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Es ist der ganz besondere Liebesroman, der unter die Haut geht. Alles ist zugleich so unheimlich und so romantisch wie nirgendwo sonst. Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen, Vampire und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen ziehen uns wie magisch in ihren Bann. Moonlight Romance bietet wohlige Schaudergefühle mit Gänsehauteffekt, geeignet, begeisternd für alle, deren Herz für Spannung, Spuk und Liebe schlägt. Immer wieder stellt sich die bange Frage: Gibt es für diese Phänomene eine natürliche Erklärung? Oder haben wir es wirklich mit Geistern und Gespenstern zu tun? Die Antworten darauf sind von Roman zu Roman unterschiedlich, manchmal auch mehrdeutig. Eben das macht die Lektüre so fantastisch... Der Maskierte drückte ihr die Spitze des Messers gegen den Hals. »Wenn du um Hilfe schreist, bist du tot!«, drohte er, und der Ausdruck in seinen Augen, die sie durch die beiden Löcher in der Maske sehen konnte, verlieh dieser Warnung unmissverständlich Nachdruck. Ihre Lippen begannen zu zucken, Angst begann in ihren Zügen zu wühlen, und der Drang, diese Angst hinauszubrüllen, wurde geradezu übermächtig in ihr. Aber ihr Verstand besiegte diesen Reflex, und ihr entrang sich nicht der leiseste Laut. »Es ist kein Spaß!«, zischte er, richtete sich auf, wandte sich ab und ging zum Fenster, ließ die Jalousie herunter, drehte sich wieder herum und – erschrak bis in seinen Kern. Die Frau musste sich lautlos aus dem Bett erhoben haben. Nun stand sie einen Schritt vor ihm, in ihren Augen loderte der blanke Hass, und aus einer klaffenden Wunde an ihrem Hals pulsierte unaufhaltsam ein Strom dunklen Blutes. Sie hatte die Hände erhoben und die Finger wie zu Krallen gekrümmt. Ihr Gesicht hatte sich verändert. Es war nicht mehr das Antlitz der Frau, in deren Haus er eingedrungen war. Der Eindringling wollte schreien, sein Herzschlag drohte auszusetzen, und er spürte ihre Hände, die kalt waren wie blankes Eis, an seiner Kehle ... Nach mehrstündiger Beratung durch die Große Strafkammer des Landgerichts Nürnberg verkündete der vorsitzende Richter Johann Pirner das Strafmaß. Es lautete lebenslanger Freiheitsentzug für Hubert Brunner, außerdem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt, was bedeutete, dass eine Begnadigung nach mindestens fünfzehn Jahren ausgeschlossen war. »Ich habe niemand umgebracht«, flüsterte der bleiche Verurteilte vor sich hin und ließ dabei den Richter nicht aus den Augen. »Dieses Urteil ist ein Justizirrtum. Ich bin unschuldig.« Richter Pirner begründete ohne die Spur einer Gemütsregung das Urteil.
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Der Maskierte drückte ihr die Spitze des Messers gegen den Hals. »Wenn du um Hilfe schreist, bist du tot!«, drohte er, und der Ausdruck in seinen Augen, die sie durch die beiden Löcher in der Maske sehen konnte, verlieh dieser Warnung unmissverständlich Nachdruck. Ihre Lippen begannen zu zucken, Angst begann in ihren Zügen zu wühlen, und der Drang, diese Angst hinauszubrüllen, wurde geradezu übermächtig in ihr. Aber ihr Verstand besiegte diesen Reflex, und ihr entrang sich nicht der leiseste Laut. »Es ist kein Spaß!«, zischte er, richtete sich auf, wandte sich ab und ging zum Fenster, ließ die Jalousie herunter, drehte sich wieder herum und – erschrak bis in seinen Kern. Die Frau musste sich lautlos aus dem Bett erhoben haben. Nun stand sie einen Schritt vor ihm, in ihren Augen loderte der blanke Hass, und aus einer klaffenden Wunde an ihrem Hals pulsierte unaufhaltsam ein Strom dunklen Blutes. Sie hatte die Hände erhoben und die Finger wie zu Krallen gekrümmt. Ihr Gesicht hatte sich verändert. Es war nicht mehr das Antlitz der Frau, in deren Haus er eingedrungen war. Der Eindringling wollte schreien, sein Herzschlag drohte auszusetzen, und er spürte ihre Hände, die kalt waren wie blankes Eis, an seiner Kehle ...
