Glut der Herzen - Amanda Quick - E-Book

Glut der Herzen E-Book

Amanda Quick

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Beschreibung

Neues von der Queen of Romance

Seit dreihundert Jahren liegt ein Fluch auf der Familie Winters, der schleichenden Wahnsinn und ewige Verdammnis über die männlichen Nachfahren bringt. Griffin Winters weiß, dass er dem grausamen Schicksal nur mithilfe der magischen Lampe entrinnen kann – und der Frau, die mit der Macht der Lampe umzugehen weiß. Als er der geheimnisvollen Adelaide Payne begegnet, ahnt er nicht, dass ausgerechnet sie das magische Artefakt und damit seine Seele in Händen hält …

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Seitenzahl: 397

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Buch
Griffin Winters wird seit er denken kann von schrecklichen Albträumen und Halluzinationen verfolgt, denn er erliegt einem alten Fluch, der einst auf einen seiner Vorfahren gelegt wurde. Dem Fluch zugrunde liegt eine Lampe, und das Schicksal sämtlicher Winters-Nachfahren dreht sich um diesen mystischen Gegenstand. Nur wenn ein Nachfahr in den Besitz der Lampe kommt und überdies die eine Frau trifft, die mit der Macht dieser Lampe umgehen kann, wird der Bann gebrochen. Der Zufall bringt Griffin mit der geheimnisvollen und verführerischen Adelaide Pyne zusammen, doch noch ahnt er nicht, dass ausgerechnet Adelaide im Besitz der Lampe ist und somit seine Seele retten und dem Fluch ein Ende bereiten könnte. Die beiden geraten jedoch in einen gefährlichen Strudel der Leidenschaft und ins Visier einer Geheimgesellschaft, die alles daran setzt, den Fluch aufrechtzuerhalten …
Autorin
Amanda Quick ist das Pseudonym der erfolgreichen, vielfach preisgekrönten Autorin Jayne Ann Krentz. Krentz hat Geschichte und Literaturwissenschaften studiert und lange als Bibliothekarin gearbeitet, bevor sie ihr Talent zum Schreiben entdeckte. Sie ist verheiratet und lebt in Seattle.
 
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.amandaquick.com und www.blanvalet.de

Amanda Quick

Glut der Herzen

Roman

Aus dem Englischenvon Anke Koerten

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Burning Lamp« bei G. P. Putnam’s Sons, published by the Penguin Group, New York

Deutsche Erstausgabe März 2011 bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2010 by Jayne Ann Krentz Copyright © 2011 für die deutsche Ausgabe by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München

Covergestaltung: © HildenDesign, München,

unter Verwendung eines Motivs von Donald Case via Agentur Schlück GmbH

Redaktion: Regine Kirtschig

ISBN 978-3-641-26857-2 V001

www.blanvalet.de

www.randomhouse.de

Aus dem Tagebuch von Nicholas Winters, 14. April 1694
 
Ich habe nicht mehr lange zu leben, doch meine Rache wird kommen, wenn nicht in dieser Generation, dann später, in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, denn ich bin nun sicher, dass die drei Talente an mein Blut geknüpft sind und durch meine Nachkommen weitergegeben werden.
Jedes Talent fordert einen hohen Preis, wie immer, wenn es um Macht geht.
Das erste Talent erfüllt den Geist mit einer Woge unerträglicher Unruhe, die sich weder durch endlose Stunden im Labor noch mit starken Dosierungen von Mohnextrakt mildern lässt.
Das zweite Talent wird von dunklen Träumen und schrecklichen Visionen begleitet.
Das dritte Talent ist am stärksten und gefährlichsten. Wird der Schlüssel im Schloss nicht richtig umgedreht, wirkt diese letzte psychische Fähigkeit letal, sie führt erst in den Wahnsinn und schließlich in den Tod.
Der Einsatz dieser dritten Kraft birgt große Gefahr. Auch sie müssen, falls sie überleben, die brennende Lampe und eine Frau finden, die mit der Traumlicht-Energie umzugehen versteht. Nur diese Frau vermag den Schlüssel im Schloss der Tür zu drehen, die sich zum letzten Talent öffnet. Allein dieses weibliche Wesen kann die Verwandlung, so diese eingesetzt hat, anhalten oder rückgängig machen.
Aber Vorsicht: Mächtige Frauen können zu Verräterinnen werden. Das musste ich selbst schmerzlich erfahren.
 
 
Aus dem Tagebuch von Nicholas Winters, 17. April 1694
 
Es ist vollbracht. Meine letzte und größte Schöpfung, der Mitternachtskristall, ist vollendet. Ich setzte ihn mit den anderen Kristallen in der Lampe ein. Ein wahrhaft erstaunlicher Stein, in den ich große Kräfte einschloss, doch selbst ich, der ihn schuf, weiß nicht annähernd, über welches Potenzial er verfügt, auch weiß ich nicht, wie sein Licht entflammt werden kann. Diese Entdeckung bleibt einem meiner Bluterben vorbehalten.
Nur eines weiß ich sicher: Wer das Licht des Mitternachtskristalls beherrscht, wird der Vollstrecker meiner Rache sein, da ich dem Stein einen psychischen Befehl mitgab, der stärker als Zauber oder Hexerei ist. Die Strahlung des Kristalls wird den Menschen, der ihn beherrscht, dazu treiben, die Nachkommen von Sylvester Jones zu vernichten,
Die Rache wird mein sein.
PROLOG
London, gegen Ende der Regierungszeit Königin Victorias
 
