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Anna von Winterstein ist Waise und arbeitet als Gärtnerin auf dem Gelände des Internats Birkenlund, wo sie schon seit ihrer Kindheit lebt. Als ihr Onkel, Graf Veith, stirbt, erbt sie das Schloss der Familie. Sie beschließt, in den Schwarzwald zu fahren und nach dem Rechten zu sehen. Der Tapetenwechsel tut ihr gut, da ihr Verlobter Thorsten sie mitten in der Vorweihnachtszeit allein gelassen hat und sie sich nach innerer Klarheit sehnt. Eigentlich will sie die Verlobung lösen, denn sie fühlt sich weder respektiert noch geliebt.
Im Schloss angekommen, wird sie von der Haushälterin und deren Tochter herzlich empfangen. Nachts hört Anna jedoch seltsame Geräusche und sieht Gestalten auf dem Gelände herumgeistern. Als sie das "Gespenst" stellen kann, entpuppt dieses sich als der smarte Schriftsteller Milan Cramer. Was will der junge Mann in ihrem Schloss, was genau sucht er in dem alten Gemäuer?
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Seitenzahl: 132
Cover
Geheimnisvolle Weihnacht
Vorschau
Impressum
Geheimnisvolle Weihnacht
Was führt den charmanten Schriftsteller nach Schloss Winterstein?
Von Carolin von Campen
Anna von Winterstein ist Waise und arbeitet als Gärtnerin auf dem Gelände des Internats Birkenlund, wo sie schon seit ihrer Kindheit lebt. Als ihr Onkel, Graf Veith, stirbt, erbt sie das Schloss der Familie. Sie beschließt, in den Schwarzwald zu fahren und nach dem Rechten zu sehen. Der Tapetenwechsel tut ihr gut, da ihr Verlobter Thorsten sie mitten in der Vorweihnachtszeit allein gelassen hat und sie sich nach innerer Klarheit sehnt. Eigentlich will sie die Verlobung lösen, denn sie fühlt sich weder respektiert noch geliebt.
Im Schloss angekommen, wird sie von der Haushälterin und deren Tochter herzlich empfangen. Nachts hört Anna jedoch seltsame Geräusche und sieht Gestalten auf dem Gelände herumgeistern. Als sie das »Gespenst« stellen kann, entpuppt dieses sich als der smarte Schriftsteller Milan Cramer. Was will der junge Mann in ihrem Schloss, was genau sucht er in dem alten Gemäuer?
Soeben war die Sonne über Birkenlund aufgegangen und tauchte den winterlichen Park des ehrwürdigen Internats in goldenes Licht. Raureif glitzerte auf jedem Halm und jedem Zweig, als wäre die stille, kalte Welt an diesem Morgen mit Diamanten bestreut worden.
Am Rand der weitläufigen Anlage stand ein altmodischer gläserner Pavillon, in dem ein geräumiges Gewächshaus untergebracht war. Innen war es warm und gemütlich. Aus einem kleinen Radio dudelte ein Weihnachtshit, und es duftete nach frisch aufgebrühtem Kaffee.
Anna von Winterstein, eine zarte junge Frau mit meerblauen Augen und blondem Pferdeschwanz, summte fröhlich die Melodie mit, während sie einige Christrosen in die vorbereiteten Steinguttöpfe setzte.
Plötzlich bemerkte die Dreiundzwanzigjährige, die als Gärtnerin in Birkenlund arbeitete, eine Bewegung vor dem Fenster. Durch die Glasscheiben sah sie, dass ihr Verlobter Thorsten Hartwig mit wehendem Mantel durch den Park auf den Pavillon zueilte.
Anna runzelte die Stirn. Wollte er sie etwa mit Croissants überraschen? Doch das sah Thorsten nicht ähnlich. Der junge Anwalt war zu Annas Bedauern ein bekennender Morgenmuffel und notorischer Langschläfer.
Seine Schritte knirschten auf dem Kies, als er sich näherte.
Anna klopfte hastig die feuchte Erde fest, wischte sich die Handschuhe an ihrer grünen Gärtnerschürze ab und lief an den Reihen von Blumen vorbei zum Eingang. Sie war gespannt. Hing sein früher Besuch vielleicht mit ihren Reiseplänen zusammen?
