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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Cornelia Wagner, eine hübsche junge Frau von achtundzwanzig Jahren, mit braunen, halblangen Haaren und dunklen Augen, lenkte ihren Wagen durch das breite Tor in den Park des Kinderheimes Sophienlust. Ihren Lippen entfuhr ein überraschtes ›Oh‹, als sie das ehemalige Herrenhaus am Ende der breiten Auffahrt erblickte. Sie hielt den Wagen einen Moment an und ließ das Bild von Park und Haus voll auf sich wirken, bevor sie wieder Gas gab und langsam bis zur Freitreppe fuhr. Das Portal des Hauses stand halb offen. Eben trat ein etwa dreizehnjähriges Mädchen in Jeans und einer blauen Bluse heraus und sprang leichtfüßig die Freitreppe hinab. Cornelia stieg aus ihrem Wagen. »Guten Morgen!« grüßte sie. »Guten Morgen!« Das Mädchen kam unbefangen heran. »Sie sind sicher Frau Wagner«, meinte es freundlich lächelnd. »Woher weißt du das?« Die junge Frau war verblüfft. »Tante Isi, ich meine, Frau von Schoenecker, hat uns gesagt, daß Sie sich heute in Sophienlust vorstellen wollen. Ich bin Angelina Dommin. Sie dürfen mich aber ruhig Pünktchen nennen. Das tun hier alle.« Angelina wies auf ihr Gesicht. »Wegen der vielen Sommersprossen«
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Seitenzahl: 152
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Cornelia Wagner, eine hübsche junge Frau von achtundzwanzig Jahren, mit braunen, halblangen Haaren und dunklen Augen, lenkte ihren Wagen durch das breite Tor in den Park des Kinderheimes Sophienlust. Ihren Lippen entfuhr ein überraschtes ›Oh‹, als sie das ehemalige Herrenhaus am Ende der breiten Auffahrt erblickte. Sie hielt den Wagen einen Moment an und ließ das Bild von Park und Haus voll auf sich wirken, bevor sie wieder Gas gab und langsam bis zur Freitreppe fuhr.
Das Portal des Hauses stand halb offen. Eben trat ein etwa dreizehnjähriges Mädchen in Jeans und einer blauen Bluse heraus und sprang leichtfüßig die Freitreppe hinab.
Cornelia stieg aus ihrem Wagen. »Guten Morgen!« grüßte sie.
»Guten Morgen!« Das Mädchen kam unbefangen heran. »Sie sind sicher Frau Wagner«, meinte es freundlich lächelnd.
»Woher weißt du das?« Die junge Frau war verblüfft.
»Tante Isi, ich meine, Frau von Schoenecker, hat uns gesagt, daß Sie sich heute in Sophienlust vorstellen wollen. Ich bin Angelina Dommin. Sie dürfen mich aber ruhig Pünktchen nennen. Das tun hier alle.« Angelina wies auf ihr Gesicht. »Wegen der vielen Sommersprossen«, erklärte sie lachend.
»Pünktchen klingt nett«, meinte Cornelia. Sie reichte Angelina die Hand. »Lebst du schon lange in Sophienlust?«
Pünktchen nickte. »Ja«, antwortete sie, »in Sophienlust ist es wunderschön. Ich bin hier richtig zu Hause.« Sie strich sich mit einer flüchtigen Handbewegung eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. »Ich werde Sie zu Frau Rennert bringen. Tante Isi ist mit den Kleinen zur Baumschule gegangen. Aber sie wird jeden Moment zurückkommen.«
Fünf Minuten später saß Cornelia Wagner der Heimleiterin, Else Rennert, in deren büroähnlichem Empfangszimmer gegenüber. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Die junge Frau war überzeugt, daß sie gut mit Frau Rennert auskommen würde.
»Es fällt mir nicht leicht, den Sonnenhof zu verlassen, aber das Heim soll kleiner werden, und da bin ich quasi überflüssig«, sagte Cornelia Wagner, nachdem sie Platz genommen hatte. »Die Kinder sind mir alle ans Herz gewachsen.«
»Wie viele Kinder haben Sie im Sonnenhof zu betreuen?« erkundigte sich Else Rennert, nachdem das Hausmädchen Ulla Kaffee und Gebäck gebracht hatte.
