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Die guten alten 90er-Jahre. In diesem Band nähern sie sich dem Ende. Aber die Zeit zwischen 1996 und 1999 hat noch viel zu bieten. Gute Musik. Und tolle Bands. Aber auch schwere Jungs. Und eine Rechtschreib-Reform. Fußballfieber und starke Konzerte. Aber auch Auftragsmorde. Und Tic Tac Toe. Schuldsprüche und Freisprüche. Dazu Hochstapeleien und falsche Ärzte. Und die Entführung einer Zehnjährigen in Wien. In Bonn schlug Helmut Kohls letzte Stunde. Es schien als bewegten wir uns damals im Spinnennetz der Geheimdienste wie auch im Netz politischer Korruption. Dabei war für uns nur die Liebe von wahrem Interesse. Und die Friedenssehnsucht. Wieder gelingt Stefan Koenig ein eindrucksvolles Zeitgemälde, das er in effektvollen und dennoch realistischen Farben, von mausgrau bis kunterbunt, zeichnet. Eine deutsche und zugleich persönliche Saga, spannend und informativ.
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Seitenzahl: 438
Stefan Koenig
Schöne Zeiten - 1997 etc.
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Schöne Zeiten - 1997 etc.
1997 etc.
Statt eines Vorworts
Das unechte Vorwort
1996
Stockholm & der Anschlag
Prozess um einen Kindermord
Karl & Anna
34 Tore
Harksen schröpft die Reichen
Postbeamter oder Psychiater?
Pfadfinderleben
Eine schreckliche Nacht
Die Firma
Eine Doku aus Schweden
Tagebucheintragungen
Rio Reisers Tod
Segel-Training & Regatten
1997
Sinnlose Suchaktionen
Zschdraß & der falsche Arzt
Unterwegs in Magdeburg
Die Hochwohlgeborenen
Üble Ermittlungsfehler
Minigolf mit Schwierigkeiten
Tic Tac Toe & ein Freispruch
Die Kunst der Esoterik
Reichskanzler Kohl
Marmor, Stein und Eisen bricht, aber …
Vom Lesen & Schreiben
Höhlenforscher
In Gedanken in Hongkong
Lady Di & die tragische Nacht
Postel & der Minister
Urlaubsplanung – extraordinär
Krasse Laudatio
Sankt Martin am Parkplatz
Zuflucht Südafrika
Unterwegs als Nikolaus
1998
Auf dem Weg nach Katar
Turnschuh & Stahlhelm
Eine gestörte Gesellschaft
Natascha & wie es geschah
Mietnomaden etc.
Postels falsche Schwester
Studienrat mit Macken
Nie wieder …
Die CD aus Stockholm
Där tiepische deutsche Maann
Urlaub – never ending Story
Natascha im verlassen im Verlies
1999
Völkerrecht & Alkohol
Statt einer Nachbemerkung
Dank
Falls es Sie interessiert …
»2034«
»Freie Republik Lich – 2023«
Sturm über Lich - 2022
Der Fremde – Lich, 19. Januar 2022
Die realistischen Zeitreise-Romane …
Sexy Zeiten – 1968 etc.
Wilde Zeiten – 1970 etc.
Crazy Zeiten – 1975 etc.
Bunte Zeiten – 1980 etc.
Rasante Zeiten – 1985 etc.
Blühende Zeiten – 1989 etc.
Neue Zeiten – 1990 etc.
Verflixte Zeiten – 1994 etc.
»3033«
Impressum neobooks
Stefan Koenig
Zeitreise-Roman
Band 13
© 2022 by Stefan Koenig
Lassen Sie uns hübsch diese Jahre daher als Geschenk annehmen, wie wir überhaupt unser ganzes Leben anzusehen haben,
und jedes Jahr, das zugelegt wird,
mit Dank erkennen.
Johann Wolfgang von Goethe,
an Catharina Elisabeth Goethe, 7. Dezember 1783
Alles muss heiliger Tanz sein,Liebe und Zorn und Streit.Wenigstens muss es ganz sein.Dann bin ich bereit.Ich hasse die halben Sachen.Sie öden mich schrecklich an.Leben ist Lieben und LachenUnd Sterben dann und wann.Du gib dich mir im Ganzen.Und tanze dich in mich hinein.Auch ich werd‘ mich in dir verschanzen,Um gänzlich glücklich zu sein.Alles muss heiliger Tanz sein,Auch zum letzten GeleitWünsch‘ ich mir tanzende Freunde,Zum Trunke bereit.Alles muss heiliger Tanz sein.Schließlich hat Gott sehr gelacht,Als er die Welten erschaffenUnd zum Tanzen gebracht.Alles fließt und nichts endet,Nichts bleibt je unbewegt,Außer der ruhenden Mitte,Die sich im Tanze erlebt.
Alles muss heiliger Tanz sein,Rausch und Sehnsucht nach Sinn.Wir trinken zusammen das LebenUnd ertrinken nicht darin.Und schon nach wenigen StundenLassen wir uns wieder losUnd tanzen unumwundenIn einen anderen Schoß.
Alles muss heiliger Tanz sein,Liebe und Zorn und Streit.Wenigstens muss es ganz sein.Dann bin ich bereit.Die Liebe will immer frei sein.Sie fügt sich keinem Gebot,Und wenn du noch so klammerstIn deiner Wüstennot.Wer frei sein will, befreie!Liebe, dann wirst du geliebt.Willst du Vergebung? Verzeihe!Und empfangen wird nur, wer gibt.Alles muss heiliger Tanz sein.Schließlich hat Gott sehr gelacht,Als er die Welten erschaffenUnd zum Tanzen gebracht.
(Song von Konstantin Wecker)
Es ist leicht, in Gemeinschaft zu leben
nach den Regeln der anderen.
Es ist ebenso leicht, zurückgezogen zu leben
nach den eigenen Vorstellungen.
Größe aber bezeugt,
wer inmitten der Menge freundlich
die Unabhängigkeit des Einsamen bewahrt.
Ralph Waldo Emerson
Wer meine bisherigen Zeitreisen kennt, weiß, dass ich mit der eigenen Biografie nicht gerade zurückhaltend umgegangen bin – immer eingebettet in den historischen Zeitlauf. Vom ersten Band an gab ich ausführlich Einblick in meine Lebensgeschichte und meinen beruflichen Werdegang. Was letzteren anbelangt, so war ich bis dato, dem Jahr 1997, noch nicht als Romanautor in Erscheinung getreten. Im vorliegenden Band nähern wir uns diesem befreienden und zugleich unerträglichen Zustand. Dass es jemals zu einer Art Sucht werden würde, konnte ich damals nicht voraussehen, sonst hätte ich das Suchtpotential im Keim erstickt – und damit alle zeitgeschichtlichen Ereignisse gelöscht.
Hätte ich das wirklich?
Trauen Sie mir das wirklich zu?
Ich habe stattdessen mich und meine Leser in Band 1 („Sexy Zeiten – 1968 etc.) in das neblige Land meiner Jugend versetzt, das viele meiner Folgeromane inspiriert und zur Fortsetzung weitergetrieben hat. Es waren die Sehnsüchte und Ängste einer jungen Generation, die sich entweder am Rande oder inmitten einer reichen Gesellschaft durchkämpfen musste. Im vorliegenden Band geht es – im nun fortgeschrittenen Alter – um familiäre Liebe und Widersprüche, um berufliche Nöte, Niederlagen und Erfolge, während sich rundum die Welt in ebensolchen Kategorien verstrickte – wie immer Sie, liebe Leser, das sehen mögen.
Mitte Mai wurden Karl und ich mit unserer Arbeit im Schwabinger Steigenberger-Hotel fertig. Okay, sollten die Steuerprüfer übernächste Woche ruhig kommen. Dann würden wir zwar wieder nach München fahren müssen, aber das wäre dann ein Kinderspiel. Wir hatten alles für die Prüfung gesichtet und bestens vorbereitet. Karl war bereits mit seinen 31 Jahren ein exzellenter Wirtschaftsprüfer; ich allerdings – fünfzehn Jahre älter –konnte ihm nur als Gehilfe und Kenner der umwelttechnischen und umweltrechtlichen Aspekte zur Hand gehen. In steuerlichen Angelegenheiten war er eindeutig der Chef. Buchhaltung, Bilanzen, Umsatzsteuerberechnungen – das waren partout nicht meine Lieblingsbeschäftigungen. Karl ging darin auf. Wenn er schwärmen konnte, dann von solchen toten Dingen.