Anna freute sich seit Langem auf die einsame Berghütte, die sie für einen Kurztrip mit Thorsten ausgesucht hatte, und übermorgen sollte es schon losgehen. Sie erhoffte sich von dem Ausflug neben der Bergidylle vor allem Klarheit über ihre Gefühle. Thorsten und sie waren nicht gerade das, was man ein glückliches Paar nennen konnte. Anna schob die Gedanken an ihre Beziehungsprobleme beiseite und öffnete neugierig die Tür.
Eine Mischung aus kalter Luft und Aftershave schlug ihr entgegen, als der große dunkelblonde Mann an ihr vorbeirauschte. Sein kurzes Haar über dem markanten Gesicht war bereits gestylt, und unter seinem Mantel trug er offenbar Anzug und Krawatte.
»Hier bist du«, sagte der Dreißigjährige mit einem vorwurfsvollen Blick aus seinen grauen Augen. »Ich habe dich überall gesucht!«
Das klang nicht gerade romantisch. Anstatt ihr einen guten Morgen zu wünschen, stemmte Thorsten die Hände in die Hüften und sah sie mit dem üblichen leidenden Ausdruck an, den er meist an sich hatte, wenn es um seine Kanzlei ging.
Anna hob verwundert die Brauen. »Ist etwas passiert?«
»Allerdings«, erwiderte Thorsten und fuhr sich durch das gegelte Haar. »Leslie hat eben angerufen. Ihr Vater hat sie und mich spontan nach London eingeladen.«
Anna sah ihn mit großen Augen an.
Leslie Hunter war Thorstens Kollegin und Geschäftspartnerin. Sie verbrachten sehr viel Zeit miteinander, und Anna wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich auch privat etwas zu gut verstanden. Leslies Vater war ein steinreicher britischer Geschäftsmann, und Thorsten spekulierte schon lange darauf, dass Mr. Hunter in seine Kanzlei investierte. Thorsten hatte vor Kurzem repräsentative Geschäftsräume in der Innenstadt bezogen, was Unsummen verschlungen hatte.
»Verstehe«, sagte Anna langsam und bemühte sich, gelassen zu klingen. »Deine große Chance, schätze ich?«
Thorsten nickte. »Genau!«
»Na ja. Hauptsache, du bist übermorgen wieder da«, erwähnte Anna vorsichtig.
Doch Thorsten schüttelte den Kopf. »Daraus wird nichts.«
»Wie bitte?« Sie musste sich verhört haben.
»Es tut mir leid«, sagte er und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich musste die Reise stornieren.«
Anna blieb vor Empörung der Mund offen stehen. Vor ihrem inneren Auge löste sich die Berghütte in Luft auf.
»Sei nicht sauer«, raunte Thorsten. »Wir holen das nach, versprochen.«
»Aber kann Leslie nicht allein fahren?« Anna sah ihn bittend an.
»Schatz«, entgegnete er und lächelte überheblich. »Sei doch nicht so naiv. Ich bin der Inhaber der Kanzlei, und wenn Mr. Hunter so viel Geld investieren will, muss ich doch wohl auch persönlich mit ihm sprechen, oder?«
Anna schluckte. Sie war kurz davor loszuheulen. Nicht so sehr wegen des Urlaubs, sondern wegen des abfälligen Tons, in dem ihr Verlobter mal wieder mit ihr sprach.
»Ich verspreche dir, dass ich vor Silvester wieder da bin«, sagte er, und tätschelte ihr den Kopf.
»So lange bist du weg? Auch über Weihnachten?« Anna sah ihn ungläubig an.
Thorsten räusperte sich. »Die Hunters haben mich in ihr Landhaus eingeladen. Es wäre sehr unhöflich, das auszuschlagen. Und Fälle abarbeiten kann ich auch dort; ich habe alle Gerichtstermine abgesagt. An Heiligabend bist du doch sowieso wieder mit Ellen zusammen, oder nicht?«
Er griff nach ihrer Hand und wollte ihr einen Kuss aufdrücken, doch nach einem kurzen Blick auf die lehmverkrusteten Handschuhe ließ er sie gleich wieder los. Als er sie stattdessen küssen wollte, machte sie sich stocksteif und zog den Kopf weg.
Thorsten seufzte genervt. »Was soll denn das jetzt?«
Anna brachte kein Wort heraus, aber sie hoffte, er würde in ihrem Blick lesen, wie enttäuscht sie war. Eine Träne kullerte über ihre Wange.
