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Der Doktor reicht ihm Taschentücher und sagt: "Was glauben Sie, wofür Verwirrungen da sind? Die Knoten in Ihrem Kopf wollen, dass Sie einen Lösungsweg finden. Sie haben durchaus etwas Gutes, denn sie weisen Sie auf eine neue Erfahrung hin, die Sie aus dem Irrgarten, in dem Sie sich verlaufen haben, herausführen kann. Sie müssen etwas anderes probieren, nachdem all Ihre Eigenversuche gescheitert sind." Da hat er mit dem Irrgarten ein schönes Bild gezeichnet, der Weltklassearzt. Arne denkt darüber nach und hört auf, die Tränen kullern zu lassen. Stefan Koenig gelingt es, ein Tabu-Thema auf literarische Weise aufzubereiten. Depressionen, Angststörungen, Sucht, das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom – es sind keine Marotten oder Charakterschwächen, sondern handfeste Krankheiten.
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Seitenzahl: 233
Veröffentlichungsjahr: 2025
Stefan Koenig
Fehlschaltung
Verrückt und zugenäht - ein Leben auf dem Vulkan
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Fehlschaltung
Die Hölle auf Erden
Gerd, der Vater
Arne bricht die Ausbildung ab
Der Vater
Acht Jahre vor dem Bahngleis, 2016
Wie alles begann, 1993
Was den Eltern auffällt
2007 – 2010
Arnes neuer Anlauf in Heidelberg, 2016
Psychotherapie
Schauspieltherapie
Das Attest
Wieder war ein Kliniktag geschafft
Es kam, wie es kommen musste
Dem Himmel nah
2024
Der Kampf am Morgen
Wie sehen es Arnes ältere Brüder?
Arnes aktueller Zustand aus Sicht des Vaters
Arne, die Angst und der Sommer 2024
Der Vater
Erinnerung an Joshi
Der Bahndamm
Gerds Erinnerung an Veit
Veit ist gesprungen – und hat überlebt
Aus Gerds Aufzeichnung
Veit in der Reha-Klinik
Weiter aus Gerds Skript
Kontaktversuch
Veit erzählt von früher
Epilog I
Epilog II
Dank
Die fantastischen Zeitreise-Romane …
Die realistischen Zeitreise-Romane …
Geplante Folgeromane in der Zeitreise-Serie
Romane außerhalb der Zeitreise-Serie
»3033 – Meine Reise mit Elon Musk zum Mars«
Anfang April 2024
Mitte April 2024
Fünf Jahre zuvor, 2019
Teil 2
Falls es Sie interessiert …
Impressum neobooks
Stefan Koenig
Fehlschaltung
Verrückt und zugenäht
Ein Leben auf dem Vulkan
Roman
© 2025 by Stefan Koenig
Lektorat:
Markus Bender, Lohra
Für die Angehörigen all jener,
die unter ADHS, Depressionen, Sucht,
Angst- und Zwangsstörungen leiden
Mitte März 2024
Arne, vier Monate vor dem Bahngleis
Mein Besuch kommt immer abends, gegen 19 Uhr, mindestens einmal in der Woche, manchmal zweimal. Marietta ist vier Jahre jünger als ich, hat aber mit ihren 26 Jahren eine Menge Lebenserfahrung und schon drei Kinder. Wenn sie mich besucht, kauft sie mir einen Teil der Amphetamine ab, die mir meine Psychiaterin verschrieben hat. Ich weiß, es ist nicht korrekt, wie das läuft, aber unser krankes Gesundheitssystem lässt mir keine andere Wahl. Das sind wenigstens saubere Pillen und Marietta braucht keine Angst haben, dass ich ihr Dreck verkaufe.
Ich gebe es ihr aus Mitgefühl ab, nicht wegen der Knete. „Hast du wieder was?“, fragt sie immer, wenn sie mich mit dem verabredeten Klingelsignal – zweimal lang, dreimal kurz – aufgescheucht hat. Ich mag eigentlich keine Überraschungsbesuche. Es könnten auch Bullen sein. Das war erst kürzlich so, und darauf habe ich überhaupt keinen Bock.
Marietta und ich ziehen dann erst einmal einen Joint durch, bevor sie die Pillen von mir bekommt. Dann sitzen wir auf meinem schäbigen Sofa und essen belegte Brote und trinken dazu ein Bier. Kiffen und Bier ist halb so schlimm wie Whisky auf einen Joint. Marietta erzählt mir währenddessen meistens von ihren Kids und ihrer ständigen Überforderung. „Ich kann bald nicht mehr“, meinte sie letztlich.