Als ich einmal diese „toten Dinge“ genauso beim Namen nannte, sah er mich entsetzt an und sagte mit fast bebender Stimme: „Das sind lebende Dinge! Hinter den Daten stecken wirtschaftliche Lebensläufe, Firmengeburten, menschliche Schicksale, Einkommen, Auskommen, Niedergang, Pleiten, Glück und Gewinne! Also, ich bitte dich!“
Seitdem dachte ich öfter an Karls Charakterisierung wirtschaftlicher Daten – ja, da hatte er recht: die Daten sprachen für betriebliches und menschliches Geschehen und für allerlei schicksalhafte Lebensläufe. Karl selbst hatte mir sogar von seinem eigenen Lebenslauf erzählt. Nicht alles auf einmal, aber den zweiten Teil seiner Geschichte wollte er mir heute auf der Heimfahrt berichten. Ich hatte mich mit Karl etwas angefreundet. Insbesondere seitdem er mich auf der Fahrt von unserem Frankfurter Büro nach Schwabing mit einem sehr privaten Teil seines Lebenslaufs vertraut gemacht hatte. Er hatte zu mir, dem Paradiesvogel, wie er mich einmal mit schelmischem Lächeln genannt hatte, Vertrauen gefasst. Und ich vertraute ihm. Karl war zwar ein Sonderling wie er im Buche stand, aber war ich das nicht auch? Oder ganz provokant gefragt: Ist nicht jeder von uns, liebe Leserin, lieber Leser, in gewisser Weise ein Sonderling? Egal, jedenfalls war Karl durch und durch ehrlich – und fachlich kompetent.
„Du könntest in jedem Roman eine tragende Rolle spielen“, sagte ich zu ihm, als wir in seinem alten Mercedes saßen und uns durch Münchens Straßen von Ampel zu Ampel in Richtung Autobahn quälten.
„Hoffentlich bleiben wir heute vom Münchner Stau verschont“, warf Karl ein, ohne auf mich einzugehen. Das Wetter war passabel, bewölkt, aber ohne Regen, wir hatten klare Sicht – bis wir fast die die A9 erreicht hatten. Doch schon bald versperrten uns die ersten langsam dahin schleichenden Sprinterhecks den Blick und kündigten den unweigerlichen Beginn des obligatorischen Münchner Staus an.
„Du bist die klassische Romanfigur“, beharrte ich auf meiner Anspielung. Ich wollte ihn aus der Reserve locken. Karl war mir eine Spur zu trocken, zu konservativ, zu einsilbig, zu spröde – da musste doch irgendwo in ihm noch ein lebendigerer Geist sprudeln.
„In deiner Hotelsuite hast du doch an irgendwas geschrieben“, sagte Karl. „Das habe ich mitgekriegt, als du von irgendwelchen »Tagebuch-Aufzeichnungen« gesprochen hast. Denn die drei Abende hast du ja hauptsächlich nur mit mir verbracht. Da hast du mich wahrscheinlich längst schon in deinen Aufzeichnungen verewigt. Würde gerne wissen, wie du mich da schilderst.“
„Aber nein doch! Wie kommst du denn auf so etwas!“, flunkerte ich, obwohl er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Schließlich hatte ich seine Lebensgeschichte wirklich interessant gefunden und sie mir zur Erinnerung aufgeschrieben. Doch damals dachte ich nicht daran, diese Erinnerungen für einen Roman oder auch nur für eine Kurzgeschichte zu verwenden. Romane und Kurzgeschichten lagen mir so fern wie der Mars oder die Venus. Ich wollte nur für mich selbst das eine oder andere Ereignis festhalten. Außerdem diente mir das Schreiben auf dem Hotelzimmer als Erholung von der anstrengenden Zahlenarbeit. Und es erfüllte einen weiteren Zweck: Das Schreiben lenkte mich von der permanenten Versuchung ab, an der Bar kostenlose Drinks und Snacks zu konsumieren und damit meinem Speckgürtel zur Expansion zu verhelfen.
Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte in Form bleiben und sah bei meinem guten Kollegen Karl, wohin es führte, wenn man der ständigen Versu-chung nachgab und aus feierabendlicher Beschäfti-gungslosigkeit und Langeweile Essen und Getränke bestellte, weil alles auf Kosten der Hoteldirektion ging.
„Schreibst du aus therapeutischen Gründen?“, fragte Karl.
Diesmal sah ich ihn entsetzt an und antwortete mit fast bebender Stimme: „Sehe ich wirklich so aus, als wäre ich mein Eigentherapeut?“
„Ich kann mir gut vorstellen, dass dir schreiben Spaß machst. Du hast ja auch immer lustige Ideen!“
Lustige Ideen? Ich wusste nicht, was Karl damit meinte; ich fand meine Ideen nicht immer lustig, vielleicht konnte man sie eher als ausgefallen bezeichnen.
„Eine Sache will ich klarstellen, okay?“, gab ich meinem unbewegt auf das Ende der Autoschlange starrenden Fahrer zur Antwort: „Ich schreibe keine Romane und keine Gedichte. Gedichte, das war einmal, damals, als Gymnasiast.“
„Du hast jedenfalls eine Menge Ideen auf Lager, auf die du zugreifen könntest, stimmt’s?“
„Es gibt keinen Ideenfriedhof, kein Geschichtenkaufhaus und keinen Story-Kühlschrank, aus dem ich mich je nach Bedarf bedienen könnte. Vielleicht gibt es eine Insel der heimlich schlummernden Bestseller. Aber mit all dem habe ich nichts zu tun, lieber Karl. Ich schreibe täglich nur ein paar Erinnerungszeilen in mein Tagebuch, mehr nicht.“
„Und was machst du damit? Schickst du es, wenn es voll ist, per Brieftaubenpost auf die Insel der heimlich schlummernden Bestseller und hoffst auf …“
Am Sprinter vor uns leuchtete es plötzlich knallrot auf.
„Achtung!“, brüllte ich, „der bremst!“
Karls Totalbremsung schleuderte uns ein wenig nach vorn, dann federten wir zurück, und Karl sagte: „Danke für deinen Tipp. Und das meine ich: Du hast immer gute Ideen.“
„Du kannst hervorragend bremsen“, gab ich das Kompliment zurück.
Er sah mich mit schuldbewusstem Blick an.
Ich lenkte unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema. „Du wolltest mir heute auf der Heimfahrt von Anna erzählen. Wie ihr euch kennen gelernt habt.“ Es war keine Bitte, die in meinen Worten lag, eher eine Aufforderung. Karl war zwar eigensinnig, aber wenn man ihm unmissverständlich ein Versprechen, das er selbst abgegeben hatte, vor Augen führte, spurte er sofort. Auch in diesem Sinne war er äußerst gewissenhaft.
Anna war Ronnys Chefsekretärin. Ronny war der Chef der Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungskanzlei, für die Karl arbeitete. Und Ronny war ein alter Schulkamerad von mir; zudem war er bis zum Ableben meiner Bildungsinstitute ein Zehnprozent-Teilhaber gewesen. Er hatte stets für eine problemlose Abwicklung aller steuerlichen und sozialversicherungspflichtigen Dinge meiner Firmen gesorgt.
Karls Mutter, so hatte mir Karl auf der Herfahrt erzählt, sei damals mit seinem jugendlich-legeren Kleidungs- und Lebensstil nicht einverstanden gewesen. Sie habe ihn früher wegen seiner modischen Nachlässigkeiten ein wenig ausgelacht, liebevoll ausgelacht, und gemeint: „In elegant geschnittener Kleidung siehst du einfach besser aus, Karl. Die Mädchen werden dir scharenweise nachlaufen, wenn du dich gut anziehst.“
„Denen wird doch gar nicht auffallen, was ich anhabe. Entweder sie mögen mich oder nicht.“ Er war damals fünfzehn Jahre alt gewesen und linkisch und unsicher.
„Da täuschst du dich aber sehr. Die Mädchen werden dich lieben, aber zuerst müssen sie dich wahrnehmen. Es ist immer der erste Eindruck, der zählt. Glaub mir, ich weiß es.“ Seine Mutter, Elisa Ritter, legte stets Wert auf eine elegante Erscheinung und arbeitete für das Fernsehen, wo man großes Augenmerk auf Stil und guten Geschmack legte.
