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Jeder Unglückliche ist auf seine eigene Weise unglücklich
Vor der Wiederentdeckung der Menschheit flanierten die Bürger auf exotischen Planeten über breite Boulevards. Die Instrumentalität der Menschheit mit ihrem ewigen Auftrag, die Menschen als Menschen überleben zu lassen, wachte über sie. Die Bürger hatten glücklich zu sein, denn wer es nicht war, wurde mit Drogen ruhiggestellt und angepasst, bis er wieder glücklich war. Dies ist die Geschichte von drei solchen Unglücklichen: Dem Spieler namens Sonnensohn, dem Mädchen Santuna und Sto Odin, einem Uralten, einem Lord der Instrumentalität …
Die Novelle „Unter der alten Erde“ erscheint als exklusives eBook Only bei Heyne und ist zusammen mit weiteren Stories von Cordwainer Smith auch in dem Sammelband „Was aus den Menschen wurde“ enthalten. Sie umfasst ca. 60 Buchseiten.
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Seitenzahl: 102
CORDWAINER SMITH
UNTER DER ALTEN ERDE
Novelle
Vor der Wiederentdeckung der Menschheit flanierten die Bürger auf exotischen Planeten über breite Boulevards. Die Instrumentalität der Menschheit mit ihrem ewigen Auftrag, die Menschen als Menschen überleben zu lassen, wachte über sie. Die Bürger hatten glücklich zu sein, denn wer es nicht war, wurde mit Drogen ruhiggestellt und angepasst, bis er wieder glücklich war. Dies ist die Geschichte von drei solchen Unglücklichen: Dem Spieler namens Sonnensohn, dem Mädchen Santuna und Sto Odin, einem Uralten, einem Lord der Instrumentalität …
Die Novelle »Unter der alten Erde« erscheint als exklusives E-Book Only bei Heyne und ist zusammen mit weiteren Stories von Cordwainer Smith auch in dem Sammelband »Was aus den Menschen wurde« enthalten. Sie umfasst ca. 60 Buchseiten.
Diese Erzählung ist dem Band Cordwainer Smith: »Was aus den Menschen wurde« entnommen.
Titel der Originalausgabe
Under Old Earth
Aus dem Amerikanischen von Thomas Ziegler
Copyright © 1993 by The Estate of Paul Linebarger
Erstveröffentlichung in GALAXY, Februar 1966
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Stardust, München
Ich brauche einen temporären Hund
Aus einem temporären Grund
An einem temporären Ort
Wie der Erde!
– Lied aus:
Der Kaufmann, der mit Drohungen handelte
I
Da gab es die Douglas-Ouyang-Planeten, die ihre einzige Sonne in einer geschlossenen Gruppe umkreisten. Sie kreisten und kreisten immerzu auf derselben Umlaufbahn, ganz anders als alle anderen bekannten Planeten. Da waren die Gentlemen-Selbstmörder daheim auf der Erde, die ihr Leben – und schrecklicher noch, manchmal auch Dinge, die wertvoller als ihr Leben waren – gegen verschiedene Arten von Geophysik verwetteten, von denen die Wahren Menschen niemals auch nur geträumt hatten. Da gab es Mädchen, die sich in Männer verliebten, auch wenn deren persönliches Schicksal öde oder entsetzlich war. Da gab es die Instrumentalität mit ihrem ewigen Auftrag, die Menschen als Menschen überleben zu lassen. Und da gab es die Bürger, die vor der Wiederentdeckung des Menschen über die Boulevards flanierten. Die Bürger waren glücklich. Sie hatten glücklich zu sein. Waren sie traurig, dann wurden sie ruhiggestellt und unter Drogen gesetzt und angepasst, bis sie wieder glücklich waren.
Diese Geschichte handelt von drei dieser Menschen: Dem Spieler, der den Namen Sonnensohn annahm, der wagte, das Gebiet zu betreten, und der mit sich selbst konfrontiert wurde, bevor er starb; dem Mädchen Santuna, das auf tausend Arten Erfüllung fand, bis der Tod sie packte; und Sto Odin, dem Lord der Instrumentalität, einem Uralten, der über alles Bescheid wusste und nicht im Traum daran dachte, etwas davon zu verhindern.
