Ein Engel ohne Himmel - Anne Alexander - E-Book

Ein Engel ohne Himmel E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Hoppa, hoppa, Reiter!« sang Peterle und hüpfte begeistert auf den Knien der Huberbäuerin auf und ab. »Hoppa, hoppa, Reiter«, wiederholte er energisch, als die Bäuerin nicht gleich auf ihn einging. »Wenn er fällt, dann schreit er«, stimmte die Huberbäuerin nun ein und ließ ihre Knie auf und ab wippen. Ihre abgearbeiteten Hände hatte sie hinter dem Rücken des kleinen Jungen gefaltet. In ihren grauen Augen lag ein warmer Glanz. »Peterle, treib's nicht zu toll«, mahnte Dr. Hans-Joachim von Lehn, als er sah, daß sein kleiner Sohn immer heftiger auf und ab hüpfte. »Ach, lassen Sie nur, Herr von Lehn«, meinte die Bäuerin. »Kinder müssen toben. Das war schon immer so.« »Und meine Frau, die muß es wissen«, sagte der Huberbauer. Er zog bedächtig an seiner Meerschaumpfeife. »Wir haben selbst fünf Kinder großgezogen. Drei Buben und zwei Mädchen.

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Sophienlust – 273–

Ein Engel ohne Himmel

Hat mich denn niemand wirklich lieb?

Anne Alexander

»Hoppa, hoppa, Reiter!« sang Peterle und hüpfte begeistert auf den Knien der Huberbäuerin auf und ab. »Hoppa, hoppa, Reiter«, wiederholte er energisch, als die Bäuerin nicht gleich auf ihn einging.

»Wenn er fällt, dann schreit er«, stimmte die Huberbäuerin nun ein und ließ ihre Knie auf und ab wippen. Ihre abgearbeiteten Hände hatte sie hinter dem Rücken des kleinen Jungen gefaltet. In ihren grauen Augen lag ein warmer Glanz.

»Peterle, treib’s nicht zu toll«, mahnte Dr. Hans-Joachim von Lehn, als er sah, daß sein kleiner Sohn immer heftiger auf und ab hüpfte.

»Ach, lassen Sie nur, Herr von Lehn«, meinte die Bäuerin. »Kinder müssen toben. Das war schon immer so.«

»Und meine Frau, die muß es wissen«, sagte der Huberbauer. Er zog bedächtig an seiner Meerschaumpfeife. »Wir haben selbst fünf Kinder großgezogen. Drei Buben und zwei Mädchen. Jetzt können wir langsam daran denken, uns aufs Altenteil zurückzuziehen. Den Hof wird der Alois übernehmen. Er hat eine tüchtige Frau und vier prächtige Kinder.«

»Nur schade, daß sie jetzt nicht hier sind«, warf die Huberbäuerin ein. »Es fehlt etwas, wenn sie in Urlaub fahren.« Sie lachte auf. »Urlaub, wer hätte zu unserer Zeit daran gedacht! Aber gegönnt sei es ihnen.«

»Und Ihre anderen Kinder?« fragte Andrea von Lehn. Sie, ihr Mann und Peterle waren an diesem Nachmittag zum Kaffee auf den Huberhof eingeladen worden.

»Der Martin studiert in Heidelberg Medizin. Er will Tierarzt werden wie Sie, Herr von Lehn«, sagte der Bauer. »Karl lebt mit seiner Frau in Stuttgart, und die Mädchen sind, wie Sie wissen, auch längst verheiratet und haben eigene Kinder. Ja, so nach und nach ist das Haus leer geworden.«

»Aber ganz aus der Welt sind die Kinder nicht«, meinte Waltraud Huber. »Sie besuchen uns alle für ein paar Wochen, wenn sie Urlaub haben.« Sie reichte Peterle seiner Mutter und stand auf, um Kaffee nachzuschenken. »Aber bitte, greifen Sie zu«, bat sie und wies auf die Kuchenplatte.

»Danke!« Andrea von Lehn nahm noch ein Stück Streuselkuchen, obwohl sie längst satt war, aber sie wollte die alte Frau nicht kränken.