Einige Jahre später trennten sich Karls Eltern und sein Vater Alfred verabschiedete bei einem letzten gemeinsamen Dinner seine Frau mit den Worten: „Ich wünsche dir, dass du in Stockholm finden wirst, wonach du suchst.“
Ungläubig hatte Karl die beiden angestarrt. Zwanzig Jahre gemeinsames Leben mit Hoffnungen und Träumen waren eben unspektakulär zu Ende gegangen, und seine Eltern hatten hier beim Abschiedsessen im Restaurant noch immer eine Rolle gespielt. Eine Rolle spielen – so tun als ob, alles nur ein großes Theater? Taten das alle Menschen? In dem Moment hatte Karl das Gefühl gehabt, dass er sich niemals verlieben würde. Liebe, so empfand er, war wahrscheinlich eher etwas für Dichter, für Träumer und für Liebeslieder. Im echten Leben taten die Menschen andere Dinge.
Am nächsten Tag, so hatte er mir auf der Herfahrt berichtet, war er nach Heidelberg an die Universität gefahren. Sein neues Leben hatte begonnen.
„Also, lieber Kollege, wie kamst du damals zu Anna, oder wie kam Anna zu dir?“, fragte ich ihn jetzt. Langsam löste sich der Stau auf und Karl schaltete seinen Tempomat auf 120 km/h und begann seine Erzählung.
Er war erst eine Woche in Heidelberg, als er Anna kennen lernte. Sie studierte Betriebswirtschaft an seinem Fachbereich. Aber ihre eigentliche Leidenschaft galt der Musik und der Kunst. Bei einer Party kam sie geradewegs auf ihn zu und forderte ihn zum Tanzen auf.
Später fragte er Anna, warum sie ausgerechnet ihn an diesem Abend auserwählt habe.
„Weil du gepflegt und nicht so gammelig ausgesehen hast“, erklärte sie.
Karl war tief enttäuscht. „Ist das denn so wichtig?“, fragte er.
„Wichtig ist, dass man sich selbst und die Leute, mit denen man zu tun hat, ernst genug nimmt, um sich auch äußerlich ansprechend zu präsentieren. Das ist alles. Ich mag keine schlampigen Menschen mehr sehen“, sagte Anna entschieden.
Von dem Moment an waren die beiden ein Paar. Anna kochte für ihr Leben gern, aber nur, wenn sie Lust dazu hatte. Sie liebte es, wenn ihre Studenten-bude voller Leute war, und als sie erfuhr, dass Karl Klavier und Synthesizer spielte, war sie entsetzt, dass er nicht zumindest den Synthesizer mit an die Uni gebracht hatte.
„Hätte ich mit einem Klavier umziehen sollen?“, fragte Karl, um ihr zu verdeutlichen, dass man nicht alles in einem Studentenwohnheim unterbringen konnte.
„Du musst unbedingt den Synthesizer mitbringen, wenn du das nächste Mal nach Hause fährst. Das musst du versprechen.“
Schließlich begann sie, Jam-Sessions in ihrer kleinen Wohnung zu veranstalten und zauberte dabei die köstlichsten Gerichte auf den Tisch. Anna war damals noch recht schlank, zierlich und schon immer amüsant und der Ansicht, dass Frauenrechte und Mode einander nicht ausschlossen. Sie liebte es, sich bei jeder Gelegenheit schick anzuziehen, und Karl registrierte mit Erstaunen, dass sie oft die attraktivste und stilvollste Frau im Raum war. Sie brachten einander zum Lachen, und bald waren sie unzertrennlich.
Es war kurz vor Ostern, als sie verkündete, sie würde ihn niemals heiraten, weil die Ehe ihrer Meinung nach eine Art Versklavung sei. Aber sie würde ihn ihr ganzes Leben lang lieben. So. Das habe sie ihm jetzt unbedingt erklären müssen, damit es zwischen ihnen keine Grauzone gebe.
Karl war verwirrt. Er hatte sie nicht gebeten, ihn zu heiraten. Aber da es zwischen ihnen gut lief, machte er sich keine weiteren Gedanken. Eines Tages lud Anna ihn zu sich nach Hause ein, um ihn ihren Eltern vorzustellen.
Ihr Vater betrieb ein kleines Restaurant, und ihre Mutter arbeitete als Verkäuferin in einer Damen-Boutique. Sie nahmen Karl mit offenen Armen auf, und er beneidete sie um das Familienleben, das sie führten. Annas Schwester und ihr Bruder, Zwillinge im Alter von zwölf Jahren, waren immer und überall mit dabei und debattierten munter mit ihren Eltern über alle möglichen Themen, angefangen beim Taschengeld, über Piercings und Tattoos bis hin zu Gott und der gottlosen Politik. Solche Themen waren im Haus der Ritters nie besprochen worden.
Die Zwillinge wollten von Anna wissen, ob sie Karls Familie auch bald kennen lernen würde. Ehe er eine Antwort geben konnte, warf Anna rasch ein, dass es damit keine Eile habe. Sie sei eben eine Ausnahmeerscheinung, erklärte sie. Für die meisten Menschen dauere es etwas länger, sich mit ihr anzufreunden.
„Was ist eine Ausnahmeerscheinung?“, fragte ihr Bruder.
„Schau im Duden nach“, zog Anna ihn auf.
Hinterher sagte Karl zu ihr, dass er sich freuen würde, wenn sie zusammen seinen Vater besuchen könnten.
„Kommt nicht in Frage. Ich will doch nicht, dass der gute Mann einen Herzinfarkt bekommt. Aber ich könnte mir vorstellen, mit dir zu deiner Mutter nach Stockholm zu fahren …“
„Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist …“
„Du willst doch bloß nicht Lars kennen lernen und dir vorstellen, wie er mit deiner Mutter schläft, das ist alles.“
„Stimmt nicht“, widersprach er. Aber weil er die Lüge nicht aufrechterhalten konnte, fügte er hinzu: „Na ja, vielleicht ist ein bisschen was dran.“
„Schauen wir doch mal, wie wir am besten nach Stockholm kommen. Ich werde mir ein Projekt überlegen. Dann können wir in der kurzen Zeit zwar nicht Schwedisch lernen, aber unser Englisch verbessern, denn das spricht man dort auch. Wir können uns Stockholm ansehen und gleichzeitig deinen neuen Stiefvater unter die Lupe nehmen.“
Es dauerte bis Ende April, bis sie endlich ihre geplante Reise nach Stockholm in die Tat umsetzen konnten. In den Parks und Gärten blühten die Narzissen und Anemonen, und alles wirkte prächtig und voller Leben. Elisa und Lars bewohnten ein großes, elegantes Haus an einem wunderschönen Platz in der Nähe des Gamla Stan in der Altstadt. Von dort aus waren es nur wenige Schritte bis zum Nobel-Museum, in dem sich alles um den berühmten Nobelpreis dreht. Aber auch zu anderen Sehenswürdigkeiten wie dem Stockholmer Schloss und dem Vasa-Museum war es nicht weit.
Für Anna und Karl war es das erste Mal, dass sie die Stadt in all ihrer Pracht und Betriebsamkeit erlebten. Zuerst schüchterten die vielen Touristen und die vielen überwältigenden Eindrücke sie ein wenig ein, aber bald stürzten sie sich mit Begeiste-rung ins bunte Treiben, entschlossen, jeden Augenblick in vollen Zügen zu genießen.
Elisa wirkte locker und entspannt und freute sich aufrichtig, die beiden zu sehen. Sollte sie den leisesten Zweifel an Annas Eignung als Partnerin des nächsten Firmenchefs von Ritter & Ritter hegen, so erwähnte sie dies mit keiner Silbe. Lars war ein guter Gastgeber und nahm sich extra drei Tage frei von seiner Arbeit bei einer Fernsehproduktionsfirma, um den jungen Besuchern das echte Stockholm und seine Geschichte zu zeigen. Ihre erste Station war das Skansen Freilichtmuseum, in dem Schwedens traditionelle Original-Häuser und Bauernhöfe aufgebaut waren. Lars hatte zudem ein paar Folk-Musik-Clubs ausfindig gemacht, sodass die beiden am Abend auch allein losziehen konnten, wenn ihnen danach war.
Am dritten Tag seiner historischen Stadtführung nahm Lars seine beiden Besucher mit zu einer Treppe an der Ecke Tunnelgatan/Olofsgatan. „Hier habe ich meinen Dokumentarfilm über den schrecklichen Mord an unserem beliebten Ministerpräsidenten Olof Palme gedreht. Hier ist der Tatort“, sagte Lars und erläuterte Karl und Anna den Ablauf des Attentats. Die beiden kannten sich allerdings mit politischen Ereignissen wenig aus und hatten sich 1986, zur Zeit des Anschlags auf Palme, wenig für das politische Weltgeschehen interessiert. Sie waren zu jung gewesen und fanden an Politik generell nichts Gutes.
