eine gigantische Selbstüberschätzung, mal abgesehen von all den Verbrechen.
Über das Anzünden von russischen Bauernhäusern hatte er mal mit seinem Vater gesprochen. Seine Erklärung, dass die Russen keine Möglichkeit für Quartiere haben sollten, fand er nicht einleuchtend. Für Thor war es ein Verbrechen, ein sinnloses, weil es militärisch gesehen keinen Nutzen hatte. Es wurden nur Bauernhäuser verbrannt und die Menschen in ein eiskaltes Jenseits geschickt.
Was hatten die Russen für Vorstellungen vom Jenseits? Waren diese anders als die der Deutschen, schließlich hatten sie ein großes und sehr weites Land? Landschaft und Klima prägen die Menschen. Haben sie schon immer geprägt. Heute sind viele so verkopft und abstrakt und fern von der ursprünglichen Natur, dass sie es nicht merken und sich auch nicht weiter damit befassen wollen.
Thor schaute sich Fotos von russischen Kirchen an. Sie hatten einen anderen Stil als die Kirchen in Deutschland. Auffallend waren die Farben, blau und grün, sogar türkis, und die vielen goldenen Zwiebelkuppeln. Hatte sein Vater irgendeine der Kirchen besucht, damals? Vermutlich nicht. Es ging wohl nur ums nackte Überleben im Winter 41-42. Später hatte sein Vater nie von den russischen Kirchen und der Religiösität der Russen gesprochen, schon gar nicht von den Jenseitsvorstellungen der Russen. Inwieweit sein Vater von der total verzerrten Sicht der Nazis, was die Russen betrifft, geprägt war, konnte Thor nicht sagen.
Wenn man lebt, dann ist man da, wenn man tot ist, ist man weg. Die meisten denken nicht mehr als das. Das ist ihre pauschale Abwehr von irgendwelchen Gedanken ans Jenseits. Sie wollen damit nichts zu tun haben.
Für Thor dokumentierte sich in den russischen Kirchen eine tiefe Sehnsucht nach einer ganz anderen, jenseitigen Welt, jenseits von Elend, Leiden und Krieg.
Man könnte sich lange mit den russischen Kirchen befassen und mit der Ikonenmalerei. Was bewirkt die Architektur und die Malerei beim Betrachter? Welche Geistesstimmungen werden gefördert? Auch in Deutschland stehen russische Kirche, z.B. in der Nähe von Gifthorn oder in Darmstadt.
Die Ästhetik der russischen sakralen Kunst bewirkt bestimmte Gefühle in der Seele, für die es nur leider keine Worte gibt. Man muss sie sehen und wirken lassen. Die deutschen Adjektive, helfen sie uns? Magisch, mystisch, träumerisch, geheimnisvoll, zauberhaft, wunderbar, verspielt, märchenhaft?
Die Architektur der NS-Zeit gilt allgemein als monumental. Es sollten Bauten der Macht und der Einschüchterung sein. Im Grunde sind sie unmenschlich, Bauten für die Toten. Man schaue sie sich genau an. Ordnungsämter. Finanzämter.
Der Plan für Berlin war ein Plan für eine Nekropole. Was Thors Vater damals gedacht hatte, wusste er nicht. Vielleicht hatte er das Olympia-Station oder die Gebäude am Tempelhofer Flughafen bewundert. Bauten für eine neue, große Zeit.
Die russischen Kirchen zeigten Thor einen anderen Geist. Die Kirchen waren Träume vom Himmel, vom Himmelsreich. Verspielte Schlösser in den Wolken. Transzendente Träume. Verglichen mit den NS-Bauten waren sie unirdisch, nicht materiell und bombastisch, strebten ins Unirdische, Jenseitige, in den blauen Himmel des freien Geistes.
Thor erinnerte sich an den Gegensatz zwischen der monumentalen Kirche, der Trutzburg Münsterschwarzach und der kleinen, neugotischen Kirche bei dem kleinen Ort Bischwind, die etwas Verspieltes und Träumerisches hatte, im Inneren, von außen war sie eher durchschnittlich.
Im Inneren der russischen Kirchen gibt es viele Bilder. Ikonen, heilige Bilder, Bilder von Heiligen, Darstellungen des Heiligen mit viel Gold. Das Heilige als eine gänzlich andere Welt. Keine normalen Menschen, sondern eben heilige Wesen, die man darstellen wollte. Wesen des Geistes und der Güte.