Adelaide Pyne benötigte fast achtundvierzig Stunden, um zu erkennen, dass die Rosestead Academy keine exklusive Schule für verwaiste junge Damen war, sondern ein Bordell. Doch da war es schon zu spät. Sie war an einen Furcht erregenden, als Mr Smith bekannten Mann verhökert worden.
Das im Dunkeln liegende Lustgemach wurde nur von einer einzigen Kerze spärlich erhellt. Die flackernde und rußende Flamme fiel auf die reichen cremefarbigen Satindraperien, die von einem schmiedeeisernen Rahmen über dem Himmelbett hingen. Im schwachen Lichtschein sahen die roten, auf den schneeweißen Quilt gestreuten Rosenblätter wie kleine Blutlachen aus.
Adelaide kauerte in einem dunklen, engen Schrank. Angst schärfte ihre Sinne. Durch einen Spalt zwischen den Türflügeln konnte sie nur einen kleinen Ausschnitt des Raumes sehen.
Smith betrat das Gemach. Dem Bett mit den üppigen Draperien gönnte er nur einen flüchtigen Blick. Nachdem er die Tür rasch abgeschlossen hatte, legte er einen Hut und eine schwarze Tasche auf dem Tisch ab, ganz wie ein Arzt bei einem Krankenbesuch.
Obwohl ihr Herz ängstlich klopfte, lenkte etwas an der schwarzen Tasche Adelaide ab und fesselte ihre Aufmerksamkeit. Traumlicht drang aus der schwarzen Tasche. Sie konnte ihren Sinnen kaum trauen. Große, mächtige, geheimnisvolle Energieströme sickerten durch das Leder. Sie hatte den enervierenden Eindruck, dass die Energie sie auf unzählig verschiedene Arten zu sich rief. Doch das war unmöglich.
Jetzt war keine Zeit, sich über dieses Geheimnis den Kopf zu zerbrechen. Ihre Situation wurde immer verzweifelter. Ihr Plan hatte nämlich darauf gegründet, dass sie es mit einem von Mrs Rossers üblichen Kunden zu tun hätte, mit einem betrunkenen, von sinnlichem Verlangen getriebenen Lüstling ohne nennenswertes psychisches Talent. Während der letzten zwei Tage hatte sie gelernt, dass sexuelle Begierde den Verstand eines Durchschnittsmannes so sehr erfüllt, dass sein normales Denkvermögen zumindest vorübergehend aussetzt und sein Intelligenzquotient erheblich sinkt. Sie hatte beabsichtigt, diese Erkenntnis heute zu ihrer Flucht zu nützen.
Aber Smith war offensichtlich kein gewöhnlicher Bordellbesucher. Mit Entsetzen nahm sie die brodelnde Energie in den Traumspuren wahr, die er in den Raum gebracht hatte. Auch die Tasche war mit seinen heißen paranormalen Fingerabdrücken übersät.
Jeder Mensch hinterließ Spuren von Traumlicht auf den Gegenständen, mit denen er in Berührung kam. Die Ströme durchdrangen mit Leichtigkeit Schuhleder und Handschuhe. Ihr Talent ermöglichte es ihr, Spuren solcher Energie wahrzunehmen.
Im Allgemeinen waren Traumspuren schwach und verschwommen, diese hier waren ganz außergewöhnlich. Befand sich ein Individuum in einem Zustand gesteigerter emotionaler Verfassung oder Erregung, hinterließ es sehr deutliche und wahrnehmbare Spuren. Dies traf auch auf Menschen mit starken psychischen Fähigkeiten zu. Mr Smith fiel in beide Kategorien. Er war erregt, und er besaß ein starkes Talent. Eine sehr gefährliche Kombination.
Noch viel beunruhigender aber war die Erkenntnis, dass an seinem Traumlicht-Schema etwas nicht stimmte. Die öligen, irisierenden Ströme seiner Spuren und Abdrücke waren fast unmerklich verzerrt.
Smith drehte sich zum Schrank um. Matter Kerzenschein fiel auf die schwarze Seidenmaske, die seine obere Gesichtshälfte verdeckte. Was immer er in diesem Raum vorhatte, war offenbar von so grässlicher Natur, dass er nicht riskieren wollte, erkannt zu werden.
Groß und schlank bewegte er sich wie ein Mann in den besten Jahren. Er war teuer gekleidet, seine Haltung verriet den angeborenen Hochmut eines Mannes, für den Reichtum und gesellschaftliche Position selbstverständlich waren, da ihm diese Privilegien in die Wiege gelegt worden waren.
Er streifte seine Lederhandschuhe ab und löste die Metallschnallen der Tasche mit geradezu fieberhafter Hast, die man bei einem anderen Mann als Zeichen sexueller Erregung hätte deuten können. In solchen Dingen hatte es ihr vor ihrem Eintreffen in diesem Etablissement noch an praktischer Erfahrung gefehlt. Mrs Rosser, die Bordellmutter, hatte ihr eröffnet, dass Smith ihr erster Freier wäre. Aber während der letzten zwei Tage hatte sie die Spuren anderer Gentlemen auf den Treppen gesehen, wenn sie den Mädchen auf ihre Zimmer folgten. Sie wusste nun, wie Verlangen sich äußerte, wenn es in einem Mann brannte.
Was sie in Smiths gespenstisch leuchtenden Abdrücken sah, war anders. In ihm pulsierte mit Sicherheit ein dunkler Hunger, der jedoch nicht von sexueller Erregung gespeist wurde. Die merkwürdige, ultrahelle Strahlung deutete darauf hin, dass ihn momentan eine andere Leidenschaft verzehrte. Die Energie war schrecklich anzusehen.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie er die Tasche öffnete und hineingriff. Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte. Unter den Mädchen wurde von bizarren, perversen Spielen geflüstert, die viele Kunden ungemein schätzten. Aber es war keine Peitsche, keine Kette oder Lederfessel, die Smith der Tasche entnahm. Es war vielmehr ein sonderbarer, vasenförmiger Gegenstand aus Metall, das im flackernden Kerzenschein golden glänzte, achtzehn Zoll hoch, von einer massiven Basis aufstrebend, nach außen gewölbt. Der obere Rand war von großen, farblosen Kristallen geziert.
Das Flüstern der Wellen dunkler Energie, die von diesem Gegenstand ausgingen, bewirkte, dass sich ihr die Nackenhaare sträubten. Das Ding war von einem wahren Unwetter an Traumlicht erfüllt, das in einem Schwebezustand gefangen schien. Wie eine Maschine, dachte sie verblüfft; eine Vorrichtung zur Erzeugung von Traumlicht.