Ich entgegnete ihr: „Ich kann auch nicht mehr. Mir ist echt alles zu viel. Viel zu viel Stress. Zu viel Enttäuschung. Dazu jetzt das Trauma mit dem Studienplatzverlust. Und inzwischen nur noch Langeweile, Langeweile, Langeweile, Scheißlangeweile.“
„Langeweile? Ich wäre froh, wenn ich mal ausruhen könnte. Von morgens bis abends immer nur »Mamma, Mamma, wann gibt’s das und das und das? Und wann dies und jenes? Und was soll ich jetzt machen, wer spielt mit mir und wann gehen wir wieder mal ins Einkaufszentrum, Maaamma, Maaamma, Maaamma!« Puh, diese Dauerbeschallung mit Dauerforderungen. Ich drehe bald durch! Das ist nur noch Stress, Dauerstress!“ Marietta wirkt auf mich echt verzweifelt. Ob auch ich so wirke, wenn ich anderen von meiner beschissenen Situation erzähle?
Aber wem erzähle ich schon, wie es mir geht und was mich bewegt? Ich habe ja so gut wie keine Kontakte. Na ja, egal. Heute habe ich mal klare Gedanken. Gestern stand ich völlig neben mir. In so einem Zustand bin ich nicht ich. Ich fühle mich wie ein hilfloses Kleinkind. Und wenn dann mein Vater in der Nähe ist, versinke ich in mir und spüre, wie ich in der Zimmerecke zusammensacke. Dann weine ich los wie die Kleinen früher im Kindergarten. Immerhin war ich damals unter den Zwergen noch der Tapfere und Mutige, der nicht gleich losheulte.
So etwas werde ich Marietta niemals erzählen, und genau in dem Moment als ich daran denke, passiert es. Ich spüre die Hitze in mir aufsteigen und weiß, dass ich sofort aufs Klo muss, um mein Gesicht mit kaltem Wasser abzuspülen. Nur so kann ich einem Anfall entgegenwirken. Ich lege mein belegtes Brot eilig auf den Teller zurück, schaue betreten zu Marietta, die an meinem Gesicht abzulesen scheint, dass mich etwas bedrückt. Sie fragt, ob sie mir helfen kann. Sie wirkt echt verstört.
„Nein, danke, muss nur mal schnell auf Toi.“ Ich lächele, obwohl mich das eine Menge Überwindung kostet, denn der Anfall kennt kein Erbarmen und klettert förmlich in mir hoch.
„Lass dir Zeit, Arne, ich laufe nicht weg. Ich sehe, dir wird schon heiß, allein wenn wir das Wörtchen »Stress« in den Mund nehmen.“ Sie lacht und greift automatisch in ihre Jeanstasche und legt mir 30 Euro für die Pillen auf den Tisch. Daran habe ich in dem Moment natürlich nicht gedacht. Der aufkommende Anfall hat mich bereits voll im Griff. Letztes Mal hatte ich vergessen, sie an die Knete zu erinnern, als sie die Wohnung verließ. Unten angekommen, erinnerte sie sich dann Gott sei Dank und musste die drei Etagen bis hinauf in meine Dachwohnung noch einmal zurückkommen.
Ich war echt froh, dass sie so ehrlich ist, denn Freunde haben mich schon oft enttäuscht. Zuletzt Lino, der mir den PC einrichtete. Aber an den will ich jetzt nicht denken, das bringt mich auf Hundertfünfzig.
Ich schaue kurz noch zu Marietta und gehe wortlos zur Toilette. Dort schließe ich die Tür hinter mir ab, obwohl ich weiß, dass es eigentlich nicht nötig ist, weil Marietta mir nicht folgen wird. Sofort drehe ich den Wasserhahn auf und halte die Hände darunter. Das Wasser ist schön kalt und erfrischend.
Als erstes ziehe ich das T-Shirt aus, um etwas kühle Luft zu spüren und hässliche Wasser- oder Schwitzflecken auf dem Shirt zu vermeiden. Ich nehme den Waschlappen und mache ihn nass und presse ihn gegen die Stirn, dann kühle ich mit frischem Nass meinen Nacken. Ich lege den kühlenden Lappen auf meine Augen und seufze leise.
Marietta soll mich nicht hören, und allzu lange darf meine Zeremonie nicht dauern. Ich muss fertig werden. Einige Sekunden noch genieße ich die Abkühlung auf der Haut, und dann spüre ich, dass der Anfall und meine Anspannung nachlassen. Ein neuer leiser Seufzer.
