Blendende Zeiten - 2001 etc. - Stefan Koenig - E-Book

Blendende Zeiten - 2001 etc. E-Book

Stefan Koenig

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Beschreibung

Das folgenschwere Jahr 2001 mit 9/11. Der Anschlag auf das World Trade Center. Er bestimmte das weltweite Geschehen. Hat man die Welt mit Bildern geblendet? Was sagen die zahlreichen Zeugen des Verbrechens? Was sagen die Feuerwehrleute, die Ärzte und Sanitäter, die ganz früh vor Ort waren? Aber es gibt auch andere Geschichten jener Tage. Sie finden ihre Fortsetzung. Oder sie finden ihr Ende: Die Story des Hochstaplers Gert Postel. Oder die des Finanzbetrügers Jürgen Harksen. Die Sache mit Gustl Mollath, der unschuldig erst in die Mühlen der Justiz und dann in die Hände von inkompetenten Psychiatern fällt – und das alles, weil er die Bank-Beihilfe zu Steuerhinterziehungen von Superreichen und einer Bankmitarbeiterin, seiner Ehefrau, nicht weiter hinnehmen und ertragen konnte. Dann der Kampf gegen Windmühlen, die der Lübecker Oberstaatsanwalt Wille in der Ermittlungssache zum mysteriösen Tod von Uwe Barschel führt. Die tragische Entführungsgeschichte der damals zehnjährigen Natascha Kampusch, die jetzt mit 13 Jahren noch immer von ihrem Entführer versteckt wird. Die Kids der Alt-68er haben die Pubertät längst hinter sich, ebenso wie deren Musik: Die Songs der Stones, die Musik von Led Zeppelin und ABBA. Musikgeschmack, Sprache und soziales Verhalten ändern sich. Die Zeit steht nicht still. Und ruhig ist sie wahrlich auch nicht. Stefan Koenig liefert ein neues, spannendes und zugleich informatives Bild über die ereignisreiche Zeit zwischen September 2001 und Mitte 2004.

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Seitenzahl: 438

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Stefan Koenig

Blendende Zeiten - 2001 etc.

Zeitreise-Roman Band 17

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

STÜRMISCHE ZEITEN, MEIN SCHATZ

Vorwort

2001

Warnungen & Reiserücktritte

Briefe aus dem Knast

11. September 2001

Merkwürdige Explosionen

Ein Bündnisfall zum Geburtstag

Tod eines Reisenden

Ernte-Dank & Zweifel der Welt

Ehe oder Schwarzgeld

2002

Insolvenzen, Drogen, Klassentreffen

Schreibblockaden & Chemtrails von Tedi

Bush senior & Käpt’n Blaubär

2003

Ehe- & Wahldesaster

Nikolaus-Entzauberung

Psychiatrie & Kaffeeklatsch

2004

Statt einer Nachbemerkung

Dank

Falls es Sie interessiert …

»2034«

»Freie Republik Lich – 2023«

Sturm über Lich - 2022

Der Fremde – Lich, 19. Januar 2022

Die realistischen Zeitreise-Romane …

Sexy Zeiten – 1968 etc.

Wilde Zeiten – 1970 etc.

Crazy Zeiten – 1975 etc.

Bunte Zeiten – 1980 etc.

Rasante Zeiten – 1985 etc.

Blühende Zeiten – 1989 etc.

Neue Zeiten – 1990 etc.

Verflixte Zeiten – 1994 etc.

Schöne Zeiten – 1997 etc.

Kuriose Zeiten – 1999 etc.

Geplante Folgeromane in der Zeitreise-Serie:

Nina N.

»3033«

Impressum neobooks

STÜRMISCHE ZEITEN, MEIN SCHATZ

Stefan Koenig

Blendende Zeiten

2001 etc.

Zeitreise-Roman

Band 17

Aus dem Deutschen

ins Deutsche übersetzt

von Jürgen Bodelle

© 2024 by Stefan Koenig

Lektorat:

Markus Bender, Lohra

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kontakte:

Autor:[email protected]

Stürmische Zeiten, mein Schatz,

Hochzeit der Falken.Rund um die Insel unserer Liebe giftet ein Sturm.Lieder und Verse sind am verkalken,die Hunde winseln, Seher fallen vom Turm.Die Minister scharwenzeln verschleimt

um die möglichen Sieger.Die Bürger fordern Ordnung und Zucht,denn schuld sind wie immer die andern.Und die Überfliegerergreifen auf ihren Mantras schwebend die Flucht.Unruhige Zeiten, mein Schatz,wo doch alles so klar war.So viele Jahre geregeltes Sein,wo nach außen fast jeder Fürst oder Zar war -und jetzt bricht dieses Weltbildgebäude so kläglich ein.Ach, wer auf Häuser baut, den schreckt jedes Beben.Wer sich den Banken verschreibt,den versklavt ihre Macht.Wer seinem Staat vertraut, der muss damit leben,dass was heute noch Recht ist,

oft Unrecht wird über Nacht.Dennoch nicht verzagen, widersteh‘n.Leben ist Brücken schlagenüber Ströme, die vergeh‘n.Leben ist Brücken schlagenüber Ströme, die vergeh‘n.

Stürmische Zeiten, mein Schatz!Doch oft tragen die StürmeBotschaften fernerer Himmel in unsere Welt.Und es ist immer der Hochmut der prächtigsten Türme,der allen voran in Staub und Asche zerfällt.

Es scheint fast, als drehte die Erde sichein wenig schneller.Die Starrköpfigsten schielen wieder mal auf den Thron.Jetzt rächen sich wohl die zu lange zu vollen Teller.Und manchem bleibt nur noch der Schlafund die Träume des Mohn.Unruhige Zeiten, mein Schatz. Gut, dass fast immerunsere Liebe in wilder Bewegung war.Mal ein Palast, oft nur ein schäbiges Zimmer,schmerzvoll lebendig, doch immer wunderbar.Ach, wer auf Häuser baut, den schreckt jedes Beben,Wer sich den Banken verschreibt,den versklavt ihre Macht.Wer seinem Staat vertraut, der muss damit leben,dass was heute noch Recht ist,

oft Unrecht wird über Nacht.Dennoch nicht verzagen, widersteh‘n.Leben ist Brücken schlagenüber Ströme, die vergeh‘n.Leben ist Brücken schlagenüber Ströme, die vergeh‘n.

(Konstantin Wecker, 1994)

Vorwort

Nun also bin ich bei Band 17 meiner Zeitreise-Romane angelangt. Allerdings mit der Einschränkung, dass es sich nicht bei allen 17 Bänden um realistische Zeitreise-Romane handelt. Schließlich habe ich der puren Lust und Abwechslung halber gelegentlich eine fantastische Zeitreise mit meiner Leserschaft unternommen. Zuletzt konnte man meine Reise mit Elon Musk auf den Mars verfolgen. Es sind die Bände Nr. 15 und 16. Darin berichte ich auch über meinen Freund Mike Musk. Er ist Elons Ziehsohn – jener KI-Robotnik, der sich kontinuierlich mit Künstlicher Intelligenz perfektionierte, um sich mit der nicht-künstlichen Intelligenz seiner Entwickler zu messen. Er »half« mir beim Protokollieren unserer Erlebnisse.

Zurück in die reale Gegenwart: Wenn ich jetzt über die Zeit zwischen dem erschütternden Jahr 2001 und den folgenschweren Folgejahren bis einschließlich des Jahres 2004 schreibe, so habe ich zwar nicht Mike und seine KI als Protokollhelfer zur Seite, aber eine Menge Fachliteratur und Quellentexte. Ich bin mir darüber im Klaren, dass meine Leser sich vielleicht auch dafür interessieren könnten und werde zu allen Zeitreise-Romanen eine Literaturliste samt einer Schilderung über Entstehung, Dasein und Vergehen meiner Romanfiguren in einem Sonderband veröffentlichen. Ich muss jedoch um etwas Geduld bitten, denn dieser Band wird am Ende der Serie stehen – sobald wir das Jahr 2026 erreicht haben.

Der Titel des Bandes steht jetzt bereits fest: »In eigener Sache – Mein Schreiben. Meine Romanfiguren. Meine Literaturliste. Mein Nachruf.« Ich versichere hier an Eides statt, dass selbst ich auf dieses Werk gespannt bin wie ein Flitzebogen.

Was kann ich Ihnen, liebe Leser, noch anbieten, um die beiden Vorwort-Seiten zu füllen? Nichts. Es fällt mir nichts weiter ein, außer … warten Sie bitte einen kleinen Moment – ich schaue kurz auf meine Unterlagen für den vorliegenden Band und was Sie erwartet. Eventuell bin ich gerade gut sortiert …

Ja, da haben wir’s! Rechnen Sie damit, dass Sie das allerletzte Mal etwas von Gert Postels Doktorspielen und seinen Geständnissen vor Gericht erfahren. Dann wäre da noch Gustl Mollath, den man nach bloßer Aktenlage einfach mal in die geschlossene Psychiatrie stecken wird. Und noch eine Kleinigkeit erfahren Sie über Jürgen Harksen, den Anlagebetrüger, der den Reichen das Geld abknöpfte, um selber superreich zu werden. Und etwas über den hartnäckigen Kampf des Lübecker Oberstaatsanwalts gegen die Justizobrigkeit, die seine Ermittlungen im Todesfall Uwe Barschel eher behindert als befördert. Und natürlich etwas über die junge, jetzt in 2001 bereits 13-jährige Natascha Kampusch und ihren Entführer. Und etwas über Sina, meine Zukünftige.