»Ich habe von jeher meinen Kuchen und mein Brot selbst gebacken«, sagte die Bäuerin stolz. »Bei mir kommt nichts vom Bäcker auf den Tisch.«

»Sie ist keine schlechte Köchin, meine Frau«, bestätigte der Bauer. Liebevoll legte er seine Hand auf die ihre. »Ich habe meine Wahl nie bereut.«

»Der Kuchen ist ganz ausgezeichnet.« Hans-Joachim von Lehn griff ebenfalls noch einmal zu.

Sie unterhielten sich über die nächste Ernte und das Vieh. Der Huberbauer erzählte, daß er vor einigen Tagen zum Viehmarkt nach Maibach gefahren sei. »Ich habe zwei schöne Kalbinnen erstanden«, sagte er. »Schauen Sie sie doch nächste Woche einmal an, wenn Sie wieder in der Gegend sind.«

»Warum nicht heute?« meinte Dr. Hans-Joachim von Lehn und wollte aufstehen.

»Nein, nein, lassen Sie nur«, wehrte der Bauer erschrocken ab. »Heute ist Sonntag. Da gehen Sie mir nicht in den Stall. Die Kalbinnen sind gesund, soweit ich es beurteilen kann.«

»Aber da ist noch etwas anderes, über das wir mit Ihnen sprechen wollten.« Waltraud Huber sah ihren Mann an. »Als wir in Maibach waren, haben wir auch Freunde besucht. Sie wohnen am Stadtrand, in der Seegarten-Straße.«

»Meine Frau sieht wieder einmal Gespenster«, versuchte Karl Huber einzuwenden, aber die Bäuerin schüttelte energisch den Kopf.

»Von wegen Gespenster! Wir haben das Kind doch selbst gesehen, wenn auch nur flüchtig«, widersprach sie. »Unsere Kinder sind nie so herumgelaufen, oder willst du das etwa behaupten?«

»Es handelte sich also um ein Kind«, meinte Andrea von Lehn und drückte ihren kleinen Sohn an sich.

»Ja, um ein kleines Mädchen, etwa vier oder fünf Jahre alt«, bestätigte die Bäuerin. »Maria Krüger heißt es. Unsere Freunde wohnen drei Häuser weiter. Sie sagen, die Kleine werde ständig geschlagen. Und mit den anderen Kindern sähe man sie auch nur selten spielen. Und immer hätte sie langärmelige Kleider und Strümpfe an.«

»Sie sind der Meinung, die Kleine wird mißhandelt?« warf Hans-Joachim von Lehn stirnrunzelnd ein.

»Ja, genau das meine ich«, erwiderte Waltraud Huber. »Wir haben sie nur kurz gesehen. Sie ist gerannt, als ob der Teufel hinter ihr her wäre.«

»Man sollte sich nicht in Sachen einmischen, die einen nichts angehen«, wandte der Bauer erneut ein. »Wer weiß, was das Kind alles so anstellt. Mir ist bei meinen Kindern auch ab und zu die Hand ausgerutscht.«

»Ein Handausrutschen und ständiges Schlagen ist zweierlei«, sagte die Bäuerin unbeirrbar. Sie blickte Andrea an, die ihren Sohn in den Armen wiegte. Peterle war inzwischen eingeschlafen. »Sie dürfen nicht glauben, daß mein Mann jemals die Kinder mißhandelt hat. Das hätte ich nicht zugelassen.«

»So etwas hätten wir auch nie angenommen«, beruhigte der Tierarzt die alte Frau. Er wandte sich an den Bauern. »Wenn in der Gegend ein Tier mißhandelt wird, zeigen Sie es ja auch an, Huberbauer«, meinte er. »Ein kleines Kind ist genauso wehrlos wie ein Tier.«

»Daran ist schon etwas Wahres, Herr von Lehn«, gab der Bauer fast widerwillig zu. Er zuckte mit den Schultern. »Es ist schon eine Schande, was manche Eltern mit ihren Kindern anstellen. Wegnehmen sollte man sie ihnen, aber man ist manchmal einfach zu feige, gegen ein Unrecht einzuschreiten.«

