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Die Wiederentdeckung der Menschheit
Elaines gesamte Existenz ist ein Fehler. Der Menschenprogrammierer hat ihr den Beruf „Laientherapeut“ zugewiesen, der in gefestigten, ausgeglichenen Gesellschaften mangels Patienten völlig unnötig ist. Auf Formalhaut III entdeckt sie durch Zufall die Unterstadt, Clowntown. Sie wird von den Untermenschen bewohnt; Tieren, die wie Menschen aussehen und niedere, anstrengende Arbeiten verrichten müssen. Dort begegnet sie dem Hundemädchen H’jeanne – und die Welt gerät aus den Fugen …
Die Novelle „Die tote Lady von Clowntown“ erscheint als exklusives eBook Only bei Heyne und ist zusammen mit weiteren Stories von Cordwainer Smith auch in dem Sammelband „Was aus den Menschen wurde“ enthalten. Sie umfasst ca. 110 Buchseiten.
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Seitenzahl: 171
CORDWAINER SMITH
DIE TOTE LADY VON CLOWNTOWN
Novelle
Elaines gesamte Existenz ist ein Fehler. Der Menschenprogrammierer hat ihr den Beruf »Laientherapeut« zugewiesen, der in gefestigten, ausgeglichenen Gesellschaften mangels Patienten völlig unnötig ist. Auf Formalhaut III entdeckt sie durch Zufall die Unterstadt, Clowntown. Sie wird von den Untermenschen bewohnt; Tieren, die wie Menschen aussehen und niedere, anstrengende Arbeiten verrichten müssen. Dort begegnet sie dem Hundemädchen H'jeanne – und die Welt gerät aus den Fugen …
Die Novelle »Die tote Lady von Clowntown« erscheint als exklusives E-Book Only bei Heyne und ist zusammen mit weiteren Stories von Cordwainer Smith auch in dem Sammelband »Was aus den Menschen wurde« enthalten. Sie umfasst ca. 110 Buchseiten.
Diese Erzählung ist dem Band Cordwainer Smith: »Was aus den Menschen wurde« entnommen.
Titel der Originalausgabe
The Dead Lady of Clown Town
Aus dem Amerikanischen von Thomas Ziegler
Copyright © 1993 by The Estate of Paul Linebarger
Erstveröffentlichung in GALAXY, August 1964
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Stardust, München
I
Ihr kennt bereits das Ende – das gewaltige Drama um Lord Jestocost, dem siebten seines Geschlechts, und wie das Katzenmädchen K'mell eine ungeheure Verschwörung anzettelte. Aber ihr kennt nicht den Anfang, wisst nicht, wie der erste Lord Jestocost zu seinem Namen kam. Dass das Entsetzen und die Inspiration, die seiner Mutter, Lady Goroke, aus dem berühmten, wahrhaft lebensnahen Drama des Hundemädchens H'jeanne erstanden waren, der Grund dafür waren. Ja, es ist sogar noch weniger wahrscheinlich, dass ihr die andere Geschichte kennt – die, die sich vor der H'jeannes zugetragen hat. Sie wird manchmal als die Geschichte über die »Namenlose Hexe« bezeichnet, was absurd ist, denn sie besaß in Wirklichkeit einen Namen. Er lautete »Elaine« und ist uralt, und er gehört zu den verbotenen Namen.
Elaine war ein Irrtum. Ihre Geburt, ihr Leben – alles Irrtümer. Der Rubin hatte einen Fehler gemacht. Wie hatte das nur geschehen können?
Gehen wir zurück nach An-fang, dem Friedensplatz in An-fang, dem Platz des Beginnens in An-fang, wo alle Dinge ihren Ursprung haben. Hell war es dort. Ein roter Platz, ein toter Platz, ein freier Platz, unter einer gelben Sonne.
Dies war die Wahre Erde, die Menschenheimat selbst, wo sich der Erdhafen seinen Weg hoch hinaufbohrt, durch Hurrikanwolken, die höher sind als die Berge.