Als sie sich sagte, dass ein paranormaler Apparat dieser Art nicht existieren konnte, huschte ähnlich einem Phantom die Erinnerung an eine Geschichte ihres Vaters durch ihr Bewusstsein, an eine alte Legende der Arcane Society. An die Einzelheiten konnte sie sich nicht erinnern, doch es ging um eine Leuchte und um einen Fluch.
Smith stellte den Gegenstand auf den Tisch neben die Kerze. Dann trat er rasch auf das Bett zu.
»Bringen wir die Sache hinter uns«, murmelte er heiser vor Anspannung und Ungeduld.
Er riss die Satindraperien zur Seite. Sekundenlang starrte er sichtlich verdutzt das leere Bett an. Gleich darauf erstarrte er vor Zorn. Ein Stück Stoff in der Faust zerknüllend fuhr er herum und versuchte das Dunkel mit Blicken zu durchdringen.
»Dummes Ding! Wo steckst du? Ich weiß nicht, was die Rosser dir sagte, aber ich bin keiner der üblichen Kunden. Es ist nicht meine Gewohnheit, mit Huren zu schlafen, und um Spielchen zu treiben, bin ich heute gewiss nicht gekommen.«
Der kalte Tonfall seiner leise geäußerten Worte glitt reptiliengleich über Adelaides Rücken. Gleichzeitig schien die Raumtemperatur um etliche Grade zu sinken. Als ein Zittern sie erfasste, war nicht nur Angst die Ursache, sondern die herrschende Kälte.
Als Erstes würde er unter dem Bett nachsehen, vermutete sie.
Als der Gedanke ihr durch den Kopf schoss, nahm Smith die Kerze vom Tisch und bückte sich, um in die Finsternis unter dem Bettgestell zu spähen.
Sie wusste, dass er den Schrank öffnen würde, sobald er entdeckt hatte, dass sie sich nicht unter dem Bett verbarg. Er war das einzige Möbelstück im Raum, das groß genug war, um einem Menschen Platz zu bieten.
»Verdammt!« Smith richtete sich so hastig auf, dass die Kerze in seiner Hand flackernd zu erlöschen drohte. »Komm schon, dummes Ding. Ich mache es ganz rasch, versprochen. Glaub mir, ich habe nicht die Absicht, mich mit dieser Angelegenheit lange aufzuhalten.«
Er hielt inne, als er den Schrank bemerkte.
»Hast du geglaubt, ich würde dich nicht finden? Hirnloses Weibsstück!«
Ihr stockte der Atem. Es gab kein Entkommen.
Abrupt wurde die Schranktür aufgerissen, Kerzenlicht fiel in die Finsternis. Smiths Augen glitzerten aus den Schlitzen der schwarzen Maske.
»Dumme kleine Hure.«
Er packte ihren Arm, um sie aus dem Schrank zu zerren, ihr Talent flammte auf, höher als jemals, seit sie vor einem Jahr in seinen Besitz gelangt war. Das Ergebnis war absehbar. Sie reagierte auf den Körperkontakt, als hätte ein unsichtbarer Blitz sie getroffen. Der Schock war so groß, dass er ihren Aufschrei erstickte.
Verzweifelt versuchte sie, ihr Talent zu dämpfen. Sie hasste es, berührt zu werden, wenn ihre Sinne angespannt waren. Die schattenhaften Traumreste anderer Menschen zu streifen, war eine schlimme Erfahrung, so intim und verstörend, dass es ihr durch und durch ging, ein wahrer Albtraum im Wachzustand.
Aber noch ehe sie den Atem anhalten konnte, hörte sie einen Schlüssel im Schloss. Die Tür wurde aufgerissen. Mrs Rosser stand im Eingang. Im matten Gaslicht, das den Korridor hinter ihr erhellte, hob sich ihre knochige Gestalt als dunkler Umriss vom Hintergrund ab. Sie wirkte wie die leibhaftige Verkörperung des Spottnamens, mit dem die Bordellbewohnerinnen sie belegten: Aasgeier.
»Leider müssen die Pläne geändert werden«, sagte Mrs Rosser. Ihre Stimme war so hart und gnadenlos wie alles an ihr. »Sie müssen das Haus sofort verlassen.«
»Zum Teufel, was soll das heißen?«, herrschte Smith sie an. Sein Griff um Adelaides Arm wurde fester. »Ich habe Quinton für das Mädchen einen exorbitanten Preis bezahlt.«
»Eben wurde ich informiert, dass dieses Etablissement einen neuen Besitzer hat«, sagte die Frau. »Ich erfuhr, dass mein ehemaliger Chef verstarb. Herzanfall. Seine Geschäfte gingen an einen anderen über. Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Sie können versichert sein, dass Sie Ihr Geld erstattet bekommen.«
»Ich will kein Geld«, tobte Smith. »Ich will das Mädchen.«
»Wo sie herkommt, gibt es noch viele andere. Im Moment habe ich unten zwei, die jünger und hübscher sind. Und völlig unberührt. Die da ist schon mindestens fünfzehn. Ich bezweifle, dass Sie der Erste sind, der sie ins Bett nimmt.«
»Glauben Sie denn, die Jungfräulichkeit des Mädchens kümmert mich nur einen Deut?«
Nun war Mrs Rosser sichtlich verblüfft. »Aber dafür haben Sie bezahlt.«
»Dummes Frauenzimmer. Es geht um eine sehr viel wichtigere Eigenschaft. Ich schloss mit Ihrem Boss einen Handel ab. Und ich habe die Absicht, seine Leistung einzufordern.«
»Aber ich sagte doch eben, dass er nicht mehr unter den Lebenden weilt. Ich habe einen neuen Chef.«
»Die Affären Ihrer Verbrecherbosse interessieren mich nicht. Das Mädchen ist jetzt mein Eigentum. Ich nehme sie heute mit, vorausgesetzt, das Experiment verläuft zu meiner Zufriedenheit.«
»Was reden Sie da von einem Experiment?« Mrs Rosser geriet außer sich. »Das ist ja unerhört. Dies ist ein Bordell und kein Labor. Sie können das Mädchen nicht mitnehmen, und damit basta.«
»Es sieht aus, als müsse der Versuch anderswo durchgeführt werden«, sagte Smith nun zu Adelaide. »Komm jetzt.«
Er zerrte sie so schwungvoll aus dem Schrank, dass sie zu Boden taumelte.
»Aufstehen.« Er zog sie an ihrem Arm hoch. »Wir gehen auf der Stelle. Keine Angst, wenn sich zeigen sollte, dass du für mich nutzlos bist, steht es dir frei, in dieses Etablissement zurückzukehren.«
»Sie werden sie nicht mitnehmen.« Mrs Rosser griff nach dem Glockenzug neben der Tür. »Ich rufe die Rauswerfer.«
»Sie werden nichts dergleichen tun«, erwiderte Smith. »Mir reicht der Unsinn jetzt.«
Er zog einen faustgroßen, blutrot leuchtenden Kristall aus seiner Manteltasche, worauf die Temperatur im Raum wieder um etliche Grad sank. Adelaide spürte, wie unsichtbare eiskalte Energie in dem Raum wehte.