Nach mehrstündiger Beratung durch die Große Strafkammer des Landgerichts Nürnberg verkündete der vorsitzende Richter Johann Pirner das Strafmaß. Es lautete lebenslanger Freiheitsentzug für Hubert Brunner, außerdem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt, was bedeutete, dass eine Begnadigung nach mindestens fünfzehn Jahren ausgeschlossen war.
»Ich habe niemand umgebracht«, flüsterte der bleiche Verurteilte vor sich hin und ließ dabei den Richter nicht aus den Augen. »Dieses Urteil ist ein Justizirrtum. Ich bin unschuldig.«
Richter Pirner begründete ohne die Spur einer Gemütsregung das Urteil. Danach stand zur Überzeugung des Gerichts fest, dass Hubert Brunner innerhalb der vergangenen drei Jahre fünf Frauen auf bestialische Art und Weise ermordet hatte.
Nach der Urteilsverkündung wurde Hubert Brunner abgeführt und zwei Tage später in die Justizvollzugsanstalt Straubing verschubt.
Gegen das Urteil des Schwurgerichts Nürnberg ging Hubert Brunner in die Revision, doch diese wurde zurückgewiesen.
Das Urteil wurde rechtskräftig.
Hinter Hubert Brunner würden sich die Tore des Gefängnisses für immer schließen. Eine Aussicht auf Begnadigung – auch nicht in noch so ferner Zeit –, gab es nicht.
*
Die Tür zur Brunners Zelle öffnete sich leise, ein Vollzugsbeamter der Strafanstalt trat in ihren Rahmen und sagte: »Ihr Verteidiger ist da. Halten Sie die Hände her, damit ich Sie fesseln kann.«
»Was will er denn?«, erkundigte sich der Zweiunddreißigjährige, der irgendwie krank aussah. Seine dunklen, fiebrig glänzenden Augen lagen in tiefen Höhlen, das Gesicht war eingefallen und hohlwangig, und die tagealten Bartstoppeln verstärkten diesen Eindruck noch. »Er hat sich gar nicht angemeldet.«
Der Wachbeamte vermied es, Hubert Brunner anzuschauen, sondern vollführte lediglich eine ungeduldige Handbewegung, die seine Aufforderung, ihm die Hände hinzuhalten, unterstreichen sollte. Hubert Brunner tat, wie ihm geheißen, die Handschellen klickten, der Wärter trat zur Seite und sagte: »Nach Ihnen, Herr Brunner.«
Der Strafvollzugsbeamte brachte den Gefangenen in einen kleinen Raum, in dem es nur einen Tisch und vier Stühle gab und in dem der Rechtsanwalt bereits wartete. Der Wärter nahm Brunner die Handschellen ab und ließ ihn mit seinem Prozessbevollmächtigten allein, sperrte allerdings die Tür ab. Etwas befremdet musterte Hubert Brunner den Rechtsanwalt, zugleich aber beinhaltete sein Blick auch die stumme Frage, weshalb dieser ohne Vorankündigung die weite Strecke von Nürnberg bis Straubing gefahren war, nachdem die ganze Angelegenheit nach Rückweisung der Revision seine Erledigung gefunden hatte. Brunner hatte begonnen, sein Schicksal zu akzeptieren.
»Setzen Sie sich, Herr Brunner«, forderte der Jurist den Gefangenen auf.
»Was gibt es, Herr Meiler? Sie haben meine Akte doch sicher längst geschlossen, wie sie auch vom Gericht geschlossen worden ist. Mein Fall liegt ad acta.« Es sollte sarkastisch klingen, beinhaltete aber eine tiefe Resignation.
