Die wilden Rosen am Monte Cristallo - Gudrun Leyendecker - E-Book

Die wilden Rosen am Monte Cristallo E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

Lilith ist enttäuscht, alle privaten und beruflichen Pläne sind fehlgeschlagen. Da nimmt sie das Angebot eines alten Mannes an, der ihr einen Job anbietet. Die Reise führt sie in den Norden Italiens, in die Nähe des Monte Cristallo. Als sich neue Wege auftun, fasst Lilith wieder Mut, alles scheint besser zu werden, wenn da nicht Nora wäre!

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Gudrun Leyendecker ist seit 1995 Buchautorin. Sie wurde 1948 in Bonn geboren.

Siehe Wikipedia.

Sie veröffentlichte bisher über 75 Bücher, unter anderem Sachbücher, Kriminalromane, Liebesromane, und Satire. Leyendecker schreibt auch als Ghostwriterin für namhafte Regisseure. Sie ist Mitglied in schriftstellerischen Verbänden und in einem italienischen Kulturverein. Erfahrungen für ihre Tätigkeit sammelte sie auch in ihrer Jahrzehntelangen Tätigkeit als Lebensberaterin.

Inhaltsangabe:

Lilith ist enttäuscht, alle privaten und beruflichen Pläne sind fehlgeschlagen. Da nimmt sie das Angebot eines alten Mannes an, der ihr einen Job anbietet. Die Reise führt sie in den Norden Italiens, in die Nähe des Monte Cristallo. Als sich neue Wege auftun, fasst Lilith wieder Mut, alles scheint besser zu werden, …wenn da nicht Nora wäre!

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 1

In der kleinen Küche duftete es nach frischem Kaffee.

Stella reichte der Freundin die Schale mit selbst gebackenen Plätzchen. „Die habe ich gestern Abend noch schnell gezaubert. Schließlich sollst du mich in guter Erinnerung behalten, wenn du demnächst so weit weg bist.“

Lilith probierte von einem Gebäckherz, das in dunkler Schokolade glänzte. „Danke, dass du dir so viel Mühe gegeben hast! Aber ich werde dich sowieso nicht vergessen. Wir sind keine achthundert Kilometer voneinander getrennt, in der heutigen Zeit sind das kaum zwei Stunden mit dem Flugzeug.“

Das dumpfe Grollen eines vorüberfahrenden Zuges machte sich durch das offene Fenster bemerkbar. Stella sah hinaus auf die grauen Hochhäuser der Großstadt. „Bei dir da oben auf der Alm, da landet bestimmt nicht einmal ein Hubschrauber.“

„Ich bin noch nie dagewesen“, verriet Lilith. „Paulina, die Tochter des älteren Mannes, um den ich mich demnächst dort in den Dolomiten kümmere, hat mir lediglich einiges über seine Behausung erzählt. Ein bisschen einsam ist es schon, aber das tut mir im Moment bestimmt gut.“

Stella schenkte Kaffee nach. „Du meinst, damit du Bernd nach der Trennung besser vergessen und den Ärger über deinen beleidigten Chef auch leichter verwinden kannst? Aber dafür brauchst du doch nicht so weit weg zu gehen.“

„Je weiter, desto besser. Hier erinnert mich alles daran, aber in den einsamen Bergen habe ich nur die Natur um mich herum, die ist nicht falsch und hinterhältig.“

„Aber du kennst diesen Paolo doch noch gar nicht“, widersprach Stella. „Vielleicht ist er ein mürrischer, alter Kauz, dem du nichts recht machen kannst.“

„Paulina hat mir gesagt, dass er nur sehr wenige Worte spricht. Zuerst haben sie gedacht, er hätte Demenz.

Aber meist ist er ganz klar, deswegen versorgt er sich ja auch noch selbst. Ab und zu redet er eben konfuses Zeug.“

Stella sah die Freundin verwundert an. „Warum musst du ihn dann überhaupt betreuen, wenn er sich noch selbst helfen kann? Und diese Paulina? Kann sie denn nicht auf ihn aufpassen?“

„Oh ja, sie besucht ihn oft. Aber sie hat eine Familie mit Kindern, die zur Schule gehen müssen. Deshalb wohnt sie auch nicht bei ihm, sondern im Tal. Trotzdem tut sie sehr viel für ihn. Im Augenblick zum Beispiel fährt sie in die Toskana, um ihm Holz zu holen.“