Hat der Mensch des Ostens ein tieferes Verhältnis zum Heiligen, zur Dimension des Heiligen? Im Westen, in Europa wollte man realistischer sein. Heute ist man so realistisch und materiell ausgerichtet, dass man das Heilige wohl eher verloren hat. Mancher mag die vielen Ikonen als überladen oder „kitschig“ empfinden, aber das ist vielleicht nur eine psychische Abwehr, weil man nichts Heiliges mehr will. Das Leben soll normal sein, materiell, alltäglich.
Wohin geht die Sehnsucht?
*
Jenseits der A2, jenseits der Aller befindet sich das Mühlenmuseum. Auf dem Gelände steht eine russische Kirche, jenseits des Baches, jenseits des Grabens, der das Gelände umzieht.
Russische Kirche bei Gifhorn, mit Jesus-Bildnis
Jenseits des Baches die russische Kirche aus Holz Sehnsucht nach einer spirituellen Welt
Russische Kirche bei Gifhorn, mit Marienbildnis
Hast du damals russische Kirchen besucht?, wollte Thor von seinem Vater wissen.
Nein, natürlich nicht. Es war Krieg. Wir hatten genug mit unseren militärischen Aufgaben zu tun.
Also mit dem Kampf gegen die Russen.
Ja, sicher. Und der Tod, das Jenseits, hat dich das beschäftigt?
Nicht viel. Der Tod war immer dabei. Das war schlimm, aber nicht zu ändern, schließlich war Krieg. Entweder man tötet – oder man wird selbst getötet.
Und danach?
Nichts. Man war einfach weg. Erschossen, verbrannt, von einer Granate zerfetzt.
Also wart ihr Nihilisten. Es gab nichts Höheres, keinen Gott, nichts.
Wir haben keinen Gott gesehen. Es griff niemand ein. Auf der einen Seite wir, auf der anderen die Russen. Man glaubte oder hoffte, dass man zu den Überlebenden gehören würde, aber sicher konnte keiner sein. Es konnte jeden zu jeder Zeit treffen. Es war eben unberechenbar.
Schrecklich.
Ja. Man lebt nur für den Tag. Heute ist heute, morgen, wer weiß das schon. Wir glaubten noch an einen Sieg, auch wenn wir Ende 41 einen Dämpfer bekommen hatten. Wir mussten siegen. Wir glaubten noch an unsere Kraft.
Und du, dass du überleben würdest.
Irgendwie schon. Es lag nicht in meiner Hand. Jeder Soldat war nur Teil einer großen Maschine, eben der Wehrmacht. Dass alles so erbärmlich enden würde, hätte Ende 41 oder 42 keiner von uns gedacht.
Thor wollte das fiktive Gespräch nicht weiter führen. Es würde nichts bringen. Sein Vater war nicht religiös, höchstens sehr schwach und oberflächlich, wie so viele, die sagen, dass sie an Gott glauben würden, aber es nicht genauer erklären können. Es war nur eine Selbstberuhigungsfloskel. Vielleicht haben sie im Krieg nur gedacht: wird schon, muss ja, irgendwie, irgendwie wird das schon.
Früher wurde das JENSEITS belächelt oder strikt abgelehnt. Auch Thor lehnte es ab, in seiner Jugend, als er noch für die Weltrevolution im Sinne von Che Guevara war, und erwartete eine gute und harmonische Welt, was sie aber nicht war – und wohl auch niemals werden würde.
Heute sah er es anders. Die Welt war krank, sehr krank. Vielleicht würde sie untergehen, dachte er, wenn er die Bäume betrachtete, die in den Dürrejahren verstorben waren. Die ganze Umwelt, überall sah er das Kranke, das Gestörte.
Thor hatte eine Freundin besucht, die wegen ihrer Panik- und Angstattacken in die Psychiatrie gekommen war. Er versuchte ihr ein wenig spirituelle Heilung zu geben, was schon allein deshalb nicht leicht war, weil die Umgebung der Klinik katastrophal war und man keinen guten und passenden Platz finden konnte, nur eine Holzbank neben einem Weg, der an Kleingärten entlang führte. Da der universelle Geist überall war, überall wirksam sein konnte, musste es eben auch so gehen.
Was bleibt einem, fragte sich Thor, wenn die ganze Welt krank ist? Eigentlich nur der Traum von einem Jenseits. Einem geistigen Reich.
Die Psychologen hatten ihre mentalen, verkopften Programme, dachte er. Wie wollen sie damit eine Seele heilen? Wie wollen sie damit eine Seele zurückholen? Er war kein Heiler, wollte auch nie einer sein. Er spürte keine großen Kräfte in sich und bildete sich noch weniger ein. Er wollte nur ein wenig helfen, nicht mehr, nur das.