Immer wieder werde ich gefragt: „Wie können Sie sich nur an all das erinnern, was Sie beschreiben?“ Die Frage weckt freilich Verständnis, denn wer weiß schon, was er heute vor acht oder gar vor achtzehn Jahren erlebt oder getan hat? Doch das Gedächtnis ist nie tot, solange der Erinnerungsträger noch lebt. Es lässt sich auffrischen und revitalisieren. Schon ein einzelnes Foto ist wie ein Lidschlag, der plötzlich den Blick in eine längst entschwundene Szene der Vergangenheit eröffnet. Ein wiederentdeckter Brief aus früheren Jahren, empfangen oder gar selbst verfasst, macht bei seiner Lektüre die Trübheit der Erinnerung wieder klar.

Was 9/11 betrifft, so habe ich erst sehr spät – Jahre später – das gesamte Ausmaß der Täuschung begriffen und dies, obwohl enge Freunde und beruflich verbundene Kollegen von Anbeginn an skeptisch waren. Ich gestehe: Ich war sehr gläubig. Der erste Eindruck der Skeptiker war zumeist: Das ist unmöglich, hier stimmt etwas nicht! Können Wolkenkratzer einfach einstürzen? Kann ein Flugzeug ohne weiteres das am besten geschützte Gebäude der Welt anfliegen: den strategisch wichtigen Hauptsitz des US-Verteidigungsministeriums, das Pentagon?

Wie kann es sein, dass am 11. September, nachmittags um 16:20 Uhr ein Gebäude mit 47 Stockwerken, World-Trade-Center-Building 7, das übrigens von keinerlei Fluggerät getroffen wurde, völlig vertikal innerhalb von 6,8 Sekunden einstürzt? Nur aufgrund von einigen kleinen Bränden? Können 19 »Terroristen«, lediglich mit einigen Plastikgeräten und Plastikmessern »bewaffnet«, vier Flugzeuge gleichzeitig entführen? Und können diese dann, ohne abgefangen zu werden, drei wichtige Gebäude in New York treffen? Tja, 9/11 – ein klassischer, wunderschöner Verschwörungsfall.

Sie, verehrte Leser, erwarten natürlich auch Berichte über mein jämmerliches Dasein als ewiger Protokollant und über meine netten Hauspubertiere, die mit 18 und 16 Jahren bereits am Auspubertieren sind.

Viel Spaß also!

Ihr Stefan Koenig

Lich, im Sommer 2024

2001

In zwei Tagen, am Mittwoch, dem 12. September, habe ich Geburtstag, dann sind 51 Jahre voll. Und heute, am Montag, muss ich an Karolas morgendlichen Satz beim Frühstück denken: „Papa, du gehst jetzt geradewegs auf die Sechzig zu!“

Schlimm, sehr schlimm solch ein megakrasser Morgenschock.

„Danke, meine beste Tochter aller Zeiten, danke für diesen netten Ausblick. Bedenke, dass du mit deinen gerade achtzehn Lebensjahren auch rasant auf die Dreißig zugehst“, habe ich geantwortet – in der schrägen Hoffnung, dass es ihr einen gehörigen Schreck einjagen würde. Wie mir, in frühen Jugendjahren. Aber Karo lächelte nur müde.

Sechzig Jahre, mein Gott, das kam mir an diesem Morgen genauso vor wie damals die Dreißig, die ich mit Zwanzig nie erreichen wollte. Ganz nach dem Motto »Traue keinem über Dreißig« und »Mit Dreißig gehörst du zum Establishment«. Jedenfalls löste Karos Bemerkung alte Erinnerungen aus. Gott sei Dank wurden sie im Handumdrehen von Lucas verdrängt. Das heißt von seinem Nichterscheinen am Frühstückstisch.

Emma, die allmächtige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende unserer Familie, Karo, unsere siebenjährige Jenny und ich warteten wie üblich auf ihn. In zwanzig Minuten war Schulbeginn. Auch wenn die Schule in unmittelbarer Nähe unseres Hauses stand, war es nicht hinnehmbar, dass Lucas jetzt immer noch im Bett lag. Ich hatte ihn das erste Mal um Punkt zwei Minuten nach sieben Uhr geweckt. Aber das Pubertier hatte gewohnheitsgemäß nicht darauf reagiert.

Es befand sich zu neunzig Prozent unter der coolen Homer-Simpson-Bettdecke, einer Art Eisernem Vorhang, unter der es noch stockduster sein musste und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich nach extrem chilligem Wochenende roch. Oder nach abgestandenem Müsli oder vergammelten Schulbroten. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, weil die häusliche Kontrolle meine Frau übernommen hat. Ich muss lediglich darüber berichten, muss schreiben, eine viel wichtigere Aufgabe, natürlich.

Jedenfalls bedurfte es an diesem Morgen noch weiterer drei Weckversuche, bis unser Sechzehnjähriger endlich um die Küchenecke bog, kurz winkte und ohne Frühstück die Haustür via extrem kurzem Schulweg direkt in die Physik-Arbeit verließ.

„Eigentlich wäre es besser, vor einer Klassenarbeit gut zu frühstücken“, sagte ich, aber nur Jenny nickte beifällig.

„Mit vollem Bauch studiert’s sich schlecht“, meinte Emma. „Vielleicht macht er es instinktiv richtig.“

„Das ist doch völlig egal“, sagte Karo, „Physik ist sein Lieblingsfach. Hauptsache, er hat ausgeschlafen und ist gut drauf.“

Ja, ja, gut drauf sein! Und ich? Ich ging mit kurz vor Einundfünfzig auf die Sechzig zu.

Als dann die beiden Mädels aus dem Haus waren, um ihren schulischen Pflichten nachzukommen, kam der Anruf von Dieter Döhmler. Er ist Anwalt und Notar. Ich sah seine Nummer auf dem Display unseres Festnetzapparates und sagte zu Emma: „Für dich, der Dieter!“

Sie ging ran.

Ich war gerade auf dem Weg zu meiner Schreibstube im Dachgeschoss, da rief sie mir hinterher: „Dieter will mit dir wegen dem Förderverein reden!“

Wie das? Dieter ist Schulelternbeirat.

Seit dem von der Schulbürokratie ausgetragenen – und inzwischen beigelegten – Clinch wegen meines Schulromans »Nina N.« haben meine Frau und ich die schulischen Zuständigkeiten ordnungsgemäß untereinander aufgeteilt. Emma geht jetzt ohne mich zu den langweiligen Elternabenden und zu den völlig sinnlosen Acht-Minuten-Elternsprechtagen, die einmal im Jahr stattfinden, ohne dass man als Elternteil wirklich etwas in diesen 480 Sekunden über sein Kind und die Schule erfährt. Da muss man schon in den Schulförderverein eintreten, Geld spenden und die Hoffnung kultivieren, bei den zweimonatlichen Sitzungen endlich einmal auf einen der Lehrer zu treffen, die man schon seit langem zu konsultieren hoffte.

Aber Pustekuchen. Lehrer sind selten in Schulfördervereinen, weil sie der festen Überzeugung sind, dass sie jeden Tag die Schule unentgeltlich fördern. Auf alle Fälle ist Emma für allen Kram, der mit Schule zusammenhängt, zuständig, weil wir es ge-recht aufgeteilt haben. Sie geht zu allen Schulveranstaltungen. Und ich: nicht.

Was ich mache? Ich beobachte.

Immerhin, das ist auch etwas. Gar nicht so unwichtig, wie Dieter Döhmler meint, als er jetzt mit mir telefoniert.

„Gut, dass es dich gibt, aber Romane schreiben ist ja sicherlich nicht so aufregend, wie mal wieder selbst in der Schule aktiv zu werden!“, sagte Dieter mit anwaltlichem Unterton so dahin, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, einen kleinen Schriftsteller in einem Telefonat belanglos-elegant herabzuwürdigen. Wobei hinzukommt, dass er genau weiß, wie wenig intellektuell und wie wenig literarisch-anspruchsvoll Schulleitung und Kollegium auf meinen Schulroman reagiert hatten. Und diesen hochbeleidigten Schulbeamtenleberwürsten sollte ich nun bei irgendwas aus der Patsche helfen?

Nun ja, beleidigten Leberwürsten helfe ich gerne, denn das beschämt sie. Und Dieter kenne ich zur Genüge und weiß ihn zu nehmen. Er hat meine aktive Zeit im Gesamtschulelternbeirat, in dem ich sein Stellvertreter war, nicht gerade unterstützt. Er hat mich die dornige Kleinarbeit machen lassen und selbst nur große Reden geschwungen. Er kann das ganz gut, er hat das als Anwalt einfach drauf. Er hält immer ein Plädoyer. Egal wo. Döhmler ist nicht nur Erster Schulelternsprecher, er ist auch Fördervereinsvorsitzender und Segeljugendwart, und er war früher auch schon Kindergartenelternsprecher, und ich könnte drauf wetten, dass er später mein Pflegeheimbewohnersprecher sein wird. Manche Menschen wird man nie los.