Ich empfinde jetzt eine große Müdigkeit, ich habe die Nacht schlecht geschlafen und wurde viel zu früh geweckt. Um sechs Uhr rumpelte die Müllabfuhr durch die Straßen, die Tonnen wurden über das Kopfsteinpflaster gezerrt – wie soll da ein normaler Mensch schlafen?
Mein Vater sagt, das sei eine neue Marotte, bisher hätte mich das nicht gestört, aber seit Neuestem wäre ich überempfindlich geworden. Dann kam natürlich die dumme Frage, ob das mit dem Konsum zusammenhänge. Klar doch, alles, was draußen schiefläuft, hängt mit meinem »Konsum« zusammen.
Carsten hat mir in den letzten Wochen drei Mal von seinem Koks abgegeben, und wir hatten einige Nächte durchgemacht. Ich nehme vielleicht drei Mal im Jahr so einen Wachmacher, wenn es mir zufällig angeboten wird. Doch ich brauche es wirklich nicht – anders ist es mit Cannabis, das mir als ADHSler*
*Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
zur Beruhigung dient. Aber was hat das alles mit der Müllabfuhr und dem schrecklichen Gerumpel zu tun? Ein Lärm wie im Mittelalter. Hätte man doch schon lange vorher dran denken können, als mir mein Vater diese Wohnung in dem kleinen Kaff besorgte: Kopfsteinpflaster führt zu unnötigem Lärm. Lärm lässt mich nicht durchschlafen. Schlafmangel macht krank. So einfach ist das. Weiß doch jeder, das sind doch Basics.
Irgendwann hat er gemeint, ich könne vielleicht etwas früher schlafen gehen. Aber ADHSler sind nun mal Nachtmenschen, und vor zwei Uhr kann ich einfach nicht einschlafen. Wenn mich dann um sechs Uhr die Idioten von der Müllabfuhr aufwecken, habe ich gerade mal vier Stunden geschlafen. Dann rege ich mich derart auf, dass ich auch nicht wieder einschlafen kann, wie mein Alter meint. Der hat keine Ahnung, wie nervig das alles ist, der hat ja auch eine ruhige Wohnung, die nach hinten raus geht, da hört er die Müllmänner halt nicht.
Ich drehe jetzt das Wasser ab, hänge den Waschlappen an den Haken und ziehe mein T-Shirt wieder an. Es ist vorüber, das weiß ich. Aber mir ist bewusst, dass ich jederzeit wieder einen neuen Anfall bekommen kann. Solche Angst-Schwitz-Anfälle sind so überflüssig wie ein Kropf.
Ich glaube, dass ich sie erst seit zwei Jahren habe. Extrem lästig, insbesondere, wenn ich mich draußen aufhalte. Deshalb gehe ich nicht mehr gerne unter Leute und verabrede mich nur noch selten in Kneipen oder Parks. Ich habe keine Ahnung, wie ich es Marietta erklären soll, wenn ich jetzt rausgehe und dann vielleicht bald schon erneut zur Toilette muss. Alles sehr peinlich.
Wieder bei ihr angekommen, entschuldige ich mich nochmals. Doch Marietta scheint gar nicht bemerkt zu haben, wie lange ich weg war, denn sie ist ganz aufgekratzt und nicht mehr so entspannt wie nach dem Joint. Sie scheint mich nur am Rande wahrzunehmen und läuft im Raum hin und her.
„Hast du schon das Speed genommen?“, frage ich und ahne im selben Moment, wie unnütz meine Frage ist, denn genauso verhält man sich eben nach der Einnahme eines Amphetamins.
„Arne, ich muss jetzt gehen“, sagt sie. „Die Kleine muss vom Kindergarten abgeholt werden.“
„Aber es ist doch Abend“, wende ich ein.
„Ich meine, sie muss ins Bett.“
Ich weiß, dass Mariettas Mann jetzt zu Hause ist und auf die drei Kids aufpasst. Ich bin froh, dass ich solche Belastungen nicht stemmen muss. Obwohl … obwohl ich mich eigentlich nach einer kleinen Familie sehne. Aber das ist ein anderes Thema. Dazu bräuchte ich erst einmal eine Freundin, die es mit mir aushält. Und ich müsste natürlich einen Job haben und fette Kohle verdienen. Sonst kriegt man ja sowieso keine Frau ab. Dann müssten wir heiraten, dann die Kids, ja, so ist die Reihenfolge. Und zwischendurch etwas zur Entspannung, um diese Scheiß-ADHS-Unruhe los zu werden.