»In meiner Gruppe acht«, antwortete Cornelia. Sie nippte an ihrem Kaffee. »Aber sooft es meine Zeit zuläßt, kümmere ich mich auch um die ganz Kleinen. Die meisten Kinder im Sonnenhof sind Sozialwaisen. Ihre Eltern besuchen sie alle paar Wochen oder Monate und lassen in der Zwischenzeit kaum etwas von sich hören.«
»Wo sollen die Kinder untergebracht werden, wenn der Sonnenhof verkleinert wird?« fragte Else Rennert interessiert.
»Unsere Jüngsten kommen in ein Kinderheim in Freudenstadt, die Gruppe der Sechs- bis Zehnjährigen, die ich betreue, wird in einem Nagolder Heim untergebracht. Im Sonnenhof bleiben nur die Kinder ab zehn.«
»Da begehen wir das Jahr des Kindes, aber geändert hat sich kaum etwas. Kinder werden weiterhin wie eine Ware von einem Heim ins andere befördert«, sagte Frau Rennert verbittert. Sie zuckte mit den Schultern. »Leider können wir die Welt nicht ändern, nur versuchen, wenigstens die Not einiger Kinder zu lindern.« Sie blickte zur Tür. »Ah, da kommt Frau von Schoenecker, Frau Wagner!«
Cornelia Wagner erhob sich und ging der aparten dunkelhaarigen Frau, die eben das Empfangszimmer betreten hatte, entgegen. Sie war überrascht. Sie hatte sich Denise von Schoenecker bedeutend älter vorgestellt, aber vielleicht täuschte auch nur das jugendliche Aussehen der Gutsbesitzerin. Immerhin hatte diese, wie Cornelia wußte, bereits einen sechzehnjährigen Sohn.
»Willkommen in Sophienlust, Frau Wagner«, sagte Denise von Schoenecker herzlich und reichte Cornelia die Hand. »Es tut mir leid, daß ich Sie nicht gleich bei Ihrer Ankunft begrüßen konnte, aber ich habe Sie nicht vor heute nachmittag erwartet.«
»Ich bin absichtlich so früh gekommen, um bis zum Abend wieder im Sonnenhof zu sein«, antwortete Cornelia. Etwas unsicher fügte sie hinzu: »Hoffentlich störe ich nicht!«
»Nein, selbstverständlich nicht«, versicherte Denise. »Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz!«
Ulla brachte eine dritte Tasse, füllte sie und reichte sie Denise, die sich in einen Sessel neben Cornelia gesetzt hatte.
»Sie schrieben in Ihrer Bewerbung, daß Sie in zwei Monaten bei uns anfangen könnten«, begann Denise das Gespräch, als das Hausmädchen hinausgegangen war.
»Ja, das stimmt«, erwiderte Cornelia. »Ich möchte gern bis zuletzt im Sonnenhof bleiben. Ich fühle mich für meine Kinder verantwortlich. Es ist schlimm genug, daß ich sie verlassen muß. Deshalb sollen sie sich nicht noch während der letzten Wochen an eine neue Erzieherin gewöhnen müssen.«
»Das spricht für Sie, Frau Wagner«, erwiderte Denise von Schoenecker und stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Wie lange waren Sie im Sonnenhof?«
»Fast acht Jahre, wenn man das Praktikum dazurechnet«, antwortete Cornelia. »Für mich ist der Sonnenhof fast zu einer Heimat geworden. Sehen Sie, ich habe meine Eltern sehr früh verloren. Ein Onkel, der die Verantwortung für mich loswerden wollte, schob mich in ein Internat ab. Ich weiß also aus eigener Erfahrung, wie es ist, ohne Eltern aufzuwachsen. Wenn die anderen Kinder über die Ferien nach Hause fahren konnten, mußte ich im Internat bleiben. Meine Kindheit war alles andere als schön. Ich…«
»Bist du die neue Tante?« fragte die fünfjährige Heidi Holsten von der Tür her. Sie war so leise hereingekommen, daß weder Else Rennert noch Denise von Schoenecker es bemerkt hatten. Eilig rannte sie zu Cornelia. »Du siehst nett aus. Dich mag ich«, stellte sie unverblümt fest.