»Es ist wegen Ihrer Frau«, murmelte der Rechtsanwalt und forderte Hubert Brunner mit einer Handbewegung erneut auf, Platz zu nehmen.
Brunner ließ sich auch tatsächlich nieder und fragte: »Was ist mit ihr? Hat sie sich durchgerungen und will sie, nachdem in der Revision das Urteil bestätigt wurde und nach dem obersten Richterspruch kein Zweifel mehr an meiner Schuld besteht, die Scheidung betreiben?«
»Wenn es das nur wäre«, versetzte der Rechtsanwalt und nahm ebenfalls am Tisch Platz, legte seine Hände auf die Tischplatte und verschränkte die Finger ineinander. Er verriet ein hohes Maß an Unsicherheit – jeder Zug seines Gesichts zeugte davon. Seine Mundwinkel zuckten und er leckte sich des Öfteren mit der Zungenspitze über die Lippen. Es war, als suchte er nach Worten, als versuchte er eine Aussage in seinem Kopf zu formulieren, und schließlich stieß er mit belegter Stimme hervor: »Ihre Frau – sie ist tot. Und sie …«
Wie von einer Tarantel gestochen sprang Hubert Brunner von seinem Stuhl in die Höhe, das Sitzmöbel kippte polternd um, Brunner beugte sich nach vorn, stemmte sich mit beiden Armen auf den Tisch und keuchte: »Was sagen Sie da? Andrea ist tot? Das …«Brunner richtete sich auf, griff sich mit der rechten Hand an die Stirn und legte den Kopf in den Nacken. Betroffenheit wühlte in seiner Miene, Fassungslosigkeit und Erschütterung beherrschten seinen Blick.
Der Rechtsanwalt räusperte sich den Hals frei, dann antwortete er etwas heiser: »Es ist so. Ich habe es gestern Abend erfahren und bei der Staatsanwaltschaft darum gebeten, Ihnen die traurige Nachricht persönlich überbringen zu dürfen, ehe man Sie Ihnen am Telefon oder zwischen Tür und Angel Ihrer Zelle eröffnet.«
»Aber sie war doch erst neunundzwanzig Jahre alt und kerngesund«, stöhnte Hubert Brunner und setzte sich wieder. Unruhig wischten seine Hände über die Tischplatte und hinterließen feuchte Spuren, weil sie plötzlich schwitzten. »Was ist mit Benjamin? Wer kümmert sich um den Kleinen?«
»Tja…«Der Rechtsanwalt fühlte sich deutlich unwohl in seiner Haut und zog unbehaglich die Schultern an. Sein Blick irrte ab und er murmelte: »Den Jungen hat Ihre Frau mitgenommen.«
Hubert Brunner starrte den Juristen mit stupidem Ausdruck an, das Ungeheuerliche, das soeben aus dessen Mund gekommen war, schien ihn zu lähmen und seinen Verstand zu blockieren. Sein Blick drückte Verständnislosigkeit aus, und sogar seine Hände lagen jetzt still auf der Tischplatte. Starr, wie eine aus Granit gemeißelte Skulptur, saß der Häftling auf seinem Stuhl und versuchte das Gehörte zu verarbeiten. Seine Gedanken wirbelten und fabrizierten verworrene Bilder, und es dauerte eine ganze Zeit, bis seine Stimmbänder wieder gehorchten. »Was heißt das?«, ächzte er, obwohl er die Tragweite der Aussage des Rechtsanwalts begriffen hatte.
»Das heißt, dass Ihre Frau sich das Leben genommen und Ihren Sohn mitgenommen hat.«
Hubert Brunner schloss die Augen und murmelte mit versiegender Stimme: »Sie hat sich und den Jungen …«Alles in ihm weigerte sich, das Ungeheuerliche auszusprechen. Und plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht, seine Schultern begannen zu zucken.