An-fang lag in der Nähe einer Stadt, der einzigen bewohnten Stadt mit einem präatomaren Namen. Ihr lieblich sinnloser Name lautete Meeya Meefla, wo die Linien der antiken Straßen, seit Jahrtausenden von keinem Rad berührt, auf ewig parallel zu den warmen, hellen, klaren Stränden des alten Südostasiens verliefen.
Das Hauptquartier des Menschenprogrammierers befand sich in An-fang, und dort ereignete sich auch der Irrtum.
Ein Rubin erbebte. Zwei Turmalinnetzen gelang es nicht, den Laserstrahl zu korrigieren. Ein Diamant registrierte den Fehler. Der Fehler und die Korrektur wurden dem Zentralcomputer eingespeist.
Durch diesen Fehler wurde auf dem allgemeinen Geburtskonto von Fomalhaut III der Beruf »Laientherapeut, weiblich, intuitive Fähigkeit zur Korrektur menschlicher Physiologie mit lokal vorhandenen Mitteln« eingespeist. Auf manchen der frühen Schiffe hatte man diese Frauen als Hexen bezeichnet, weil sie auf unerklärliche Weise Heilungen herbeiführten. Für Pionierkulturen waren solche Laientherapeuten unersetzlich; in gefestigten Post-Riesmann'schen Gesellschaften erwiesen sie sich als furchtbare Belastung: Mit den verbesserten Lebensbedingungen verschwanden die Krankheiten, die Unfallziffern sanken und die medizinische Arbeit wurde institutionalisiert.
Wer hat schon Verwendung für eine Hexe, selbst wenn es eine gute Hexe ist, wenn ein Krankenhaus mit tausend Betten bereitsteht, dessen Personal sich nach klinischen Erfahrungen sehnt … und wenn nur sieben von diesen tausend Betten mit Wahren Menschen belegt sind. (Die übrigen Betten waren lebensechten Robotern überlassen worden, damit das Personal üben konnte und sich ihre Moral nicht verschlechterte. Sie hätten natürlich auch mit Untermenschen arbeiten können – Tieren in der Gestalt von menschlichen Wesen, die die schweren und eintönigen Arbeiten ausführten, die als das caput mortuum einer perfektionierten Wirtschaft übrig geblieben waren –, aber es war gegen das Gesetz, Tieren, selbst wenn sie Untermenschen waren, den Zugang zu einem menschlichen Krankenhaus zu gestatten. Wenn die Untermenschen erkrankten, dann nahm sich die Instrumentalität ihrer an – in Schlachthäusern. Es war einfacher, neue Untermenschen für die jeweiligen Arbeiten zu züchten, als die Kranken wiederherzustellen. Überdies hätte die sanfte, liebevolle Pflege in den Krankenhäusern irgendwelche Hirngespinste in ihnen wecken können. Beispielsweise, dass auch sie Menschen seien. Von dem damals herrschenden Standpunkt aus wäre das eine unangenehme Sache gewesen. Deshalb blieben die menschlichen Krankenhäuser fast leer, während ein Untermensch, der viermal nieste oder sich einmal übergab, abgeholt wurde, um nie wieder krank zu sein. Die leeren Betten blieben den Roboterpatienten überlassen, die endlose Wiederholungen der menschlichen Verletzungs- oder Krankheitssymptome über sich ergehen lassen mussten.) So blieb für die gezüchteten und ausgebildeten Hexen keine Arbeit mehr übrig.
Trotzdem hatte der Rubin vibriert; hatte das Programm tatsächlich einen Fehler gemacht; war die Geburtsnummer für »Laientherapeut, allgemein einsetzbar, weiblich, sofortige Verwendung« für Fomalhaut III bestellt worden.