»Gut, daß du es zugibst, Karl«, erklärte die Bäuerin zufrieden. »Ich dachte, daß Sie vielleicht Ihrer Schwiegermutter Bescheid sagen könnten. Frau von Schoenecker kümmert sich doch immer um Kinder, die Hilfe brauchen. Sie wird am ehesten herausfinden, ob wir recht haben oder ob wir uns täuschen.«

»Ja, das werde ich tun«, versprach Hans-Joachim von Lehn. »Wenn es der kleinen Maria schlechtgeht, wird meine Schwiegermutter sicherlich dafür sorgen, daß sie ihren Eltern weggenommen wird.«

*

Denise von Schoenecker verließ die Hauptstraße und wandte sich nach links. Sie fuhr jetzt an hohen Stadthäusern vorbei. Viele hatten noch altes, inzwischen mehrfach gestrichenes Fachwerk. Auf den Gehsteigen spielten Kinder. Wenige Meter vor ihrem Wagen rollte ein Ball auf die Fahrbahn. Ein kleines Mädchen rannte ihm nach.

Abrupt trat Denise auf die Bremse. Kurz vor dem Kind kam ihr Wagen zum Stehen.

Das kleine Mädchen griff nach dem Ball und schaute auf. Denise stieg aus. Erschreckt wollte die Kleine fortlaufen, aber die Gutsbesitzerin war schneller und konnte sie gerade noch festhalten.

»Ich tu es nicht wieder«, versprach das Kind, den Tränen nahe.

»Dann weißt du also, daß du nicht so einfach auf die Straße rennen darfst?« fragte Denise. Sie strich der Kleinen über die braunen Haare. »Ich gebe ja zu, daß es ein sehr schöner Ball ist, aber es ist doch besser, wenn der Ball überfahren wird und nicht du.«

»Sagst du es meiner Mama, Tante?« Das Mädchen sah bittend zu Denise empor.

»Nein, ich verrate dich nicht«, versprach Denise.

»Wie heißt du denn?«

»Gerlinde«, gab die Kleine bereitwillig Auskunft.

»Einen schönen Namen hast du«, meinte Denise. »Willst du mir jetzt versprechen, nie mehr auf die Straße zu laufen, ohne nach rechts und links zu sehen?«

Gerlinde nickte ernsthaft und umklammerte fest den bunten Ball. Sie schien immer noch Angst zu haben, daß er ihr fortgenommen werden könnte.

»Also, dann lauf!« Denise gab der Kleinen einen liebevollen Klaps.

Froh rannte das Mädchen den Bürgersteig entlang. Erst aus einiger Entfernung drehte es sich um und winkte. Denise erwiderte den Gruß und stieg wieder in ihren Wagen ein. Kinder sind doch überall gleich, dachte sie lächelnd.

Bald hatte Denise den Stadtrand erreicht. Ein Straßenschild wies ihr den richtigen Weg. Wenige Minuten später hielt sie vor einer schmalen Garteneinfahrt. Hohe Büsche verhinderten die Sicht in den dahinter liegenden Garten.

Denise stieg aus und klingelte an der schmiedeeisernen Pforte.

»Ja, wer ist da?« erklang eine Frauenstimme aus der Lautsprecheranlage.

»Mein Name ist Denise von Schoenecker«, stellte sich die Gutsbesitzerin vor. »Ich hätte Sie gern in einer persönlichen Angelegenheit gesprochen, Frau Krüger.«

»Wir kaufen nichts!«

»Ich möchte Ihnen nichts verkaufen. Es handelt sich um Ihre Tochter Maria.«

Statt einer Antwort öffnete sich automatisch die Gartentür. Denise ging durch die kleine Tür und betrat einen mit hellen Platten belegten Weg. Sie folgte ihm zu einem langgestreckten Bungalow, an dem sich hellrote Rosen emporrankten.

Denise war überrascht. Nach allem, was Andrea und Hans-Joachim ihr erzählt hatten, hatte sie angenommen, daß die Krügers in ärmlichen Verhältnissen leben würden.