Der Rechtsanwalt wartete, und als Hubert Brunner die Hände wieder sinken ließ, sagte er: »Sie müssen ganz besonders stark sein, Herr Brunner. Wenn ich jetzt sage, wie leid es mir tut, klingt das wahrscheinlich ausgesprochen banal. Dennoch: Mir geht das sehr nahe.«
Blicklos starrte Hubert Brunner auf einen unbestimmten Punkt auf der Tischplatte, minutenlang herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern. Irgendwann brach es der Rechtsanwalt, indem er sagte: »Ihre Gattin hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie ist mit dem Leben nicht mehr klargekommen. Nach Ihrer Verurteilung wurde sie von Bekannten und Nachbarn und auch jenen, die sie nur flüchtig kannte, wie eine Aussätzige behandelt. Wenn sie mit Benjamin auf dem Spielplatz erschien, rissen die anderen Mütter ihre Kinder an sich und flohen regelrecht. Die Kindergartenleiterin legte Ihrer Frau nahe, den Jungen aus dem Kindergarten zu nehmen, weil die anderen Eltern drohten, andernfalls ihre Kinder abzumelden. Das Leben sei für sie und den Knaben nur noch ein einziger Spießrutenlauf gewesen und sie sah keine Perspektive mehr.«
»Wie – auf welche Art und Weise hat sie sich und den Jungen …?« Es gelang Hubert Brunner nicht, die Frage zu Ende zu formulieren. Seine Stimmbänder versagten und ein Schluchzen brach aus seiner Kehle.
»Sie hat den Buben erwürgt und sich dann auf dem Dachboden erhängt.«
Wieder herrschte einige Zeit Schweigen. Hubert Brunner presste die Lippen so sehr zusammen, dass sie nur noch einen dünnen, blutleeren Strich bildeten. Seine Backenknochen mahlten, und dass Irrlicht in seinen Augen verriet, dass in ihm ein Sturm der Gefühle tobte.
Seine Stimme klang rau, als er murmelte: »Wir haben uns geliebt, Andrea und ich, und die Krönung unserer Liebe war Benjamin. Wir waren so glücklich. Andrea hat mir immer wieder versichert, dass sie fest zu mir hält und an meine Unschuld glaubt. Doch der Ausdruck in ihren Augen hat diese Worte Lügen gestraft, und ich war fest davon überzeugt, dass sie irgendwann die Scheidung einreichen würde. Dass sie aber …«Seine Stimme zerrann, er schluchzte trocken. »Und dass sie nicht einmal davor haltgemacht hat, den Jungen …« Erneut brach seine Stimme und sein Blick verlor sich irgendwo im Raum.
Plötzlich aber stieß er mit klarer und präziser aber auch stählern klingender Stimme hervor: »Mein Sohn und meine Frau sind tot, und schuld daran sind all jene, die an meiner Verurteilung mitgewirkt haben; der Polizist, der die Ermittlungen geleitet hat, der Staatsanwalt, die Richter und vor allem derjenige, an dessen Stelle ich hier sitze. Ich verfluche sie alle, und ich schwöre, dass ich meine Frau und meinen Jungen rächen werde. Jeder, der ihren Tod mitverschuldet hat, wird büßen – schrecklich büßen!«
»Staatsanwalt Gerber ist vor drei Wochen bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen«, murmelte Rechtsanwalt Meiler.
»Dann trifft mein Fluch jene, die noch am Leben sind. Sie werden den Tag noch verdammen, an dem Sie mich verurteilten und damit das Unglück über meine geliebte Frau und meinen kleinen Sohnes heraufbeschworen.«
In Hubert Brunner schien in diesen Minuten etwas abgestorben zu sein. Sein Gesicht hatte sich auf erschreckende Art verändert und war nur noch eine Physiognomie des tödlichen Hasses.
Rechtsanwalt Arthur Meiler fühlte sich seltsam berührt, es war, als würde ihn ein eisiger Hauch streifen, und er verspürte Gänsehaut.