Schon länger kreisten Thors Gedanken um das JENSEITS. Hier auf Erden war es eher vorbei. Der Mensch hatte es vermasselt, genauer: seine unersättliche Gier, seine Wut, sein Zorn, seine Aggression. Die Klimakatastrophe würde den Menschen abschaffen, davon war er überzeugt. Es gab keine Chance mehr. Sie war verspielt worden.
Das JENSEITS ist eine Art Gegenwelt, Gegenentwurf zum dunklen Universum. Dieses Universum erschien ihm mehr und mehr wie ein dunkles, beherrscht und geprägt von dunklen Kräften, die sich an Zerstörung und Tod erfreuten. Auslöschung und Vernichtung, das waren ihre Ziele und Werte, aber nicht die Erleuchtung und die Erlösung.
So wie er eine harmonische Welt auf der realen Ebene wünschte, so wollte er eine Erlösung im geistigen Bereich. Aber keine Zwänge durch Muster, durch Programme, durch Manipulation aller Art.
Alle Menschensysteme waren Manipulationssysteme. Sie wollten Sklaven, keine freien Wesen, keine freien Seelen. Wenn die Welt ein Gefängnis ist, kann man nur vom JENSEITS träumen. Thor war ein Träumer. Er träumte vom JENSEITS.
*
Immer wenn Thor am Meer war, träumte er von dem, was jenseits des Meeres war.
Vielleicht hatte sein Namensvetter, Thor Heyerdal, auch immer davon geträumt. Was ist hinter dem Meer? Wie komme ich an die andere Seite? Geographisch gesehen, aber es war und ist auch immer viel mehr als ein geographisches Ziel. Heyerdal hatte große Träume, große Pläne gehabt. Und sie umgesetzt. Das Jenseits gefunden, vielleicht schon auf Fatu Hiva. Jenseitiger geht es auf der Erde gar nicht, ganz auf der anderen Seite des Globus, in der Südsee, die aber leider kein Paradies war, wie man in seinem großartigen Buch nachlesen kann.
Er würde über kein Meer segeln. Er stand nur am Strand, Thor Hansen, er war ein malender Träumer wie Emil Hansen, der nordische Maler. Seine Heimat war Friesland, nicht Nordfriesland, das an Dänemark grenzte. Über Emil Hansen hatten sie seit einigen Jahren negative Urteile in die Welt posaunt. Das war ihnen wichtig, weniger sein Traum der Farben. Vielleicht verstanden sie den rauschhaften Farbtraum auch nicht wirklich, sondern nur dumme politische Gesinnungen. Thor war das irgendwie egal. Er schätzte Emil Hansen als starken Maler und würde ihn immer schätzen.
Das Unendliche malen. Das Ewige, den Rausch, den Traum. Wer vom Jenseits träumt, will fort sein, will weg sein, raus aus einer beschränkten, zu engen Welt. Thor wollte das schon immer. Ihm war immer alles zu eng, zu beschränkt gewesen. Das Elternhaus. Die Schule. Die Gesellschaft sowieso. Die Zeit, in der er lebte.
Am Strand von Friesland konnte man von Helgoland träumen. Oder von Norwegen. Oder noch weiter von Spitzbergen.
Wenn man am Meer ist, dann träumt man vielleicht eher von jenseitigen Welten. Der Traum geht in die Ferne, geht ins Licht, geht vielleicht sogar bis ins Innerste des Universums.
Man selbst nur ein kleines Wesen, ein wenig vor Stürmen und dem Wasser geschützt, ein wenig nur. Alles ist unsicher. Selbst das Feuer des Universums ist unsicher.
Wenn man sich auf dem Grenzland zwischen dem höheren Festland und dem Meer befindet, dann ist man schon im Jenseits, irgendwie, dachte Thor. Irgendwie ist man nicht mehr in der Welt. Er hatte dies Gefühl schon immer gehabt, wenn er im Grenzland unterwegs war.
Der Traum vom Jenseits ist immer auch eine Art von Rausch. Der Rausch der Farben ist dem westlichen Menschen eher fremd. Er kann ihn nur als reine Ästhetik akzeptieren, aber ihn leben, ihn selbst erfahren, das doch eher nicht.
Für Thor war der Traum vom Jenseits nicht farblos, nicht grau, nicht schwarz, sondern sehr farbig. Das Land, das Meer, der Himmel, alles war entgrenzt.