Karls Stiefvater hatte seinen Besuchern die letzte Wegstrecke von Olof Palme gezeigt. Sie waren bei Palmes Apartment in der Västerlanggatan, einer engen Straße in einem dichtbesiedelten Viertel der Altstadt voller Restaurants und Geschäfte, gestartet.
„Von hier gingen Palme und seine Frau eine kurze Strecke bis zur U-Bahnstation Gamla Stan. Presseberichte zufolge sollen ein oder mehrere verdächtige Männer am Eingang ihres Wohnhauses gesehen worden sein. Zeugen haben Männer mit Handfunkgeräten in der Nähe von Palmes Apartment registriert. Mobiltelefone gab es damals noch nicht. Andere Zeugen berichteten von einem weiteren Walkie-Talkie-Mann in der U-Bahnstation. Dabei handelte es sich nicht um Mitglieder der Personenschutzeinheit des Ministerpräsidenten. Olof Palme hatte für diesen Abend den Personenschutz von seiner Pflicht befreit und wollte privat das Kino besuchen.
Die Palmes kamen ohne Zwischenfälle bis zum Kino, das sie an diesem Abend besuchen wollten. Sie reihten sich in die Schlange an der Kinokasse ein wie jeder andere auch. Vor dem Kinoeingang hatte sich ein verdächtiger Mann herumgetrieben, wie Zeugen später berichteten. Dieser Späher – so die Ermittlungstheorie – habe über ein Mobiltelefon mit dem Mörder kommuniziert, sobald die Palmes aus dem Kino gekommen seien und es ersichtlich wurde, dass sie zu Fuß nach Hause gehen und nicht die U-Bahn nehmen würden.“
„Woher weißt du das alles“, fragte Karl seinen Stiefvater.
„Wenn man über ein historisch bedeutsames Ereignis einen Dokumentarfilm dreht, muss man alle Ermittler, alle Zeugen, politische Weggefährten, involvierte Staatsanwälte und Richter ausfindig machen und interviewen – und möglichst auch den überlebenden Partner oder wie in diesem Fall: die Partnerin, Frau Palme.“
„Wie ist der Mord geschehen?“, wollte Anna wissen.
„Die Palmes liefen, vom Kino kommend, die Hauptverkehrsstraße Sveavägen hinunter – das ist die Straße, die wir gerade entlanggehen. Sie wechselten dann auf die andere Straßenseite, wie wir es jetzt auch gleich tun.“
„Warum wechselten sie die Straßenseite?“, wollte Anna wissen.
„Vielleicht wollte sich Lisbet Palme ein Schaufenster ansehen. Schau dort drüben:“ Lars zeigte auf die andere Straßenseite.
Sie überquerten die Straße und Lars fuhr fort: „Die kommende Stichstraße – hier ist sie schon – heißt Tunnelgatan. Dort befindet sich die nächste, ihrer Wohnung näher liegende Haltestelle der U-Bahnlinie, die sie auf ihrem Hinweg genommen hatten. Als sie sich dieser Straße näherten, tauchte plötzlich aus dem Dunkel ein Mann vor dem Dekorima auf, einem Geschäft für Künstlerbedarf. Er holte die Palmes von hinten ein. Dann feuerte er den ersten tödlichen Schuss, dann den zweiten, der Lisbet Palme streifte. Der Palme-Experte Lars Borgnäs betont – wie auch der Ermittler Roland Segerman -, dass der Mörder genau in eine bestimmte Stelle des Rückenmarks traf. Palme war sofort tot – ein Indiz für die Tat eines Profis.
Es war ein geplanter Auftragsmord. Der Mörder entfernte sich gehend, weil er sich sicher fühlte. So verhält sich ein Profikiller oder ein Soldat. Er war sich sicher, dass er die tödliche Stelle genau getroffen hatte. Das deutet auf einen Angehörigen von Spezialkräften.“
„Aber warum hat man den schwedischen Ministerpräsidenten umgebracht?“, fragte Karl fast atemlos, weil ihn die Geschichte mitgenommen hatte. Morde, Attentate und politische Machenschaften, die auf tödliche Weise endeten, hatten bis dahin völlig außerhalb seiner Wahrnehmungsgrenzen gelegen.
„Es geht um die sogenannte Iran-Contra-Affäre – das war ein politischer Skandal um geheime Waffenlieferungen der US-Regierung unter Ronald Reagan. Die US-Regierung wollte Olof Palme nötigen, unter neutraler schwedischer Flagge per Schiff Rüstungsgüter unter falscher Deklarierung zum einen in den Iran und zum anderen nach Nicaragua an die rechtsgerichteten Contras zu liefern. Palme hatte das Spiel mit gezinkten Karten abgelehnt. Washington wollte damit amerikanische Geiseln, die der Iran gefangen hielt, freikaufen und zugleich den Iran im Krieg gegen den Irak militärisch stärken. Aber da die USA auch dem Irak Waffen lieferten, lief es auf die Strategie hinaus, beide Staaten in einem vernichtenden Abnutzungskrieg elementar zu schwächen. So etwas entsprach ganz und gar nicht den linkssozialdemokratischen Vorstellungen eines Friedenspolitikers wie Olof Palme.
Die ultrarechten Contras hingegen sollten hinter dem Rücken des amerikanischen Parlaments mit Waffen gegen die freigewählte sozialistische Regierung in Nicaragua aufgerüstet werden. Damals hatte der US-Kongress dem Präsidenten solche Waffenlieferungen untersagt. Auch hier verschloss sich Palme dem Wunsch des CIA-Direktors, der ihm die false-flag-Operation im Namen Reagans nahe gelegt hatte.“
„Das Motiv scheint ja klar zu sein“, meinte Anna.
„Und du hast die Zeugen zu diesem Attentat alle vor deine Kamera gekriegt?“, hakte Karl nach.
„Fast alle, ja. Mehrere Zeugen haben die Tat beobachtet: ein Taxifahrer, Personen in einem parkenden Auto, die gerade auf einen am Geldautomaten stehenden Mitfahrer warteten, und einige Fußgänger, die auf dem Sveavägen hinter den Palmes hergingen.“
„Waren Rettungssanitäter und Polizei wenigstens schnell zur Stelle?“, fragte Anna.
„Genau hier, wo wir jetzt stehen, Sveavägen 42, geschah der Mord. Der Tatort ist ein Albtraum für jeden Ermittler. Mehrere Zeugen, ich habe es euch bereits gesagt, haben das Attentat gesehen. Ein Mann kam hier aus der Stichstraße und versuchte, dem Täter die Stufen der Tunnelgatan hinauf zu folgen. Zwei weitere Personen sahen den Killer weiter oben auf der Treppe laufen. Bei der Notfallzentrale und bei der Polizei gingen Anrufe ein. Zwei Polizeiautos erreichten kurz nacheinander den Tatort. Ein weiterer Einsatzwagen mit vier Polizisten hatte mysteriöser Weise bereits vor dem Anschlag oben an der Treppe geparkt. Als der Mörder die Treppe hinaufgelaufen kam, waren sie gerade erst weggefahren.“
„Komisch“, meinte Karl.
„Sehr merkwürdig“, pflichtete ihm sein Stiefvater bei. „Aber ich habe noch mehr herausgefunden und in meiner Doku aufgezeigt. Nun möchte ich euch nicht länger mit diesem Politkrimi langweilen und schlage vor, wir gehen noch in die Musikkneipe, die ich für euch ausfindig gemacht habe.“
Karl und Anna waren einverstanden und sie hatten noch einen unbeschwerten Abend.
Als mir Karl während unserer Rückfahrt nach Frankfurt seine Geschichte erzählte, wollte ich ihn nicht unterbrechen. Aber jetzt sagte ich: „Karl, du weißt ja, dass ich sehr an politischen Ereignissen und gerade auch an der Mordsache Palme interessiert bin. Damals, vor zehn Jahren, habe ich alles, was in den Medien dazu berichtet wurde, aufmerksam verfolgt. Es hat mich sehr berührt; Palme war eine der politischen Leitfiguren für die progressive Bewegung in Europa. Insbesondere für die politisierte Jugendbewegung. Er war ein Gegengewicht zu den ewigen Kriegs-Falken und Scharfmachern. Und er hatte ein sehr soziales Programm. Ein Programm mit Herz.“
„Und das heißt was?“
„Das heißt, dass ich gerne deinen Stiefvater kennen lernen würde, wenn er dich einmal in Frankfurt besuchen sollte.“
„Falls das jemals geschehen sollte, lass ich es dich wissen und werde ein gemeinsames Essen arrangieren. Willst du meine Geschichte weiter hören?“
„Gerne“, antwortete ich und drehte die Rückenlehne meines Beifahrersitzes ein klein wenig nach hinten.