»Ich mag dich auch«, antwortete Cornelia, überrascht von der spontanen Zuneigung, die ihr das kleine Mädchen entgegenbrachte. »Verrätst du mir deinen Namen?«
»Heidi heiße ich«, sagte die Kleine. »Findest du mich hübsch?« Sie legte ihr Köpfchen schief. »Neulich hat eine Frau gesagt, ich hätte allerliebste Rattenschwänzchen und ein süßes Gesicht.«
»Du bist ein sehr hübsches Mädchen, Heidi«, bestätigte Cornelia. Sie bemerkte, daß die Heimleiterin und Denise von Schoenecker sich Mühe gaben, ernst zu bleiben. Und auch ihr selbst fiel es schwer, nicht über die Eitelkeit der Kleinen zu lachen.
»Ich bin das jüngste Dauerkind auf Sophienlust«, erklärte Heidi. »Darf ich zu dir auf den Schoß?«
»Natürlich!« Cornelia hob Heidi hoch. »Ist es so gut?«
»Prima!« Heidi lehnte ihr blondes Köpfchen an Cornelias Schulter. »Auf dem Schoß zu sitzen ist viel schöner, als auf einem Stuhl zu sitzen.« Sie sah Denise an. »Nachher sitze ich wieder bei dir, Tante Isi!«
»Dann habe ich ja keinen Grund, eifersüchtig zu werden«, scherzte Denise amüsiert. »Unser Küken haben Sie mit Heidi also schon kennengelernt«, wandte sie sich an Cornelia.
»Warum bin ich ein Küken?« fragte Heidi, bevor Cornelia antworten konnte. Sie rutschte von Cornelias Schoß und kletterte auf Denises Schoß. »Tante Isi, warum bin ich ein Küken?«
»Weil du noch ein sehr kleines Mädchen bist, Heidi«, sagte Denise. »So, und jetzt gehst du wieder zu den anderen. Ich muß mich noch etwas mit Frau Wagner unterhalten. Beim Mittagessen darfst du dann neben mir sitzen.«
»Gut!« Heidi gab Denise frei. »Aber ganz bestimmt!« rief sie noch. Dann rannte sie aus dem Zimmer. »Schwester Regine«, hörten die drei Frauen sie in der Halle jubeln, »die neue Tante ist riesig nett!«
*
»War das wieder ein Tag!« seufzte Hanno Fritz und schloß die Wohnungstür hinter sich. Er gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. »Was gibt es denn zu essen, Liebes?« Liebevoll zog er seine Frau an sich. »Hast du etwas getrunken?« fragte er irritiert, als ihm Utas Atem ins Gesicht wehte. Er runzelte die Stirn.
»Was du immer gleich hast, Hanno«, erwiderte Uta Fritz. »Ich habe ein Glas Wein getrunken, mehr nicht. Was soll ich auch den ganzen Abend über machen? Dich sehe ich ja kaum!« Unwillkürlich entwand sie sich seinen Armen.
»Es tut mir leid, Liebling, aber du weißt doch, wieviel ich gerade jetzt wieder zu tun habe«, verteidigte sich Hanno. Er ging an Uta vorbei und warf einen Blick in die Küche, die wie gewöhnlich nicht allzu aufgeräumt aussah. »Ich habe nämlich Hunger!«
Uta verzog das Gesicht. »Ich habe heute nichts gekocht«, gestand sie. »Ich dachte, daß wir wieder mal essen gehen könnten. Komm, schau nicht so! Ich habe halt keine Lust, jeden Tag am Herd zu stehen.«
»Hast du wenigstens Wurst und Käse im Haus?« fragte Hanno erregt. Er betrat die Küche und riß den Eisschrank auf. Mit einem raschen Blick überflog er die vollen Regale. »Schlag mir bitte zwei Eier in die Pfanne«, bat er seine Frau, »und koch einen starken Kaffee.«
»Es ist erst neun!« protestierte Uta. »Wir könnten doch noch in den Wienerwald gehen. Wir…«
»Uta, ich bin den ganzen Tag unterwegs, wenn ich nicht gerade im Büro sitze! Ich muß oft genug in der Gastwirtschaft essen. Ich freue mich darauf, wenigstens abends gemütlich in den eigenen vier Wänden…«
»Aber ich freue mich nicht darauf«, unterbrach Uta ihren Mann. »Denkst du, es macht mir Spaß, stundenlang allein zu Hause zu hocken, bis du endlich geruhst heimzukommen? Was habe ich denn schon von meinem Leben, ja? Ich bin einundzwanzig, zu jung, um von dir lebendig begraben zu werden.«
»Kein Mensch will dich lebendig begraben«, sagte Hanno müde. Er war die ewigen Auseinandersetzungen mit Uta leid. Er verstand nicht, warum sie nicht einsehen wollte, daß er nicht pünktlich Feierabend machen konnte. Es war schwer gewesen, ein eigenes Fuhrunternehmen auf die Beine zu stellen, und er stand noch am Anfang. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als selbst mit anzupacken, wenn er nicht im Konkurrenzkampf unterliegen wollte.