Aber irgendwie finde ich ihn trotzdem ganz nett, weil er außerordentlich charmant sein kann, wenn er etwas von einem will. Im Moment will er meine Hilfe beim schulischen Ernte-Dank-Fest im Oktober. Ich hätte doch so ein ausgeprägtes »feeling« für die Natur. Emma und ich hätten einen so wunderschönen Garten mit Obst und Gemüse. Sogar Kürbisse hätte er dort entdeckt. Vollkornbrot hätte ich doch auch schon für unseren Freundestreff gebacken – und ob ich nicht …

Natürlich traf er genau in mein naturgrünes Herz, und ich nahm mir vor, ihm zuzusagen. Aber ich wollte ihn noch etwas zappeln lassen.

Dieter Döhmler und seine Gattin Britta sind Mitglied im Honoratiorenkreis unserer Kleinstadt, wo sich der Adel aus Parteivorständen sowie Zahnärzte, Gaststättenbetreiber, EDV- und Unternehmensberater sowie andere sehr wichtige Menschen alle zwei Monate treffen. Emma und ich waren da willkommen, bis Nina N. dazwischenfunkte.

Aber das alles ist jetzt Vergangenheit.

Die Treffen fanden reihum statt und wer dran war, musste kochen und die vorherige Küche möglichst übertreffen. Alles musste gesund und grün sein, was für mich selbstverständlich ist, denn Ungesundes würde ich niemals jemandem empfehlen. Nicht mal dem laschen Schuldirektor, der nichts in den Griff bekam.

Seit einiger Zeit hat der grüne Zeitgeist die Essenskultur der gehobenen Mittelschicht erreicht. Auch friedenspolitisch haben sich unsere lokalen SPD-CDU-FDP-Honoratioren die grüne Sichtweise zu eigen gemacht und beim NATO-Angriffskrieg gegen das neutrale Jugoslawien beide Augen zugedrückt. Mir hatte das den Appetit verschlagen und zum Umdenken geführt. Aber im Kreis dieser Freunde spielte das keine Rolle mehr – schließlich war das alles eine Ewigkeit her, also genau zwölf Monate. Die jugoslawischen Landwirte dachten derweil gewiss an eine völlig andere Ewigkeit, wenn sie ihre von NATO-Uranmunition verseuchte Erde zu bestellen hatten. Strahlende Weizenernte.

Nun also das bevorstehende Ernte-Dank-Fest.

„Okay“, sagte ich, „Ich besorge den ganzen Grünkram und ein paar Eier. Dafür musst du die Konversation mit dem Pfaffen übernehmen und ihm klarmachen, dass ich erst wieder mit ihm rede, wenn er sich entschuldigt hat.“

„Eier?“, fragte Döhmler. „Seit wann gehören Eier auf den Ernte-Dank-Tisch?“

„Seit meine Frau acht Hühner und einen Hahn im Garten hält. Und ich kann nicht so viele Eier verzehren und verschenken, wie die Viecher Eier legen.“

„Aber was hat das mit dem Pfarrer zu tun?“

„Der hat keine Eier in der Hose, um seine Organistin in die Senkel zu stellen. Sie hat sich Emma und mir gegenüber in der Öffentlichkeit unmöglich verhalten. Er ist ihr Dienstvorgesetzter und hätte eine Vermittlungsfunktion einnehmen sollen. Stattdessen hat er sich weggeduckt. Ziemlich feige, dieser Gottesfrosch.“

„Du erwartest immer Gerechtigkeit und Wahrheit und was weiß ich noch … geh doch einfach darüber hinweg. Was geschehen ist, ist geschehen. Nachtrauern und Nachtragen sind – rein juristisch gesehen – nicht von Belang.“

Ich musste lachen. Irgendwie hatte er ja recht, der Herr Rechtsanwalt.

„Also, ich schicke dir eine Woche vorher ein Erinnerungsfax“, sagte er.

„Nicht nötig. Ist schon notiert.“

*

Im CIA-Center for Intelligence im straßennamenlosen Gebiet von Langley im Fairfax County im US-Bundesstaat Virginia sitzt der Chef-Agent, George Tenet, über einer Vorlage seiner politischen Freunde aus dem Kreis der republikanischen Rüstungsfalken. Seit Juni 1995 ist er stellvertretender Direktor der CIA. Am 11. Juli 1997 war er zum Direktor ernannt worden. Sobald eine neue Regierung die Washingtoner Administration übernimmt, wird der CIA-Direktor normalerweise ersetzt. Tenet hingegen arbeitete nun auch nach dem Ende der Regierung Clinton unter George W. Bush weiter. Das war dem Umstand geschuldet, dass er in den letzten beiden Jahren bereits eng mit Bushs wichtigsten Beratern, der konspirativ operierenden Clique um Rumsfeld, Cheney, Wolfowitz, Bolton, Rice und Colin Powell geheime Pläne ausgeheckt hatte.

Tenet, ideologisch ein radikaler Neocon wie die anderen, ist höchst angespannt. Es ist Montag, der 10. September 2001. Morgen ist Tag X, der Tag der alles ändern wird. Lange schon hatte die konspirative Gruppe in der Öffentlichkeit eine Kulisse der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus an die Wand gemalt. Als Hauptfeinde der USA bezeichneten sie den Iran, den Irak und die Gruppe al-Qaida, die von Afghanistan aus operiert.

Tenet weiß genau, dass es seine CIA-Vorgänger waren, die die damaligen Mudschahedin, die sich jetzt al-Qaida nennen, mit hochmodernen Waffen belieferten. Er weiß es, weil er schon damals geholfen hatte, die islamistischen Extremisten im Kampf gegen die – an Moskau orientierte – weltliche Regierung in Kabul militärisch auszubilden. Jetzt sind sie die schlimmsten Feinde im »Kampf der Kulturen«. Dieser herbeigeredete Kampf soll der »Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert« nützen, wie es dem Strategie-Buch von Samuel P. Huntington zu entnehmen ist.

Es dient den neokonservativen Aufrüstungsfalken als ideologische Vorlage. Sie ziehen daraus den Schluss, dass die Vereinigten Staaten den bevorstehenden Umbrüchen in der Welt militärstrategisch zuvorkommen müssen. Und dazu bedarf es eines plausiblen, weltweit wahrnehmbaren Zeichens, eines glaubhaften Vorwands.

Ich hatte mit meinem alten Schul- und späteren Geschäftsfreund Hörbi vor einiger Zeit über Washingtons Außenpolitik gesprochen. Ich empfand sie als immer bedrohlicher. Er hatte gemeint, die USA würden einen Popanz aufbauen, um eine Geisterschlacht ins Leben zu rufen.

„Popanz?“, hatte ich gefragt.

„Die suchen einen handfesten Vorwand, um ihr neues Weltbild voranzutreiben – die USA im heldenhaften Kampf für die freie Welt. Dazu will man einen Großteil seiner Verbündeten so eng wie möglich hinter sich scharen. Das gelingt nur mit einem ausgeklügelten, lange vorbereiteten Feindbild und mit einem großen Knall wie damals, 1941, in Pearl Harbor.“

Das Papier, das George Tenet seit über zehn Monaten vorliegt, liest sich wie eine To-do-Liste. Und das ist es auch. Alles auf der Liste ist bereits abgehakt. Der Geheimdienstchef ist sie mit seinen engsten Vertrauten schon zig Mal durchgegangen. Er hat in den vergangenen Monaten fast täglich Rückfragen und Klärungsgespräche mit dem Strategen und stellvertretenden Verteidigungsminister, Paul Wolfowitz, sowie mit dessen Vorgesetztem, Donald Rumsfeld, und mit Dick Cheney, dem 46. Vizepräsident der Vereinigten Staaten unter George W. Bush, geführt. Insgesamt haben sie an diesem Papier zwei Jahre lang gefeilt.

In Los Angeles arbeitet an diesem Tag der Geschäftsmann und Filmemacher Aaron Russo am Drehbuch für seinen lange geplanten Dokumentarfilm »America: Freedom to Fascism«. Sein Konzept sieht vor, die Wallstreet-Connections offenzulegen. Er sieht unrechtmäßige Verbindungen zwischen der amerikanischen Steuerbehörde IRS und dem finanzmächtigen Federal-Reserve-System, jener staatlich kontrollierten, aber privaten US-Zentral- und Notenbank. Er will die schrittweise Beschneidung von Bürgerrechten dokumentieren und damit aufzeigen, wie die USA von einem freien Land letztlich zu einem totalitären Polizei- und Überwachungsstaat degenerieren könnten.