Viel später, als die Geschichte bis in ihr letztes historisches Detail bekanntgeworden war, wurde eine Untersuchung über Elaines Herkunft durchgeführt. Als der Laser gezittert hatte, waren der ursprüngliche Befehl und die Korrektur simultan in die riesige Maschine des Zentralcomputers eingespeist worden. Diese hatte den Widerspruch erkannt und sofort beide Unterlagen an den menschlichen Aufsichtsführenden weitergeleitet, einem effizienten Menschen, der seit sieben Jahren diesen Beruf ausübte.
Er war Musikstudent, und er war gelangweilt. Er war dem Ende seiner Dienstzeit so nahe, dass er schon die Tage bis zu seiner Entlassung zählte. In der Zwischenzeit arbeitete er an einem neuen Arrangement für zwei populäre Lieder. Das eine war Der große Bambus,ein simples Stück, das die ursprüngliche Magie des Menschen in Erinnerung bringen wollte. Das zweite Lied handelte von einem Mädchen, Elaine, Elaine, das darumflehte, das Herz ihres Anbeters von seinen Schmerzen zu befreien. Keines dieser Lieder war weiter wichtig, aber beide miteinander beeinflussten sie den Lauf der Geschichte, zuerst nur ein wenig, doch dann ganz beträchtlich.
Der Musiker hatte genug Zeit. In den sieben Jahren hatte sich nie ein Notfall ereignet. Von Zeit zu Zeit erstattete ihm die Maschine Bericht, aber der Musiker hatte sie einfach angewiesen, ihre Fehler selbst zu bereinigen, und das hatte sie auch getan.
An dem Tag, an dem sich der Unfall mit Elaine ereignete, war der Musiker gerade dabei, seine Fertigkeiten auf der Gitarre zu perfektionieren, einem sehr alten Instrument, von dem vermutet wurde, dass es noch aus der Zeit vor Beginn der Raumfahrt stammte. Zum hundertsten Mal spielte er Der große Bambus.
Die Maschine gab ihren Fehler mit einem anfänglich musikalisch klingenden Klingeln bekannt. Der Aufsichtsführende hatte allerdings schon längst die umfangreichen Instruktionen vergessen, die er vor sieben langen Jahren mühsam gelernt hatte. Und der Alarm spielte im Grunde überhaupt keine große Rolle, denn die Anlage korrigierte in jedem Fall ihre Fehler selbst, ob nun der Aufsichtsführende Dienst hatte oder nicht.
Die Maschine, die auf ihr Klingeln keine Antwort erhalten hatte, ging zur nächsthöheren Alarmstufe über. Aus einem Lautsprecher, der in der Wand des Raums eingelassen war, schrie sie mit der hohen, klaren menschlichen Stimme irgendeines Angestellten, der vor tausend oder mehr Jahren gestorben war: »Alarm, Alarm! Notfall. Korrektur erforderlich. Korrektur erforderlich!«
Die Antwort war von einer Art, die die Maschine trotz ihres hohen Alters noch nie erhalten hatte. Die Finger des Musikers glitten wie verrückt vor lauter Glück über die Gitarrensaiten, und er sang ihr klar und wild zwei Zeilen zu, die die Grenzen des elektronischen Begriffsvermögens überstiegen.
Schlag, schlag den großen Bambus!
Schlag, schlag, schlag den großen Bambus für mich!
Hastig setzte die Maschine ihre Gedächtnisspeicher und Computer in Betrieb, suchte nach der Kodebezeichnung für »Bambus« und bemühte sich, das Wort dem gültigen Kontext anzupassen.
Die Maschine belästigte den Mann erneut. »Instruktionen unklar. Instruktionen unklar. Bitte korrigieren.«
»Ruhe!«, sagte der Mann.
»Befehl undurchführbar«, erklärte die Maschine. »Bitte korrigieren und wiederholen, bitte korrigieren und wiederholen, bitte korrigieren und wiederholen.«
»Halt doch endlich deinen Mund«, sagte der Mann, aber er wusste, dass die Maschine seinem Befehl nicht nachkommen würde. Ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, wandte er sich der anderen Melodie zu und sang zweimal die ersten beiden Zeilen:
Elaine, mein Herz,
komm, heil den Schmerz!