»Doch, du tust es«, erwiderte Uta rebellisch. Mit den Händen fuhr sie sich nervös durch ihre überlangen dunklen Haare. Sie war an diesem Tag wie immer um ein Uhr mittags von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte den Nachmittag damit verbracht, sich zu langweilen. Das bißchen Aufräumen war schnell getan. Sie haßte Hausarbeit sowieso. »Du hast deine Arbeit, die dich völlig ausfüllt, und ich? Für mich bleibt nur die Langeweile!«
»Wenn du dich langweilst, könntest du einmal richtig putzen«, schlug Hanno ärgerlich vor. Er hängte seine Jacke an den Garderobenhaken und verschwand im Bad, um sich die Hände zu waschen.
»Gehen wir nun essen?« rief Uta durch die geschlossene Tür.
»Nein!« Hanno drehte den Wasserhahn ab und griff nach dem Handtuch. Während er sich die Hände abtrocknete, betrachtete er sich im Spiegel.
Taufrisch siehst du nicht gerade aus, dachte er bei sich. Abgespannt preßte er die Hände ans Gesicht. Die unter seinen blauen Augen liegenden Ringe ließen ihn bedeutend älter als zweiunddreißig erscheinen. Der Gedanke, am nächsten Morgen schon wieder um fünf Uhr aufstehen zu müssen, ließ ihn erschauern. Es wurde Zeit, daß er wieder einmal richtig ausschlafen konnte.
Hanno griff nach dem Kamm und glättete seine schwarzen, leicht gewellten Haare. Dabei überlegte er, im Grunde hatte Uta nicht einmal so unrecht. Er durfte nicht vergessen, daß sie immerhin elf Jahre jünger war als er.
Hanno verließ das Badezimmer und schaute in die Küche. Uta stand keineswegs am Herd, wie er erwartet hatte. Dafür erklang aus dem Wohnzimmer laute Schlagermusik. Als Hanno seinen Kopf ins Zimmer steckte, sah er, daß Uta auf der Couch lag. »Ich habe es mir überlegt, Liebling«, sagte er resigniert. »Mach dich schnell fertig. Wir gehen in den Wienerwald.«
»Ich wußte, daß du nachgeben würdest!« Die junge Frau schwang die Beine von der Couch. Mit zwei Schritten war sie am Fernseher und schaltete ihn aus. »Ich brauche keine zwei Minuten«, versprach sie.
Auch Hanno zog sich rasch um, allerdings war er längst fertig, als seine Frau noch immer vor dem Toilettentisch saß und ihr Gesicht in allen Farben des Regenbogens bemalte. Innerlich seufzend schaute er auf seine Armbanduhr. Jetzt war es fast zehn. Am liebsten hätte er die Einladung in den Wienerwald rückgängig gemacht. Er würde am nächsten Morgen hundemüde sein. Es wäre besser gewesen, er hätte sich selbst in die Küche gestellt. Aber dazu war es nun zu spät. Er mußte das auslöffeln, was er sich eingebrockt hatte.
»Fertig!« Uta stand auf. »Na, gefalle ich dir?« Sie tupfte sich noch rasch etwas Parfüm hinter die Ohren.
»Du siehst wunderbar aus«, sagte Hanno und küßte sie auf die Stirn.