Mrs Rosser riss den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus. Sie hob die Arme, als wäre sie tatsächlich ein großer Vogel, der zum Flug ansetzte. Ihr Kopf fiel zurück. Von einem heftigen Krampf erfasst brach sie in der Tür zusammen und blieb reglos liegen.
Adelaide war viel zu erschrocken, um auch nur einen Ton herauszubringen. Der Aasgeier war tot.
»Macht nichts«, sagte Smith. »Sie wird niemandem fehlen.«
Er hat recht, dachte Adelaide. Sie hatte der Madame weiß Gott keine Sympathie entgegengebracht, aber mit anzusehen, wie jemand auf diese Weise sein Leben lassen musste, war dennoch grässlich.
Nun erst ging ihr die volle Bedeutung dessen auf, was eben geschehen war. Smith hatte sein Talent und den Kristall zu einem Mord benutzt. Sie hatte nicht gewusst, dass dies möglich war.
»Was haben Sie mit ihr gemacht?«, flüsterte Adelaide.
»Dasselbe, was ich mit dir machen werde, wenn du mir nicht gehorchst.« Der rubinrote Kristall war nun erloschen. »Diese verdammten Dinger haben zu wenig Energie«, murmelte er. Er steckte den Stein wieder in die Tasche. »Komm jetzt. Die Zeit drängt. Wir müssen hier schleunigst fort.«
Er zog sie zum Tisch, auf dem er den merkwürdigen Gegenstand abgestellt hatte. Sie spürte die euphorische Erregung, die ihn durchflutete. Eben hatte er eine Frau ermordet, und er hatte es genossen; nein, er hatte förmlich frohlockt, als er es tat.
Und noch etwas war spürbar. Was immer Smith mit dem Kristall angestellt hatte, war nur mit großem Energieaufwand seinerseits möglich gewesen. Die psychischen Sinne benötigten wie alle anderen Aspekte von Körper und Seele einige Zeit, um sich nach großer Beanspruchung wieder zu erholen. Smith wäre zweifellos bald wieder im Vollbesitz seiner Kraft, im Moment aber war er zumindest ein wenig geschwächt.
»Ich gehe mit Ihnen nirgendwohin«, sagte sie.
Die Mühe verbal zu antworten machte er sich nicht. Als Nächstes spürte sie nur, dass eiskalter Schmerz sie in schneidenden Wogen durchschoss.
Sie schnappte nach Luft, kippte vornüber zusammen und sank unter dem Gewicht des Kälteangriffs auf die Knie. So viel zur Erschöpfung seiner psychischen Reserven.
»Jetzt weißt du, was ich mit der Rosser machte«, warnte Smith sie. »Aber in ihrem Fall wandte ich viel mehr Kraft auf. Diese intensive Kälte sprengt die Sinne und bringt das Herz zum Stillstand. Benimm dich, sonst bekommst du noch mehr davon ab.«
Der Schmerz hörte so abrupt auf, wie er eingesetzt hatte, und ließ sie benommen und atemlos zurück. Um sie zu bestrafen, hatte er sicher seine allerletzten Reserven mobilisiert. Sie musste rasch handeln. Ein Glück, dass er noch immer ihren Arm umklammert hielt. Sie benötigte Körperkontakt, um die Traumlicht-Energie eines anderen Individuums zu manipulieren.
Sie mobilisierte ihr Talent, biss die Zähne unter dem schrecklichen Gefühl zusammen und konzentrierte jedes Quäntchen Energie, das ihr geblieben war, auf die Ströme in Smiths Traumlicht. Im letzten Jahr hatte sie gelegentlich die Wellenlänge der Albträume anderer Menschen manipuliert, nie zuvor aber hatte sie gewagt, was sie nun versuchen wollte.
Einen Augenblick lang schien Smith gar nicht wahrzunehmen, dass er angegriffen wurde. Er starrte sie an, den Mund vor Verwirrung halb offen. Jäh flammte Zorn in ihm auf.
»Was soll das?«, fuhr er sie an. »Dafür wirst du bezahlen, du Hure. Du wirst in deiner eigenen privaten Hölle erfrieren, wenn du es wagst, dich mir zu widersetzen. Aufhören!«
Als er den anderen Arm hob, um sie zu schlagen, war es zu spät. Schon glitt er in einen tiefen Schlaf und sank in sich zusammen. In letzter Sekunde versuchte er, an der Tischkante Halt zu finden. Sein rudernder Arm stieß die Kerze vom Ständer. Sie fiel auf den Boden.
Das Talglicht rollte über den Dielenboden zum Bett. Ein leises Zischen ertönte, als die Flamme den unteren Rand der Draperien erfasste.
Adelaide lief zum Schrank und holte hastig Mantel und Schuhe heraus, die sie dort versteckt hatte, um ihre Flucht vorzubereiten. Bis sie sich angezogen hatte, brannten die Draperien um das Bett herum lichterloh, die Flammen züngelten schon an der weißen Quiltdecke. Qualm drang hinaus in den Korridor. Bald würde Feueralarm ertönen.
Sie zog die Kapuze über den Kopf und wollte zur Tür, als etwas sie innehalten ließ. Widerstrebend drehte sie sich um und warf einen Blick zurück auf das Ding auf dem Tisch. In diesem Moment wusste sie, dass sie den merkwürdigen Gegenstand mitnehmen musste. Eine törichte Anwandlung. Es würde ihr Entkommen nur verlangsamen. Aber zurücklassen konnte sie ihn nicht.
Sie stopfte das Objekt in die schwarze Tasche, schloss die Schnallen und ging wieder zur Tür. Noch einmal hielt sie inne, diesmal über Smiths regloser Gestalt, und durchsuchte hastig seine Taschen. In der einen fand sie Geld. Der dunkle rubinrote Kristall war in einer anderen. Sie nahm das Geld, doch als sie den Kristall berührte, hatte sie ein unbehagliches Gefühl. Ihrer Intuition folgend ließ sie ihn, wo er war.
Sie richtete sich auf und ging zur Tür. Mit einem Schritt über Mrs Rossers Leichnam trat sie in den Korridor hinaus.
Hinter ihr war das Bett mit den weißen Satinvorhängen in knisternde, züngelnde Flammen gehüllt. Weiter vorne im Korridor ertönten laute Schreie. Männer und Frauen in verschiedenen Stadien des An- und Ausgezogenseins stürzten auf der Suche nach dem nächsten Ausgang aus den Türen. Kein Mensch schenkte Adelaide Beachtung, als sie sich in das irrsinnige Getümmel auf der Treppe stürzte.
Minuten später stand sie auf der Straße. Die Tasche an sich drückend floh sie in die Nacht und rannte um ihr Leben.
1. KAPITEL
Dreizehn Jahre später...
 