Elaine, mein Herz,
komm, heil den Schmerz!
Wiederholung war der Maschine als Sicherung eingegeben worden, aufgrund der Überlegung, dass kein Wahrer Mensch einen Fehler wiederholen würde. Der Name »Elaine« besaß keinen korrekten Nummernkode, aber die doppelte Betonung schien eine Bestätigung für die Notwendigkeit, »Laientherapeut, weiblich« heranzuzüchten. Die Maschine registrierte, dass ein Wahrer Mensch das Problem bereinigt hatte, das ihm als Notfall gemeldet worden war.
»Akzeptiert«, bestätigte die Maschine.
Zu spät riss das Wort den Aufsichtsführenden aus seiner Versunkenheit. »Was ist akzeptiert?«, fragte er.
Er erhielt keine Antwort. Bis auf das Flüstern der warmen Luft, die von Ventilatoren bewegt wurde, gab es kein Geräusch.
Der Aufsichtsführende blickte aus dem Fenster. Er konnte ein Stück von dem blutig schwarzen Rot des Friedensplatzes von An-fang erkennen; dahinter lag der Ozean, unendlich schön und unendlich langweilig.
Er seufzte hoffnungsvoll. Er war jung. »Ich schätze, es spielt wohl keine Rolle«, sagte er sich und griff wieder nach seiner Gitarre.
(Siebenunddreißig Jahre später fand er heraus, dass es doch eine Rolle gespielt hatte. Lady Goroke selbst, eine der Obersten der Instrumentalität, entsandte einen Unterführer der Instrumentalität, um festzustellen, wer H'jeanne zum Leben verholfen hatte. Als der Mann herausfand, dass Elaine die Wurzel des Übels war, beauftragte Lady Goroke ihn, herauszufinden, wie Elaine in ein wohlgeordnetes Universum gelangen konnte. Man stieß auf den Aufsichtsführenden. Er war noch immer Musiker und erinnerte sich überhaupt nicht mehr an die Geschichte. Man hypnotisierte ihn. Noch immer erinnerte er sich an nichts. Der Unterführer rief einen Notfall aus und die Polizeidroge Vier, »Vollkommene Erinnerung«, wurde dem Musiker injiziert. Im selben Augenblick entsann dieser sich der läppischen Szene, aber er behauptete immer noch, es hätte alles keine Rolle gespielt. Die Angelegenheit wurde Lady Goroke vorgetragen, und sie wies die Behörden an, dem Musiker die ganze schreckliche, wundervolle Geschichte von H'jeanne auf Fomalhaut zu erzählen – genau die Geschichte, die jetzt hier vorgetragen wird –, und er weinte. Weiter wurde er nicht bestraft, doch Lady Goroke befahl, dass die Erinnerung daran für den Rest seines Lebens in seinem Gedächtnis bleiben sollte.)
Der Mann nahm seine Gitarre – und die Maschine fuhr mit ihrer Arbeit fort. Sie wählte einen befruchteten menschlichen Embryo aus, verlieh ihm den absonderlichen Namen »Elaine«, bestrahlte den genetischen Kode mit starken Anlagen zur Hexerei und vermerkte dann auf der Personalkarte, dass das Geschöpf in Medizin ausgebildet, mit einem Segelschiff nach Fomalhaut III transportiert und für den Dienst auf diesem Planeten freigestellt werden sollte.
Elaine wurde geboren, ohne gebraucht zu werden, ungewollt und ohne eine Fähigkeit, die irgendeinem existierenden menschlichen Wesen helfen oder Schaden zufügen konnte. Bereits verdammt und ohne jeden Nutzen begann sie ihr Leben.
Es ist nicht bemerkenswert, dass sie einer erbärmlichen Zukunft entgegensah. Fehler kamen vor. Bemerkenswert war allein die Tatsache, dass es ihr gelang, zu überleben, ohne verändert, korrigiert oder durch die Sicherheitsanlagen getötet zu werden, die die Menschheit zu ihrem eigenen Schutz in die Gesellschaftsordnung eingebaut hatte.