Vor Denise öffnete sich nun die Haustür. Eine Frau von etwa achtunddreißig Jahren stand auf der Schwelle. Sie hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht mit dunklen Augen und gepflegte schwarze Haare. Über ihrem geblümten Hauskleid trug sie eine weiße Schürze.

»Frau von Schoenecker?« Edith Krüger ging Denise einige Schritte entgegen. »Sie sagten, es handle sich um Maria. Hat sie wieder etwas ausgefressen?«

»Nein, sie hat nichts angestellt.«

»Und warum sind Sie dann hier?« Mitrauisch musterte die junge Frau die Besucherin.

»Vielleicht wäre es besser, wenn wir hineingingen«, schlug Denise von Schoenecker vor.

»Ich lasse keinen Fremden ins Haus. Da könnte ja sonst wer kommen«, sagte Edith Krüger ablehnend.

»Wie Sie wünschen«, meinte Denise. »Also, wie gesagt, es geht um Ihre Tochter Maria. Man hat mir berichtet, daß Sie die Kleine oft schlagen und sie auch sonst vernachlässigen.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?« fragte Edith Krüger empört. »Wohl die Seiferts?« Sie wies über die Büsche hinweg zur anderen Straßenseite. »Die Seiferts mischen sich immer in fremde Angelegenheiten ein. Auf die brauchen Sie gar nicht zu hören. Die sollen sich erst einmal um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«

»Familie Seifert hat mit der Anzeige nichts zu tun«, entgegnete Denise. »Wenn Sie meinen Ausweis sehen wollen?« Sie öffnete ihre Handtasche.

»Nein«, sagte Edith Krüger erschrocken. »Sind Sie etwa von der Polizei? Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Wenn die Maria einmal eine Ohrfeige kriegt, dann hat sie diese auch verdient. Das dürfen Sie mir ruhig glauben.«

»Nein, ich bin nicht von der Polizei, sondern vom Kinderheim Sophienlust«, erklärte Denise. Die junge Frau war ihr mehr als unsympathisch. Ein gutes Gewissen schien sie auch nicht zu haben. »Wir können die ganze Angelegenheit aus der Welt schaffen, wenn Sie mich selbst mit Maria sprechen lassen.«

»Maria ist nicht da. Ich weiß nicht, wo sie sich wieder herumtreibt«, entgegnete Edith Krüger. Sie schaute zum Haus hin, und Denise folgte ihrem Blick. Hinter einem Fenster im Dachgeschoß sah sie die Silhouette eines Kindes.

»Haben Sie noch mehr Kinder?« fragte Denise.

»Nein, nur die Maria, und die…« Edith Krüger unterbrach sich. »Also, Sie sehen ja, daß Maria nicht hier ist. Ich wüßte nicht, was ich für Sie noch tun könnte.«

Das war ein glatter Rausschmiß, aber Denise war nicht bereit, so schnell aufzugeben. Sie hatte sich inzwischen ein klares Bild von Edith Krüger gemacht. So leicht ließ sie sich nicht täuschen.

»Ich gehe erst, wenn ich Maria gesehen habe«, erklärte Denise. »Die Kleine ist im Haus. Sie können mir nichts vormachen, Frau Krüger.«

»Soll das etwa heißen, daß ich lüge?« Wieder stemmte Edith ihre Hände in die Seiten. »Wenn Sie nicht augenblicklich machen, daß Sie fortkommen, dann…« Ein ironisches Lächeln glitt plötzlich über ihr Gesicht. »Da kommt mein Mann. Bitte, sprechen Sie mit ihm!« Sie zeigte in Richtung Gartentür.