»Ich hab’ sie.« Griffin Winters zog einen Kreis um die Avery Street und stellte die Feder in den Tintenständer aus Messing zurück. Er stützte sich mit den Handflächen auf die Schreibtischfläche und studierte den großen Stadtplan von London, der ausgebreitet vor ihm lag. Tiefe Befriedigung durchflutete ihn. Die Jagd war so gut wie gelaufen. Die Lady wusste es noch nicht, aber von nun an gehörte sie ihm. »Ich bin ganz sicher, was ihr nächstes Ziel sein wird.«
»Wieso glaubst du voraussagen zu können, wo sie als Nächstes zuschlägt?«, fragte Delbert Voyle. Er griff in seine Tasche und holte eine Brille hervor.
Delbert, ein großer, kräftig gebauter Mann Anfang fünfzig, der erst kürzlich zu der Einsicht gelangt war, dass er eine Sehhilfe benötigte, wurde durch die Brille auf sonderbare Weise verändert. Ohne Gläser sah er aus, wie das, was er war: ein hartgesottener Mann von der Straße, der sich als ausführendes Organ eines Gangsterbosses durch das Leben schlug. Setzte er jedoch die goldgeränderte Brille auf seine Knollennase, verwandelte er sich plötzlich in einen leicht übergewichtigen Gelehrtentyp, dessen angestammten Platz man in einer Bibliothek oder einer Buchhandlung vermutet hätte.
»Ich erkannte das Schema heute Morgen, nachdem ich den Bericht über den nächtlichen Überfall auf das Bordell in der Avery Straße gelesen hatte«, erklärte Griffin. »Da wurde mir schlagartig alles klar.«
Delbert beugte sich über den Schreibtisch, um die Standorte der Bordelle besser überblicken zu können. Da er jede noch so kleine Straße, jede namenlose Gasse in den besten wie auch in den verrufensten Gegenden der Stadt kannte, hatte er kein Problem, sich auf dem Stadtplan zurechtzufinden. Tatsächlich hätte er ihn selbst zeichnen können.
Delberts Orientierungssinn sowie sein fotografisches Erinnerungsvermögen an jeden Ort, den er je besucht hatte, waren nach Griffins Meinung psychischer Natur. Delbert tat diese Meinung spöttisch ab, wiewohl für ihn wie auch für Jed und Leggett Griffins Talent eine Selbstverständlichkeit war. Für seine Männer war Griffin einfach der Boss, von dem erwartet wurde, dass er anders war.
Delbert, Jed und Leggett waren drei aus der Schar junger Langfinger, die Griffin zwei Jahrzehnte zuvor in den Anfängen seiner Karriere als Bande um sich geschart hatte. Sie alle waren schon lange nicht mehr auf der Straße tätig.
Nun überwachten und leiteten seine drei Vertrauten den Haushalt.
Delbert hatte die Küche unter sich. Jed kümmerte sich um das Grundstück und die Hunde und fungierte überdies als Kutscher. Auf Leggett lasteten die Pflichten, die normalerweise ein Butler zu erledigen hatte. Eine Waschfrau kam zweimal wöchentlich, zudem wurde nach Bedarf Tagespersonal beschäftigt, doch diese Außenstehenden arbeiteten unter strenger Aufsicht. Keiner blieb über Nacht. Griffin befürchtete nicht, jemand könnte das Silber klauen, doch das Haus barg einige Geheimnisse, über deren Wahrung er mit Entschlossenheit, um nicht zu sagen Besessenheit wachte. Er wäre nicht zu einem der mächtigsten Unterweltbosse Londons aufgestiegen, hätte er sich Nachlässigkeiten erlaubt.
Wiewohl Jed, Delbert und Leggett das große Haus tadellos in Schuss hielten, war dies nicht ihre vorrangige Aufgabe. In Wahrheit waren sie Griffins Leutnants. Jedem war die Aufsicht über einen speziellen Bereich des von Griffin aufgebauten Imperiums übertragen.
Aus der bunt zusammengewürfelten Diebesbande, die er zwanzig Jahre zuvor um sich geschart hatte, war ein straff organisiertes, großes Unternehmen mit zahlreichen Geschäftszweigen geworden. Seine Fühler reichten bis tief in Londons berüchtigte Stadtteile, neuerdings aber auch in die vornehmsten Bezirke hinein. Seit Griffin in den letzten Jahren sein Talent für Investitionen entdeckt und Anteile an Banken, Schifffahrtsunternehmen und Eisenbahngesellschaften erworben hatte, war seine Macht noch gewachsen.
Keiner seiner Nachbarn an der St. Clare Street ahnte, dass das große, auf den Ruinen der alten Abbey errichtete Haus Eigentum einer der berüchtigtsten Persönlichkeiten der Unterwelt dieser Stadt war. Für die Bewohner der umliegenden Herrenhäuser war der Besitzer des alten Gemäuers am Ende der Straße nur ein reicher, wenn auch entschieden exzentrischer Eigenbrötler.
»Du bist noch immer überzeugt, dass die Frau die Überfälle organisierte?« Delbert studierte mit leicht gerunzelter Stirn den Stadtplan.
»Für mich besteht nicht der geringste Zweifel«, antwortete Griffin.
Delbert nahm seine Brille ab und steckte sie vorsichtig in seine Tasche. »Eines muss man ihr lassen. Sie wird immer vornehmer. Die Hurenhäuser in der Peacock Lane und an der Avery Street sind viel eleganter als die drei ersten, die sie sich vornahm. Glaubst du, sie weiß, dass die zwei letzten Luttrell gehören?«
»Darauf würde ich die Abbey verwetten. Ich bin sicher, dass sie sämtliche Bordelle Luttrells aufs Korn genommen hat. Die ersten drei Überfälle auf kleine, unabhängige Häuser waren Probeläufe, um Erfahrung zu sammeln. Wie jeder gute Stratege lernte sie aus diesen Attacken und verfeinerte ihre Taktik. Von nun an wird sie sich auf Luttrells Unternehmen konzentrieren. Ihr Ehrgeiz treibt sie an.«
»Das nennt sich Sozialreformerin. Allerdings kein Funken gesunder Menschenverstand.« Delbert gab einen missbilligenden Laut von sich. »Sie weiß wohl nicht, mit welcher gefährlichen Viper sie es zu tun hat.«
»Doch, sie weiß es. Deshalb geht sie gegen seine Unternehmen vor. Sozialreformer leben mit der Überzeugung, dass die Rechtschaffenheit ihrer Sache sie schützt. Unsere kleine Bordell-Bekämpferin käme nie auf den Gedanken, dass Luttrell keine Sekunde zögern würde, ihr die Kehle durchzuschneiden.«
»Hm, ihre Aufmerksamkeit scheint sich völlig auf die Freudenhäuser zu konzentrieren«, meinte Delbert nachdenklich.
»Das war von den ersten Presseberichten an klar.«
Delbert zog die Schultern hoch. »Dann brauchen wir uns keine grauen Haare wachsen zu lassen. Wir betreiben keine Bordelle. Sollte sie gegen Spielklubs oder Kneipen vorgehen, könnte sie für uns zum Ärgernis werden, aber solange sie es bei Überfällen auf Bordelle belässt, ist sie Luttrells Problem.«
»Leider wird sie mit ihrem Leben bezahlen, wenn sie ihrem Hobby weiterhin nachgeht«, sagte Griffin darauf.
Delbert sah ihn fragend an. »Du sorgst dich um eine Sozialreformerin? Solche Leute sind eine Landplage wie Eichhörnchen und Tauben, nur kann man sie nicht braten oder zu einem anständigen Stew verarbeiten.«
»Ich glaube, diese spezielle Sozialreformerin könnte für mich sehr nützlich sein, wenn ich sie erwische, ehe man sie tot aus dem Fluss zieht.«
Nun schrillten bei Delbert die Alarmglocken. »Verdammt, sie gefällt dir wohl, Boss? Warum ausgerechnet sie?«
»Schwer zu erklären.«
Griffin blickte zu dem Porträt an der Wand hoch. Es war, als blicke er in einen dunklen Spiegel. Die frappierende Ähnlichkeit zwischen ihm und Nicholas Winters war nicht zu übersehen, daran konnten auch das schwarze Samtjackett und das kunstvoll geschlungene Halstuch seines im Stil des ausgehenden siebzehnten Jahrhunderts gekleideten Ahnherrn nichts ändern. Vom dunklen Haar und den leuchtend grünen Augen bis zu den markant geschnittenen Zügen war die Ähnlichkeit geradezu unheimlich.