Im Moment hoffe ich, dass Marietta noch nicht geht. Ich fürchte mich vor der Einsamkeit, und so sage ich irgendetwas Belangloses, nur um sie vom Weggehen abzuhalten: „Carsten bringt mir morgen Koks, hast du Lust, bei der Party mitzumachen?“
Das ist natürlich nicht fair gegenüber Carsten, denn er hat nicht vor, den Stoff zu teilen, auch nicht gegen Knete. „Nur wir beide!“ hat er gesagt. Ich musste es ihm versprechen. Aber im Moment ist mir mein Versprechen scheißegal, Hauptsache, Marietta bleibt noch einen Augenblick.
„Du wolltest doch vom Koks weg, weil es dich überdreht und du danach total kaputt bist“, antwortet Marietta erstaunlich konzentriert, obgleich sie weiter wie ein gefangenes Tier in meinem Wohnzimmer rumtigert.
„Hab’s mir überlegt, ich wird‘ eh nicht lange leben. Höchstens noch drei Jahre.“
Sie stößt einen Seufzer aus. „So ein Quatsch. Fängst du wieder mit der Leier an.“
Marietta weiß von meiner Vorahnung. Sie behauptet, es sei eine vorgeschobene Eigenbedrohung, um mich seelisch immer näher an den Abgrund heranzuwagen. Ich habe ihr bereits vor einem Jahr gestanden, dass ich sehr sicher bin, dass mir mit Anfang Dreißig etwas Schreckliches zustoßen wird. Dabei schweben mir zwei Dinge vollkommen klar vor Augen: Ich will sterben, werde aber nicht sterben können. Ich werde unter fürchterlichen Schmerzen weiterleben. Das jedenfalls ist das Resultat einer Albtraumserie, die mich bereits seit vielen Monaten quält. Ich glaube an meinen Tod. Aber ich werde ihn nicht dem Zufall überlassen. Ich will ihn planen. Doch das sage ich niemandem.
„Mit Anfang Dreißig, hast du gesagt?“
Ich nicke.
„Dann hast du noch einige Monate Zeit. Anfang Dreißig – das kann mit 31, 32 oder auch noch mit 33 sein“, sagt Marietta und lächelt mild und tröstend, bevor sie fortfährt: „Ich sehe in dir einen cleveren Typen, der klug genug ist, um sich nicht selbst zu zerstören.“
„Zerstören wir uns nicht täglich?“
„Gestern hast du richtig festgestellt, dass uns die Gesellschaft zerstört. Wir nehmen nur die Medizin, die sie uns verbieten wollen, damit wir ihnen nicht auf die Schliche kommen. Und damit wir der Zerstörung entkommen.“
„Das meine ich doch: Man zerstört uns!“
„Du hattest eben aber gemeint, wir selber würden uns zerstören.“
Ich antworte nicht und denke mir meinen Teil. Denn nein, das kann ich nicht gesagt haben, weil ich das Cannabis als Medizin rauche, es soll mich ja beruhigen und nicht vergiften. Es ist – wie die Ärzte sagen würden – mein Mittel der Wahl.
Scheiße ist nur das Nikotin im Joint, das wird mir Lungenkrebs bescheren, ich spüre es jetzt schon. Doch auch der Krebs ist nicht meine Schuld, sondern das Ergebnis der Gesellschaft und ihrer unmenschlichen Gesundheitspolitik, die eigentlich eine Krankmach-Politik ist. Man erlaubt das Rauchen und den Alkohol, aber Cannabis verteufeln sie – auch wenn sie es jetzt teilweise legalisiert haben.
„Na ja, ich werde nicht lange leben, Tatsache!“, sage ich schließlich.
Stille breitet sich aus.
Früher fand ich Stille in Gegenwart anderer bedrückend. Heute finde ich das okay. Nur wenn ich alleine bin und es vollkommen still um mich herum ist, dann beklemmt es mich und ich spüre, wie die lästige Depression an Fahrt aufnimmt. Am blödesten aber ist es, wenn wieder der Schwitzanfall aufkommt. Das ist pures Angstschwitzen, echte Scheiße.
„Nun mal im Ernst, Arne. Du glaubst das doch nicht wirklich, oder?“ Marietta sieht mich an als sei ich ein Außerirdischer.