„Willst du jetzt schlafen? Dann spar‘ ich mir meine Worte.“
Ich lachte und sagte: „Karl, deine Geschichte ist höchst spannend und zugleich entspannend. Vor mir läuft genau der Film ab, den deine wohlgesetzten Worte in meinem Kopf erzeugen. Bist ein guter Regisseur. Bitte, schieß los!“
Karl nahm einen Schluck aus der Flasche mit Apfelsaftschorle und dann legte er los. Und ich ließ dazu das Kopfkino laufen.
Am Tag vor ihrer Abreise aus Stockholm unternahm Anna alleine einen Shoppingbummel durch die Altstadt, während sich Karl mit Elisa im Café Nova mit Blick auf das Wasser und die Fährschiffe unterhielten. Karl stellte fest, dass er mit seiner Mutter besser reden konnte als je zuvor. Sie beschwerte sich auch nicht mehr über sein Aussehen. Im Gegenteil, sie äußerte laut ihre Bewunderung.
„Und Anna ist entzückend“, erklärte sie Karl. „Hast du sie bereits deinem Vater vorgestellt?“
„Noch nicht. Du weißt doch …“
Falls seine Mutter tatsächlich wissen sollte, was er meinte, so sagte sie es nicht.
„Lass dir nicht zu lange Zeit damit. Du solltest ihm Anna bald vorstellen. Sie ist wirklich ganz reizend.“
„Aber du weißt doch, was für ein Snob er ist, welchen großen Wert er darauf legt, was die Leute beruflich machen und wer sie sind. Du hast wohl schon vergessen, wie er ist.“
„Anna müsste ihm mit ihrer Studienwahl als Betriebswirtin absolut gelegen kommen. Er plant sie gewiss in die Familienfirma ein.“
„Das ist es ja gerade. Anna ist nicht mit ganzem Herzen BWL-Studentin, ihr Herz schlägt für Kunst und Musik, und es könnte sein, dass sie irgendwann das Studium hinschmeißt.“
„Sie hätte mit dir gemeinsam in eurem zukünftigen Betrieb eine sichere Position, in der sie Mutterschaft und Beruf nach völlig freiem Ermessen gestalten könnte.“
„Anna kommt ganz gut alleine klar. Ob sie überhaupt Mutter werden will, steht noch lange nicht fest. Sie hasst überdies alles, was mit Big Business zu tun hat, und Leute wie die, mit denen Vater täglich Umgang hat, erträgt sie einfach nicht.“
„Sie wird viel zu höflich sein, um sich etwas anmerken zu lassen.“
Karl wünschte, er könnte es ihr glauben.
Elisa erkundigte sich auch danach, wie es im Büro lief. Ob Karl oft dort sei, wenn er zu Hause in Frankfurt war.
„Ich bin bisher nicht sehr oft nach Hause gefahren“, musste er zugeben.
„Du solltest aber öfter dort vorbeischauen und dein Reich und Erbe im Auge behalten“, sagte sie. „Deinem Vater würde das bestimmt auch gefallen.“
„Er bittet mich nie darum oder macht einen Vorschlag.“
„Von dir kommt aber auch nichts“, erwiderte Elisa.
Als sie nach Heidelberg zurückkehrten, rief Karl seinen Vater an. Das Gespräch verlief ziemlich förmlich, so als würde Alfred Ritter sich mit einem flüchtigen Bekannten unterhalten. Soweit Karl es beurteilen konnte, schien sein Vater sich jedoch zu freuen, dass er den Sommer über nach Hause kommen wollte und hoffte, im Büro arbeiten zu können.
„In irgendeiner Abteilung, in der ich nicht viel Schaden anrichten kann“, schlug Karl vor.
„Alle werden sich überschlagen, um dich zu unterstützen“, versprach sein Vater.
Und genauso war es. Mit einiger Verlegenheit registrierte Karl, dass die Leute sich tatsächlich überschlugen, um ihm zu helfen und ihn zu ermutigen. Und wenn sie mit ihm sprachen, dann so respektvoll, dass es bei einem Studenten wie ihm reichlich übertrieben schien. Er hatte eindeutig die Position des Kronprinzen inne. Niemand wollte es sich mit ihm verscherzen. Er war die Zukunft.
Sogar Clara und Charles, seine Cousine und sein Cousin, waren ängstlich darauf bedacht, ihm zu beweisen, wie sehr sie sich für die Firma ins Zeug legten. Sie hielten ihn regelmäßig über alles auf dem Laufenden, was sie bisher gemacht hatten, und betonten, wie gut sie ihre jeweiligen Ressorts im Griff hatten. Und sie versuchten herauszubekommen, was den jungen Karl begeisterte. Kostspielige Einladungen in Toprestaurants schienen Karl nichts zu bedeuten, Branchenklatsch interessierte ihn wenig, er wollte nicht einmal über die Niederlagen der Konkurrenz informiert werden.
Er war ein Mysterium für sie.
Auch sein Vater schien Probleme zu haben, sich darüber klarzuwerden, wo Karls Interessen lagen. Er stellte ihm höfliche Fragen über sein Leben an der Universität und erkundigte sich, ob die Dozenten dort außer ihren akademischen Meriten auch Erfahrungen in der realen Geschäftswelt hätten.
Aber er fragte Karl nie, was ihn sonst noch interessiere oder ob er gar so etwas wie ein Liebesleben habe, ob er noch immer gern Musik mache und Klavier spiele oder wer seine Freunde seien. Abends saßen sie in der Stadtvilla mit dem Blick auf die untergehende Sonne über dem Sachsenhäuser Berg und sprachen über das Büro und die verschiedenen Mandanten, mit denen sie tagsüber zu tun gehabt hatten. Manchmal gingen sie in Alfreds Lieblingsrestaurants zum Essen; sonst aßen sie oft zu Hause am Esstisch. Es gab dann Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat oder Käsebrote oder grüne Soße mit hartgekochten Eiern, serviert von einer stummen, vorwurfsvoll dreinschauenden Frau Wolff, ihrer Haushälterin.
Je mehr sein Vater redete, desto weniger wurde Karl aus ihm schlau. Abgesehen von seinem Leben im Büro der Firma Ritter, schien es für diesen Mann nichts anderes zu geben.
Karl hatte seiner Mutter versprochen, sich zu bemühen, die reservierte Fassade seines Vaters zu durchbrechen, doch das Vorhaben stellte sich als schwieriger heraus, als er gedacht hatte. Er versuchte sogar, mit ihm über Anna zu reden.
„Ich habe eine Freundin, Vater. Sie ist eine Kommilitonin.“
„Das ist gut“, erwiderte sein Vater und nickte vage und beiläufig, als hätte Karl ihm gesagt, dass er sein Fahrrad aufgepumpt habe.
„Ich habe bereits ihre Familie kennen gelernt und dachte mir, Anna für ein paar Tage hierher einzuladen.“
Sein Vater blickte erstaunt auf. „Hierher?“
„Äh, ja.“
„Aber was soll sie denn den ganzen Tag über machen?“
„Sie könnte sich die Stadt anschauen, unser kulturelles Herzstück, das Goethe-Museum und den Römer besuchen, wir könnten uns zum Mittagessen treffen, und ich könnte mir ein paar Tage freinehmen, um ihr alles zu zeigen.“
„Ja, gewiss doch, wenn das dein Wunsch ist … selbstverständlich.“
„Sie hat mich übrigens nach Stockholm begleitet, als ich bei Mutter war.“
„So, ja?“
„Es lief bestens. Sie hat sich gut beschäftigen können.“
„Ich kann mir vorstellen, dass es in Stockholm für jeden etwas zu tun gibt. Hier dürfte es ein wenig anders sein“, erwiderte sein Vater mit eisiger Stimme.
„Ich mag sie sehr, Papa.“
„Gut, gut.“ Es hatte den Anschein, als würde der alte Herr jedes Gefühl, das an ihn herangetragen werden könnte, von vornherein abblocken.
„Wir überlegen uns sogar, zusammenzuziehen.“ Jetzt hatte er es gesagt.