Denise drehte sich um. Ein stämmiger, blondhaariger Mann in einem dunkelblauen Schlosseranzug kam auf sie zu. »Guten Tag«, grüßte er mit leichtem Nicken und wandte sich sogleich an seine Frau: »Was gibt es denn, Edith?«

»Man hat uns angezeigt, Martin«, sagte Edith Krüger mit einem giftigen Seitenblick auf Denise. »Wir sollen die Maria mißhandeln, bloß weil sie ab und zu etwas hinten drauf kriegt. Und diese Dame kommt von irgendeinem Kinderheim. Gut, daß du schon da bist.«

Martin Krüger sah Denise von Schoenecker eindringlich an. »Es gibt sicherlich genug Kinder, um die Sie sich kümmern müssen, aber was mit unserer Maria ist, das geht nur uns etwas an. Haben wir uns verstanden, meine Dame?«

»Keineswegs, Herr Krüger«, entgegnete Denise unbeeindruckt. »Wenn Sie nichts zu verbergen haben, dann lassen Sie mich bitte mit dem Kind sprechen. Ich weiß, daß es zu Hause ist, obwohl Ihre Frau das Gegenteil behauptet hat.«

»Das wird ja immer schöner! Und Sie meinen wohl, wenn der Fratz behauptet, von mir geschlagen zu werden, dann stimmt es? Ich will nicht abstreiten, daß Maria schon den Hintern voll bekommen hat, doch das steht ihr zu. Sie können nicht wissen, wie störrisch sie manchmal ist, was für einen Dickkopf sie hat. Und der muß ihr ausgetrieben werden! Aber von Mißhandlung kann nicht die Rede sein. Ein paar hinten drauf haben noch keinen geschadet. Ich habe auch genug bekommen, als ich ein Bub war.«

»Das heißt aber noch lange nicht, daß Sie jetzt auch Ihre Tochter schlagen müssen«, sagte Denise aufgebracht.

»An Ihrer Stelle würde ich augenblicklich meinen Besitz verlassen«, riet Martin Krüger ihr. »Sie sind gegen unseren Willen hier, und so etwas läßt sich leicht als Hausfriedensbruch auslegen. Und wenn Sie nicht verschwinden, werte Dame, dann rufe ich die Polizei.«

Denise sah ein, daß sie im Moment nichts ausrichten konnte, aber sie war nicht bereit, klein beizugeben. Sie nahm sich vor, jetzt erst einmal zum Maibacher Jugendamt zu fahren.

»Ich komme wieder, Herr Krüger«, erklärte sie und wandte sich zum Gehen.

»Lassen Sie es lieber bleiben. Das nächste Mal könnte ich ungemütlich werden.« Martin Krüger hakte demonstrativ seine Frau unter und wollte sie zum Haus führen, doch in diesem Moment wurde die Terrassentür aufgerissen, und ein kleines Mädchen stürzte heraus. Es machte einen großen Bogen um seine Eltern und versuchte die Gartenpforte zu erreichen.

»Maria!« rief Edith Krüger. »Maria, sofort kommst du her!«

Denise, die bereits an der Pforte stand, drehte sich um. Sie sah, wie die Krügers dem Kind nachliefen. Mit wenigen Schritten stand sie zwischen den beiden und der blonden Kleinen.

Maria Krüger klammerte sich von hinten an Denise. »Nimm mich mit, Tante. Bitte, nimm mich mit«, bettelte sie weinend. »Ich will nicht wieder Haue bekommen. Bitte, nimm mich mit!«

»Niemand wird dich schlagen«, versuchte Denise die Kleine zu beruhigen. Mit einigen heftigen Bewegungen hinderte sie die Krügers daran, nach dem Kind zu greifen. Dann drehte sie sich blitzschnell um und nahm Maria auf ihre Arme. Weinend vergrub die Kleine ihr Gesicht an Denises Schulter.

»Geben Sie das Kind her!« Martin Krüger wollte Denise die Kleine entreißen, aber Denise kämpfte wie eine Löwin um sie. Schon auf den ersten Blick hatte sie gesehen, daß ihr nicht zuviel berichtet worden war. Rückwärts ging sie zur Gartenpforte.

»Laß doch, Martin. Wir rufen die Polizei!« schrie Edith Krüger und wollte zum Haus laufen.