»Mach doch keine Szene«, sagte er stöhnend. »Das Taxi wartet.« Er wuschelte ihr durch das goldblonde Haar. »Na schön, dann schmollst du eben. Ich muss jetzt los.«
Dann drehte er sich einfach um und verließ das Gewächshaus.
Wie durch einen Schleier beobachtete Anna, wie seine Gestalt sich in größter Eile entfernte. Er wirkte regelrecht erleichtert.
Anna ließ sich auf einen Stapel alter Obstkisten sinken und ihren Tränen freien Lauf. Doch ihre Enttäuschung verwandelte sich schnell in Misstrauen und schließlich in Wut. Es war nicht das erste Mal, dass Thorsten sie wegen dieser Leslie versetzte. Wieso ließ sie sich das gefallen? Sie hätte Thorsten endlich die Meinung sagen, ihn anschreien oder ihn ohrfeigen müssen!
Ihr Blick fiel auf eine alte Gießkanne, und Anna versetzte ihr einen so heftigen Tritt, dass sie mit lautem Scheppern über den Steinboden rutschte. Dann lehnte sie sich aufatmend an die kühle Glaswand und dachte nach.
Thorsten hatte immer behauptet, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen, als er sie vor zwei Jahren das erste Mal in seiner Kanzlei gesehen hatte. Er hatte sie heftig umworben und schnell ernste Absichten verkündet. Nichts hatte Anna sich sehnlicher gewünscht als Liebe und Verlässlichkeit. Aber was war daraus geworden?
Thorsten war zwar ein guter Berater gewesen und hatte ihr viel abgenommen, aber das war doch nicht das, was sie sich von einer Beziehung erhoffte. Sie wünschte sich ein Zuhause und eine Familie. Nein, so durfte es nicht weitergehen. Sie musste etwas ändern.
Sie stand auf und kehrte wieder zu ihrer Arbeit zurück.
Nachdenklich betrachtete sie die zarten roten und weißen Blüten. Anna fiel das kleine Rätsel über die Christrose ein, das ihre Großmutter ihr beigebracht hatte, als sie noch ein Kind gewesen war und bei ihr gelebt hatte.
Ins Dunkel bringt sie Licht.
Fürchte dich nicht.
Ewig trotzt sie Schnee und Eis.
Wirst du sie finden, wird sie dir Liebe verkünden.
Anna seufzte. Obwohl sie verlobt war, fehlte ihr immer noch Liebe. Da halfen auch diese Blumen nichts!
Energisch grub sie den Wurzelballen ein.
Thorsten hatte ihre Arbeit nie gemocht. Es war ihm alles zu dreckig. Ihm zuliebe trug sie stets Handschuhe beim Gärtnern. Trotzig zog Anna sie jetzt aus, streifte auch den Verlobungsring ab und grub ihre bloßen Hände tief in die dunkle Erde. Was für ein herrliches Gefühl!
Inmitten ihres Kummers überkam sie eine rebellische Freude. Nie wieder würde sie Handschuhe tragen, wenn sie es nicht wollte. Und auch sonst würde sie nur noch tun, was ihr gefiel.
»Und du bist sicher, dass du nicht mitkommen willst?«
Ellen, die unternehmungslustige Biologielehrerin mit der pfiffigen Ponyfrisur, hatte Anna auf dem Spaziergang im Park untergehakt und sah sie erwartungsvoll aus ihren großen rehbraunen Augen an. Es war ein feuchtkalter Nachmittag, und es dämmerte bereits.
Seit Thorstens Abreise waren einige Tage vergangen. Die alleinstehende Ellen wollte in den Weihnachtsferien mit einer Reisegruppe für Singles in den Skiurlaub fahren und Anna überreden, wenigstens ein paar Tage mitzukommen. Die beiden Frauen hatten sich schon als Schülerinnen gekannt und sich über die Jahre eng angefreundet, denn beide teilten das Internatsleben und die Liebe zur Natur.
Anna schüttelte den Kopf und vergrub die Nasenspitze in ihrem dicken Wollschal. »Das ist doch nichts für mich.«
»Ach, komm schon«, bettelte Ellen. »Das wird bestimmt lustig.« Sie wusste zwar, dass Anna keine Partynudel wie sie selbst war, aber ganz allein war sie auch nicht gern. Deshalb hatte Anna das Internat auch nie verlassen.