Musik durchzieht diese Geschichte. Die milde, süße Musik der Erdregierung und der Instrumentalität, angenehm wie Honig und gegen Ende Übelkeit auslösend. Das wilde, illegale Pulsieren des Gebiets,das den meisten Menschen zu betreten verboten war. Und das Schlimmste, die verrückten Fugen und die unanständigen Melodien des Bezirks, der den Menschen siebenundfünfzig Jahrhunderte verschlossen war – und der durch einen Zufall geöffnet, entdeckt und widerrechtlich betreten wurde. Mit ihm beginnt unsere Geschichte.
II
Vor einigen Jahrhunderten hatte Lady Ru erklärt: »Man hat Wissensfragmente gefunden. Am Urbeginn der Menschheit, noch bevor es Luftfahrzeuge gab, verkündete der Weise Laodz: ›Wasser tut nichts, aber es durchdringt alles. Untätigkeit findet ihren Weg.‹ Später sagte ein historischer Herrscher: ›Es gibt eine Melodie, die alle Dinge erfüllt. Wir tanzen unser ganzes Leben lang nach ihrem Takt, auch wenn unsere wachen Ohren niemals die Musik hören, die uns lenkt und uns bewegt. Glück kann den Menschen so sanft töten wie Schatten, die man im Traum sieht.‹ Wir müssen zuerst Menschen und erst danach glücklich sein, wenn wir nicht vergeblich leben und sterben wollen.«
Lord Sto Odin war da offener. Einigen engen Freunden erklärte er die Wahrheit: »Unsere Bevölkerungszahl geht auf den meisten Welten zurück, auch auf der Erde. Die Menschen bekommen zwar Kinder, aber sie interessieren sich nicht sehr dafür. Ich für mein Teil bin ein Drei-Vater von zwölf Kindern, ein Zwei-Vater von vier und ein Ein-Vater, wie ich glaube, von sehr vielen anderen. Ich habe Freude an der Arbeit gehabt und sie mit Freude am Leben verwechselt. Und es ist nicht dasselbe. Die Menschen wollen glücklich sein. Bitte sehr, wir gaben ihnen Glück. Triste, sinnlose Jahrhunderte des Glücks, während derer die Unglücklichen von ihnen korrigiert oder angepasst oder getötet wurden. Unerträgliches, trostloses Glück ohne den Stachel des Kummers, den Rausch der Wut, die heißen Schwaden der Angst. Wie viele von uns haben jemals den ätzenden, eisigen Geschmack alten Grolls gekostet? Das ist es, wofür die Menschen wirklich lebten in den alten Zeiten, als sie vorgaben, glücklich zu sein, und in Wahrheit von Kummer, Zorn, Hass, Raserei, Bosheit und Hoffnung belebt wurden! Diese Menschen vermehrten sich wie wahnsinnig. Sie bevölkerten die Sterne, während sie davon träumten, insgeheim oder offen, einander zu töten. In ihrer Kunst ging es um Mord oder Verrat oder verbotene Liebe. Heute kennen wir keinen Mord. Wir können uns keine Art der Liebe vorstellen, die verboten ist. Und denkt einmal an die Amerikaner mit ihren Schnellstraßen. Wer kann heutzutage noch irgendwohin fliegen, ohne auf dieses gigantische Straßennetz zu stoßen? Die Straßen sind verfallen, aber sie existieren noch. Man kann diese scheußlichen Gebilde sogar vom Mond aus deutlich erkennen. Aber vergesst die Straßen. Denkt an die Millionen Fahrzeuge, die über diese Straßen rasten, an die Menschen, die voller Gier und Zorn und Hass mit ihren Kraftstoff verbrennenden Fahrzeugen aneinander vorbeirauschten. Man sagt, dass allein auf den Straßen in einem Jahr fünfzigtausend Menschen umkamen. Wir würden dies einen Krieg nennen. Was müssen das für Wesen gewesen sein, die Tag und Nacht herumrasten und Dinge bauten, die anderen Menschen helfen würden, noch mehr zu rasen! Sie waren anders als wir. Sie müssen wild, schmutzig, frei gewesen sein. Lebenshungrig auf eine Art, die für uns vielleicht nicht einmal mehr vorstellbar ist. Ohne Schwierigkeit können wir tausendfach höhere Geschwindigkeiten erreichen als sie, aber wen interessiert das heute noch? Warum so schnell reisen? Woanders ist es genauso wie hier, und das gilt bis auf einige Kämpfer und Techniker für alle.