Das JENSEITS findet sich jenseits der Grenzen.
*
So paradox es sich anhören mag, das Jenseits ist bereits hier, ist bereits sichtbar, fühlbar, spürbar. Wenn Thor am Meer stand und hinaus blickte, dann spürte er das Jenseits.
Der Materialismus mit seiner Gier und Sucht war gescheitert, auch wenn das noch keiner wirklich wahrhaben wollte. Man glaubte noch, weiter herumtricksen zu können, die Natur, das Meer weiter ausbeuten zu können, bildete sich hier und da ein, man wäre jetzt nachhaltig, was man jedoch nicht wirklich war. Der Untergang würde kommen. Und es war für Thor gut, dass er kam. Ein paar Heuschrecken sind schön. Aber ein Heuschreckenschwarm ist eine Katastrophe, wie man in Ostafrika sehen kann.
Das JENSEITS, wie sieht es aus?
Mancher kommt gleich mit den üblichen Einwänden, dass man das nicht genau wisse, dass jede Kultur ihre Vorstellung gehabt habe, das sowieso alles relativ sei. Thor interessierten nicht die Einwände, sondern die Möglichkeiten. Vorstellungen kann man auch leben. Shangri-La muss nicht wirklich existieren, die reine Vorstellung von einem Reich des Geistes kann einem schon sehr viel geben. Wer es unbedingt ganz real will, der ist vom Materialismus geprägt, der immer alles ganz real, messbar, sichtbar, greifbar haben will, aber nicht gemerkt hat, dass er dem Phantom des endlosen Wachstums hinterher gejagt ist und dabei eine Erde zerstört hat.
Jesus hatte sein Reich Gottes, Buddha das Reich der geistigen Befreiung. Die Indianer und Schamanen ihr Reich der Geister. Man konnte sie alle studieren, diese Reiche des Jenseits und sich eigene Vorstellungen machen, eigene Visionen suchen.
Thor dachte vor vielen Jahren, dass Visionen unbedingt realisiert werden müssten. Nein, sagte er sich heute, das müssen sie nicht. Sie haben ihren Sinn, auch wenn sie nicht realisiert werden, werden können, weil es zu viel Ablehnung, zu viel Desinteresse und tausend Behinderungen gibt.
Jenseits des Flusses ist immer eine andere Welt.
Diesseits und jenseits vom Rhein, der einmal die römische Grenze gewesen war, und gewissermaßen immer noch eine Grenze darstellt. Jenseits der Elbe, das war während der Zeit der deutschen Teilung mit eigenartigen Vorstellungen verbunden. Heute fließt die Elbe durch den Osten Deutschlands, dem Teil, der heute der Osten ist. Vor hundert Jahren floss sie durch Mitteldeutschland.
Jenseits der Oder, das war einmal eine ferne Grenze, gefühlt sehr fern, aus westdeutscher Sicht. Jenseits der Oder beginnt heute Polen.
Es gab und gibt immer diese Grenze: jenseits des Flusses.
Jenseits vom Mississippi, das war einmal eine entscheidende Grenze. Sie ist es sicher immer noch, wenn man durch die USA fährt.
Die Deutschen träumten mal von der Wolga. Sie wollten das Land bis zur Wolga erobern, als wären sie wilde, mongolische Reiter, nur vom Westen aus und mit Panzern, ach ja, sie hatten auch Pferde damals, sehr viele Pferde, die alle in den Tod geschickt wurden. Thor hatte ein Foto seines Vaters mit Pferd, irgendwo in Russland, auf dem Weg zur Wolga.
Thors Perspektive war nur das Jenseits der Elbe.
Jenseits der Elbe liegen Gebiete, wo weniger Menschen wohnen, wo es mehr Wald gibt, Kiefernwald, und viele Seen.
Jenseits der Weichsel liegen noch mehr Gebiete der Art, die einmal zu Deutschland gehörten. Damals träumte man von Masuren, und all die Schriftsteller, die in den Westen geflohen waren, fliehen mussten, vertrieben von den Russen, träumten später in ihren Büchern immer vom fernen Land jenseits der Weichsel. So kann man sein Schriftstellerleben mit einem Traum von einem verlorenen Land jenseits eines Flusses verbringen.
Ist das lächerlich? Ist es traurig oder tragisch zu nennen? Man träumt eben vom Jenseits, das ist so, weder falsch noch richtig. Man lebt und träumt seinen Traum.