„Ich weiß nicht, mit welchem Geld du das finanzieren willst.“
„Nun, ich habe mir gedacht, dass wir dieses Thema besprechen könnten, während ich hier bin. Kann ich jetzt Anna für nächste Woche einladen?“
„Wenn du willst, ja. Besprich alles Nötige mit Frau Wolff. Sie soll ein Gästezimmer für deine Freundin herrichten.“
„Wir werden zusammen leben, Vater. Ich dachte mir, sie könnte bei mir im Zimmer schlafen.“
„Ich finde, wir sollten Frau Wolff nicht mit deinen Moralvorstellungen in Verlegenheit bringen.“
„Vater, das sind nicht meine Moralvorstellungen. Wir leben demnächst im 21. Jahrhundert!“
„Ich weiß, aber selbst deine Mutter mit ihrem unterentwickelten Realitätssinn hat begriffen, wie wichtig es ist, diskret zu sein und sein Privatleben auch privat abzuwickeln. Frau Wolff wird ein Zimmer für deine Freundin vorbereiten. Wie du dann deine Nächte gestaltest, bleibt dir überlassen.“
„Habe ich dich verärgert?“
„Nein, nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Ich bewundere deine Direktheit, aber ich bin sicher, dass du auch meinen Standpunkt verstehst.“ Er hörte sich an, als wäre er im Büro, wo er niemals die Stimme hob und in seiner Gewissheit, recht zu haben, niemals wankte.
Wir waren in Frankfurt angekommen. Karl parkte im Hof von Ronnys Steuerkanzlei HTG ein und ich fragte: „Geht die Geschichte noch weiter?“
Karl nickte. „Wann immer wir uns sehen und Zeit haben. Aber richte dich darauf ein: Es ist eine schier endlose Geschichte. Ich hoffe nur, du schreibst nicht alles mit, was ich dir im Vertrauen ausplaudere, denn solch völlig normale Storys haben in deinem Tagebuch nichts verloren! Da sollten nur Dinge drinstehen, die du selbst erlebst hast. Oder beurteile ich das als Lese-Laie falsch?“
Ich schwieg.
Wir gingen zu Fuß die vier Stockwerke hoch in die Chefetage, wo uns Anna empfing. Ich sah sie nun mit ganz anderen Augen, als Karl auf sie zuging und ihr liebevoll einen Kuss auf die Wange drückte.
Wie waren Anna und Karl nur gemeinsam in Ronnys »Hagenau Treuhand Gesellschaft« gelandet?
Das Gießener Landgericht hatte meine Akkreditierung für das kulturpolitische Monatsmagazin konkret bestätigt. Ich atmete auf. Schließlich bestand ein derart großes Interesse am Prozess in Sachen Monika Weimar, dass eine Prozessteilnahme – rein auf gut Glück – selbst bei stundenlangem Anstehen so gut wie ausgeschlossen gewesen wäre.
Am Mittwoch, dem 5. Juni, war es soweit. Ich reihte mich in die Schlange der reichlich vertretenen Medienschaffenden am Hauptportal des Landgerichts in Gießen ein. Alle wollten sie dabei sein, beim Wiederaufnahmeverfahren in der Mordsache Monika Weimar. Noch immer gab es nur die beiden Meinungen zum Tod der zwei Mädchen, Melanie und Karola: „Das kann nur die Mutter gewesen sein, weil die Kinder ihrer Beziehung mit dem Ami im Weg standen!“, hörte ich eine Frau in der Nachbarschlange sagen.
„Aber der Vater war gewalttätig, hoch eifersüchtig und gedemütigt durch die außereheliche Beziehung“, antwortete der Mann hinter ihr. „Und, nicht zu vergessen, sie hatte ihrem Mann kurz zuvor die Trennung angekündigt. Wenn er durchgedreht ist … nach dem Motto: Wenn schon, dann soll keiner die Kinder haben …“
Es war die zu erwartende »grandiose Auftaktveranstaltung«, wie es einer der Presseleute hinter mir belustigt formulierte. Aber nichts war an diesem Tag grandios oder belustigend.
Als erstes wurde dem Gericht eine psychiatrische Bescheinigung vom Nebenkläger-Anwalt eingereicht. Reinhard Weimar war von seinen Ärzten auf Dauer für verhandlungsunfähig erklärt worden. Dann ging es lediglich um Formalien. Das einzig Interessante für mich waren die angesetzten Verhandlungstermine, 45 an der Zahl, jeweils mittwochs, vier Mal im Monat. Puh, dachte ich, 45 Tage auf der harten Pressebank sitzend, da sollte man sich besser ein Sitzkissen mitbringen. Ich rechnete mir die Verfahrensdauer für das laufende Jahr während dieses ersten, relativ nichtssagenden Verhandlungstages anhand meines kleinen Sparkassentaschenkalenders aus: bis Weihnachten wären das rund 30 Verhandlungstage. Ich nahm mir vor, wenn möglich, alle zu besuchen.
Eine einzige Information schien mir an diesem Tag noch von ziemlicher Bedeutung, weil nicht immer üblich: Die Pressestelle des Landgerichts hatte eine 300 Seiten starke Dokumentenmappe für die Medienvertreter bereitgestellt. Die besorgte ich mir sofort, bevor sie vergriffen war; vielleicht enthielt sie Unterlagen, die ich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Und so war es. Am Abend blätterte ich die Mappe durch und entdeckte ein Protokoll aus der Vernehmung des Reinhard Weimar vom 30.8.1986, 26 Tage nach dem Mord an den beiden Mädchen.
Frage: Herr Weimar, können Sie uns sagen, warum Sie, nach Ihrer Meinung, als Täter völlig ausscheiden?
Antwort: Ich kann mich nicht erinnern, so eine Tat begangen zu haben.
Frage: Herr Weimar, ich weiß aus früheren Unterhaltungen mit Ihnen, dass Sie zur stationären Behandlung in Hünfeld und Fulda waren, weil Sie zeitweise Ausfälle hatten und hinterher nicht mehr wussten, was in der Zwischenzeit alles geschehen war?
Antwort: Es stimmt, dass ich zweimal umgefallen bin und dann hinterher nicht mehr im Einzelnen wusste, was vorgefallen war.
Frage: Könnte es sein, dass Sie auch im vorliegenden Falle irgendwelche Ausfallerscheinungen hatten, weil Sie mir in einer der vorigen Fragen geantwortet haben, dass Sie sich nicht erinnern können, eine solche Tat begangen zu haben?
Antwort: Ich kann mir das nicht vorstellen.“
Frage: Herr Weimar, warum haben Sie eigentlich nach dem Verschwinden Ihrer beiden Töchter nicht mehr in dem gemeinsamen Schlafzimmer geschlafen?
Antwort: Meine Erklärung weiß ich nicht. Warum meine Frau auf der Couch geschlafen hat, wahrscheinlich wegen dem Telefon.
Pause.
Reinhard Weimar: Ich habe mir meine bisherige Vernehmung bis einschließlich Blatt 17 durchgelesen. Hinsichtlich der Frage, ob im vorliegenden Falle bei mir nicht eventuell irgendwelche Ausfallerscheinungen vorgelegen haben können, möchte ich an dieser Stelle noch ergänzen, dass dann, wenn ich tatsächlich etwas damit zu tun haben sollte, Ausfälle bei mir gewesen sein könnten.
Ich habe aber die Kinder nicht weggebracht. Ich kann mir nicht vorstellen, bei klarem Verstand überhaupt etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun zu haben. Ich bin auch gerne bereit, mich nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen einer Untersuchung zu unterziehen.
Wenn ich überhaupt als Täter in Betracht kommen sollte, so kann ich es mir persönlich nur so erklären, dass ich die Tat nicht im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte ausgeführt haben kann. Ich bin mir aber fast sicher, dass ich für einen derartigen Fall den Abtransport der toten Mädchen nicht selbst durchgeführt habe. Ich bin auch der Meinung, dass ich mit der Tat nichts zu tun habe, weil ich mir nicht vorstellen kann, in der Nacht im Kinderzimmer gewesen zu sein.
Frage: Herr Weimar, hat Ihre Frau in dem Zeitraum, als die beiden Kinder noch als vermisst galten, Ihnen dahingehend Vorwürfe gemacht, dass Sie die Kinder umgebracht hätten?
Antwort: Nein, zu dieser Zeit nicht. Erst am Sonntag, dem 10.8.1986. Sie sagte mir, ich hätte die Melanie getötet. Ich habe meiner Frau keine Antwort gegeben.
Frage: Herr Weimar, wie können Sie es sich erklären, dass die Brigitte ausgesagt hat, dass bereits vor Auffinden der beiden Kinder ein diesbezügliches Gespräch zwischen Ihnen und Ihrer Frau gewesen sein soll? Ihre Frau soll Ihnen dahingehend Vorhalte gemacht haben, dass Sie die beiden Kinder umgebracht hätten. Sie sollen daraufhin geantwortet haben: »Ich oder was? Oder warst du es?«
Antwort: Das weiß ich nicht genau.