„Nein, das glaube ich jetzt nicht.“ Stella riss die Augen auf. „Holz gibt es doch in den Bergen bestimmt genug. Warum muss sie denn dafür extra so weit in den Süden fahren?“

„Paulinas Vater schnitzt Figuren. Ich glaube, in dieser Gegend gibt es einige Holzschnitzer. Viele Menschen, die in der Natur wohnen, beschäftigen sich auch in irgendeiner Form mit ihr. Die einen züchten Schafe, die anderen hüten Kühe oder pflanzen irgendetwas an. Käse wird dort auch viel hergestellt. Paolo nimmt ganz besonderes Holz für seine Figuren. Erfahrene Schnitzer bevorzugen Eiche. Aber er hat sich auf Olivenholz spezialisiert. Und da scheint er ziemlich pingelig zu sein, denn Paulina muss für ihn ganz besondere Stücke besorgen.“

„Na, da hast du es doch schon.“ Stella stöhnte. „Er scheint ein eigenartiger Kauz zu sein. Du hättest ihn dir besser einmal vorher anschauen sollen, bevor du diesen Job annimmst.“

„Ich habe mich eine ganze Weile mit seiner Tochter unterhalten. Sie war so nett, da kann ich mir gar nicht vorstellen, dass sie einen ungemütlichen Vater hat. Sie schien mir auch sehr ehrlich zu sein, ich denke, sie hätte mich sonst auch vorgewarnt.“

Stella lächelte. „Du bist sehr optimistisch. Wenn sie dringend eine gute Betreuerin für diesen Paolo sucht, dann wird sie ihn bestimmt anpreisen wie einen frischgebackenen Kirschkuchen, aber sicher nicht erwähnen, dass diese süßen Früchtchen auch Kerne haben. Womit hat sie dich denn ganz besonders gelockt?“

„Ach, das musste sie gar nicht“, versicherte Lilith. „Allein die Aussicht auf dieses Bergpanorama hat in mir Fernweh geweckt. Weißt du, wie der Morgentau auf einer Blumenwiese aussieht, wenn die Sonne über die Berggipfel schaut?“

„Falls du das zu sehen bekommst! Ich bin misstrauisch“, gestand die Freundin. „Hoffentlich musst du nicht den ganzen Tag den Hüttenboden schrubben. Aber versprich mir, dass du sofort zurückkommst, wenn dich dieser Alte schikaniert!“

„Das ist doch klar. Gerade weil ich genug von solchen Erlebnissen hinter mir habe, ziehe ich jetzt eine ganz andere Umgebung vor. In der nächsten Zeit brauche ich viel Natur, den Morgengesang der Vögel, die polternden Gewitter in der heißen Mittagsstunde, die rosenroten Sonnenuntergänge auf den Zinnen und den unendlichen Sternenhimmel in der Nacht. Ich hoffe, dass du mich bald besuchen kommst! Du wirst staunen.“

Stella verdrehte die Augen. „Im Augenblick kann mich das alles nicht von Marcel weglocken, aber ich verspreche dir, dass ich sofort komme, wenn du mir etwas Spektakuläres anzubieten hast.“

Kapitel 2

Paulina führte Lilith den mäßig steilen Weg hoch, der in Serpentinen die Alm hinaufführte.

Über den Wiesen schwebten weiße und gelbe Schmetterlinge, dicke Hummeln tummelten sich zwischen den bunten Blüten der Sommerblumen.

„Dein Gepäck bringt nachher der Pepi hoch“, versprach die hübsche Italienerin. „An diese Steigung musst du dich erst einmal ohne Bagage gewöhnen.“ Sie blieb kurz stehen und atmete tief ein. „Diese würzige Luft tut immer wieder gut. Da muss ich mir stets den Duft mitnehmen.“

Lilith blieb ebenfalls stehen und sah sich um. Ihr Blick wanderte von den frischgrünen Wiesen bis hinauf zu den Felswänden, die sich zerklüftet und klar umrissen bis zum verheißungsvollen Blau des Himmels reckten.