Thor wohnte in einem kleinen, tausendjährigen Dorf am Fuße eines Hügels, der sich nördlich vom Dorf befand. Oft stieg er hinauf zum Hügel, um auf die andere Seite zu schauen.
Als er am Kirchturm vorbei ging, dachte er, dass es richtig symbolisch sei. Der Turm der Kirche, die sie „Zion-Kirche“ genannt hatten. Jenseits von Zion. Geradezu ein Programm für die Geschichte, sagte er zu sich selbst.
Jenseits von Zion blickte er hinüber zu dem kleinen Menhir, den die Besitzer eines kleinen Waldstücks auf der eigenen Weide vor einem Jahr aufgestellt hatten. Vor dort konnte er hinunter auf die andere Seite des Hügels blicken. Wie oft hatte er das schon gemacht, hier bei seinem Dorf und in anderen Regionen Deutschlands. Man steigt auf einen Hügel, um auf die andere Seite zu blicken.
Jenseits des Hügels ist es nicht besser, nicht schöner, nur anders. Es beginnt dort nicht etwa die Wahrheit. Es ist einfach nur anders.
Auf der Nordseite seines Hügels konnte er bis zum großen Wald blicken, der sich über einen großen Teil des Horizonts von Westen nach Osten erstreckte. Ein dunkler Streifen Wald.
Im Osten sah er einen Hügel, der höher als seiner war. Von dort, das wusste er, konnte man weit in die Börde blicken. Irgendwann kam die Elbe, und danach das Land jenseits des Flusses.
Die Steinzeitjäger hatten ganze Landkarten im Kopf.
Thor war kein Jäger und er lebte nicht in der Steinzeit, sondern im Anthropozän, aber in seinem Herzen lebte er eigentlich mehr in der Steinzeit. Er hatte nur einen uralten Namen.
Er musste an IHN denken und den Jordan. Jenseits vom Jordan. Er zog sich hinter den Jordan zurück. Wie oft wird das in dem BUCH erwähnt. Er wusste es nicht, aber er meinte, dass es mehrmals erwähnt wurde. Hatte nicht sein größter Missionar sich auch hinter den Jordan zurückgezogen?
Wilde Männer kommen aus dem Land jenseits des Flusses.
Vielleicht muss das so sein, dachte Thor, dass sie eigentlich aus dem Land jenseits des Flusses kommen, um mal in die bunte Menschenwelt zu schauen, um sich dann doch wieder zurückzuziehen, weil der Marktplatz und die Bunte Kuh nicht ihre Welt sind.
Thor hasste die Bunte Kuh. So nannte sie Friedrich, der deutsche Philosoph, den der Wahnsinn erschlug. Babylon und Berlin, immer ist es eine Bunte Kuh. Die Bunte Kuh ist falsch, dachte Thor, eine Kuh ist braun, wie in den Bergen der Alpen, oder schwarz-weiß, wie die Kühe im Marschland. Eine Kuh ist nicht bunt, schon gar nicht lila, wie die Milka-Kuh.
Jenseits des Hügels gab es ein kleines Gebiet, das Thor sein Indian Country nannte. Es war nur ein kleines Ödlandgebiet, das offiziell unter „Landschaftsschutzgebiet“ lief, aber so etwas hatte eigentlich nichts zu sagen, weil die Jäger und die Bauern doch immer das machten, was sie machen wollten, und sich nicht sonderlich darum kümmerten, was sich die Beamten in ihren Beamtenzimmern ausdachten.
In diesem Gebiet konnte der Hase einfach nur Hase sein.
Thor fand im zeitigen Frühjahr einige Knochen. Von Rehen, und zwei Wildschweinköpfe. Er wunderte sich darüber. Ob die Jäger während der Zeit des starken Frostes vor ein paar Wochen hier zwei Wildschweine geschossen hatten?
Ein paar bleiche Tierknochen passten gut zu dem Gebiet. So wie die hellen Kalksteine, wenn sie erst seit kurzem an der Luft lagen. Später wurden sie dann immer grauer.
Jenseits des langen Buschwaldes hatte er seine Kultstätte. Seinen Steinkreis, den keiner kannte und keiner kennen sollte.
Ein Mensch, der hier einmal vor Jahrtausenden gestanden haben mag, hat sich vermutlich in Richtung Nordwesten auf den Weg gemacht. Die Frühmenschen mussten damals wie die Tiere ein Gespür dafür gehabt haben, wohin sie wandern konnten, wo gutes Land, und das hieß immer Nahrung, zu finden war.