»Ich will weder Skifahren noch Après-Ski machen. Ich wäre die langweiligste Begleitung, die du dir vorstellen kannst.«
»Okay«, seufzte Ellen, während sie über die nassen Steinplatten an den kargen Blumenbeeten vorbeigingen.
»Wann kommt Thorsten denn wieder?«, fragte sie möglichst beiläufig. Sie konnte den Anwalt nicht leiden.
Anna zuckte die Schultern und steckte die Hände fröstelnd in die Manteltaschen. »Keine Ahnung.«
»Er ist so ein Idiot«, zischte Ellen. Sie gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die mit ihren Ansichten hinter dem Berg hielten. »Entschuldige, aber das ist doch offensichtlich, dass er mit dieser Leslie was hat!« Ellen trat wütend einen Kiesel zur Seite.
»Unter anderem deshalb werde ich mich auch von ihm trennen«, erwiderte Anna ruhig.
»Wie bitte?« Ellen blieb stehen und starrte die Freundin ungläubig an.
»Du hast ganz richtig gehört«, meinte Anna und ging weiter.
»Wow«, machte Ellen und beeilte sich, hinter der Freundin herzukommen. »Woher kommt denn dieser Sinneswandel so plötzlich?«
Anna zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, ich habe einfach das Gefühl, dass ich mir das nicht länger bieten lassen kann.«
»Dass ich das noch erlebe«, rief die Freundin. »Endlich nimmst du Vernunft an! Ich weiß wirklich nicht, was du an ihm gefunden hast.«
Anna hob eine Braue. »Du warst auch nie in meiner Situation.«
Ellen seufzte. »Stimmt.«
Die junge Lehrerin wusste, dass es die Einsamkeit war, die ihre Freundin in die Arme des Anwalts getrieben hatte. Sie selbst stammte aus einer großen Familie und hatte viele Freunde. Doch Anna hatte ihre Eltern früh verloren, und auch ihre Großmutter war gestorben, sodass sie schon mit sechs Jahren nach Birkenlund gekommen war.
»Dann musst du mir aber versprechen, dass wir Weihnachten zusammen feiern«, meinte Ellen. »Das wird toll, ohne dieses Ekel.«
»Versprochen.« Anna sah die Freundin an.
Ellen war wirklich eine gute Seele.
Die beiden Frauen waren an dem großen Springbrunnen in der Mitte des Parks angekommen, der im Winter abgestellt war und ein trostloses Bild abgab. Anna hob den Kopf und sah traurig lächelnd in den dunklen Himmel.
Wer hätte das gedacht? Sie würde Weihnachten nicht mehr verlobt sein.
Zwei Tage später hatte Anna es sich im Morgenmantel auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer gemütlich gemacht und blätterte in einigen Reiseprospekten. Auf dem Adventskranz brannten die Kerzen, und der Duft von Zimttee erfüllte den kleinen Raum.
Gestern hatte Anna einen Topf mit Christrosen auf die Fensterbank gestellt, die herrlich blühten und dem grauen Tag draußen trotzten. Anna hatte beschlossen, nicht auf Birkenlund zu bleiben, sondern ein wenig zu verreisen. Urlaub konnte sie ohne Probleme nehmen, im Winter war für sie sowieso kaum etwas zu tun. Auf keinen Fall würde sie hier hocken und wie ein Hausmütterchen auf Thorstens Rückkehr warten.
Ihr Handy klingelte, und sie zuckte zusammen.
Ob er das war? Thorsten hatte sich seit seiner Abreise nicht mehr bei ihr gemeldet. Doch Anna kannte die Nummer, die auf dem Display angezeigt wurde, nicht. Zögernd nahm sie das Gespräch an.