Beim Hinausgehen warf er einen kurzen Blick auf das große gerahmte Foto, das über seiner Bettseite hing. Es zeigte Simone, seine kleine Tochter aus erster Ehe. Er sehnte sich danach, sie wieder einmal in die Arme zu nehmen.
»Komm schon!« drängte Uta. Sie hakte ihn unter.
Der Wienerwald war, wie meist um diese Zeit, überfüllt. Trotzdem gelang es ihnen, noch einen kleinen Ecktisch zu bekommen. Nach dem ersten Glas Bier war Hannos Müdigkeit verflogen. Er lebte förmlich auf.
»Du bist mir nicht mehr böse, oder?« fragte Uta und schaute ihrem Mann in die Augen. »Ich habe einfach das Alleinsein satt. Wenn du wüßtest, wie schrecklich es ist, Stunde um Stunde auf dich zu warten. Und dann, wenn du endlich nach Hause kommst, willst du nichts weiter als dein Essen und ins Bett gehen.«
»Ich bin dir nicht böse, Liebling«, antwortete Hanno. »Hab bitte noch etwas Geduld. In spätestens einem Jahr bin ich über den Berg und kann mir etwas mehr Zeit nehmen.«
»Ein Jahr ist eine Ewigkeit«, meinte Uta. »Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt verheiratet bin.«
»Warum besuchst du nicht irgendeinen Abendkurs?« schlug Hanno vor. »Schaff dir irgendein Hobby an. Es gibt an der Volkshochschule jede Menge Kurse, für Töpfern, Schneidern und anderes. Oder lerne Stenografie und Schreibmaschine. Dann kommst du endlich aus deiner Fabrik heraus. Ich…«
»Bitte, verdirb uns nicht den Abend«, bat Uta. »Du weißt, daß ich mich weder für Steno noch für Schreibmaschine interessiere, und erst recht nicht für deine anderen Vorschläge.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du früher nach Hause kommen würdest, wäre alles in Ordnung.«
»Und wie wäre es, wenn wir Simone zu uns nehmen würden?« fragte Hanno vorsichtig. Sie hatten darüber schon oft gesprochen, aber bisher war Uta nicht bereit gewesen, seiner Tochter die Mutter zu ersetzen.
»Nicht doch!«
»Und warum nicht?« Hanno legte sein Besteck weg. »Simone ist erst zwei Jahre alt. Sie wird in dir ihre Mutter sehen. Und ich bin überzeugt, du wirst sie liebhaben. Du mußt sie nur erst richtig kennenlernen. Du gibst deine Arbeit auf und…«
»… spielst das vollendete Hausmütterchen«, fiel Uta ihm wütend ins Wort. »Treu gemäß dem Motto: Kinder, Küche, Kirche! Aber nicht mit mir, mein Lieber! Wir waren uns bei unserer Heirat einig, daß Simone dort, wo sie ist, sehr gut aufgehoben ist. Du kannst mich nicht mit der Hinterlassenschaft deiner ersten Frau belasten. Wenn schon Kinder, dann eigene!«
»Aber Simone braucht Eltern«, drängte Hanno.
»Dann hättest du dich nicht von deiner ersten Frau scheiden lassen dürfen«, meinte Uta ungerührt. »Bitte, Hanno, verdirb uns nicht den Abend. Wir gehen selten genug miteinander aus.«
»Ich werde Simone am Sonntag besuchen. Bitte, komm wenigstens diesmal mit!« Hanno ergriff die Hände seiner Frau. »Tu mir den Gefallen!«
»Nein, Hanno, ich denke nicht daran!« Uta entzog ihm ihre Hände. »Wochentags arbeitest du bis spät in die Nacht hinein, und am Wochenende hast du nichts anderes vor, als deine Zeit in diesem Kinderheim zu vertun. Und wo bleibe ich?« Ihre Stimme wurde schrill. »Ich bin auch noch da, verdammt noch mal!«
»Bitte, Uta!«
»Schon gut.« Uta senkte den Kopf. »Es ist doch kein Wunder, wenn mir die Nerven durchgehen.« Sie griff nach ihrem Bierglas und leerte es in einem Zug.