Das Porträt war vollendet worden, kurz nachdem sich bei Nicholas sein zweites Talent gezeigt hatte. Die Albträume und Halluzinationen hatten bereits eingesetzt. Immer wenn Griffin das Bild betrachtete, ertappte er sich dabei, dass er nach Anzeichen des Wahnsinns suchte, der bald darauf eingesetzt hatte.
Plötzlich begann der Abgebildete sich flimmernd zu bewegen. Nicholas erwachte zum Leben. Er fixierte Griffin mit seinen Alchemisten-Augen.
»Du bist mein wahrer Erbe«, ließ Nicholas sich vernehmen. »Die drei Talente werden auf dich übergehen. Es liegt im Blut. Finde die Lampe. Finde die Frau.«
Unter Aufbietung größter Willenskraft unterdrückte Griffin die Vision. Die beunruhigenden Halluzinationen am helllichten Tag hatten einige Wochen zuvor fast zeitgleich mit dem Sichtbarwerden seines neuen Talents eingesetzt. Mittlerweile waren die Albträume so schlimm, dass er den Schlaf fürchtete. Er konnte die Wahrheit nicht mehr verdrängen. Auf ihm lastete der Fluch der Winters.
Delbert, der zum Glück nichts von der Halluzination ahnte, betrachtete Griffin mit dem wissenden Blick eines langjährigen Freundes und Vertrauten.
»Du langweilst dich«, stellte Delbert fest. »Das ist das Problem. Für dich gab es keine Frau mehr seit der Trennung von der hübschen blonden Witwe vor ein paar Monaten. Als gesunder Mann in den besten Jahren brauchst du regelmäßige körperliche Aktivitäten. An willigen Frauenzimmern, die nur zu gern dieses spezielle Bedürfnis stillen, mangelt es nicht. Du musst dir eine suchen, die keinen Ärger macht.«
»Glaube mir, ich habe keinerlei Interesse, eine Sozialreformerin ins Bett zu kriegen«, gab Griffin zur Antwort.
Er hatte die Worte noch nicht ausgesprochen, als ihm mit einem Schauer der Erkenntnis klar wurde, dass er log. Er war ein guter Lügner, eine Gabe, die ihm geholfen hatte, in seiner Branche an die Spitze zu gelangen. Doch es gab in seinem Leben ein paar eiserne Regeln, die es einzuhalten galt, und zu diesen gehörte, dass er sich niemals selbst belog.
Zwar hatte er nicht die Absicht, Delbert die Situation zu erläutern, doch die Tatsache war nicht zu leugnen, dass er von der Frau besessen war, die hinter den Bordellüberfällen stand. Seitdem ihm von der Straße die ersten Gerüchte zugetragen worden waren, hatte ihn diese Person fasziniert. Delbert hatte ganz recht. Diese sozial engagierten Frauenzimmer waren ein wahres Ärgernis.
»Nichts für ungut, Boss, aber diesen Blick kenne ich«, sagte Delbert finster. »Der zeigt sich immer, wenn du entschlossen bist, dir etwas zu verschaffen. Jetzt musst du deinen Verstand ins Spiel bringen, Mann. Dieses Frauenzimmer, vorausgesetzt es ist eines, könnte ebenso gut eine kleine alte grauhaarige Oma oder eine verschrobene religiöse Fanatikerin sein. Verdammt, sie könnte sogar zu den Weibern gehören, die sich nicht für Männer interessieren.«
»Das ist mir klar«, sagte Griffin, doch war ein Teil von ihm vom Gegenteil überzeugt. Zweifellos war es jener Teil, der bald auf der unsichtbaren Schwelle stehen und in die Hölle des Wahnsinns blicken würde.
Finde die Lampe. Finde die Frau.
Delbert gab sich mit einem tiefen Seufzer geschlagen. »Du wirst sie aufspüren?«
»Mir bleibt keine andere Wahl.« Griffin betrachtete die Kreise, die er auf dem Stadtplan eingezeichnet hatte. »Aber ich muss es rasch tun.«
»Ehe sie Luttrell in die Hände fällt?«
»Ja. Sie hat eine funktionierende Strategie entdeckt, an die sie sich jetzt hält. Aber Berechenbarkeit ist immer eine Schwäche.«
»Sobald wir sie ausfindig gemacht haben, werden Jed und ich sie schnappen.«
»Nein, so geht es nicht. Mir kommt es auf die volle und freiwillige Mitarbeit der Dame an. Die Situation erfordert also eine förmliche Vorstellung.«
Delbert machte sich mit einem geringschätzigen Schnauben Luft. »Eine ehrbare Sozialreformerin, die sich mit einem Unterweltboss bekannt machen lässt? Das möchte ich sehen. Wie willst du das hinkriegen?«
»Ich glaube, die Dame und ich haben einen gemeinsamen Bekannten, den man überreden könnte, die Zusammenkunft auf neutralem Boden in die Wege zu leiten«, entgegnete Griffin.
2. KAPITEL
Als die Witwe schwungvoll die Küche des Wohlfahrtsheims betrat, waren Irene und die anderen eben dabei, sich Berge von Rührei und Würstchen einzuverleiben. Die Gabeln hielten mitten in der Bewegung inne, als die Mädchen den Neuankömmling verblüfft anstarrten. Elegante Damen, auch jene, die gern die Wohltäterin spielten, ließen niemals zu, dass sie von der Gegenwart gefallener Frauen befleckt wurden. Und die Witwe war unbestritten eine sehr elegante Dame.
Von Kopf bis Fuß modisch in hinreißende Schattierungen von Schwarz, Silber und Grau gekleidet verbarg sie ihre Züge hinter dem schwarzen Spitzenschleier ihres feinen Samthutes. Der Rock ihres Kleides war in kunstvolle Falten gelegt und am Saum mit einem Volant besetzt, um den teuren Stoff vor Schmutz und Unrat des Pflasters zu schützen. Die Spitze eines zierlichen grauen Knöpfstiefels lugte unter dem Volant hervor. Schwarze Handschuhe umhüllten die Hände der Dame.
»Guten Morgen«, sagte die Witwe. »Ich freue mich, dass ihr bei so gutem Appetit seid. Ein gutes Zeichen.«
Irene Brinks schloss verspätet den Mund. Sie sprang vom Ende der Bank auf und brachte einen kleinen Knicks zustande. Lautes Scharren auf den Dielenbrettern ertönte, als die vier Gefährtinnen die Bank zurückschoben und aufstanden.
»Behaltet Platz und esst ruhig weiter«, sagte die Witwe. »Ich wollte nur ein Wörtchen mit Mrs Mallory reden.«
Die kleine, untersetzte, freundlich aussehende Frau am Herd wischte sich die Hände an der Schürze ab und schenkte der Witwe ein strahlendes Lächeln.
»Guten Morgen, Ma’am«, sagte Mrs Mallory. »Heute sind Sie früh dran.«
»Ich wollte sehen, wie Sie nach der Aufregung der letzten Nacht zurechtkommen«, antwortete die Witwe lebhaft. »Alles in Ordnung?«
»Ja, allerdings.« Mrs Mallory glühte vor Befriedigung. »Wie Sie sehen, langen die jungen Frauen beim Frühstück tüchtig zu. Vermutlich ist es für sie seit Langem die erste anständige Mahlzeit.«
»So wie letztes Mal«, sagte die Witwe, doch sie sagte es ganz leise. »Die Mädchen sind halb verhungert.«
»Ja, leider. Aber das kriegen wir schon hin.«
Irene rührte sich nicht. Auch die anderen Mädchen standen reglos da, unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Mit Sozialreformerinnen wie Mrs Mallory hatten sie bereits einige Erfahrung, nichts in ihrem bisherigen Leben aber hatte sie auf die Witwe vorbereitet.
Die Witwe sah sie freundlich an. »Setzt euch und lasst euch das Frühstück schmecken, meine Damen.«
Irene und die anderen blickten verstohlen um sich, um zu sehen, ob richtige Damen in der Küche waren. Verspätet ging ihnen auf, dass die Witwe sie angesprochen hatte, und sie setzten sich rasch.
Mrs Mallory trat auf die Witwe zu. Die zwei Frauen fuhren fort, sich leise zu unterhalten. Da die Küche des Wohlfahrtsheims nicht groß war, konnte Irene mithören, was gesprochen wurde. Sie war sicher, dass auch die anderen Mädchen lauschten, wenn sie auch wie sie selbst so taten, als nähme das Essen sie völlig in Anspruch. Kein großes Kunststück, dachte Irene. Alle waren sehr hungrig.