»Erich von Mauritz hier, spreche ich mit Anna von Winterstein?«
»Ähm, ja«, sagte Anna verwundert. Von Mauritz. Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Ich bin Rechtsanwalt und Notar«, sprach der Mann am anderen Ende weiter, »und ich habe Ihren Onkel, den Grafen von Winterstein, vertreten, als es um Ihren Pflichtteil im Erbstreit vor zwei Jahren ging.«
Anna schluckte. »Ich erinnere mich.«
Ihr wurde ein wenig flau. Sie dachte ungern an den Prozess gegen ihren Onkel. Thorsten hatte sie damals zu diesem juristischen Schritt überredet, als er erfahren hatte, dass sie damals nach dem Tod ihrer Großmutter, Caroline von Winterstein, völlig mittellos geworden war, obwohl die Familie ein Vermögen besaß. Anna hatten den Prozess verloren, und darüber war sie insgeheim erleichtert gewesen. Ihren Onkel hatte sie nie kennengelernt, und offenbar hatte er auch nichts mit ihr zu tun haben wollen, obwohl sie die Tochter seines verstorbenen Bruders war.
Sie hatte nichts von ihm erwartet, auch nicht in finanzieller Hinsicht, dafür war sie zu stolz gewesen, und die Armut hatte ihr nichts ausgemacht. Das hatte sie Thorsten klargemacht, der am liebsten in Berufung gegangen wäre.
»Ich hatte ja sonst nur Kontakt zu Herrn Hartwig«, unterbrach der Mann ihre Gedanken, »aber ich erreiche ihn momentan nicht.«
»Er ist auf Geschäftsreise«, erklärte Anna schnell. »Worum geht es denn?«
»Ich würde darüber nicht gern am Telefon sprechen. Können wir einen Termin vereinbaren?«
Anna zögerte. Sie hatte alle geschäftlichen Dinge ausschließlich Thorsten überlassen. Doch wenn sie es mit der Trennung wirklich ernst meinte, musste sie jetzt mutig sein.
Sie holte tief Luft. Zwar zitterte ihre Stimme ein wenig, doch sie schaffte es.
»Herr Hartwig vertritt mich nicht mehr. Ich werde mich mit Ihnen treffen«, antwortete sie.
»Das ist in diesem Fall umso besser«, erwiderte der Herr. »Ich werde zu Ihnen kommen.«
Einige Tage später war Herr von Mauritz, ein älterer, fast kahlköpfiger Mann mit tadellos sitzendem grauen Anzug, zu Gast in Annas kleiner Gärtnerwohnung und hatte mit ernster Miene auf dem Sofa Platz genommen. Er legte seine Respekt einflößende schwarze Ledermappe auf den Couchtisch neben den Adventskranz und schlug die Beine übereinander.
Herr von Mauritz räusperte sich, sein goldener Siegelring blitzte im Kerzenschein auf, als er die Hände faltete und Anna fest in die Augen sah.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Onkel letzte Woche verstorben ist.«
»Oh!« Anna wurde blass und schlug die Hand vor den Mund.
Herr von Mauritz fuhr fort. »Er ist bei einem Flugzeugabsturz in Südamerika ums Leben gekommen. Es tut mir sehr leid.«
Anna schluckte. »Danke, Herr von Mauritz.«
Sie hatte den Mann gar nicht gekannt, aber es war dennoch ein seltsames Gefühl, dass er tot war. Und auf eine eigenartige Art auch traurig. Jetzt war sie wirklich völlig allein auf der Welt.
»Der Grund meines Kommens ist vor allem der Nachlass«, sagte Herr von Mauritz und sah sie prüfend an. »Dieser ist ... beträchtlich.«
Anna hörte ihn eine schwindelerregende Summe nennen und schüttelte den Kopf. »Das kann nicht wahr sein!«
»Das kann es sehr wohl, Gräfin von Winterstein«, entgegnete er verwundert. »Sie sind nun eine wohlhabende Frau. Und nicht nur das, Sie tragen auch den Titel Ihres verstorbenen Onkels.«
»Aber wie ist das möglich? Er wollte doch nie etwas von mir wissen.«
»Sie haben recht, Gräfin. Aber er hatte nun mal keine Nachkommen und war unverheiratet. Also tritt die natürliche Erbfolge ein.« Der Notar sah sie stirnrunzelnd an.
Diese zarte junge Frau lebte hier sehr bescheiden, trug alte Jeans und einen grauen Wollpullover, in dem der Notar ein Loch entdeckt hatte, dennoch schien sie sich nicht über ihren neuen Reichtum zu freuen.
Von dem Prozess vor zwei Jahren hatte er einen anderen Eindruck gehabt. Ihr Anwalt, dieser Herr Hartwig, hatte unverschämte Forderungen gestellt.