*
Der siebenundfünfzigjährige Richter Johann Pirner saß am Waldrand auf einer Bank im warmen Sonnenschein. Vor seinem Blick dehnte sich eine Wiese, die gelb war vom blühenden Löwenzahn und auf der das Gras sich im schralen Wind bewegte wie der leichte Wellengang auf einem riesigen See. Ein ungetrübter blauer Himmel spannte sich über dem Richter von einem Horizont zum anderen, das Summen von Bienen und Hummeln sowie Vogelgezwitscher umgaben ihn, hier und dort flatterte ein Schmetterling über den leuchtendgelben Köpfen der Blüten. Tiefer Friede herrschte, Johann Pirner ließ sich in dieser Beschaulichkeit treiben und verspürte eine tiefe Zufriedenheit.
Aber Ruhe und Frieden waren trügerisch. Über dem Richter zogen Wolken auf und türmten sich zu schwarzen Wolkenbergen, die das Licht der Sonne brachen, sodass es eine schwefelgelbe Färbung annahm, die das Land in düsteres Zwielicht hüllte, bis das Gestirn gänzlich dahinter verschwand. Und von dort, wo am Ende des Blickfeldes des Richters die Wiese wieder von der schwarzen Front eines Waldes begrenzt wurde, schoben sich wogende Nebelschwaden heran.
Schließlich herrschte nur noch eine unheimliche Düsternis. Die Atmosphäre rundum mutete plötzlich bedrohlich und beängstigend an, und ohne von einem bewussten Willen geleitet zu werden, wie von Schnüren gezogen, erhob sich Johann Pirner von der Bank. Angst kroch in ihm hoch, er wusste diese Naturerscheinung nicht zu deuten und sah sich einer Situation ausgeliefert, die ihm völlig fremd war. Das ließ sein Herz rasen und krampfte seinen Magen zusammen. Sein Atem ging schneller und stoßweise.
Unaufhaltsam schob sich die Nebelwand näher. In ihr schienen sich Gestalten zu bewegen, doch Einzelheiten konnte der Richter, so sehr er seine Augen auch anstrengte, nicht erkennen. Doch die Angst kam immer kälter und stürmischer, bis der Siebenundfünfzigjährige die Nerven verlor und sich herumwerfen wollte, um die Flucht zu ergreifen.
Er war wie erstarrt, zu keiner Bewegung fähig. So sehr er sich auch bemühte – es war, als wäre er fest in der Erde verwurzelt. Die Panik in ihm wurde überwältigend und drohte ihm den Verstand zu rauben. Und plötzlich vernahm er leises Lachen – klirrend, durchdringend und zugleich hohnvoll. Es ging durch Mark und Bein und drohte dem Richter das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
Er gab es auf und starrte, jeglichen Gedankens und jeglichen Willens beraubt, auf die Nebelwand, und die Erkenntnis, dass es Gestalten waren, die sich in ihrer bewegten, wurde fast erdrückend. Es waren keine Wesen aus fester Materie, sondern feinstoffliche, unablässig pulsierende Schemen und Silhouetten, die nicht greifbar zu sein schienen. Instinktiv wollte Johann Pirner schreien, aber sein Hals war wie zugeschnürt und aus seiner Kehle löste sich lediglich ein verlöschendes Ächzen.
Etwa zehn Schritte von ihm entfernt hielt die Nebelwand unvermittelt an. Und aus ihr löste sich eine etwa dreißigjährige Frau mit langen, dunklen Haaren, die mit einer blauen Jeans und einem weißen T-Shirt bekleidet war und einen etwa fünfjährigen Jungen mit dunkelblonden Haaren an der Hand führte. Der Richter war vom Anblick der beiden wie gebannt. Er hatte diese Frau schon einmal gesehen, möglicherweise sogar schon mehrere Male, doch er konnte nicht zuordnen wann und wo es gewesen sein könnte.
Sie war bleich, die dunklen Augen starrten ihn ausdruckslos an, die Lider waren gerötet, der Mund war verzerrt und die Lippen hatten eine blassrote Farbe angenommen. Am Hals der Frau waren Abschürfungen und dunkle Flecke, Karzinomen nicht unähnlich, zu sehen. Auch das Gesicht des Jungen war krankhaft bleich, die Augen waren ebenfalls rotgerändert, und auch an seinem Hals zeigten sich dunkle Druckstellen.