Als man sie in der Nacht zuvor nach der Flucht aus dem brennenden Bordell in Droschken verfrachtet und fortgeschafft hatte, waren sie in Panik geraten. Zwar hatten die Männer, die sie gepackt hatten, beruhigend auf sie eingeredet, doch der Freundlichkeit von Fremden war nicht zu trauen, wie Irene und ihre Gefährtinnen sehr wohl wussten. Sie nahmen an, dass ein konkurrierender Bordellinhaber sie entführt hatte, der sie sehr bald zu derselben Arbeit zwingen würde, der sie auch im Hurenhaus an der Avery Street nachgegangen waren. Sie alle wussten, dass es keine andere Zukunft gab, wenn ein Mädchen sich erst einmal ihr Geld auf dem Rücken liegend verdient hatte.
Aber auch Huren haben Träume, dachte Irene. Ein Mädchen konnte sich immer der Hoffnung hingeben, ein Gentleman würde Gefallen an ihr finden und ihr ein paar hübsche Klunker schenken, ja sie sogar als seine Geliebte etablieren. Zugegeben, die Chancen waren gering, aber diese Möglichkeit hielt einen am Leben. Gab ein Mädchen seine Träume auf, waren Opium und Gin die einzigen Alternativen. Irene war entschlossen, nicht diesen Weg zu gehen.
Bei der Ankunft im Heim waren sie mit heißen Muffins und Tee empfangen worden. Es war von Anfang an klar, dass Mrs Mallory eine typische Sozialreformerin und keine Puffmutter war. Irene und die anderen hatten sich auf das Essen gestürzt, wohl wissend, dass die Zuflucht in diesem Heim nur von kurzer Dauer wäre. Sozialreformerinnen hatten immer die besten Absichten, es fehlte ihnen aber an gesundem Menschenverstand. Sie wussten nicht annähernd Bescheid, wie es in der Welt von Irene und ihren Freundinnen zuging.
Sozialreformer konnten einem Mädchen bestenfalls das Arbeitshaus bieten oder, als absoluten Gipfel, ein mühseliges Leben als Dienstmädchen. Aber auch dieses kümmerliche Dasein war meist nicht von langer Dauer. Kam die Dame des Hauses dahinter, dass das neue Mädchen eine ehemalige Hure war, folgte die sofortige Entlassung ohne Arbeitszeugnis. Da zog es Irene vor, sich an ihre Träume zu klammern, so unerfüllbar ihr diese zuweilen auch erscheinen mochten.
»Das Bordell an der Avery Street ist in puncto Verpflegung noch knickriger als andere«, sagte Mrs Mallory zu der Witwe. »Dort glaubt man, die Mädchen würden jünger aussehen, wenn sie dünn sind. Wie Sie wissen, verkehren dort vor allem Kunden, die es auf blutjunge Dinger abgesehen haben.«
»Wenn die Mädchen überleben, sind sie mit achtzehn schon alt«, antwortete die Witwe. »Dann setzt man sie auf die Straße. Wir müssen alles daransetzen, dass uns aus dieser Gruppe keine abhandenkommt. Die Älteste kann höchstens fünfzehn sein.«
Ihre Stimme war kühl, leise und ganz ruhig. Irene spürte, dass die Witwe nicht eine jener Damen war, die sich mit Sozialarbeit nur abgaben, weil es als schick galt.
Die Witwe durchschritt die Küche und blieb am Kopf des Tisches stehen. Wieder sprangen die Mädchen verlegen auf.
»Ich weiß, dass ihr verängstigt und verwirrt seid«, sagte die Witwe, »doch ich möchte euch versichern, dass ihr hier in Sicherheit seid. Mrs Mallory wird sich um eure Bedürfnisse kümmern. Männern ist der Zutritt zu diesem Haus verboten. Die Türen sind verschlossen und verriegelt. Ihr werdet mit anständiger Kleidung ausgestattet und morgen in meine Akademie für junge Damen gebracht, ein Internat für Mädchen wie euch.«
Irene konnte ihren Ohren nicht trauen. Sie wusste, dass die anderen ebenso verdutzt waren.
»’tschuldigung, Ma’am«, meldete Lizzie sich zu Wort. »Soll das heißen, dass Sie uns in ein anderes Bordell bringen lassen?«
»Nein. Ich schicke euch auf eine anständige Schule«, sagte die Witwe mit fester Stimme. »Dort werdet ihr saubere Betten und Schuluniformen haben, und ihr werdet Unterricht bekommen. Wenn ihr fertig seid, werdet ihr mit eigenem Geld in die Welt hinausgehen, damit ihr sicher auf eigenen Beinen stehen könnt. Ihr werdet Arbeit als Schreibkraft, Schneiderin oder Modistin finden. Einige werden sich mit dem Geld vielleicht ein kleines Geschäft aufbauen wollen. Wer also mein Angebot nutzt, dem steht die Zukunft offen.«
Irene senkte den Blick auf den Rest der Rühreier. Die anderen Mädchen folgten ihrem Beispiel. Der Witwe mochte ihre Rettung ein ehrliches Anliegen sein, doch die feinen Damen waren nicht immer besonders intelligent.
Wieder war es Lizzie, die sich tapfer vorwagte. »Verzeihung, Madam, aber wir können keine richtige Schule besuchen.«
»Warum nicht? Hat jemand Familie, zu der er zurückkehren möchte? Gibt es ehrbare Angehörige, die für euch sorgen können?«
Die Mädchen schluckten schwer und tauschten Blicke.
Lizzie räusperte sich. »Nein, Madam. Mein Pa war es, der mich an die Avery Street verkaufte. Der will mich sicher nicht zurück.«
»Meine Eltern starben letztes Jahr an Lungenfieber«, erklärte Sally. »Ich landete im Arbeitshaus. Die Leiterin des Bordells holte mich dort heraus. Ich würde eine Stelle als Hausmädchen bekommen, sagte sie. Aber es kam anders.«
Irene hielt sich mit ihrer eigenen Geschichte zurück. Sie war ähnlich.
»Wie ich es mir dachte«, sagte die Witwe. »Also, ihr könnt sicher sein, dass ihr nun die Möglichkeit habt, ein neues Leben zu beginnen.«
»Aber wir sind Huren«, wandte Lizzie ein. »Huren besuchen keine anständige Schule.«
»Diese Schule schon«, entgegnete die Witwe. »Ich bin die Besitzerin und setze die Regeln fest.«
Sally räusperte sich. »Aber was nützt uns das? Verstehen Sie denn nicht? Auch wenn wir auf der Schreibmaschine tippen oder schöne Hüte zu machen lernen, wird uns niemand anstellen, da wir einmal Huren waren.«
»Vertrau mir«, sagte die Witwe. »Ihr werdet für immer verschwinden. Und wenn ihr meine Akademie verlasst, werdet ihr ehrbare junge Frauen mit makellosem Hintergrund sein. Ihr werdet neue Namen und neue Identitäten haben. Niemand wird erfahren, dass ihr jemals in einem Bordell gearbeitet habt.«
Das erklärt alles, dachte Irene. Die Witwe ist verrückt.
»Aber wenn uns jemand erkennt?«, fragte Sally. »Ein ehemaliger Kunde etwa?«
»Das ist sehr unwahrscheinlich. London ist riesengroß, und in ein paar Jahren, wenn ihr die Schule verlasst, werdet ihr ein wenig älter sein und ganz anders aussehen. Überdies wird euer neuer, anständiger Hintergrund bis hin zu eurer Geburt mit Dokumenten belegbar sein. Ihr werdet mit einwandfreiem Leumundszeugnis die Schule verlassen, Gewähr dafür, dass ihr anständige Arbeit findet.«
Sally machte große Augen. »Sie können uns wirklich verschwinden und als andere Menschen wieder auftauchen lassen?«
»Das ist der Grund für die Existenz meiner Akademie«, erklärte die Witwe.
Die Lady bot ihnen einen Traum, eine völlig andere Zukunftsvision, wie Irene erkannte, nicht jene, die sie in sich genährt hatte, seitdem sie eine Hure geworden war. Aber anders als ihre eigenen vagen Fantastereien enthielt dieser neue Traum Realität. Sie brauchte nur zuzugreifen und ihn zu fassen.
3. KAPITEL
»Ein interessantes Objekt, doch dieses Steingefäß umgibt etwas spürbar Unangenehmes, meinen Sie nicht auch? Ich vermute, dass das Museumspersonal das Ding mit Absicht in dieser Galerie unterbrachte, weil sich nur wenige Besucher hierher verirren.«