Seit Langem schon interessiert sich der 58-jährige Politaktivist von der Libertarian Party für das amerikanische Steuer- und Geldsystem. Vor fünf Jahren kam er in diesem Schaffenszusammenhang mit einem Mitglied der Bankiersfamilie Rockefeller in Kontakt, Nick Rockefeller. Zwischen diesen völlig verschiedenen Männern entwickelte sich eine Freundschaft, die jahrelang anhielt und Russo schließlich einen seltsamen Einblick in die Welt der Mächtigen dieser Erde gewährte.

Nachdem er drei Stunden am Drehbuch gearbeitet und Ideen gesammelt hat, geht er in sein Filmstudio, um ein Video über diese Männerfreundschaft zu drehen. Er schildert darin die Philosophie und die Motive der Finanzmächtigen sowie das letztendliche Abkühlen seiner Freundschaft mit Nick Rockefeller aufgrund ihrer zu unterschiedlichen Weltanschauungen.

In diesem Video beschreibt Russo, wie ihm Nick Rockefeller im Herbst 2000 anvertraute, dass es innerhalb von einem Jahr einen »Vorfall« geben würde, der die schon lange im Raum stehenden Kriege gegen Afghanistan und Irak einläuten würde.

Was genau dieser Vorfall wäre, hatte Russo nicht hinterfragt, und er schenkte diesem Punkt auch keine weitere Aufmerksamkeit. Von dem hochbrisanten Problem, dass es innerhalb gewisser Kreise des Establishments Kenntnisse gab, die Milliarden anderer Menschen auf dieser Welt nicht besaßen, konnte er zu diesem Zeitpunkt weder etwas ahnen, noch konnte er der Informationsquelle nachgehen.

Eine große Attraktion in New York ist das World Trade Center mit seinen Zwillingstürmen: Turm 1, auch Nordturm genannt, und Turm 2, dem Südturm. Die beiden Türme sind im Volksmund auch als Nelson und David bekannt, benannt nach den Geldgebern dieses Projektes, Nelson und David Rockefeller. Die Bauarbeiten begannen am 5. August 1966, und der Komplex aus mehreren kleineren Türmen rund um die Zwillingstürme wurde im Jahr 1973 fertiggestellt. Die beiden Türme sind jetzt die höchsten Gebäude der Welt.

Die architektonische Funktionseinheit des World Trade Center umfasst noch die Gebäude WTC 3, das Marriot Hotel, WTC 4, WTC 5, WTC 6 und WTC 7. Der gesamte Komplex wurde während der 80er und 90er Jahre ständig ausgebaut, im Mai 1987 eröffnete das jüngste Gebäude, Building 7, bekannt als WTC 7. Als Gebäude mit der höchsten Nummer war es am weitesten von den Zwillingstürmen entfernt.

Building 7 hat, wie Aaron Russo für seine Dokumentation jetzt erst, im August 2001, erstaunt herausgefunden hat, eine interessante Liste an Mietern. Deren größter ist die Investmentbank Salomon Smith Barney. Sie belegt die Stockwerke 0 bis 6 und 18 bis 46. Gegen sie, wie gegen fünf andere Wallstreet-Banken, laufen Ermittlungen, weil sie an schwerwiegenden Börsenmanipulationen und Insidergeschäften beteiligt waren und gegen wichtige Regeln am amerikanischen Markt für Regierungsanleihen verstoßen haben sollen. Teilgeständnisse der CEOs von Salomon Smith Barney liegen bereits vor.

Ein weiterer Mieter ist ausgerechnet die für den Fall zuständige US-Steuerbehörde IRS, der bekannte »International Revenue Service«. Russo ist dem IRS gegenüber besonders argwöhnisch und hat den Verdacht, dass die Behörde oder einzelne hohe Mitarbeiter mit der Investmentbank hinter dem Rücken der Öffentlichkeit mauscheln.

Und noch eine weitere Finanzbehörde ist Mieter: die »United Securities and Exchange Commission«, das ist die staatliche Börsenaufsicht für die Kontrolle des Wertpapierhandels in den Vereinigten Staaten. Sie hat im Tiefgeschoss des Gebäudes eine Asservatenkammer, in der sie die im Zuge der strafrechtlichen Ermittlungen beschlagnahmten Aktenberge mit brisanten Dokumenten der sechs beschuldigten Investmentbanken aufbewahrt.

Warnungen & Reiserücktritte

Obwohl Dieter Döhmler, dieser charmante »Für-mich-und-für alle-und-alles-Sprecher«, mir ein Erinnerungsfax erst unmittelbar vor der Ernte-Dankfest-Veranstaltung im Oktober angekündigt hat, erreicht mich das Fax schon heute am Montagmittag. Ich glaube nicht, dass er an vorzeitiger Demenz leidet, aber er täuscht gerne Vergesslichkeit vor, wenn er Aufgaben an andere so schnell wie möglich abdrücken kann. Dann nämlich steht er nicht mehr in der Verantwortung. Er ist ein schlauer Fuchs.

Seine Aufträge erteilt er grundsätzlich aus seiner Kanzlei heraus per Fax, wie es im gerichtsverwertbaren Zustellungsverfahren üblich ist. Darin steht meistens nicht mehr als der Anlass und der Befehl zur Besorgung von gewissen Dingen sowie die vorgesehene Einsatzzeit. Die Nachricht ist ähnlich sparsam gehalten wie beim Geheimdienst. Auch da liest man ja nicht unter einem üppigen Betreff »Gift-Anschlag auf Putin« mit der Bitte, den russischen Präsidenten am morgigen Dienstag, dem 11. September 2001, gegen 13:00 Uhr bei seinem Festmahl am großen ovalen Tisch freundlicherweise mit einem Fliegenpilzwodka zu vergiften. Nein, unter Geheimagenten heißt die Betreffzeile »Job«, und der unauffällige Fax-Text lautet: »Morgen, ausgemachte Zeit, Goldner Salon/ovaler Tisch, Präparat nicht vergessen.«

Auf genau dieselbe bescheidene Weise kommuniziert Döhmler mit mir. Hier, mit diesem Fax zum Beispiel, das mich erreicht, als ich gerade so schön im Schreibfluss für meinen neuen Roman bin. Betreffzeile: »Obst, Gemüse, Eier«. Text: »5.10., dunkler Anzug!« Mehr muss man nicht wissen, oder?

An diesem durchaus denkwürdigen Tag, als mich Dieter Döhmler als Ernte-Dank-Schulaktivist per Fax reaktiviert, bucht der im Showgeschäft tätige 68-jährige Dick Gregory einen Kurzstreckenflug nach New York für einen Comedy-Auftritt. Er ist ein bekannter farbiger Comedian, zudem ein Gesellschaftskritiker und geschäftstüchtiger Unternehmer. Er bittet seine Frau, für ihn ein Hotelzimmer zu buchen.

Am 10. September landet er abends, von Washington kommend, auf dem New Yorker John F. Kennedy International Airport. Von dort ruft er seine Frau an, um sie zu fragen, welches Hotel sie für ihn gebucht habe. Die Antwort ist überraschend: „Ich habe nichts gebucht. Dein Freund Larry hat angerufen und gesagt, dass du die Nacht nicht in New York verbringen kannst. Du sollst unbedingt deinen Auftritt absagen, koste es was, was es wolle. Und du sollst die Stadt sofort wieder verlassen.“

Larry pflegte gute Verbindungen „nach oben“ und hatte in der Vergangenheit dem FBI gedient. Gregory nimmt seinen Rat ernst und fährt per Zug noch am selben Abend zurück nach Washington. Nach seiner Heimkehr ruft er seinen Freund an und fragt ihn, woher er gewusst habe, dass er in New York gewesen sei. Sein Freund teilt ihm mit: „We picked you up on the satellite, brother.“ Noch weiß der Comedian nicht, wovor ihn sein Freund vielleicht bewahrt hat.

Sechs Tage zuvor, am 4. September, war überraschend das Unternehmen »ZIM American Israeli Shipping Co.«, das zu 49 Prozent dem israelischen Staat gehört, aus Turm 1 des World Trade Center ausgezogen, obwohl der Mietvertrag für die Fläche von 60.000 Quadratfuß noch über einen Zeitraum von 4,5 Jahren läuft.

Sechs Wochen zuvor hatten mehrere weiße Lieferwagen – Zeugen sprechen später von vier Wagen – auf der Zufahrt zum WTC-Komplex angehalten. Das war gewiss nichts Außergewöhnliches. Nach einer Weile waren sie zur Tiefparkebene weitergefahren, wo sie ungehindert die eigentlich zugangsbeschränkten Einlassschranken passieren konnten. Zirka sechs bis acht Männer in Handwerker-Overalls hatten den Komplex betreten. So berichten die Hausmeister. Die Lieferwagen trugen das Firmen-Emblem der »Urban Moving Systems«. Schon ein Vierteljahr später sollte sich herausstellen, dass »Urban Moving Systems« eine Scheinfirma des israelischen Geheimdienstes Mossad ist.

Später berichteten Mitarbeiter der israelischen Shipping Company sie hätten Anrufe von Unbekannten erhalten, denen zufolge sie gewarnt wurden, das WTC und ihre ehemaligen Arbeitsräume in den nächsten Tagen zu betreten.