»Bist du verrückt?« fuhr ihr Mann sie an. Er senkte seine Stimme. »Man kann doch über alles reden, Frau von Schoenecker. Ich will ja nicht leugnen, daß ich Maria schlage, aber das ist noch lange kein Grund, ihr vielleicht jetzt alles zu glauben, was sie Ihnen erzählen wird.«

»Darüber können wir später reden, Herr Krüger«, sagte Denise bestimmt. Sie drückte die Kleine fest an sich. Marias Tränen benetzten ihr Gesicht. »Jetzt wird Maria erst einmal mit mir mitkommen.« Energisch schloß sie die Gartentür hinter sich.

»Willst du ihr nicht nachgehen?« fragte Edith, als ihr Mann keine Anstalten machte, Denise zu folgen.

»Was hätte das für einen Sinn?« Martin atmete tief durch. »Ich kenne diese Art Weiber. Die geben nicht auf! Jetzt können wir nur noch hoffen, daß wir einigermaßen glimpflich davonkommen.« Wütend umfaßte er den Arm seiner Frau. »Warum hast du Maria nicht eingeschlossen? Mußt du sie immer herumlaufen lassen?«

»Natürlich, jetzt habe ich wieder die Schuld. Wie soll es auch anders sein! Was kann ich dafür, daß man mir so einen Teufelsbraten ins Haus gesetzt hat?« keifte Edith erbost. »Jahrelang habe ich mich mit Maria abgeplagt, aber einen Dank habe ich bisher noch nicht gesehen.«

»Wer hätte dir wohl danken sollen?« fragte Martin Krüger. An seiner Frau vorbei ging er ins Haus und warf heftig die Tür ins Schloß. Erbittert folgte Edith ihm.

*

»Wohin fährst du, Tante?« fragte Maria. Sie stand vom Sitz auf und beugte sich über die Rückenlehne. »Fährst du ganz weit fort?«

»Ja«, sagte Denise und fügte hinzu: »Setz dich wieder hin, Maria. Wenn ich rasch bremsen muß, könntest du dir weh tun.«

Gehorsam nahm Maria wieder Platz. Sie faltete ihre kleinen Hände über dem zerschlissenen Schottenrock. Mit ernstem Gesichtchen sah sie geradeaus.

»Hast du Hunger?«

Maria nickte heftig. »Ganz tollen Hunger«, gestand sie. »Bekomme ich ein Würstchen?«

»Ja, und ein Brötchen. Und wenn du willst, auch Limonade.« Denise zeigte aus dem Fenster. »Schau, da ist eine Würstchenbude.«

Maria leckte sich die Lippen. »Und wenn ich will, kann ich dann auch zwei Würstchen haben?« erkundigte sie sich.

»Wenn du soviel Hunger hast, warum nicht?« erwiderte Denise. Sie warf einen Blick durch den Rückspiegel. Marias Gesicht war zwar schmutzverschmiert, und die blonden Haare waren strähnig, aber ihre blauen Augen strahlten. Gewaschen mußte sie ein sehr hübsches Kind sein.

Zehn Minuten später saß Denise mit Maria auf einer Bank. Das erste Würstchen hatte die Kleine in Windeseile verschlungen, am zweiten kaute sie etwas länger. Sie schien völlig ausgehungert zu sein, und Denise wollte sie zuerst in Ruhe essen lassen, bevor sie Fragen stellte.

»Das war gut!« Maria steckte ihre Finger einzeln in den Mund und leckte sie ab.

Lächelnd nahm Denise ein Papiertaschentuch und wischte ihr die Finger ab. »So, und nun sagst du mir, warum du ausgerissen bist, ja?«

»Weil mein Vati mich immer haut, und meine Mutti auch«, berichtete Maria. »Ich wollte den Milchtopf nicht herunterwerfen. Bestimmt nicht, Tante.«

»Wann hast du den Milchtopf denn heruntergeworfen, Maria?« erkundigte sich Denise, während sie die Blusenärmel des Kindes aufknöpfte und nach oben schob. Sie sah, von oben bis unten waren Marias Arme mit blauen Flecken bedeckt. Sacht schloß sie die Knöpfe wieder.