Richter Pirner begriff. Bei den Malen am Hals der Frau handelte es sich um Strangulationsverletzungen, der Hals des Jungen wies Würgemale auf.
Die beiden waren vor der Nebelwand stehen geblieben und starrten ihn mit leeren Augen an. »Wer sind Sie?«, entrang es sich Johann Pirner. »Was wollen Sie, wo kommen sie her?«
Jetzt erklang wieder das kalte, nervenzermürbende Lachen und die Frau setzte sich wieder in Bewegung. Abwehrend hob Richter Pirner die Hände. »Nein! Bitte, lassen Sie mich in Ruhe. Ich weiß nicht …«
Johann Pirner erschrak und hatte das Gefühl, einem Stromstoß ausgesetzt zu sein. Seine Augen öffneten sich, es war dunkel, sekundenlang starrte er in die Dunkelheit hinein und er spürte das Herz in seiner Brust wie verrückt hämmern. Nur nach und nach fand er sich zurecht. Er lag in seinem Bett, im anderen Bett daneben schlief seine Frau.
Nur langsam bekam Johann Pirner den Aufruhr in seinem Innern unter Kontrolle. Er hatte schlecht geträumt und sah selbst jetzt, obwohl er hellwach war, deutlich die entstellten Gesichter der jungen Frau und des Knaben vor seinem geistigen Auge. Atmung und Herzschlag nahmen bei Johann Pirner nach und nach wieder den normalen Rhythmus auf. Er schleuderte die Bettdecke von sich, schwang die Beine aus dem Bett und erhob sich. Auf leisen Sohlen, um seine Frau nicht zu wecken, ging er in die Küche, holte eine Tüte H-Milch aus dem Kühlschrank, schenkte sich ein Glas voll ein und trank mit kleinen Schlucken.
Der Traum ließ ihn nicht mehr los.
Es war ein Albtraum!
Wer war die Frau mit dem Knaben? Was projizierte sein Unterbewusstsein, warum war sie ihm im Traum erschienen?
Die Antwort auf seine Fragen fand der Richter in dieser Nacht nicht. Das beunruhigte ihn bis in seinen Kern und er fand bis zum Morgen keinen Schlaf mehr.
*
Eine Woche später …
Johann Pirner erhob sich umständlich von seinem Bett und gähnte. Er fühlte sich wie gerädert. Seit Tagen fand er keinen Schlaf mehr, denn jede Nacht plagte ihn derselbe Traum: Es war die Frau mit dem Kind, die sich aus einer Wand wabernder Nebel löste und ihn mit starren Augen musterte. In der Zwischenzeit konnte er sich auch wieder erinnern, wo er die Frau gesehen hatte. Es war im Prozess gegen den fünffachen Frauenmörder Hubert Brunner, und es hatte sich um dessen Ehegattin gehandelt. Sie war zunächst als Zeugin der Verteidigung aufgetreten, später hatte er sie nur noch unter den Zuschauern wahrgenommen.
Der Richter war natürlich von ihrem Selbstmord in Kenntnis gesetzt worden. Dass sie ihm nun jede Nacht im Traum erschien, führte er darauf zurück, dass es ihm irgendwie doch ziemlich nahe gegangen war, vor allem wegen des Kindes, das sie mit in den Tod genommen hatte.
Der Richter warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach 8 Uhr morgens. Er hörte seine Frau in der Küche mit der Kaffeemaschine hantieren und beschloss, unter die Dusche zu gehen.
Der Gedanke an die Frau mit dem Kind beschäftigte ihn. Er hatte sich wie mit glühenden Zangen in sein Gehirn eingebrannt und ließ fast keinen anderen Gedanken mehr zu. Das Bedrohliche, das von ihr ausging, brachte seine Nerven zum Schwingen und löste Angstgefühle in ihm aus. Und er begann sich zu fragen, ob es sich wirklich nur um einen schlechten Traum handelte, oder ob ihn die Geister dieser Frau und ihres kleinen Sohnes in den Nächten tatsächlich besuchten.