Der Bürgermeister von San Francisco, Willie Brown, will morgen früh, am 11. September, zu einem Termin nach New York fliegen. Brown erhält am Vorabend von seiner Sicherheitsmitarbeiterin eine telefonische Warnung nicht zu fliegen. „Weshalb nicht?“, fragt er, und sie antwortet: „Weil ein terroristisches Attentat bevorsteht.“

Die New York Daily News meldet, dass verschiedenen Geschäftsleuten im Nahen Osten geraten wurde, Lower Manhattan in New York am 11. September zu meiden. Auch einer Gruppe bestimmter Pentagon-Beamter wird am Vortag dringend empfohlen, ihrem Arbeitsplatz am Potomac River, etwas außerhalb von Washington DC, am 11. September fernzubleiben.

Einige CEOs hatten eine Besprechung unter der Leitung von Warren Buffet, dem »Orakel von Omaha«, im World Trade Center für den 11. September geplant. Aber das Treffen wird nun im letzten Moment abgesagt und auf die Offut Air Force Base in Omaha verlegt. Zu dieser Gruppe Geschäftsleute gehört auch der Direktor von Fiduciary Trust Inc., einem Finanzunternehmen, das fünf Etagen über dem 90. Stock des Südturms, Turm 2, belegt. Die Offut Air Force Base ist übrigens derselbe Luftwaffenstützpunkt, zu dem man George W. Bush am nächsten Tag fliegen wird. Der Stützpunkt besitzt ein unterirdisches Kommandozentrum.

Von all diesen Ereignissen weiß ich nichts – und die ganze übrige Welt auch nicht. Aber immerhin ereignen sich Merkwürdigkeiten, die in den kommenden Wochen und Monaten ans Tageslicht kommen.

So hatte Jim Pierce, ein Neffe von Präsident Bush, am 11. September ein geplantes Meeting im 105. Stock des Südturms, in dem sich das Büro seiner Firma befand. Doch der Ort der Besprechung wurde im letzten Augenblick in das Millenium Hotel mit der Begründung verlegt, dass die teilnehmende Gruppe zu groß sei. Das aber stimmte nicht, denn die Teilnehmer auf der zuvor erstellten Liste und die Anwesenden im Millenium waren identisch, ihre Anzahl hatte sich nicht verändert.

Am Wochenende hatte die israelische Tageszeitung Yadiot Abranot berichtet, dass Israels Premier, Ariel Sharon, am 11. September eine Rede auf einer Benefizveranstaltung im östlichen Teil New Yorks halten werde. Der israelische Sicherheitsdienst Shabak warnte Sharon vor dieser Reise kurz vor seinem Abflug.

Am Montag, dem 10. September, als ich ahnungslos in meinem Büro fernab jeglichen Weltgeschehens sitze und an einer weiteren Stefan-Raab-Parodie bastele, bringt das Tokioter Management der Investmentbank Goldman Sachs ein Papier für seine Mitarbeiter in New York in Umlauf. Der interne Bericht empfiehlt in höflich-japanischem Wortlaut, am nächsten Tag das WTC und amerikanische Regierungsgebäude zu meiden.

Am selben Tag gibt der US-Rüstungsminister Donald Rumsfeld bekannt, dass in seinem Ministerium, dem Pentagon, 2,3 Billionen Dollar verschwunden seien. Jedenfalls fehle diese Summe in der Bilanz. Er gibt eine Erklärung ab, in der er die »korrupte und ineffiziente Bürokratie« dafür verantwortlich macht, dass sich diese Mittel angeblich in Luft aufgelöst hatten. Rumsfelds Ankündigung hätte zwar eine breite Empörung hervorrufen und Anstoß für eine eingehende Untersuchung geben können, aber am nächsten Tag passierte etwas und alle vergaßen es.

Larry Silverstein war der neue Inhaber eines Leasingvertrages für das lukrative WTC. Die Silverstein Gruppe plante für den Morgen des 11. September eine Tagung zum Thema »Anti-Terrorismus« im 88. Stock des Nordturms, dem Turm Nr. 1. Teilnehmer des Treffens sollten Mitglieder des vorherigen Eigentümers sein: The Port Authority of New York and New Jersey. Auch diese Versammlung wurde im letzten Augenblick abgesagt, ebenso wie die Teilnahme von Larry Silverstein an diesem Meeting, weil seine Frau darauf bestand, dass er einen angeblichen Arzttermin einhielt. Larry Silversteins Kinder, Sohn Roger und Tochter Lisa, hatten einen Termin mit potentiellen zukünftigen Mietern im Restaurant im oberen Stock des Nordturms. Aber aus unerklärlichem Grund verspäten sich Bruder und Schwester Silverstein an diesem Morgen und erreichen das Gelände erst, als alles in Trümmern liegt. Nur Glück gehabt? Oder Vorwissen?

*

Ich überlegte gerade, ob es sich rentieren würde, wenn ich morgen für einen Tag nach Mürlenbach fahren würde, um für die dortige Betriebsratssitzung bei der Pumpenfabrik Feluwa abrufbar zu sein. Man hatte mich als gerichtlich bestellten Notgeschäftsführer zwar nicht eingeladen, aber das war auch nicht unbedingt üblich. Zumal der Betriebsrat wusste, dass ich turnusgemäß erst am Donnerstag anreisen würde. Aber ich kannte meine Pappenheimer. Zu oft hatten sie schon mit dem hinterlistigen Prokuristen, Herrn Schmidt, gemeinsame Sache gemacht und getrickst. Im Nachhinein konnten sie leicht behaupten, ich sei absichtlich nicht im Betrieb anwesend gewesen, um ihnen nicht Rede und Antwort stehen zu müssen.

Ich musste vorsichtig sein. Ich wollte den Betrieb vor der Zerschlagung retten. So oft wie möglich musste ich anwesend sein, auch wenn der Konkursrichter in Trier nicht darauf bestand und froh war, wenn er nichts von mir hörte. Beamter eben.

Mein Verdacht, der sich immer mehr verhärtete, war folgender: Prokurist Schmidt wollte den Betrieb konkursreiten, um ihn dann preiswert zu verscheuern – oder vielleicht selbst zu übernehmen. Die Auftragslage war ja gut, völlig im Bereich des Üblichen. Eigene Vorteilsnahme von Betriebsleitern war nicht unüblich, wenn ein Betrieb ins Schwanken geriet.

Aber noch bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, klingelte das Bürotelefon. Ronny, mein Frankfurter Boss von der Steuer- und Wirtschaftskanzlei HTG, war am anderen Ende.

„Kara“, sagte er – so nennt er mich immer, wenn er etwas viel von mir erwartet; dann nämlich knüpft er geschickt an meinen Spitznamen aus bunten, gemeinsamen und damals noch so schrecklich gleichberechtigten Jugendzeiten an. Aber jetzt hörte ich eine große Chefbitte bereits aus seinem Tonfall heraus: „Kannst du nächste Woche von Montag bis Mittwoch mit Karl nach Magdeburg fahren? Das dortige Treff-Hotel hat Probleme mit dem Finanzamt, und ihr solltet euch die Buchhaltung vor der Betriebsprüfung in der übernächsten Woche unbedingt ansehen.“

„Sollte möglich sein. Ich muss das jedoch heute Abend erstmal mit Feluwa klären, wenn die Betriebsratssitzung gelaufen ist und wenn ich beruhigt sein kann, dass alles im Rahmen bleibt.“

Tatsächlich ging es derzeit sehr aufgeregt im 326-Mitarbeiter-Betrieb her. Die Verunsicherung war groß, weil Schmidt das Gerücht streute, es gäbe keine soliden potentiellen Erwerber. Generell sei die Investorenlage beim derzeitigen Wirtschaftsklima ungünstig: Platzen der Dotcom-Blase, Aktieneinbruch der Telekom etc. Aber das war jetzt Schmidts geplante Panikmache, um sein Ziel zu erreichen. Wenn sich die Mitarbeiter innerlich mit dem Zusammenbruch des Geschäftsgeschehens abfanden und er den Betriebsrat um die Finger wickeln konnte, hätte er leichtes Spiel. So war meine Vermutung.

Ronny und ich unterhielten uns noch eine Weile über die Aufgabenfelder in Sachen »Treff-Hotel Magdeburg« sowie über die von unserem Unternehmen aufgelegten Immobilienfonds in der Domstadt mit der berühmten Grabkirche. Es ist die Grabkirche von Otto dem Großen, dem ersten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Noch immer betreute ich neben meinem Notgeschäftsführerauftrag bei Feluwa in der Vulkaneifel die Heiligen Steuerlichen Abschreibungsmodelle Deutscher Nation in der Hauptstadt von Sachsen-Anhalt. Sie waren inzwischen Zuschussmodelle.

Nach dem Telefonat mit Ronny machte ich mich endlich an die immer wieder verschobene Ablagearbeit. Mein Büro sah aus wie Sau. Vermutlich waren dafür meine beiden Pubertiere verantwortlich, weil sie mich so unheimlich in meiner Achtsamkeit in Anspruch nahmen. Oder einschränkten – ich weiß es nicht genau. Heute Morgen jedenfalls hatte mich die echte Verzweiflung gepackt. Es lag nicht an Jenny, die noch meilenweit vom Evolutionsstadium eines Pubertiers entfernt war. Es lag an Karo und Luca. Sie hatten mich in den letzten drei Jahren meines Vaterseins nicht nur entrechtet, sondern auch Stück für Stück enteignet. Im Grunde habe ich so gut wie nichts mehr.