Irgendwie bin ich das ja auch. Die ganze Menschheit erscheint mir mehr als merkwürdig, ein großer komisch-kosmischer Haufen, völlig verrückt, irgendwie eine totale Fehlkonstruktion.
Einer meiner beiden Brüder hat mal gemeint, ich hätte wohl eine Sozialphobie. Nur weil ich der Überzeugung bin, dass die meisten Menschen hohl in der Birne sind und all den Quark zulassen, den Rockefeller und seine Nachfolger im Gesundheitssystem angerichtet haben. Mit Max und Jan habe ich mich überworfen, weil die null checken, was Corona und die Gesundheit betrifft, obwohl Jan Chefarzt ist. Unglaublich!
Damals hat Jan gemeint, dass das, was Rockefeller mit dem Flexner Report 1910 durch seine Stiftung bewirkt habe, nicht mehr und nicht weniger sei als die Begründung der heutigen naturwissenschaftlichen Medizin.
„Er hat die ganze Alternativ- und Naturmedizin ausgelöscht! Einfach zerstört! Alles nur, um seine verpestete Öl-Chemie der verdammten Pharmazie gewinnbringend überzustülpen“, hatte ich geantwortet, doch Jan will einfach bestimmte Fakten nicht gelten lassen. Und umgekehrt wirft er mir das auch vor. So ein Schwachsinn.
Marietta wartet noch auf meine Antwort, obwohl ich es ihr schon zig Mal gesagt habe: Ja, ich werde nicht lange leben, entweder, weil mich die Gesellschaft durch die Rockefeller-Medikamente umbringt oder weil ich selbst nicht mehr unter den Bedingungen einer Pharmadiktatur leben will. Ich spüre auch, dass mein Gehirn unterfordert ist und ich vor Langeweile langsam verblöde. Das Leben bietet mir nichts mehr – außer Drogen.
Ich sehe Marietta an und sage: „So ist es, keine Chance mehr.“ Und ich zucke mit den Schultern und schaue auf den Esstisch, wo die Brotreste und die zerknüllten Servietten liegen. Dann nehme ich den letzten Schluck Bier aus der Flasche.
„Das muss ein Scheißgefühl für dich sein“, mutmaßt sie, und ich stimme ihr zu, indem ich bedeutungsschwer nicke.
Wenn sie weg ist, werde ich wieder Langeweile haben.
Diese ewige Langeweile.
Nichts zu tun zu haben, ist so langweilig.
Mein Alter meint, ich solle die Küche nach jedem Furz saubermachen.
Ich soll das Bad sauber halten.
Die Wäsche aufräumen.
Die Wäsche in die Waschküche bringen und waschen und dann aufhängen und, und, und.
„Ja“, wiederholt Marietta, „ein echt beschissenes Gefühl. Ich kann es nachempfinden.“
Wieder nicke ich zustimmend.
Aber im tiefsten Innern weiß ich nicht, ob ich das selbst auch so empfinde. Für mich ist mein baldiger Tod eine unumstößliche Tatsache, eine Gewissheit. Es scheint kein Entrinnen davor zu geben. Das Einzige, was ich noch bedenken muss, ist die Frage, ob ich mit meinem Suizid noch warte, bis die Welt und die Menschheit untergehen, entweder durch Kriege oder Pandemien oder wer weiß was.
Soll ich wirklich noch warten?
Morgen werde ich jedenfalls schon mal sehen, wo ein geeignetes Bahngleis ist. Vorher muss ich noch den Fliegenpilz-Tee ausprobieren. Die heilende Wirkung wurde in TikTok nachgewiesen.
Es ist der erste ernsthafte Vorfall, der dem Vater passiert. Es ist das erste Mal, dass er den Polizei-Notruf wählt. Noch am Abend zuvor hat er den Song der Puhdys gehört und dabei lange über Arne nachgedacht, so friedlich, so hoffnungsvoll:
Wenn der Abend sich der Stille neigtUnd den Tag zur Ruhe bringtLeg ich ab die Rast, die mich fast ausgebranntWenn an Stunden, die man abgestreiftSpäter man noch einmal nimmtDann ist vieles, was zuvor war, neu erkannt
An den Ufern der NachtZieht der Tag an mir vorbeiWar er gut? War er schlecht?Habe ich gelebt?War ein Traum für mich dabei?