„Bei so viel Schönheit der Natur wird man immer ganz klein“, meinte sie. „Im Augenblick fühle ich mich wie im Urlaub.“

„Bei schönem Wetter vermisst man hier wirklich nichts“, stimmte ihr Stella zu. „Aber bei Regen verschwinden die Berge, und du wirst eingeschlossen in die Wolken. Da ist schon mancher trübsinnig geworden. Wenn es dir dann an einem solchen Tag zu einsam wird, gehst du einfach rüber zum Pepi, der macht dann etwas Musik und schon hast du wieder gute Laune.“

„Und was macht dann dein Vater in einem solchen Fall?“ fragte Lilith irritiert. „Kommt er mit dem Nebel zurecht?“

„Für ihn gibt es kein schlimmes Wetter. Jedes hat für ihn eine Bedeutung, und er weiß immer mit sich etwas anzufangen.“

„Ja, denn da er ja schnitzt, hat er eine Beschäftigung, mit der er in seine eigene Welt versinken kann, vermute ich. Dabei muss er ja nicht zum Fenster rausschauen. Mit der Fantasie kann man sich seine eigene Welt zaubern.“

Paulina lächelte geheimnisvoll. „Er schnitzt wundervolle Figuren. Dazu hat er ein großes Talent. Aber das ist nicht alles, und du wirst noch sehr überrascht sein, wie er sich das Leben dort gestaltet.“ Sie atmete noch einmal tief ein. „Die kleine Pause hat ganz gutgetan. Lass uns jetzt wieder weitergehen. Wir haben noch ein Stückchen vor uns.“

„Vielleicht solltest du mich doch ein bisschen mehr informieren!“ schlug Lilith vor. „Wenn ich deinen Vater optimal versorgen soll, möchte ich wissen, wie ich ihm helfen kann.“

„Wenn du Lust hast, darfst du ihm beim Kochen oder beim Abwasch helfen. Aber du bist nicht da, um seinen Alltag zu verändern. Ich bitte dich lediglich, ihm ein paar Stunden am Tag Gesellschaft zu leisten und in der Nacht im Häuschen anwesend zu sein, damit er dort nicht allein ist. Mit Pepi bist du dabei jederzeit über Funk verbunden, und wenn du ihn brauchst, ist er in wenigen Minuten bei dir. Er wird dich dann auch in deinen freien Tagen ablösen und nach meinem Vater schauen.“

Lilith hob die Augenbrauen. „Ja, will er mich denn dann überhaupt bei sich haben? Das klingt so, als käme er ganz gut ohne mich zurecht. Hast du das alles mit ihm abgestimmt?“

Stella lachte. „Natürlich. Er weiß, dass du kommst und dass ich mir sonst Sorgen um ihn machen würde. „Aber du musst dir keine Angst machen, er tut schon nichts Unrechtes da oben. Er hat halt viele Hobbys, die ihm am Herzen liegen. Zum Beispiel sammelt er auch besonders schöne Steine, und davon gibt es oben genug.“

„Das gefällt mir“, freute sich die junge Frau. „Ich habe auch ein Faible für Gestein, und das muss nicht nur etwas Edles sein. Ein schlichter Stein mit einer gefälligen Form interessiert mich sofort.“

„Mein Vater arbeitet auch mit Steinen, in jeder Art und Weise. Verschiedenen, die sich zum Schleifen eignen, gibt er eine neue Form und schafft damit kleine Kunstwerke. Er sagt, dass sie zu ihm sprechen.“

Lilith sah Paulina verwundert an. „Wie meinst du das? Ist das seine Fantasie?“

„Er schaut sich ein Mineral an wie ein Bildhauer seinen Klotz. Und er wartet, bis er die Seele des Steins gefunden hat, die ihm andeutet, welche Energie in ihm steckt.“

„Du meinst etwas Esoterisches? Steine, die zum Beispiel auf die Gesundheit der Menschen wirken?“ fragte die junge Frau verwundert.

Paulina lächelte nachsichtig. „Nein. So etwas meine ich nicht. Die Steine, die wir dort oben finden, waren ja nicht immer das, was sie heute sind. Sie waren einmal Feuer und Glut und haben ihre Gestalt verändert. Sie waren im Meer und im Eis, wurden geschoben, gefaltet, gerollt und gemahlen. Im Wandel von Heiß und Kalt, von Nässe und Trockenheit hat jeder seine eigene Geschichte erlebt.“

„Dann ist dein Vater wohl ein Geologe“, vermutete Lilith. „Er muss eine ganze Menge über die Entstehung der Alpen wissen. Einem Fossil sieht man natürlich direkt an, woher es kommt. Aber bei anderen Gesteinen wird es schon schwieriger. Da muss man Spezialist sein.“

„Lass dich überraschen“, wiederholte Paulina. „Paolo hat schon seine besonderen Fähigkeiten.“

Sie erreichten eine Anhöhe, die einen Blick auf ein Natursteinhaus mit mehreren hölzernen Nebengebäuden ermöglichte. Ein großer Tisch mit hölzernen Bänken davor lud zum Rasten ein.