Ich wollte jetzt Musik hören, wollte mir bei der Bewältigung der bevorstehenden Büroarbeit Hannes Wader oder irgendein meditatives Wassergeplätscher oder wegen mir auch Samy Deluxe mit seinem zeitkritischen Rap »Weck mich auf« anhören. Aber wo waren meine CD’s? Alle fort. Wo war mein CD-Player? Weg. Wo war mein Verlängerungskabel?

Auch verschwunden.

Notgedrungen durchkämmte ich alle Stockwerke und Zimmer. Im Gästezimmer fand ich endlich das Gesuchte. Daneben fand ich alles, was Karola zuzuordnen war: Ihren Laptop, ihre Macintosh-CD’s mit Themen zur Astrophysik – ihrem neuen Lieblingsfach. Sie vermutete stark, dass es außerirdische Intelligenz geben müsse, die in der Entwicklung der Informationsverarbeitung wahrscheinlich wesentlich weiter seien als wir. Ich nahm mir vor, ihr heute Abend einen Vortrag über den Zusammenhang von Intelligenz und Rückgabeverantwortung zu halten.

Alleine dieser elendige Suchvorgang samt der Notwendigkeit alles wieder anzuschließen, kostete 90 Minuten meines Sortier-Lebens. Dafür gönnte ich mir eine vierminütige Weck-mich-auf-Zwischenpause mit Samy Deluxe:

Wir leben in einem Land,

In dem mehr Schranken stehen, als es Wege gibt

Mehr Mauern als Brücken, die Stimmung ist negativ

Und die Alten fragen, warum rauch ich täglich Weed

Und warum sind

Ich und meine ganze Generation so depressiv?

Wir sind jeden Tag umgeben von lebenden Toten

Umgeben von Schildern, die uns sagen:

Betreten verboten!

Umgeben von Skinheads, die Türken

Und Afrikanern das Leben nehmen

Während Bullen danebenstehen,

Um Problemen aus dem Weg zu gehen

Umgeben von Ja-Sagern, die alles nur nachlabern

Denen kaltes, dunkles Blut

Pumpt durch die Schlagadern

Umgeben von Kinderschändern,

Die grad mal Bewährung kriegen

Genau wie die Scheiß-Nazis,

Deren Opfer unter der Erde liegen

Hat dieses Land wirklich nicht mehr zu bieten

Als ein paar Millionen Arschgesichter mit ‘ner

Fresse voller Hämorrhoiden?

Die meinen, dies Land sehr zu lieben,

Doch sind nicht sehr zufrieden

Passt zu eurem Frust,

Oder warum seid ihr hiergeblieben?

Ich muss mich von euch

Ganzen Schlappschwänzen abgrenzen

All den ganzen Hackfressen,

Die mich jeden Tag stressen

Es sind die gleichen Leute an der Spitze,

Die sich satt essen

Und Minderheiten werden zur Mehrheit

Und trotzdem vergessen

Weck mich bitte auf aus diesem Albtraum

Menschen sehen vor lauter Bäumen den Wald kaum

Man versucht uns ständig einzureden

Dass es noch möglich wär‘, hier frei zu leben

Weck mich bitte auf aus diesem Albtraum

Menschen sehen vor lauter Bäumen den Wald kaum

Ich und du und er und sie und es sind

Besser dran, wenn wir uns selber helfen

Ich bin der Typ, der kurz nach Beginn

Der Party schon geht

Weil ich nicht feiern kann, solange ich in Babylon leb

Wir haben miese Karten, regiert von Psychopathen

Verwaltet von Bürokraten, die keine Gefühle haben

Kontrolliert von korrupten Cops, die oft Sadisten sind

Verdächtige suchen nach rassistischen Statistiken

Gefüttert von Firmen,

Die uns jahrzehntelang vergifteten

Informiert durch Medien, die‘s erst zu spät berichteten

Scheiß auf‘n Unfall im Pkw, Schäden von THC

Wir haben bald alle BSE

Und du schaust noch auf dein EKG,

Bevor dein Herz stoppt und denkst

Auf‘n dickes Steak hätt‘ ich trotzdem jetzt Bock

Verdammt nochmal!

Gehirnwäsche pur, rund um die Uhr

Und Vater Staat schlägt und vergewaltigt Mutter Natur

Das Bürotelefon klingelte. Ich drückte die Stopptaste am Player und nahm ab. Es war Döhmler. Ob ich schon seine Mail gelesen habe.

„Diiieter“, sagte ich extra langgezogen. „Na klar. Du wolltest sie mir ursprünglich erst kurz vorm Ernte-Dank-Fest schicken. Aber da sieht man, wie du deiner eigenen Zeit innerhalb nur eines Tages vorauseilst und jetzt schon im Oktober angekommen bist, während ich inzwischen die Verschleppungsaktionen meiner geliebten Hormonmonster aufdecken muss.“

Ich erzählte ihm alles.

Wirklich alles: Wie vor einigen Tagen mein neuer Taschenrechner plötzlich weg war. Wie ich stundenlang verzweifelt meinen neuen elektrischen Rasierapparat suchte und schließlich nach Stunden in Carolas Kosmetiktasche fündig wurde. Ich hörte ihn quasi lächeln am anderen Ende der Verbindung.

Als ich mich später bei der stellvertretenden Familien-Betriebsratsvorsitzenden, mit der ich zufällig verheiratet bin, beschwerte, erntete ich hier nichts als ein müdes Lächeln – wie bei der Hauptoberchefvorsitzenden, die zufällig meine älteste Tochter ist. Ich wäre halt manchmal überfordert von meiner Schreibarbeit und dadurch etwas schusselig, meinten beide in gewerkschaftlicher Einstimmigkeit. Es sei aber weiter nicht schlimm, wenn ein älterer Mann mal etwas suche, was er selbst verlegt oder jemandem versprochen habe und so weiter. Das mit dem »älteren Mann« hatte mich echt empört. Ich erntete auch für meine Entrüstung nur ein müdes Lächeln.

Ich erzählte Dieter noch einiges aus dem Mysterium meiner privaten Enteignung. Diesmal reagierte er eine Spur ehrlicher und ich hörte ihn verhalten lachen. Nun ja, das erntet man bei anderen Eltern, wenn man sich mit solch privat-intimen, absolut vertraulichen Familienberichten outet. Er erzählte mir prompt, wie traumhaft sein Sohn und seine Tochter, mit der unsere Karo seit Jahren befreundet ist, funktionierten. Er sagte tatsächlich »funktionieren«.

Weiterhin konnte er von den traumhaften Segel-Erfolgen seines Sohnes berichten. Er ist ein Klassenkamerad von Luca und steht zu ihm in hahnenmäßiger Dauerkonkurrenz. Und natürlich schilderte er genüsslich, wie hervorragend seine Frau die Familie zu seinem Wohlgefallen manage. Sie ist Oberstudienrätin, hat aber von Pädagogik so wenig Ahnung wie ein Frosch von einer französischen Zwiebelsuppe. Wie ich bereits seit einem halben Jahr gesehen und erfahren hatte, war das Ergebnis ihrer Extrempädagogik eine ausgewachsene Anorexie ihrer Tochter. An diesem Punkt seiner selbstgefälligen Betrachtung unterbrach ich Dieters Redeschwall und sagte: „Verehrter Herr Fördervereinsvorsitzender, ich unterbreche Sie ungern, aber mir läuft die Zeit davon, ich habe noch Dringendes zu erledigen.“

Er lachte und sagte: „Ja, ja, schon gut, Herr Ernte-Dank-Helfer, Dank im Voraus.“

Als ich ihn abgewimmelt hatte, drückte ich die »On«-Taste und hörte weiter den Rap-Song, der die Jugend von heute bewegte:

Die Scheiß-Politiker dienen der dunklen Seite

Wie Darth Vader

Und haben ‘nen Horizont

Von circa einem Quadratmeter

Keine eigene Meinung, doch zehn eigene Ratgeber

Die schwachsinnigen Scheiß reden

Als hätten sie‘n Sprachfehler

Hoffen, die braven Wähler zahlen weiterhin

Gerne Steuergelder

Doch ich bin hier,

Um Alarm zu schlagen wie‘n Feuermelder

Was sagt wohl Schröder dazu?

Ich glaub, ich ruf‘ ihn mal an

Sag zu ihm, Gerhard,

Schau‘ dir doch unsere Jugend mal an

Ein Drittel starrt mit offenem Mund

Auf ihre Playstation

Das zweite Drittel feiert im Exzess als Rave-Nation

Abhängig von teuflischen

Pharmazeutischen Erzeugnissen

Weil sie nicht wussten,

Was diese Scheiß-Drogen bedeuteten

Das dritte Drittel hängt perspektivlos rum

Auf deutschen Straßen

Kids mit dreizehn Jahren ziehen sich

Schon dies weiße Zeug in die Nase

Die keine Ziele, aber nur Träume haben

Und das sind meist teure Wagen

Sie planen ihr Leben nicht weiter als bis heute Abend

Denken zur Not geht es wie bei

Nintendo noch neu zu starten

Scheißen drauf, ob sie bald sterben

Wer will schon alt werden?