Die Wölfe aus der Lausitz sind instinktiv in Richtung Nordwesten gewandert. Und nicht in Richtung Südwesten, denn was hätten sie im überbevölkerten Schwabenland finden können?
Ob Tiere menschenleeres Land riechen können?
Ob sie über Informationen verfügen, die wir Menschen nicht haben? Haben sie Botschaften von den Vögeln, den Raben oder Kranichen erhalten? Tauschen Tiere Informationen aus? Oder macht jede Tierart ihr eigenes Ding, wie es die Menschen tun?
Thor konnte das nicht feststellen, denn er hatte das Wissen der Menschen, Wissen von Karten, von den Regionen, von der Besiedelung und den vielen, vielen Straßen. Das Straßennetz hatte das ganze Land total im Griff. Alles war erschlossen. Jedes noch so kleine Dorf hatte Anschluss.
Jenseits der Straßen.
Jenseits der Zäune.
Thor fragte sich, ob er nicht mal einen Film gesehen hatte: Jenseits der Zäune. Es war ein Western gewesen, mit Kirk Douglas, der immer weiter in den Westen floh, weil er keine Zäune wollte, sondern freies, wirklich freies Land. Thor hatte vergessen, wie der Film hieß. Schon paradox, die Amerikaner suchten die große Freiheit und schufen genau das Gegenteil.
Thor könnte von seinem Hügel in nördliche Richtung wandern, über die A2 hinaus, der Ost-West Achse, auf der endlose LKW-Kolonnen hin und her fahren. Weiter bis zur Aller. In der Steinzeit wussten die Menschen, wo die Flüsse waren. Sie gestalteten die Landschaft. Diesseits und jenseits des Flusses, vor allem dann, wenn es ein breiter Strom war. Wie kommt man über den Fluss? Wie kommt man auf die andere Seite? Das muss schon sehr früh in der Geschichte der Menschheit die Frage gewesen sein. Wie lange hat es gedauert, bis man das erste Boot hatte?
Wann gab es das erste Boot? Thor wusste es nicht.
Jenseits der Aller begann die Heide. Er spürte den sandigen Boden unter seinen Füßen. Kiefernwälder ohne Ende. Die Kiefernwälder sind eine Art Jenseits. Man läuft mitten drin. Der moderne Mensch mag diese Wälder nicht, er holzt sie ab für sein schändliches Tun. Rüstungsfabriken und Autofabriken. Es macht ihm nichts, die verbliebenen Kiefernwälder mit neuen Straßen zu durchziehen.
Die Gegenwart ist eine Hölle, dachte Thor. Ob das Jenseits besser ist? Ob man im Jenseits vom Wahnsinn befreit ist?
Vielleicht herrscht überall der Wahnsinn, weil das Universum von dunklen Kräften bestimmt wird. Der Traum von einer anderen Welt wird wohl immer ein Traum bleiben, dachte Thor. Gut, dann ist es so. Ein Traum. Nur ein Traum. Wie der Traum von Shangri-La, dem verborgenen Reich des Geistes, das manche Materialisten dingfest machen wollen, fest wie irgendein Ding, da ist es, siehst du, da ist es. Ein Reich des Geistes ist nicht dingfest zu machen. Niemals.
Man muss die Träume als Träume lieben. Auch den Traum von der heiligen Heide. Herrschen tun die anderen. Die Schweinemastbauern, die Panzerbauer und die Autohersteller.
Ich bin und bleibe ein Träumer, ich laufe durch und in meiner Traumwelt, sagte sich Thor. Jenseits der Menschen, wie es in einem Gedicht von Celan heißt, jenseits der Menschen und ihrer brutalen Unkultur. Ihrer Zerstörungs- und Vernichtungskultur.
Thor schaute sich eine russische Holzkirche an, die auf einem kleinen Hügel stand. Es war eine künstliche Anlage, das wusste er. Aber auch das ist ein Traum von einer spiritualisierten Welt. Ein Zeichen, wenn man so will. Das dunkle Holz fand er sehr schön. Die goldenen Kuppeln. Die blauen Kuppeln mit den Sternen. Sehnsucht nach dem Kosmos, nach dem Reich des Himmels, nach einer geistigen Anderswelt. Das goldene, russische Kreuz empfand er wie ein Symbol einer transzendenten Welt. Das lateinische Adjektiv bedeutet: über die normale Wirklichkeit hinausgehend in eine andere Dimension. Wir verwenden die lateinischen und griechischen Wörter. Metaphysik. Bis heute verwenden wir die Wörter, trans und meta.