Frage: Herr Weimar, Ihre Schwägerin Brigitte gibt ferner an, dass sie zu keiner Zeit eines der Kinder so laut habe schreien hören wie in der Nacht zum 4.8.86. Die Schreie sollen so laut gewesen sein, dass die Melanie, die im gleichen Zimmer lag, mit absoluter Sicherheit hätte wach werden müssen. Auch Sie hätten bei Tiefschlaf diese Schreie hören müssen. Wie können Sie sich erklären, dass weder die Melanie noch Sie selbst etwas gehört haben?
Antwort: Ich habe nichts gehört. Und warum die Melanie nicht wach geworden ist, kann ich mir nicht erklären.
Frage: Kann es nicht gewesen sein, dass die Melanie bereits tot war, als die Karola geschrien hat?
Antwort: Nein.
Frage: Die Brigitte Elliot gibt ferner an, dass der Schlüpfer der Karola total nass war, obwohl in dem Bett keine Nässe feststellbar war. Was schließen Sie daraus?
Antwort: Dazu habe ich keine Erklärung. (Zuckt mit den Schultern)
Frage: Die Brigitte Elliot gibt weiterhin an, dass sie den Eindruck hatte, dass die Karola Angst hatte. Was könnte die Ursache gewesen sein?
Antwort: Ich kann mich nicht erinnern.
Frage: Könnte es sein, dass die Karola deshalb Angst hatte, weil sie gesehen hat, wie ihre Schwester Melanie mit einem Kissen erstickt wurde?
Antwort: Das weiß ich nicht.
Frage: Herr Weimar, haben Sie die Karola nur deshalb umgebracht, weil sie mit angesehen hat, wie Sie zuvor die Melanie mit einem Kissen erstickt haben?
Antwort: Nein. Wenn es wirklich so war, dann muss es ein Blackout gewesen sein. Ich weiß nicht, wann der Blackout angefangen hat. Ich kann mich auch an nichts mehr erinnern.
Frage: Herr Weimar, was verstehen Sie unter einem Blackout?
Antwort: Ich kann mir nicht vorstellen, meine Kinder getötet zu haben. Das, was wir gestern schon mal besprochen hatten. (Der Beschuldigte wird aufgefordert, eine derartige Situation »Blackout« mit seinen eigenen Worten zu umschreiben.)
Frage: Herr Weimar, beschreiben Sie einmal, was Sie unter einem solchen Blackout verstehen.
Antwort: Dass man sich nicht mehr erinnern kann.
Frage: Herr Weimar, worauf könnte ein solcher Blackout, wie Sie ihn meinen, zurückzuführen sein?
Antwort: (Der Beschuldigte zuckt mit den Schultern.) So, wie wir gestern schon mal besprochen haben, Ausfallerscheinungen und so. (Der Beschuldigte reibt sich bei dieser Antwort seine Hände auf den Knien.)
Als dieses Protokoll im jetzigen Verfahren noch einmal kurz eine Rolle spielte, erfuhr man, dass die Vernehmung an diesem Punkt abgebrochen worden war, weil die Beamten, die mit dem Befragten eine gemeinschaftliche und kameradschaftliche Vereinsmitgliedschaft pflegten, »Mitleid mit Reinhard Weimar« hatten: „Er hätte uns in dieser Situation alles gestanden …“
Staatsanwalt Raimund Sauter, der die Beschuldigten-Vernehmung des Vaters der ermordeten Kinder veranlasst hatte, wurde knapp zwei Monate danach, am 20. Oktober 1986, vom Fall Monika Weimar abgezogen. Er wollte gegen beide Elternteile objektiv ermitteln und nichts von vornherein ausschließen. Aber inzwischen hatten dieselben Kripobeamten, die Reinhard Weimar, ihren Vereinskumpel, vernommen hatten, gegen Staatsanwalt Sauter bei dessen vorgesetztem Oberstaatsanwalt erfolgreich interveniert. Seitdem lief das Ermittlungsverfahren einseitig nur gegen die Mutter.
Zwei Verfahrenstermine im Monat Juni, in denen es mehr um formaljuristische Dinge ging, ließ ich ausfallen, blieb aber weiterhin akkreditiert. Als ich mit Emma gelegentlich das Thema streifte, erinnerte ich mich an die Informationen, die ich am Anfang meines Interesses für diesen außergewöhnliche Kriminalfall gesammelt hatte und die beim kommenden Verhandlungstermin eine Rolle spielen würden.
Vor zehn Jahren, am Sonntagnachmittag, dem 3. August 1986, etwa 24 Stunden vor dem Mord an den beiden Mädchen, hatte Monika Weimar vor, mit Karola, Melanie und ihrem amerikanischen Freund Kevin Pratt am Kirchheimer See schwimmen zu gehen. Es war ein sonniger Sommertag. Zu Hause packte Monika nach dem Mittagessen, das sie für die Familie gekocht hatte, einen Picknickkorb. Sie packte zwei Flaschen Bier hinein. Da sie kein Bier trank, wusste ihr Mann in diesem Moment, dass sie gemeinsam etwas mit den Kindern und mit Kevin unternehmen würde.
Trotzdem fragte er: „Für wen ist das Bier?“
„Für Kevin“, antwortete seine Frau und erklärte, dass sie gemeinsam an den Kirchheimer See fahren würden.
Plötzlich wollte Reinhard mitfahren.
„Du kannst doch gar nicht schwimmen!“, sagte seine Frau.
„Na und? Man kann doch wohl auch mal was unternehmen wollen!“
„Aber ich möchte dich nicht dabeihaben, wenn wir uns mit meinem Freund treffen!“ Sie konnte es kaum glauben, dass er mitwollte. Früher hatte er den Kindern immer auf die Frage, warum er zu solch einem Vierer-Badeausflug nicht mitkäme, geantwortet, er könne nicht schwimmen – nur weil er lieber allein zu Hause blieb.
Das hielt sie ihm nun vor. Er fing an, sie durch die Wohnung zu schubsen, es kam zu einer Rangelei. Er versperrte ihr die Wohnungstür. Sie kratzte ihn mit den Fingernägeln und er merkte, dass er sich nicht durchsetzen würde und ließ sie endlich in Ruhe. Diesmal konnte er ihr auch nicht den Zündschlüssel wegnehmen, wie er es manchmal vorher getan hatte. Sie hatte ihn sicherheitshalber schon vorher eingesteckt.
Nachdem sie Kevin an seiner Kaserne abgeholt hatten, suchten sich die Vier am See ein Plätzchen im Halbschatten und breiteten eine Decke aus. Karola und Melanie erfrischten sich kurz am Wasser, und Kevin spielte dann mit ihnen Ball und alberte mit ihnen herum. Monika Weimar saß auf der Decke und schaute dem unbeschwerten Treiben ihrer Kinder zu. Sie waren ausgelassen und quietschten vor Vergnügen. Inzwischen war auch Monikas Schwester Brigitte gekommen.
Die Schwestern unterhielten sich über das anhaltende Zerwürfnis zwischen Monika und ihrem Mann. Beide waren froh, als sie jetzt die Kinder so unbeschwert mit Kevin spielen sahen, dass die Mädchen zu ihm Vertrauen hatten und dass sie trotz der heftigen häuslichen Streitereien so fröhlich sein konnten und keine grundsätzliche Angst vor Männern hatten.
Zwanzig Stunden vor der Tat, etwa um 18 Uhr, trat die Gruppe die Heimfahrt an. An diesem Abend wollte Monika mit Kevin zum Tanzen gehen, wollte diesen so friedlichen Nachmittag mit ihrem Geliebten abends ausklingen lassen. Sie wusste, dass die Mädchen bei ihrem Vater bleiben mussten, da ihre Oma, Monikas Mutter, bei der sie stets gerne übernachteten, im Krankenhaus war. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, da es zuvor den Streit gegeben hatte. Andererseits war er ja nur wütend auf sie und nicht auf die Kinder gewesen.
Später, in all den unzähligen Stunden, Monaten und Jahren der Rückerinnerung, wird sie immer und immer wieder über diese Entscheidung nachdenken und sich Vorwürfe machen – warum habe ich die Kinder an diesem Abend, an dem ich schon ein ungutes Gefühl hatte, ihm zu treuen Händen gegeben?
Zu Hause lag Reinhard Weimar vor dem Fernseher. Er und seine Frau wechselten kein Wort miteinander.
Die Kinder hatten keinen Hunger mehr, sodass Monika sie im Bad fürs Bett fertig machte. „Falls ihr doch noch Hunger habt, dürft ihr heute ausnahmsweise noch einmal an den Kühlschrank gehen“, sagte sie, obwohl sie es nicht gut fand, wenn nach dem Zähneputzen noch einmal gegessen wurde.