Wenn der Abend sich der Stille neigtUnd wenn ich dann bei dir binHaben Licht und Schatten ihren Teil getanWenn die Wahrheit wie aus Nebel steigtUnd die Zärtlichkeit dir bringtHalten wir die Zeit für ein paar Stunden an
An den Ufern der NachtZieht der Tag an uns vorbeiUnd wir ruhen uns aus, eh wir weitergehenWieder neue Wege gehen
Arne ist letztes Jahr 30 Jahre alt geworden. Vor zwei Jahren gab es schon einmal einen Polizeibesuch, damals hatte er Zoff mit einer Mitbewohnerin. Danach gab es mehrere gewaltsame, aber kleinere Vorfälle im familiären Umfeld, die ohne polizeiliche Hilfe geregelt werden konnten.
Doch was heißt »geregelt werden konnten«? Der Vater räkelt sich unruhig in dem alten Ohrensessel aus dem Besitz seiner lange verstorbenen Eltern. Seine Gedanken drehen sich.
Er weiß, wenn es ums Sterben geht, ist eigentlich er als nächstes an der Reihe. Die Generationenuhr tickt. Doch könnte es sein, dass sein jüngster Sohn vor ihm geht?
Dann macht ihm die Unberechenbarkeit, die Bedrohung durch den eigenen Sohn Sorgen. Arne! Was sagt eigentlich der Satz, dass kleinere Vorfälle ohne Polizei geregelt werden konnten? Kann man in einem durcheinander geratenen Gehirn auf ausreichend stabile Vernunft und somit auf eine gewisse Regelhaftigkeit setzen? Oder bleibt immer alles vage und unberechenbar?
Und dann denkt er wieder an die gefährliche Situation. Weshalb Gerd die 110 wählte? Er weiß es im Moment nicht mehr, die Abfolge der Eskalation war so schnell verlaufen und der Schreck hatte ihn so plötzlich überrascht und saß anschließend so tief, dass er jetzt nur noch den einen Sachverhalt, dieses Böse, in Erinnerung hat.
Plötzlich ist ein Teil der Erinnerung wieder da: Arne stürzt mit wild rollenden Augen auf ihn zu und will ihm an den Hals. An den Hals! Der Vater wehrt mit dem Arm ab, hält ihn sich etwas fern, aber mit seiner weit überlegenen Kraft packt Arne ihn am Handgelenk und dreht und drückt und dreht und drückt, bis Gerd ein starker Schmerz durchfährt. Er schreit: „Sei vernünftig, lass das, Arne! Arne, Hilfe!“ Und nach einer Weile, als die Wildheit aus Arnes Blick endlich weicht, entkommt der Vater dem Schraubstock der Hände des jungen Mannes. Es war gerade nochmal gut gegangen – an seinem Hals hätte der Schraubstock nicht sein dürfen.
Schon drehen sich die Gedanken wieder: Welch ein Widersinn – war nicht eigentlich er, der Vater, der Beschützer seines Sohnes? Greift man seinen Beschützer an?
Noch eben, als Gerd die Szene zu erinnern versucht, hatte er den Anlass nicht mehr gewusst – er war ihm tagelang entfallen. Doch jetzt, als er in die Angst einflößende Situation noch einmal eintaucht, fällt ihm der Anlass ein. Es ging wieder einmal ums Kochen und um die Gesundheit. Arnes Dauerthema.
Gerd hat für Arne und sich das Mittagessen gekocht und dabei einen Pfannenwender aus Plastik benutzt. Arne reißt ihm den Wender aus der Hand und zerbricht ihn schreiend. „Das vergiftet uns, das macht krank, davon bekommt man Krebs, weißt du das nicht? Was bist denn du für ein Depp!“
Der Vater sagt: „Arne, du hast nicht das Recht, einfach meine Sachen zu zerstören und mich zu beleidigen. Du kannst mich bitten, den Holzlöffel zu benutzen, aber einfach den Pfannenwender zu zerbrechen, das verdirbt mir den Appetit auf unser gemeinsames Essen. Geh bitte hoch in deine Wohnung. Ich bringe dir nachher das Essen.“
„Nein, ich bleibe hier!“
„Geh bitte hoch, ich kann nicht mehr. Den ganzen Morgen über hast du jeden aus unserer Familie für alles Mögliche verantwortlich gemacht – für alles, was dich demnach zerstört habe. Du siehst nicht deine Sucht und deinen frühen Missbrauch von Partypillen. Drei Stunden lang habe ich mir das angehört, nun ist es zu viel. Meine Nerven sind am Ende. Ich kann dich jetzt nicht ertragen.“
Da flippt Arne aus.