Die Worte wurden von einer tiefen, männlichen Stimme geäußert, die Adelaides Sinne ansprach und Hitze durch ihre Adern jagte. Energie vibrierte in der Atmosphäre. Der Mann hatte irgendein Talent, ein sehr starkes zudem. Diese Wendung der Dinge hatte sie nicht vorausgesehen.
Auch hatte sie nicht vorausgesehen, wie heftig sie darauf reagierte. Sie war mit den Nerven am Ende. Anders konnte man es nicht beschreiben. Sie war dem Mann, der in der Londoner Unterwelt nur als Direktor des Konsortiums bekannt war, nie begegnet, doch sie hätte ihn überall erkannt. Ein Teil ihres Wesens hatte ihn seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr erwartet.
Sekundenlang richtete sie den Blick auf das antike Gefäß, als würde sie es eingehend studieren. In Wahrheit benötigte sie Zeit, um sich zu fassen. Der Direktor durfte nicht erkennen, wie sehr er ihre Sinne verwirrt hatte.
Es kostete sie viel Willenskraft, um sich zu beruhigen, doch sie atmete tief ein und drehte sich dann langsam und, wie sie hoffte, kühl und beherrscht um. Sie war eine erfahrene, weltgewandte Frau und würde sich auch von einem Verbrecherboss nicht verunsichern lassen.
»Vermutlich setzten Sie dieses Treffen in dieser speziellen Galerie an, weil auch Sie nicht von Besuchern gestört werden wollen«, sagte sie.
»Ich ging davon aus, dass die Anführerin der berüchtigten Überfälle auf diverse Bordelle in der Stadt selbst Wert auf einen gewissen Grad an Diskretion legt.«
Obschon sie ihn im psychischen Sinn kannte, wusste sie außer ein paar Fragmenten seines Mysteriums und seiner Legende so gut wie nichts über den Direktor. Die Straßenmädchen, die im Wohlfahrtsheim auftauchten, sprachen von ihm nur im Flüsterton.
Sie versuchte ihn anzusehen, konnte aber seine Züge nicht erkennen. Lässig mit verschränkten Armen dastehend lehnte er mit einer Schulter an einer Säule, er war in Schatten gehüllt und von einer unheimlichen, ja gespenstischen Aura umgeben. Ihr war, als sähe sie sein Spiegelbild in einer dunklen Wasserfläche.
Sie spürte, dass er sie wie ein interessantes Artefakt aus einem Museum unter die Lupe nahm. So undeutlich sie ihn wahrnahm, erkannte sie doch, dass er sich wie ein vornehmer Gentleman kleidete und wie ein Angehöriger höchster Kreise bei einem exklusiven Schneider arbeiten ließ.
Es störte sie, dass sie seine Züge nicht erkennen konnte. Gewiss, das Licht war schwach, doch ihre Augen hatten sich schon an die spärliche Beleuchtung gewöhnt. Der Verbrecherboss stand ja nur wenige Fuß von ihr entfernt. Sein Gesicht hätte deutlich erkennbar sein müssen.
Sie schlüpfte in ihre andere Sichtweise. Sofort wusste sie, was los war, als sie sah, dass der Steinboden vor dunkel irisierenden Traumspuren erglühte. Der Direktor setzte sein Talent ein, um sich unsichtbar zu machen. Die eigentliche Natur seiner übersinnlichen Fähigkeit vermochte sie nicht zu erkennen, doch deren Kraft war eindeutig.
»Nicht nur ich kam verhüllt zu diesem Treffen«, sagte sie. »Sie wenden einen klugen Trick an. Sind Sie Illusionist, Sir?«
»Sehr gut beobachtet, Madam.« Weder beunruhigt noch verärgert hörte er sich beifällig, ja auf kalte, berechnende Weise befriedigt an. »Nein, ich bin kein Talent der Illusion, aber Sie liegen mit Ihrer Vermutung nicht weit daneben. Ich arbeite mit Schatten-Energie.«
»Davon hörte ich noch nie.«
»Ein seltenes Talent, das sehr nützlich sein kann. Mit entsprechendem Energieaufwand kann ich mich für das menschliche Auge unsichtbar machen.«
»Mir ist klar, dass ein Talent dieser Art in Ihrer Branche sehr hilfreich sein kann.« Sie machte aus ihrer Missbilligung kein Hehl.
»Ja, es hat mir seit den Anfängen meiner Laufbahn sehr geholfen«, pflichtete er ihr nicht im Mindesten gekränkt bei. »Die Tatsache, dass Sie meine kleine Maskerade durchschauen, ist sehr ermutigend. Ich bin noch nie jemandem begegnet, der das vermochte. Ich glaube, wir könnten gut zusammenarbeiten.«
»Das bezweifle ich, Sir. Ich kann mir nicht vorstellen, was wir, von unserem Bekannten einmal abgesehen, gemeinsam haben sollten.«
»Mr Pierce.« Er neigte den Kopf. »Ja. Aber ehe wir unsere Beziehung zu ihm diskutieren, möchte ich mich davon überzeugen, dass ich mit meinen Schlussfolgerungen bezüglich Ihres Talentes richtig liege.«
Sie erstarrte. »Ich wüsste nicht, was mein Talent Sie anginge, Sir.«
»Es tut mir leid, Madam, aber die genaue Natur und die Stärke Ihrer Fähigkeiten ist für mich von beträchtlichem Interesse.«
»Warum?« Ihr Argwohn erwachte.
»Weil, wenn ich mich nicht irre, die Möglichkeit besteht, dass Sie meinen Geisteszustand und mein Leben retten können.« Er hielt inne. »Sollte Ihnen Ersteres nicht gelingen, nützt mir Letzteres nichts mehr.«
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie die brodelnde Energie seiner Spuren. Kraft und Beherrschung brannten in den Strömen seines Traumlichts. Trübe, für mentale Instabilität typische Schattierungen waren nicht auszumachen.
»Für mich sehen Sie gesund aus, Sir«, sagte sie spitz. Sie hielt inne, ehe sie fortfuhr: »Allerdings sehe ich, dass Sie unter unangenehmen Träumen leiden.«
Sofort spürte sie, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. »Das erkennen Sie an den Mustern meiner Traumlichter?«
»Im Traumlicht zeigen sich alle Arten von Leiden. In Ihren Spuren kann ich keine Anzeichen einer geistigen oder körperlichen Krankheit erkennen. Aber starke Träume können auch deutliche Spuren hinterlassen.«
»Können Sie meine Träume sehen?« Er schien nicht erfreut.
Sie verstand. Träume gehörten zu den intimsten menschlichen Erfahrungen.
»Niemand kann die Szenen fremder Träume sehen«, sagte sie. »Ich nehme nur die psychische Energie Ihrer Emotionen und Empfindungen während des Traumes wahr. Mein Talent übersetzt diese Energie in Eindrücke und Gefühle.«
Er sah sie lange an. »Empfinden Sie Ihr Talent als beunruhigend?«
»Sie haben ja keine Ahnung.« Sie ging in ihren normalen Wahrnehmungszustand über. »Was wollen Sie von mir, Sir?«
»Mein Interesse gilt nicht nur Ihren paranormalen Fähigkeiten. Mich reizt vor allem Ihre Leidenschaft, die Sie für die Rettung anderer Menschen einsetzen.«
»Ich verstehe wohl nicht...«
»Mir ist klar, dass Sie sich auf die Rettung junger Frauen aus Bordellen konzentrieren. Ebenso weiß ich, dass ich weder jung noch weiblich bin.«
»Das ist auch mir nicht entgangen«, sagte sie nun in schärferem Ton. »Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie gerettet werden müssen, Sir? Ich habe nämlich große Zweifel, dass ich einem Mann in Ihrer, hm, Position, irgendwie von Nutzen sein kann.«
Sie hätte schwören mögen, dass er lächelte, obwohl sie dessen nicht sicher sein konnte, da ihn noch immer Schatten umhüllten.
»Ich bin schon zu weit ins Böse eingetaucht, ist es das, was Sie damit sagen wollen?«, fragte er. »Ich gestehe, dass in mir auch nicht ein Hauch Unschuld ist, den Sie retten könnten. Aber deswegen bat ich nicht um dieses Treffen.«
»Warum dann?«
»Ich wurde vor zwei Monaten sechsunddreißig«, sagte er.
»Ist das von besonderer Bedeutung?«