„Sind wir da?“ erkundigte sich Lilith überrascht.

Stella schüttelte den Kopf. „Das ist Pepis Refugium. Die drei großen Nadelbäume hinter dem Brunnen hat sein Großvater gepflanzt. In seiner Familie gab es immer viel Dramatik. Da könnte man fast annehmen, dass auch Schicksale erblich sind.“

„Ja, manchmal sieht es so aus. Ich bin auch ein Scheidungskind und habe bisher nur Pech in der Partnerschaft erlebt.“

„Hier oben wirst du bestimmt ein neuer Mensch“, prophezeite Paulina. „Ich bin auch erst einige Umwege gegangen, bevor ich meine richtige Straße fand. Aber bei Pepi ist es noch schlimm. Er lebt zwar von Beata getrennt, aber sie kommen nicht voneinander los.“

Lilith horchte interessiert auf. „Was verbindet sie denn? Ein Haus oder ein paar Kinder?“

„Weder noch. Aber einer glaubt, ohne den anderen nicht auszukommen, obwohl sie es bisher noch nicht geschafft haben, miteinander leben zu können. Deswegen wohnt Beata jetzt in Cortina d‘ Ampezzo und verdient ihr Geld als Fremdenführerin und Servicekraft.“

„Da ist es bestimmt völlig anders als hier. Das ist ein Ort, in dem der Tourismus großgeschrieben wird. Die Einsamkeit hier ist doch das krasse Gegenteil davon.“

Paulina nickte. „Ja, und dabei ist Beata in diesem Tal geboren und aufgewachsen, da könnte man doch meinen, dass sie es lieben gelernt hat.

„Manchmal schätzt man das nicht mehr, was man dauernd um sich herumhat“, wusste Lilith. „Vielleicht ist ihr das Tal irgendwann einmal zu eng geworden.“

„Das kannst du mit ihr selbst bereden!“ schlug ihr die junge Italienerin vor. „Sie kommt morgen zu Besuch, und jedes Mal, wenn sie heraufkommt, besucht sie auch Paolo.

„Dann ist es ja also gar nicht so einsam, wie ich vermutet hatte“, fand Lilith und schmunzelte. „Und ich hatte schon gedacht, ich unterhalte mich hier nur mit Gämsen und Wanderfalken.“

„Es gibt eine Menge von Menschen, die meinen Vater hier regelmäßig besuchen. Einige mögen ihn wegen seiner vielseitigen Arbeit. Da kann ich es nur noch einmal wiederholen: Lass dich einfach einmal überraschen!“

Kapitel 3

Je höher die beiden Frauen den Berg hinaufstiegen, desto karger zeigte sich die Vegetation.

Die wenigen Büsche und Bäume erschienen Lilith etwas zerrupft, und sie ahnte, dass hier schon ganz heftige Wetterstürme ihre Arbeit verrichtet hatten.

Nach der langen Wanderung begannen ihre Füße zu ermüden. Sie seufzte. „Solch eine lange Steigung bin ich tatsächlich nicht mehr gewohnt. Ist es noch weit?“

Paulina schüttelte den Kopf. „Es ist nur noch eine Wegbiegung. Gleich um die Ecke herum wirst du das letzte grüne Stückchen Almwiese sehen, dass dieser Berg hier oben noch zu bieten hat, dahinter wird es steinig. Es sind nur noch wenige Meter.“

Lilith nahm sich zusammen. „Dann mach ich mich jetzt für den Endspurt bereit“, ermutigte sie sich selbst und beobachtete den Vogel, den sie gerade gesichtet hatte.

„Es ist der Wanderfalke“, wusste die junge Italienerin. „Und das hier ist sein Lieblingsrevier. Du wirst ihn also oft begrüßen können. Und außer Pepis Behausung und der Berghütte meines Vaters findest du hier noch ein paar hundert Meter weiter die Almhütte der Rosa. Die fabriziert den besten Käse dieser Gegend, und auf der anderen Seite ist das Domizil des Bergführers Antonio. Er hat auch ein paar Ziegen und ein paar Schafe, vielleicht hast du auch einmal Lust, deine Nachbarn kennenzulernen.“

„Dann wohnen ja doch mehr Menschen hier als ich dachte“, stellte Lilith fest. „Das klingt ja beinahe nach einem wöchentlichen Kaffeeklatsch.“