Ich hatte bisher keine Zeit, mir das passende Bahngleis auszusuchen, irgendeine ruhige und versteckt liegende Stelle auf dem Bahndamm. Außerdem hat mich bisher Mariettas Einwand an der Suche gehemmt. Sie meinte, bei einem abrupten Bremsvorgang eines Regionalzugs würden eventuell unschuldige Fahrgäste verletzt. Und der Lokführer würde ein Lebtag lang ein Trauma davontragen.
Ein Trauma!
Na und?
Das, verdammt nochmal, habe ich seit langem: Ein einziges Trauma nur? Nein, eine ganze Menge davon!
Ein Trauma wegen des Versagens meiner Familie, denn niemand erkannte in meiner Kindheit rechtzeitig das ADHS, das mich dauernd auf Trab hielt und ablenkte, wenn ich in der Schule ruhig sitzen und nicht herumkaspern sollte.
Dann das Trauma wegen der Scheißtrennung meiner Eltern. Danach ein Trauma wegen meiner Fußverletzung beim Fußball, als ich 16 Jahre alt war und sechs lange Jahre mit Schmerzen leben musste.
Ein Trauma wegen der gesellschaftlichen Ächtung von Cannabis. Das hätte mir damals ärztlich verordnet werden müssen, um das Schmerzempfinden zu lindern – aber nix da. Ich musste es mir selbst besorgen, und wer weiß, was mir da angedreht wurde.
Ein Trauma, weil mir alle Mädels weggelaufen sind, als sie merkten, dass ich nichts auf die Reihe kriege. Dabei kriege ich viel auf die Reihe, aber dazu müssen die Bedingungen stimmen. Ein Trauma wegen der anstrengenden Berufsschule und der Ausbildung zum Notfallsanitäter, puh! Da hatte ich nur mit Unfallopfern oder Schwerkranken zu tun.
Ein Trauma wegen des einen schrecklichen Unfalls auf der A 5, den ich nicht vergessen kann. Na ja, allmählich denke ich nicht mehr so oft an diesen Unfall mit dem eingeklemmten toten Fahrer; es ist jetzt immerhin schon acht Jahre her, hat mich aber lange verfolgt.
Dann habe ich nach eineinhalb Jahren diese Ausbildung abgebrochen und meinen Traum vom anschließenden Medizinstudium begraben. Auch das hatte ein Trauma zur Folge.
Danach begann ich die Ausbildung zum Heim- und Jugenderzieher bis mich nach eineinhalb Jahren die Mitschüler beim Direx verpfiffen, weil ich heimlich in der Schule einen Joint geraucht hatte. Abbruch. Trauma. Na ja, so in etwa ging das weiter. Und jetzt soll ich an den Zugführer denken, wenn ich mich von dieser verdammten Welt verabschieden will!
Nun gut, ich muss es halt so anstellen, dass er es nicht direkt mitkriegt. Aber heute geht es mir wieder mal nicht gut. Ich muss einen Tag abwarten, wo ich fit für eine exakte Planung bin. Morgens geht es mir eigentlich niemals wirklich gut. Jeder Morgen ist eine Qual. Wenn ich aufwache, habe ich Depressionen. Alles ist Mist. Die ganze Welt ist verdorben und niemand sieht, wie schlecht es mir geht. Aber egal, die Welt ist sowieso verloren und geht bald unter; da freue ich mich drauf, das will ich noch erleben.
So denke ich fast jeden Morgen.
Immer dasselbe.
Aber dann schwenken meine Gedanken automatisch um, und als Zweites denke ich daran, wie wenig sich meine Brüder um mich kümmern. Nur mein Vater, der ein Stockwerk unter mir wohnt, ist für mich da. Und meine Mutter, zu der ich mit meinem Auto fünfzehn Fahrminuten benötige. Aber die beiden Alten nerven mich auch tierisch. Ich fühle mich so einsam und deshalb nehme ich die beiden in Kauf.
Meine Einsamkeit, oh Gott, das ist ein anderes Thema, da mag ich heute früh nicht daran denken, denn dieses schreckliche Gefühl überfällt mich im Laufe der nächsten Stunden sowieso, egal, ob ich will oder nicht.
Ich gehe spät ins Bett, meist zwischen 1:30 Uhr und 3:30 Uhr. Das ist bei meiner ADHS-Krankheit nicht ungewöhnlich. Da mache ich mir überhaupt keinen Kopf; außerdem ist es biologisch angelegt, dass es tag- und nachtaktive Menschen gibt. Selbst wenn ich wollte: Ich kann vorher einfach nicht schlafen. Meine Eltern sagen, ich solle abends nach 19 Uhr nichts mehr essen, dann würde die Energie nachlassen und ich würde früher müde werden.