Ungewollt nutzlos durchlebte sie die eintönigen Monate und sinnlosen Jahre ihres Lebens. Sie war wohlgenährt, reich gekleidet, in verschiedenen Wohnungen untergebracht. Sie hatte Maschinen und Roboter zu ihren Diensten, Untermenschen unter ihrem Befehl, Menschen, um sie im Notfall vor anderen Menschen oder vor sich selbst zu beschützen. Aber niemals fand sie Arbeit; ohne Arbeit hatte sie keine Zeit für die Liebe; ohne Liebe oder Arbeit besaß sie nicht die geringste Hoffnung.
Wäre sie nur an die richtigen Experten oder an die richtigen Behörden geraten, hätten diese sie verändert oder umgeschult. Das hätte aus ihr eine vernünftige Frau gemacht; aber weder fand sie die Polizei, noch wurde sie von ihr gefunden. Sie war unfähig, ihre eigene Programmierung zu ändern, vollkommen unfähig. Sie war ihr in An-fang aufgeprägt worden, vor langer Zeit in An-fang, wo alle Dinge beginnen.
Der Rubin hatte vibriert, der Turmalin versagt, der Diamant war unbeachtet geblieben. Auf diese Art war eine Frau schon von Geburt an verdammt.
II
Viele Jahre später, als die Maschinen Lieder über das seltsame Schicksal des Hundemädchens H'jeanne komponierten, versuchten sich die Spielleute und Sänger vorzustellen, wie Elaine sich gefühlt haben mochte, und sieschrieben für sie Das Lied von Elaine. Es zeigt, wie Elaine ihr Leben sah, bevor das Schicksal H'jeannes sich aus Elaines Handlungen entwickelte:
Andere Frauen hassen mich.
Und die Männer berühren mich nicht.
Ich bin zu sehr ich.
Eine Hexe bin ich!
Mama hätschelte mich nie.
Papa tätschelte mich nie.
Kleine Kinder kratzten mich.
Eine Hexe bin ich!
Niemals sprachen mich Menschen an.
Niemals knurrten mich Hunde an.
Oh, ich bin so sehr ich!
Eine Hexe bin ich.
Die ganze Welt meidet mich.
Die ganze Welt peinigt mich.
Wann werden sie mich steinigen?
Eine Hexe bin ich.
Lasst sie doch mich jagen.
Sie können mich nur plagen.
Ich – ich kann mich begraben.
Eine Hexe bin ich.
Andere Frauen hassen mich.
Und die Männer berühren mich nicht.
Ich bin zu sehr ich.
Eine Hexe bin ich.
Das Lied ist eine Übertreibung. Die Frauen hassten Elaine nicht; sie beachteten sie nicht einmal. Die Männer berührten sie einfach deshalb nicht, weil sie sie überhaupt nicht bemerkten. Und es gab keinen Ort auf Fomalhaut III, wo sie mit menschlichen Kindern hätte zusammentreffen können, denn die Kinderhorte lagen wegen der gefährlichen Strahlung und des erbarmungslosen Klimas tief unter der Erde. Das Lied erweckt den Eindruck, Elaines erster Gedanke sei gewesen, dass sie kein Mensch, sondern ein Untermensch und als Hund geboren sei. Dies traf am Anfang der Ereignisse keinesfalls zu, sondern erst am Ende, als die Geschichte von H'jeanne bereits auf den Sternen verbreitet und mit allerlei Dichtungen und Legenden ausgeschmückt war. Und sie wurde auch nie wahnsinnig.