Paulina runzelte die Stirn. „Da irrst du dich sehr. Sie vertragen sich alle mit meinem Vater und Pepi recht gut, aber Rosa und Antonio sind verfeindet, und das schon seit vielen Jahren. Das ist wohl eine längere Geschichte, und ich denke, der Pepi wird sie dir bestimmt in den nächsten Tagen erzählen.“

„Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Eigentlich habe ich mich für diese herrlichen Berge entschieden, weil ich hoffte, hier ist alles so friedlich, dem Himmel so nah. Wenn ich ins Tal schaue, habe ich das Gefühl, die alte Welt hinter mir zu lassen und damit auch Intrigen und Feindschaften. Die Natur ist doch hier so harmonisch, wie kann man da grollen?!“

„Auch die Natur grollt hier“, erinnerte Paulina. „Und das nicht nur beim Unwetter, sondern auch mit dem Rutschen von Schneebrettern und Gerölllawinen. Auch hier kann es rau und grausam zu gehen. Aber nicht in der Hütte meines Vaters, er ist im Grunde seines Herzens ein gutmütiger Mensch, auch wenn er manchmal ein bisschen brummig aussieht.“

Einen Augenblick später hatte Lilith schon Gelegenheit, sich selbst darüber ein Bild machen zu können, denn eine große männliche Gestalt begegnete ihnen gleich hinter der Kurve auf der anderen Seite des grauen Massivs.

Rüstig schritt die stattliche Gestalt voran, das graue Haar leuchtete silbern in der Sonne, und aus dem fülligen Bart heraus zeigte sich ein gebräuntes, faltiges Gesicht.

Beim Näherkommen erblickte Lilith dunkle Augen, die ihr aufmerksam entgegensahen. Sie wurde ein wenig unsicher und flüsterte ihrer Begleiterin zu: „Und du bist sicher, dass er mit meinem Aufenthalt hier einverstanden ist?“

Paulina schmunzelte. „Lass dich von seinem ernsten Gesicht nicht täuschen! Damit wahrt er nur immer seine Haltung. Denn im Grunde seines Herzens ist er ein sensibler und mitfühlender Mensch.“

Paolo betrachtete die für ihn fremde Frau eingehend und nickte ihr dann zu. „Grüß Gott, Lilith! Wer weiß, vielleicht wirst du es mit mir hier oben aushalten. Wir werden es sehen. Paulina wird sich nach dir erkundigen, und sie kann dich jederzeit wieder hier abholen.“

„Ich hoffe, dass Sie mit mir zufrieden sind, Signore Bianchi“, sagte die junge Frau kleinlaut und suchte hinter seinem Bart nach einem freundlichen Lächeln. Aber in seinem Gesicht bewegte sich nichts, als er antwortete. „Es geht um Paulina. Wenn sie mit dir zufrieden ist, wird es keine Beanstandung geben.“

Er nahm seine Tochter flüchtig in den Arm. „Hast du an mein Holz gedacht, Mädchen?“

Sie nickte eifrig. „Natürlich, Papa! Ich bin gestern erst aus der Toskana zurückgekommen, während ich die Kinder bei meiner Freundin gut versorgt wusste. Ich habe dir ein paar schöne Stücke ausgesucht. Pepi wird sie nachher zusammen mit Liliths Gepäck zu dir bringen. Hast du eine frische Milch für uns da?“

Sie ergriff den Arm ihres Vaters und machte ihrer Begleiterin ein Zeichen. „Komm einfach mit, Lilith! Er beißt nicht, auch wenn er manchmal so aussieht.“

Lilith folgt den beiden bis zu der großen Holzhütte, auf deren Dach sich mehrere große Steine befanden, so wie es die junge Frau von einigen bunten Postkarten kannte. Ein winziger, bunt blühender Blumengarten, den ein sorgfältig gezimmerter, frisch gestrichener Zaun umgab, ließ sie aufatmen.

Wer Blumen liebt, kann nicht ganz böse sein, tröstete sie sich. Schließlich hatte seine Tochter so viel Gutes von ihm erzählt, davon musste doch irgendetwas stimmen. Und falls er doch öfter einmal schlechte Laune zeigte, hatte er sicher auch einen triftigen Grund. In seinem Alter traten häufig verschiedene Schmerzen in den unterschiedlichsten Körperregionen auf. Und möglicherweise gab es auch schon einige Enttäuschungen in seinem langen Leben. Vermutlich hatte er auch schon einiges geleistet, nun hatte er auch einmal ein Recht auf eine schlechte Stimmung.