Die Mädchen wussten, dass sie in Ausnahmefällen an den Wohnzimmerschrank mit den Keksen gehen durften. Heute ist solch eine Ausnahme, dachte sich Monika Weimar, als sie die Mädchen zu Reinhard ins Wohnzimmer brachte.
(Die Kekse spielten bei den Prozessen aufgrund der Untersuchung der Mageninhalte eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Es ging um die Rekonstruktion der Tatzeit.)
Karola und Melanie wollten mit ihrem Vater noch einen Film sehen, der nach der Tagesschau beginnen sollte. Monika Weimar, damals 28 Jahre alt, suchte sich ihre Sachen für die Disco zusammen, ein gelbes T-Shirt und gelbe Jeans; sie machte ihre Haare fertig, cremte ihr Gesicht ein und tuschte sich die Wimpern. Dann sammelte sie im Bad die Kinderkleidung vom Badeausflug ein und legte sie, bis auf die Unterwäsche, getrennt über die Stuhllehnen im Esszimmer, damit die Kinder sie am nächsten Morgen noch einmal anziehen konnten.
Anschließend schaute Frau Weimar ins Wohnzimmer, umarmte ihre Töchter und bekam von beiden einen Kuss. Sie sagte zu ihnen und zu ihrem Mann, beide sollten nach dieser Sendung bitte ins Bett gehen. Ansonsten besprach sie mit ihrem Mann nichts.
„Macht noch einmal Pipi, ehe ihr ins Bett geht. Und seid lieb!“
Das war der letzte Moment, an dem Monika Weimar Karola und Melanie lebend sah.
Als ich den vierten Verhandlungstermin am Landgericht an jenem Mittwoch, dem 26. Juni, hinter mich gebracht hatte, atmete ich erst einmal tief durch. Gerade heute waren die entscheidenden Stunden vor der Tat noch einmal aufgerollt worden und in einer Woche würde es um die Tat selbst gehen. Der Fall berührte mich zutiefst.
Ronny rief mich an. „Kara, kannst du mal Karl für zwei Tage im Westerwald-Treff unterstützen. Es geht zwar nicht um ein Umweltprojekt, aber um einen Hoteldirektor, der spinnt. Du musst den beschäftigen und ablenken, damit Karl seine Arbeit in Ruhe machen und ein Gutachten für die Steuerprüfung erstellen kann. Direktor Müller ist ein Nichtsnutz vom Feinsten und hat seine halbe Verwandtschaft eingestellt, ohne dass die tatsächlich dort arbeiten. Mach ihm Dampf, zeige ihm die rote Karte, aber lass es nicht eskalieren.“
„Okay“, antwortete ich und musste unwillkürlich an den Spruch einer Nachbarin denken, die ihrem fünfjährigen Jungen auf dem Spielplatz vom Wohnungsfenster aus zugerufen hatte: „Philipp, spiel im Sand, aber mach dir nicht die Hände schmutzig!“
„Hast du überhaupt die zwei Tage Zeit?“, hakte Ronny nach.
„Wenn ich okay sage, ist es okay. Ich muss nur nächsten Mittwoch zum Weimar-Termin unbedingt wieder hier sein!“
„Dass du dich da so reinhängst …“
„Es ist ein sehr außergewöhnlicher und sehr tragischer Fall – egal, wie sich das Blatt wendet und wer auch immer der Täter oder die Täterin ist …“
„Also nimmst du dir die Tage vorher aber Zeit als Karls wirtschaftsprüfender Bodyguard?“, vergewisserte sich Ronny noch einmal.
„Klaro!“
Ich nahm mir die Zeit, denn ich konnte das saftige Zwei-Tage-Honorar von 500 Mark gut gebrauchen. Und so fuhr ich mit Karl in seinem alten Mercedes in den Westerwald nach Oberlahr zum größten und bekanntesten Hotelpark der Treff-Hotel-Kette. Ihr Eigentümer, ein goldbehangener, goldgebräunter Mittdreißiger, von Beruf Sohn, war »Big Mandant« von Ronnys Steuerkanzlei. Ich war dem Burschen schon während der GTU-Zeiten häufig im Steuerbüro begegnet und spürte jedes Mal einen Widerwillen gegen diesen Mann. Ein Widerwillen, den ich mir nicht erklären konnte. Es war selten, dass mich Menschen, zu denen ich keinen direkten Bezug hatte, derart anwiderten. Nun gut, es war so wie es war, und ich versuchte erst gar nicht, mein Gefühl in Erklärungsnot zu bringen. Ich akzeptierte meinen Widerwillen und blieb dem Goldhähnchen gegenüber dennoch freundlich und nichtssagend.
Kaum saß ich bei Karl im Auto, bestand ich auf der Fortführung seiner Lebensstory. „Wie ging deine Liebesgeschichte weiter?“
„Liebesgeschichte?“, antwortete er. „Woher willst du wissen, dass es eine Liebesgeschichte und kein Trauerspiel war?“
„Anna und du, ihr liebt euch doch heute noch.“
„Noch? Oder wieder?“
„Spann‘ mich nicht auf die Folter“, bat ich ihn, während er den Wagen aus dem Hof fuhr. Und dann legte er los, und ich war ganz Ohr.
Anna reiste in der ersten Juliwoche mit der Bahn von Heidelberg nach Frankfurt an, mit jeder Menge Geschichten über ihre Mitreisenden im Gepäck. Sie war leger in Jeans und eine lilafarbene Jacke gekleidet und hatte einen dicken Rucksack voller Arbeit dabei. Sie wollte jeden Vormittag lernen und sich mittags mit Karl beim Griechen zum Essen treffen.
„Mein Vater wird darauf bestehen, uns in ein paar schicke Restaurants auszuführen“, begann Karl nervös.
„Dann solltest du dir schleunigst die entsprechende Kleidung besorgen“, erwiderte sie.
„Ich habe nicht mich gemeint, ich dachte eher an …“
„Keine Sorge, Karl. Ich habe die passenden Schuhe und das passende Kleid dabei“, sagte sie.
Und die hatte sie in der Tat. Anna sah umwerfend aus in ihrem kleinen Schwarzen mit dem grell pinkfarbenen Schal und den eleganten High Heels, als sie zu dritt in das Lieblingsrestaurant seines Vaters gingen. Anna hörte aufmerksam zu, stellte intelligente Fragen und gab amüsante Anekdoten über ihre eigene Familie zum Besten – über ihre Zwil-lingsgeschwister, zwei wahre Satansbraten, über die abenteuerlichen Modeerlebnisse ihrer Mutter mit der Schickeria in der Damenboutique, über das Restaurant ihres Vaters, in dem es zwanzig verschiedene Arten an schwäbischen Spezialitäten gab. Nebenbei erwähnte sie ihren Besuch in Stockholm und betonte, dass Karls Mutter eine wunderbare Gastgeberin gewesen sei.
Sie sprach sogar offen über Lars, den neuen Partner seiner Mutter: „Wahrscheinlich kennen Sie ihn nicht, Herr Ritter, angesichts der Umstände und allem. Aber er war wirklich äußerst aufmerksam. Er hat für uns sogar eine Folk-Musik-Location in Stockholm ausfindig gemacht. Karl war völlig begeistert, und anschließend sind wir zum Essen in ein Restaurant mit einer antiken, fantastischen Decke aus Goldmosaik gegangen. Wussten Sie, dass Lars mit einer eigenen Dokumentationsfirma für das schwedische Fernsehen arbeitet? Ein waschechter Kapitalist, allerdings mit Hang zu sozialdemokratischem Denken. Er hat den Palme-Mord recherchiert. Er war uns gegenüber sehr großzügig und hilfsbereit. Er hat offenbar ein sehr soziales Herz. Das beweist wieder einmal, dass man Menschen nicht in Schubladen stecken kann.“
Karl beobachtete ängstlich seinen Vater. Gewöhnlich redete kein Mensch so mit dem Firmen-chef von Ritter & Ritter. Normalerweise machten alle einen großen Bogen um Themen wie Politik, soziale Ungleichheit und Privilegien. Aber sein Vater schien keinerlei Probleme mit dem Gespräch zu haben. Er plauderte mit Anna wie mit einer beiläufigen Bekannten, stellte ihr jedoch nicht eine Frage zu ihrem Studium oder ihren Hoffnungen und Plänen für die Zukunft.
Karl fragte sich, ob dieser Mann sich wohl jemals für etwas anderes begeistern konnte als für die Firma, für die er sein Leben lang gearbeitet hatte.