»Uta, ich habe nicht vor, den ganzen Tag bei Simone zu bleiben, nur zwei, drei Stunden, nicht länger. Wir könnten unterwegs richtig schön essen gehen. Oder… Ich habe noch einen besseren Vorschlag: Wir fahren schon am Samstag und übernachten unterwegs.«
Uta überlegte. »Einverstanden«, sagte sie, »aber du fährst allein zu deiner Tochter. Ich bleibe im Hotel oder gehe ins Kino.«
»Gut«, gab Hanno nach. Er hoffte, daß Uta sich noch besinnen würde. Es war ihm unverständlich, daß sie Simone nicht leiden mochte. So ein süßes kleines Mädchen, wie seine Tochter, mußte man doch einfach lieben. Aber Uta war eifersüchtig auf alles, was ihn noch mit Sieglinde verband. Es war lächerlich, aber sie hatte sogar alle Fotos seiner ersten Frau aus den Alben gerissen und verbrannt.
Uta lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie war mit sich zufrieden. Hanno liebte sie. Wenn sie es richtig anfing, würde er alles tun, was sie verlangte. Und eines Tages würde sie ihn auch so weit haben, daß er Simone zur Adoption freigab. Davon war sie felsenfest überzeugt.
»An was denkst du, Liebling?« fragte Hanno.
»An uns beide«, antwortete Uta wahrheitsgemäß. Sie fuhr mit zwei Fingern durch ihre Haare. »Jetzt sind wir fast ein Jahr miteinander verheiratet. Weißt du noch, wie wir uns kennenlernten?«
»Das werde ich wohl nie vergessen«, sagte Hanno und lächelte ihr zu.
*
»Das ist ja heute eine wahre Elterninvasion«, meinte Gertraud Gruner, die Leiterin des Sonnenhofs. Sie schaute durch das Fenster in den weitläufigen Garten des Kinderheims hinab. Überall sah man Eltern mit ihren Kindern. »Ist irgendwo eine Aktion ›Eltern besucht eure Kinder‹ gestartet worden?« fragte sie die beiden Heimerzieherinnen, die bei ihr waren.
»Nicht, daß ich wüßte«, erwiderte Elisabeth Singer.
»Vielleicht ein Massenanfall von schlechtem Gewissen«, sagte Cornelia Wagner. »Schön wäre es, wenn es jeden Sonntag so aussehen würde.« Mit den Augen folgten sie einem Ehepaar, das mit einem ihrer persönlichen Schützlinge dem Tor zustrebte. Sie drehte sich lächelnd um. »Wie dem auch sei, ich bin heute nachmittag arbeitslos. Von meiner Gruppe hat jedes Kind Besuch bekommen. Kann ich Ihnen helfen, Fräulein Singer?«
»Das wäre mir sehr recht«, stimmte Elisabeth Singer sofort zu. »Wenn Sie mir Simone und Birgitt abnehmen, kann ich mich mal richtig Steffen und Petra widmen. Die beiden haben es wirklich nötig.«
»Schlimm, daß manche Kinder niemals Besuch bekommen«, meinte Cornelia bedrückt.
Steffen und Petra waren Zwillinge. Vor knapp einem Jahr hatte das Jugendamt sie zu ihnen gebracht. Die Mutter der beiden hatte sich bisher nur ein einziges Mal blicken lassen. Wie man im Heim wußte, lebte sie wieder einmal mit einem neuen Liebhaber zusammen. Ein weiteres Kind von ihr war in einem norddeutschen Heim untergebracht. Nach wie vor weigerte sie sich hartnäckig, wenigstens die Zwillinge zur Adoption freizugeben.
Cornelia Wagner ging mit Elisabeth Singer in die Kleinkinderabteilung des Heims. Eine junge Schwester saß zwischen vier Ein- bis Zweijährigen am Boden und stellte Bauklötze auf.
»Sie können dann gehen, Schwester Monika«, sagte Elisabeth Singer. »Wir kümmern uns um die Kleinen.«
Simone Fritz, ein lebhaftes blondes Mädchen mit großen braunen Augen, kam auf die Beine und rannte Cornelia entgegen, die rasch in die Hocke gegangen war und das Kind mit beiden Armen auffing.
»Mit Tante Conny gehen«, verlangte die Kleine und schmiegte sich an die junge Frau.