Vor der mit Schnitzwerk versehenen Tür blieb Paolo stehen und drehte sich zu seinem Gast um. „Tritt ein, Mädchen und schau dich um! Das ist jetzt in den nächsten Tagen dein Zuhause.“

Er ließ sie eintreten und folgte ihr mit seiner Tochter.

Lilith sah sich um und ließ die gemütliche Bauernstube auf sich wirken. Zwischen all dem liebevoll geschnitzten Holz fanden sich bunte Kissen und Decken, die den Möbeln Farbe verliehen. Auf dem mit einfachen Tellern gedeckten Tisch stand ein großer Strauß mit Sonnenblumen, die ihr freundlich entgegenlachten. Die Zweifel, die sie beim Anblick seines ernsten Gesichts gepackt hatten, verschwanden. Ganz gewiss hatte er auch ein Herz, auch wenn er es nicht jedem sofort zeigte. Sie begann mit sich zu schimpfen. Was hatte sie auch erwartet? Einen freundlichen Großvater, der ihr um den Hals fiel? Paulina hatte ihn ihr zur Betreuung übergeben, also war er ein Klient, dessen Eigenarten sie zu berücksichtigen hatte. Er war der Vater ihrer Arbeitgeberin, also ein völlig Fremder.

Möglicherweise hatte sie sich auch zu viel von Paolo versprochen, weil seine Tochter so viel von seiner Arbeit und seinen Talenten geschwärmt hatte. Aber ein fleißiger und talentierter Mensch musste nicht unbedingt auch redselig und kommunikativ sein. Und schließlich wollte sie ja selbst auch ein bisschen Ruhe und hatte sich von der Stille der Natur eine ganze Menge erhofft. Besser war also ein Mensch, der ernst war und wenig redete als jemand, der sie ärgerte.

Sie erinnerte sich daran, dass sie einmal einen Artikel über das Lächeln der Menschen gelesen hatte. Das hatten sie noch aus der Vorzeit übernommen, ein Urverhalten von früher, als man einem Fremden gegenüberstand und damit demonstrieren wollte, dass man ihm nicht feindlich gesinnt war.

Nun, sie wollte sein ernstes Gesicht nicht überbewerten. Paolo hatte sicher irgendeinen Grund, der gegen ein Lächeln sprach.

„Es gefällt mir hier sehr gut“, sagte sie. „Es ist alles hier sehr liebevoll eingerichtet, und Blumen, die liebe ich über alles.“

„Von Bergblumen wirst du jetzt genug haben“, prophezeite Paulina. „Du darfst sie dir alle ansehen und auch darüber sprechen. Nur eine einzige Sorte ist davon ausgeschlossen, und allein schon der Name ist ein Tabu, und das sind die wilden Rosen.“

Kapitel 4

„Was ist damit?“ erkundigte sich Lilith verwundert.

Bevor Paulina etwas antworten konnte, wandte sich ihr Vater an seinen jungen Gast. „Wir haben zwar hier drinnen ein kleines Bad, aber du kannst dir die Hände auch draußen am Brunnen waschen. Die Suppe ist fertig und wird uns allen guttun.“

Die junge Frau verstand den Wink und verließ den Raum. Aus irgendeinem Grund wollte Paolo wohl nicht, dass sie jetzt alles über diese Blumen erfuhr. Vermutlich gab es da ein Geheimnis, dass er ihr gar nicht oder jetzt noch nicht anvertrauen wollte.

Während sie sich die Hände am Brunnen wusch, machte sie sich ihre Gedanken. Wilde Rosen! Warum konnten sie hier in dieser wunderschönen Gegend einen schlechten Ruf haben? Standen sie vielleicht unter Naturschutz und durften nur in ganz begrenzter Menge gepflückt werden? Hatte jemand damit heimlichen Handel getrieben oder war sogar beim Pflücken abgestürzt?

Das kalte Wasser erfrischte sie nach der langen Wanderung. Sie ließ es bewusst über ihre Hände gleiten und nahm die Kälte sehr eindringlich wahr. Entschieden nahm sie sich vor, keine Erwartungen mehr zu hegen, sondern einfach nur die Zeit in dieser herrlichen Gegend zu genießen und den Augenblick zu leben. Alles andere würde sich schon finden.