(»Wahnsinn« ist ein seltener Zustand und betrifft einen menschlichen Verstand, der seine Umgebung nicht richtig einzuschätzen weiß. Elaine kam diesem Zustand nahe, bevor sie H'jeanne traf. Elaine war nicht der einzige Fall, aber sie gehörte zu den seltenen und echten Fällen. Ihr Leben, in dem alle Versuche, erwachsen zu werden, fehlgeschlagen waren, wurde auf sich selbst zurückgeworfen, und ihre Gedanken zogen sich in immer enger werdenden Spiralen zusammen, auf dem Weg zu der einzigen Sicherheit, die sie wirklich erringen konnte – zur Psychose. Wahnsinn ist immer besser als das Unbekannte, und das Unbekannte ist für jeden Patienten von individueller, persönlicher, geheimer und ungeheurer Wichtigkeit. Elaine war völlig normal wahnsinnig geworden, doch ihre aufgeprägte und ihr vorbestimmte Karriere war falsch. »Laientherapeuten, weiblich« waren für entschlossenes, autonomes, auf ihrer eigenen Autorität und ihrer Schnelligkeit beruhendes Arbeiten kodiert. Eine Arbeitsweise, die auf neuen Planeten notwendig war. Sie waren nicht kodiert, andere Leute um Rat zu fragen; an den meisten Orten würde es niemanden geben, an den sie sich wenden konnten. Elaine tat, was ihr in An-fang bis tief in die chemische Zusammensetzung ihrer Rückenmarksflüssigkeit einprogrammiert worden war. Wahnsinn war sehr viel freundlicher als die Erkenntnis, dass sie nicht sie selbst war, nicht hätte leben dürfen, und dass es sich bei ihr bestenfalls um einen Fehler handelte, der aus dem Zusammenwirken eines vibrierenden Rubins und eines jungen, pflichtvergessenen Mannes mit einer Gitarre entstanden war.)
Elaine begegnete H'jeanne, und die Welten gerieten aus den Fugen.
Ihr Zusammentreffen fand an einem Ort statt, der den Spitznamen »Am Rand der Welt« trug, dort, wo sich die Unterstadt ans Tageslicht schob. Das allein war schon ungewöhnlich, aber Fomalhaut III war ein ungewöhnlicher und unwirklicher Planet, dessen raues Klima zusammen mit den Schrullen der Menschen die Architekten zu irrwitzigem Design und grotesken Bauten getrieben hat.
Elaine spazierte durch die Stadt, insgeheim verrückt, und war auf der Suche nach kranken Menschen, denen sie helfen konnte. Sie war für diese Aufgabe abgestellt, geprägt, entworfen, geboren, gezüchtet und ausgebildet worden. Aber es gab keine Aufgabe für sie.
Sie war eine intelligente Frau. Ein scharfer Verstand dient dem Wahnsinn ebenso gut wie geistiger Gesundheit – tatsächlich ausgezeichnet. Nie kam es ihr in den Sinn, ihrem Auftrag zu entsagen.
Die Menschen von Fomalhaut III sind, wie die Menschen auf der Menschenheimat Erde auch, fast unterschiedslos schöne Gestalten; nur auf den entlegensten, nahezu unerreichbaren Welten kann es vorkommen, dass die Menschen vom reinen Existenzkampf gezeichnet und hässlich, müde oder kauzig werden. Und Elaine sah nicht viel anders aus als die anderen intelligenten, stattlichen Menschen, die die Straßen bevölkerten. Ihr Haar war schwarz, und sie war groß. Ihre Arme und Beine waren lang, ihr Rumpf kurz. Sie trug das Haar von ihrer hohen, schmalen, geraden Stirn straff nach hinten gekämmt. Ihre Augen waren von einem merkwürdigen, tiefen Blau. Ihr Mund wäre vielleicht schön zu nennen gewesen, doch er lächelte nie, so dass niemand genau sagen konnte, ob er nun hübsch war oder nicht. Ihre Haltung war stolz und aufrecht; aber so war es auch bei jedem anderen. Ihre Lippen wirkten gerade in ihrer Sprachlosigkeit faszinierend, und ihre Augen glitten hin und her und hin und her, wie ein antiker Radarschirm, und hielten Ausschau nach den Kranken, den Bedürftigen, den Getretenen, denen zu helfen ihr einziges Vergnügen war.