Was für ein Bull-Shit!
Zwischen 21 Uhr und 23 Uhr rauche ich meinen Tagesabschlussjoint, und danach esse ich gerne noch einmal etwas Deftiges und wärme mir die Rest-portion von Papa auf, die er mittags gekocht hat. Ich würde ja gerne selber kochen, aber meine Küche ist halt echt Scheiße.
Die Ablage- und Arbeitsflächen sind viel zu niedrig, alles nach den Maßstäben viel kleinerer Bewohner gebaut, die vielleicht vor hundert Jahren hier in dem Fachwerkhaus wohnten. Ich kriege unter diesen Umständen Rückenschmerzen. Mir würde es reichen, wenn ich mir spätabends einfach nur mal zwei Spiegeleier brate – doch das ist alles viel zu umständlich in dieser Scheißküche.
Früher schlafen gehen? Noch einmal: Wer das verlangt, hat echt keine Ahnung. Wir ADHSler sind nun mal Nachtmenschen, nix zu machen. Wenn ich vormittags so zwischen 11 Uhr und 12 Uhr wach werde, melde ich mich telefonisch bei meinem Vater an, der mit mir frühstückt. Für ihn ist es das Mittagessen.
Allein wenn ich schon daran denke, steigt in mir wieder die Wut hoch: Warum habe ich eine so schreckliche Wohnung, in der man Rückenschmerzen bekommt, wenn man sich in der viel zu niedrig gebauten Küchenzeile ein Essen zubereiten möchte? Meine Eltern nerven mich die ganze Zeit schon mit der Frage, ob sie mal einen Schreiner kommen lassen sollen, damit der den materiellen und zeitlichen Aufwand berechnet und uns ein Angebot macht. Meine Mutter würde die Kosten übernehmen.
Aber das ist letztlich alles für die Katz‘!
Ich halte es hier in diesem Kaff eh nicht mehr aus! Ich halte es bei meinem Vater nicht mehr aus; alles geht mir auf die Nerven. Ja, natürlich brauche ich seine Hilfe. Ja, ich bin froh, dass er in der Nähe ist, aber ich kann es trotzdem nicht mehr aushalten.
Und überhaupt: Die ganze Dachgeschosswohnung ist eine einzige große Scheiße. Diese schrägen Wände, da kann man nicht aufrecht gehen und bekommt einen krummen Rücken. Kein Wunder, dass ich jetzt am Morgen bereits mit Rückenschmerzen aufwache. Mit ADHS ist man dazu verdonnert, viel in der Wohnung auf und ab zu gehen. Geht hier aber nicht so einfach. Nicht in so einer Wohnung mit Dachschrägen.
Mein Vater behauptet, dass meine Darstellung der Wohnsituation unzutreffend ist. Er kann dort angeblich überall aufrecht gehen und hat genug Bewegungsfreiraum. Der ist ja auch alt. Der braucht ja auch keinen großen Freiraum.
Wie soll ich denn in diesen schrägen Ecken staubsaugen? Überhaupt ist Staubsaugen für mich als Allergiker nicht das Gesündeste. Was vorne reingesaugt wird, geht hinten durch den Warmluftkanal feinverwirbelt direkt in meine Lunge und verstärkt meinen Lungenkrebs, den ich vom Nikotin rauchen habe.
Mein Vater meint, ich könne froh sein, dass ich eine solch schnuckelige und helle Dachgeschosswohnung habe. Ich finde, er hat keinen realistischen Blick auf meine Wohnung: Weder ist da etwas schnuckelig noch heimelig, wie er immer wieder behauptet, sondern es ist das reine Chaos.
Zum andern ist die Wohnung wegen der viel zu kleinen Fenster alles andere als hell. Dann muss ich daran denken, was ich schon tausend Mal gesagt habe, dass ich entweder eine neue Wohnung brauche oder hier umgebaut werden muss, weil ich auch einen Sportraum brauche, um morgens gleich nach dem Aufstehen den Rücken zu strecken.
Dazu brauche ich Turnringe, die in der Decke verankert werden, damit ich den Rücken strecken kann. So ein Fachwerkhaus muss doch stabile Balken in der Decke haben, das muss doch gehen! Und der Raum muss sauber sein für Bodenübungen, für Dehnübungen.