« Lord Sto Odin lächelte seine Freunde an und fügte hinzu: »Wobei die Lords der Instrumentalität, also wir, natürlich auch davon ausgenommen sind. Wir reisen aus Gründen, die die Instrumentalität betreffen, und nicht aus Gründen, die für gewöhnliche Leute gelten. Gewöhnliche Leute haben wenig Grund, irgendetwas zu tun. Sie machen die Arbeit, die wir uns für sie ausdenken, um sie glücklich bleiben zu lassen, während die Roboter und Untermenschen die wirkliche Arbeit tun. Sie flanieren. Sie schlafen miteinander. Aber sie sind niemals unglücklich. Sie können nicht unglücklich sein!«
Lady Mmona stimmte darin nicht mit ihm überein. »Das Leben kann nicht gar so übel sein, wie du sagst. Wir glauben nicht einfach, dass sie glücklich sind – wir wissen es. Telepathisch sehen wir direkt in ihre Köpfe. Wir überwachen ihre Gefühlsmuster mit Scannern. Es ist doch nicht so, dass wir keine Unterlagen hätten. Die Menschen werden immer wieder unglücklich, unablässig müssen wir sie korrigieren. Und dann und wann kommen schlimme Unfälle vor, die nicht einmal wir beheben können. Wenn die Menschen sehr unglücklich sind, dann schreien und weinen sie. Manchmal hören sie plötzlich zu sprechen auf und sterben, gleichgültig, was wir für sie tun. Du kannst nicht einfach behaupten, dass das nicht real ist!«
»Aber ich tue es trotzdem«, entgegnete Lord Sto Odin.
»Was tust du?«, rief Mmona.
»Ich behaupte, dass dieses Glück nicht real ist.«
»Wie kannst du das angesichts der Beweise? Beweise, die wir von der Instrumentalität für gültig erklärt haben. Können wir, kann sich die Instrumentalität denn geirrt haben?«
»Ja«, sagte Lord Sto Odin.
Das war der Moment, in dem die gesamte Runde in Schweigen verfiel.
Sto Odin sprach weiter: »Schaut euch meine Beweise an. Den Menschen ist es völlig gleich, ob sie nun Ein-Väter oder Ein-Mütter sind oder nicht. Sie wissen nicht, welche Kinder von ihnen sind. Niemand wagt es, Selbstmord zu begehen. Wir machen sie zu glücklich. Aber haben wir auch jemals nur den Versuch gemacht, die sprechenden Tiere, die Untermenschen, so glücklich wie die Menschen zu machen? Und begehen Untermenschen Selbstmord?«
»Sicher«, nickte Mmona. »Sie sind dazu bestimmt, Selbstmord zu begehen, wenn sie für eine schnelle Reparatur zu schwer verletzt sind oder wenn sie an der ihnen zugeteilten Aufgabe scheitern.«
»Das meine ich nicht. Begehen sie jemals Selbstmord aus eigenem Antrieb, nicht weil wir sie so programmiert haben?«
»Nein«, erwiderte Lord Nuru-or, ein weiser junger Lord der Instrumentalität. »Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, ihrer Arbeit nachzugehen und am Leben zu bleiben.«
»Wie lange lebt ein Untermensch?«, fragte Sto Odin mit vorgetäuschter Sanftmut.
»Was weiß ich«, sagte Nuru-or. »Ein halbes Jahr, hundert Jahre, vielleicht mehrere Jahrhunderte.«
»Und was geschieht, wenn sie ihre Arbeit nicht erledigen?«, wollte Sto Odin weiter wissen und schenkte ihnen ein freundliches, verschmitztes Lächeln.
»Wir oder unsere Roboterpolizisten töten sie«, antwortete Mmona.
»Und wissen das die Tiere?«
»Ob sie wissen, dass sie getötet werden, wenn sie nicht arbeiten?«, sagte Mmona. »Natürlich. Allen sagen wir dasselbe. Arbeite oder stirb. Aber was hat das Ganze mit den Menschen zu tun?«