In diesem Land, in dem mehr Schranken stehen

Als es Wege gibt

Mehr Mauern als Brücken. Die Stimmung ist negativ

Für die Alten – darum rauchen wir täglich Weed

Und deshalb sind

Ich und meine ganze Generation so depressiv

Weck mich bitte auf aus diesem Albtraum

Menschen sehen vor lauter Bäumen den Wald kaum

Man versucht uns ständig einzureden

Dass es noch möglich wär‘, hier frei zu leben

Weck mich bitte auf aus diesem Albtraum

Menschen sehen vor lauter Bäumen den Wald kaum

Ich und du und er und sie und es sind

Besser dran, wenn wir uns selber helfen

Briefe aus dem Knast

Ich war vermutlich bereits seit einer Stunde am Durchsortieren, als ich auf einen dicken, ungeöffneten Brief meines Comic-Malers und Künstler-Freundes Meise aus Hamburg stieß. Er datierte vom 15. Februar diesen Jahres, hatte also über ein halbes Jahr lang hier in Frieden geruht und war sicherlich wie ein guter Wein gereift.

Den Inhalt – ein Bericht von Gert Postel über seinen Hochstapler-Prozess – hatte ich tatsächlich damals von Meise erbeten. Vielleicht würde sich ja doch irgendwann und irgendwie eine Gelegenheit finden, um Postels Korrespondenz in meinem Verlag zu veröffentlichen. Ich war mir noch nicht ganz sicher, obwohl ich seine humoresk-tragischen Lebenserfahrungen als hochtalentierter Hochstapler und adaptiver Plagiator zu würdigen wusste. Seine Texte waren jedenfalls druckgeeignet. Bisher hatten sie mir immer ein Schmunzeln entlockt und meine Stimmung aufgebessert, selbst wenn eines meiner herumwieselnden Pubertiere gerade für Ernüchterung sorgte.

Ich legte das Pubertier-Thema für den Moment beiseite. Allerdings wollte ich mein Anliegen am Abend in ruhiger Atmosphäre ansprechen und mit beiden Kids ein ernstes Wörtchen reden. Hier und jetzt gehörte unbedingt Ordnung in den Laden! Ich konnte nicht meine Arbeitszeit mit unendlichen Suchaktionen verdödeln. Ich legte Händels Wassermusik in den CD-Player und dachte tatsächlich einen klitzekleinen Augenblick darüber nach, ob er wasserdicht sei. Ich blätterte die fünf Briefseiten von Postel auf, die er an meinen Freund gerichtet hatte, und nahm mir vor, nach der Leseprobe einen einstimmigen Beschluss über die publizistische Verwendbarkeit des Materials in einer geheimen Abstimmung mit mir selbst herbeizuführen.

Dann tauchte ich ab in Postels Welt.

»Lieber Meise,

ich danke dir für deinen letzten Besuch hier in der JVA. Hauptsächlich habe ich mich über den Kuchen gefreut und über die darin versteckte Fingernagelfeile. Ich danke Gott, dass man nicht noch deinen Kuchen geröntgt oder auseinander gesägt hat. Ich wäre auch sehr froh, wenn die Brief-Zensoren des Hauses meinen Humor verstehen und dich bei deinem nächsten hiesigen Besuch wegen meiner hier versteckten literarischen Stinkbomben nicht extraordinär durchsuchen.

Wie du weißt, wurde für meinen Prozess ungefähr alles aufgeboten, was gut und teuer ist: Als Ankläger ein Staatsanwalt für besondere Aufgaben mit Berichtpflicht zum Ministerium, ein Hoffnungsträger.

Anklage zur Großen Strafkammer, obwohl es das Schöffengericht auch getan hätte; größter und prächtigster Sitzungssaal in Leipzig, größtes Presseaufgebot aller (Leipziger) Zeiten; Einrichtung eines eigenen Pressezentrums für Journalisten im Landgericht Leipzig; bedeutende Verteidiger aus Frankfurt und Berlin. Wie du mir erzählt hast, ist mein Verteidiger Dr. Fischer, dieser findige Frankfurter Rechtsfuchs, anwaltlich für das Büro tätig, für das dein Freund Stefan arbeitet. Und er ist obendrein einer jener durch und durch gierigen Investoren der extravaganten Immobilien-Anlagen, die Stefan in Magdeburg verwaltet. Welch ein Zufall!

Ich lasse bei Fischer aber darüber kein Wort fallen. Bin ja auf ihn angewiesen. Wobei ich nicht weiß, ob er wirklich mit meinem Fall nicht überfordert ist, weil auch er – wie offensichtlich alle Juristen – keinen Spaß versteht und vor seinen funkelnden Strafverteidiger-Augen nur den Ernst des Lebens zu sehen scheint.

Lustig, dass selbst die aufgerufenen Zeugen ausschließlich mit mindestens einem akademischen Abschluss aufwarteten. Oh Meise, es ist alles so schrecklich lächerlich.

Dass bei einem solchen »Prozess der Superlative« das Gespann Leygraf/Nowara nicht fehlen darf, ist für jeden, der die Verhältnisse auf dem nationalen Markt der forensischen Begutachtung kennt, unmittelbar einsichtig.

Seit der Emeritierung des Berliner forensischen Psychiaters Wilfried Rasch und nach dem Tod von Herbert Maisch, der mich seinerzeit in Bremen begutachten durfte, gibt es in Deutschland vor allem drei nationale Koryphäen, nämlich Kröber aus Berlin, Förster aus Tübingen und eben Leygraf aus Essen, die in spektakulären Fällen auch außerhalb ihres jeweiligen Bundeslandes gerne herangezogen werden.

Der Vorsitzende Richter, der Prof. Leygraf für eine Begutachtung auswählt, muss im Übrigen gewärtig sein, dass er mit der Beauftragung des Professors auch gleichzeitig, ja nahezu automatisch die Frau Diplompsychologin Nowara mit engagiert. Die beiden treten nur als Gespann auf. Manchem Richter ist dieser »Nimm-zwei«-Zwang nicht so angenehm, was allerdings meistens nur Frau Nowara zu spüren bekommt. Mein Vorsitzender jedenfalls verhunzte ihren Namen so nachhaltig (Nogra, Norma, Nigera, Neverla, Novura, Nagasaka etc.), dass einer meiner Verteidiger meinte, sich für die korrekte Benennung der Diplompsychologin in die Bresche werfen zu müssen.

Mein größtes Glück wäre es gewesen, Herrn Prof. Leygraf und Frau Nowara einmal lächeln zu sehen. Diesem wirklich raren Ereignis beizuwohnen, war mir leider nie vergönnt. Professor Leygraf läuft mit einer derart finsteren Miene herum, dass man von Glück sagen kann, dass er in der Regel Erwachsene begutachtet, weil Kinder bei seinem Anblick ein schweres Trauma davontragen könnten. Seine dunklen Augen blicken einen tief traurig aus tiefen Höhlen an, wesentliche Partien seines Gesichts sind durch einen beachtlichen Rauschebart, wie ihn auch Tolstoi trug, verdeckt.

Er hat etwas waldschratmäßig Intensives an sich, wirkt vom Gestus her eher unbürgerlich proletarisch, drückt sich akademisch aber recht geschliffen aus, wobei für den geübten Beobachter ein leichtes Ruhrpott-Timbre nicht zu überhören ist. Er ist von großer Ernsthaftigkeit, beseelt von der Bedeutung seines Faches und, wie ich finde, vollkommen humorlos. Die Humorlosigkeit teilt er mit Frau Nowara, die mich vom Typ her wiederum an Gudrun Landgrebe erinnert, und zwar in der Rolle der gescheiten Domina.

Als die beiden das erste Mal bei mir im Leipziger Knast zur Exploration erschienen, wollte ich die Situation ein wenig auflockern, indem ich darauf hinwies, wie amüsant es doch sei, dass ich in demselben Besprechungsraum noch vor einem Jahr selbst Probanden für eines meiner psychiatrischen Gutachten exploriert habe. (War es ja auch tatsächlich.) Die beiden verzogen keine Miene. Eisiges Schweigen schlug mir entgegen. Dann, nach einem langen Intervall, beide im Chor: „Sie haben nicht exploriert. Was Sie gefertigt haben, sind keine psychiatrischen Gutachten!“

Es gehört wenig Phantasie dazu, lieber Meise, sich den weiteren Verlauf der Begutachtung vorzustellen. Falls die beiden empathiefähig sind, haben sie es mir zumindest nicht gezeigt. Besonders Madame Nowara schien fest entschlossen, mich nicht zu mögen.

Dagegen ist ja an sich nichts einzuwenden, allerdings sollte die Abneigung des Gutachters nicht allzu deutlich spürbar werden. Ich war durch ihr Verhalten zutiefst verunsichert. Als sie begann, die Marterinstrumente ihrer psychologischen Testbatterien anzusetzen, überfielen mich derart heftige Versagensängste, dass mein Intelligenzquotient sich bis nahe an die Schwachsinns-Grenze verschob. Frau Nowara fand folgerichtig mit ihren wissenschaftlichen Methoden heraus, dass ich, im Vergleich zu den Testergebnissen von Maisch vor 15 Jahren, noch dümmer geworden sei.

Die beiden hielten sich zu meiner Exploration drei Tage in Leipzig auf und fertigten sodann ein vorläufiges schriftliches Gutachten, das zu dem Ergebnis gelangte, dass ich zwar unter einer narzisstischen Störung leiden würde, aber voll schuldfähig sei. Es versteht sich von selbst, dass ich mit diesem Resultat aus juristischen Gründen zufrieden sein durfte, weil damit jedem Unterbringungsgedanken zunächst der Boden entzogen war.

Als Nowara/Leygraf in der Hauptverhandlung ihr Gutachten, kurz vor Ende der Beweisaufnahme, mündlich erstatteten, spitzte die große SPIEGEL-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen (Du kennst sie ja, Meise, in all ihrer pseudojuristischen Spracharroganz) noch einmal kräftig ihre Ohren, und ihr Kugelschreiber raste nur so über ihren Notizblock, weil sie offenbar kein Wort dieser bedeutenden Ausführungen übergehen wollte. Das Primat der Psychologie in der SPIEGEL-Gerichtsberichterstattung ist ja nach wie vor ungebrochen.

Ich finde das Gutachten der beiden hingegen nicht atemberaubend. Vielleicht fehlt mir der Sinn für die Extraklasse, der sich Leygraf/Nowara zugehörig fühlen. Mir scheint die von den beiden entwickelte Theorie der Entstehung meines Narzissmus leicht abgestanden, vielleicht sogar etwas primitiv: Meine Eltern sollen zu viel mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen sein, um sich angemessen um mich zu kümmern. In dieser von Vernachlässigung und Isolation gekennzeichneten Situation soll ich dann Allmachtsphantasien entwickelt haben … und so fort.

Frau Nowara hielt es für nötig, kritisch anzumerken, dass ich in der Regel äußerst oberflächliche Beziehungen zum anderen Geschlecht einginge und im Übrigen dabei auf Akademikerinnen fixiert sei. Was daran verwerflich sein sollte, konnte ich nicht erkennen. Offenbar sollte ich als gelernter Postbote bei meiner Partnerwahl stärker mein eigenes, soziales Ausgangsniveau beachten. Das ähnelte in meinen Augen gewissen schlichten Gedanken meines Vaters, allerdings bei Frau Nowara in ein unanfechtbares, wissenschaftliches Vokabular gekleidet.

An dieser Stelle des Verfahrens, lieber Meise, wäre dein Freund Günter Amendt als sexual- und sozialwissenschaftlicher Professor und Gutachter hilfreich gewesen. Wahrscheinlich hätte dein Freund diese sexuell unterforderte Frau Nowara rein wissenschaftlich auseinandergenommen.

Ihr überalterter Partner, Prof. Leygraf, paraphrasierte noch ein wenig, was seine junge Madame N. bereits vorgebracht hatte, und betonte das Suchtartige meiner Hochstapelei. Auf Fragen meiner Verteidiger erklärte er en détail, wie schlecht meine forensischen Gutachten waren. Was er allerdings nicht wusste und was ich bis heute niemandem außer dir offenbart habe, ist die Tatsache, dass ich alle meine Gutachten nach einer Vorlage gefertigt habe, die sich im Archiv des Zschadrasser Maßregelvollzuges befand. Dieses »Muttergutachten« stammte – welch ein merkwürdiger Zufall – von Professor Norbert Leygraf.«

Unten klingelte die Glocke zum Abendessen. Ich ging die geschwungene Eichenholztreppe hinunter. Fest wie eine Eiche würde ich meinen Wunsch gegenüber Karola und Luca äußern. Ohne Zögern in der Stimme und ohne ein einziges »Äh« im festen deutschen Satzgefüge würden sie von mir erfahren, dass meine stückweise Enteignung absolut grundgesetzwidrig ist. Emma hat pünktlich zum Essen gerufen, es ist 18:00 Uhr.

Zu diesem Zeitpunkt steht in New York die Sonne in ihrem Zenit, es ist Noon, jener Moment im bekannten 50er-Jahre-Hollywood-Western, wo die schöne Grace Kelly hinter dem Fenster steht und unten in der Hitze, auf der staubigen Straße, Gary Cooper als »lonesome Marshal Will Kane« gegen seinen Todfeind Frank Miller zum Pistolenduell ansetzt.

In seinem silberglänzenden Büro von Silverstein Properties in 250 Greenwich Street, NY 10007, sitzt der Eigentümer Larry A. Silverstein und lässt sich einen Eistee bringen. Draußen scheint die Sonne am blauen Himmel und der Daily Weather Report von NYC TV zeigt 77 Grad Fahrenheit an. Das ent-spricht 25 Grad Celsius. Es ist nicht so heiß wie im Western-Film, aber sein heutiges Tagesthema ist umso heißer. Silverstein schaut mit Genugtuung auf seine ausgefochtenen Duelle beim Erwerb eines lukrativen Objektes zurück.

Silversteins Neuerwerbung, auf 99 Jahre gepachtet, ist das World Trade Center. Es nimmt in seiner exklusiven Immobiliensammlung eine Sonderstellung ein. Bis zum Zeitpunkt seiner Übernahme im Juli diesen Jahres standen die Türme 1, 2, 4 und 5 schon 28 Jahre lang im Eigentum der Port Authority of New York and New Jersey PANYNJ. Die Türme waren voller Asbest und mittlerweile veraltet. Ein Antrag der Alteigentümer, sie durch eine kontrollierte Sprengung abzureißen, war von den Behörden wiederholt abgelehnt worden, weil die halbe Stadt mit Asbest bedeckt worden wäre. Der Direktor von PANYNJ war Lewis Eisenberg, der die Wahlkampagne von Bush/Cheney mit Großspenden unterstützt hatte und Partner bei der Investmentbank Goldman Sachs war.

Den Deal zwischen den Alteigentümern und Silverstein hatte die Bank der Rockefellers, J. P. Morgan, eingefädelt. Silverstein war bereits Eigentümer von Building 7 und schon lange an der Übernahme des Gesamtkomplexes interessiert. Silverstein hatte den Vertrag zusammen mit Frank Lowy, dem Direktor der Firma Westfield America, unterschrieben. Beide hatten gleichzeitig eine spezielle Versicherungspolice für den Komplex mit einer Klausel abgeschlossen, die sich als sehr wertvoll erweisen sollte.

Während Mr Silverstein einen Schluck Eistee nimmt, muss er lächelnd an diese geniale Klausel denken: Im Falle eines terroristischen Anschlages würden die Partner den versicherten Wert der Immobilie in Höhe von 3,2 Milliarden US-Dollar ausbezahlt bekommen und von ihren Verpflichtungen des 99-jährigen Vertrages entbunden werden. Oder sie erhielten die Zahlungsgenehmigung für einen mindestens gleichwertigen Neubau.

Im Juli 2001 waren die entsprechenden Pacht- und Versicherungsverträge in Kraft getreten. Ab diesem Zeitpunkt hatte Silversteins Konzern völlige Kontrolle über die Gebäude. *

Mr Silverstein schaut sich noch einmal den Ablaufplan an, den Mitarbeiter von Dick Cheney und er immer wieder seit Juli besprochen haben. Er heftet den Plan ab und schließt die Akte »WTC« für diesen Tag und lässt sich in seine Privatvilla fahren, um seinen Mittagsschlaf zu machen.

Die 38-jährige Susan Lindauer ist ausgebildete Journalistin und Politologin. Von 1994 bis 1999 hatte sie in Washington als Pressesprecherin, Reden-schreiberin und Sekretärin für die Senatorin Carol Moseley Braun, die der Demokratischen Partei angehört, gearbeitet. Im Sommer 2001 arbeitet sie nun

* Silverstein investierte letztendlich 14 Millionen Dollar, ließ den Restbetrag der 3,2 Milliarden von Rockefellers Morgan-Chase-Bank finanzieren und erhielt nach den Anschlägen 4,6 Milliarden von der Versicherung. Kein schlechtes Geschäft! Silverstein ist ein persönlicher Freund des gerade erst im März gekürten israelischen Premierministers Ariel Sharon und des 1999 abgedankten Ex-Ministerpräsidenten Bibi Nethanjahu.

als Investigativ-Journalistin für den »US News and World Report« mit Sitz in Washington und New York. Sie hält Kontakt zur CIA und wird später sagen, sie sei in dieser Zeit Mitarbeiterin des Geheimdienstes gewesen.

Am 28. August – zum Zeitpunkt, als das WTC in die Verfügungsgewalt der Silverstein Group übergegangen ist – erhält sie zu später Stunde einen Anruf von Daria Coard. Er ist ein 37 Jahre alter Sicherheitswachmann in Turm 1, dem 417 Meter hohen Nordturm.