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Sie soll ihn nur zum Schein lieben, doch schon bald ist nicht nur ihr Herz in Gefahr …
England, 19. Jahrhundert: Um in der feinen Londoner Gesellschaft unbehelligt von heiratswütigen Frauen seinen Geschäften nachgehen zu können, benötigt der Earl of St. Merryn für ein paar Wochen eine anmutige Begleiterin. Die schöne Eleonora Lodge scheint für diese Aufgabe perfekt. In Anbetracht ihrer Geldnot willigt Eleonora ein und lässt sich von dem attraktiven Earl für das Täuschungsmanöver anheuern. Doch sie ahnt nicht, dass sie sich dabei auch auf ein äußerst gefährliches Spiel eingelassen hat, bei dem sie nicht nur ihr Herz verlieren könnte …
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Seitenzahl: 540
Buch
England, 19. Jahrhundert: Um in der feinen Londoner Gesellschaft unbehelligt von heiratswütigen Frauen seinen Geschäften nachgehen zu können, benötigt der Earl of St. Merryn für ein paar Wochen eine anmutige Begleiterin. Die schöne Eleonora Lodge scheint für diese Aufgabe perfekt. In Anbetracht ihrer Geldnot willigt Eleonora ein und lässt sich von dem attraktiven Earl für das Täuschungsmanöver anheuern. Doch sie ahnt nicht, dass sie sich dabei auch auf ein äußerst gefährliches Spiel eingelassen hat, bei dem sie nicht nur ihr Herz verlieren könnte …
Autorin
Amanda Quick ist das Pseudonym der erfolgreichen, vielfach preisgekrönten Autorin Jayne Ann Krentz. Krentz hat Geschichte und Literaturwissenschaften studiert und lange als Bibliothekarin gearbeitet, bevor sie ihr Talent zum Schreiben entdeckte. Sie ist verheiratet und lebt in Seattle.
Von Amanda Quick bereits erschienen (Auswahl)
Süßer Betrug · Geheimnis der Nacht · Liebe um Mitternacht · Verführung im Mondlicht · Verzaubertes Verlangen · Riskante Nächte · Dieb meines Herzens · Süßes Gift der Liebe · Glut der Herzen · Ungezähmte Leidenschaft
Amanda Quick
Geheimnis der Nacht
Roman
Aus dem Amerikanischen von Marion Gieseke
BLANVALET
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel
»The Paid Companion«, bei G. P. Putnam’s Sons, a division of Penguin Group Inc., New York.
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Deutsche Erstveröffentlichung April 2005
Copyright © der Originalausgabe 2004 by Jayne Ann Krentz
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1992 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagfoto: Agentur Schlück/DAENI
Satz: DTP Service Apel, Hannover
Herstellung: Heidrun Nawrot
ISBN 978-3-641-24645-7V002
www.blanvalet-verlag.de
Arthur Lancaster, Graf von St. Merryn, saß am Kamin des Clubs, in dem das Feuer prasselte. In der einen Hand hielt er ein Glas mit vorzüglichem Wein, in der anderen eine Zeitung, als ihn die Nachricht ereilte, dass seine Verlobte mit einem anderen Mann durchgebrannt war.
»Ich habe erfahren, dass der junge Burnley eine Leiter benutzt hat, um zu ihrem Fenster hinaufzuklettern. Dann hat er Miss Juliana heruntergeholfen und sie in die Kutsche gesetzt.«
Bennett Fleming hievte seinen massigen Körper in den Arthur gegenüberstehenden Sessel und griff nach der Weinflasche.
»Sie sind auf jeden Fall nach Norden gefahren, nach Gretna Green. Julianas Vater hat soeben ihre Verfolgung aufgenommen, aber seine Kutsche ist alt und kommt nur äußerst langsam voran.«
Im Raum breitete sich Schweigen aus. Niemand wagte zu reden. Man hörte weder raschelnde Zeitungen noch das Klirren von Gläsern. Es schlug Mitternacht, und der Club war voller Männer. Alle saßen erstarrt in ihren Sesseln und strengten sich an, der Unterhaltung am Kamin zu folgen. Mit einem Seufzer faltete Sir Arthur seine Zeitung zusammen, legte sie beiseite und trank einen Schluck von seinem Wein. Er sah zum Fenster hinüber, wo der vom Wind gepeitschte Regen wütend gegen die Scheiben schlug.
»Mit viel Glück kommen sie bei diesem Sturm höchstens zehn Meilen weit.«
Wie jede weitere Äußerung an jenem Abend, so wurde auch diese Teil der St.-Merryn-Geschichte. Diese Kaltblütigkeit, als ihm berichtet wurde, dass seine Verlobte mit einem anderen Mann davongelaufen war, und er übers Wetter sprach …
Bennett trank hastig von seinem Wein und folgte Arthurs Blick zum Fenster. »Der junge Burnley und Miss Juliana fahren in einer ausgezeichneten, gut gepolsterten Kutsche mit einem starken, frischen Gespann.« Er räusperte sich. »Ich bezweifle, dass Miss Julianas Vater sie einholen wird, aber ein einzelner Reiter auf einem schnellen Pferd könnte die beiden sicherlich noch erreichen.«
Knisternde Spannung machte sich im Raum breit. St. Merryn war ohne jeden Zweifel allein stehend, und es war kein Geheimnis, dass er in seinem Stall einige der besten Pferde hatte. Alle wollten nun erfahren, ob sich der Graf mit der Absicht trug, das fliehende Paar zu verfolgen.
Arthur stand lässig auf und hob die halb leere Weinflasche hoch. »Wissen Sie, Bennett, ich leide heute Abend unter großer Langeweile. Ich werde mal nachsehen, ob im Kartenzimmer etwas Interessantes passiert.«
Bennetts Augenbrauen hoben sich, als wollten sie seinen zurückweichenden Haaransatz berühren. »Aber Sie spielen doch nie. Ich weiß nicht, wie oft ich Sie bereits sagen hörte, dass es unlogisch ist, auf Würfel- oder Kartenspiele zu setzen.«
»Ich habe das Gefühl, dass das Glück mir heute Abend hold ist.« Mit diesen Worten ging Arthur in Richtung Kartenzimmer.
»Hol’s der Teufel«, brummte Bennett. Alarmiert zog er die Stirn in Falten. Dann ergriff er sein halb leeres Weinglas und hastete hinter dem Grafen her. »Wissen Sie«, erklang Arthurs Stimme in dem ungewöhnlich stillen Raum, »ich glaube, ich habe mich ziemlich verkalkuliert, als ich bei Graham um die Hand seiner Tochter anhielt.«
»Wirklich?« Bennett warf Arthur einen besorgten Blick zu, als ob er ihn auf Anzeichen von Fieber untersuchen würde.
»Ja, wenn ich das nächste Mal auf Brautschau gehe, werde ich dies nach den Gesetzen der Logik tun, ganz so, wie ich mit meinen Vermögensanlagen verfahre.«
Bennett verzog das Gesicht und bemerkte, dass die Zuhörer Arthurs Worten noch immer mit gespannter Aufmerksamkeit folgten. »Wie, um Himmels willen, wollen Sie bei der Suche nach einer Frau Logik anwenden?«
»Ich vermute, dass die Qualitäten einer Ehefrau sich nicht unwesentlich von denen einer bezahlten Gesellschafterin unterscheiden.«
Bennett verschluckte sich an seinem Wein und hustete. »Eine Gesellschafterin?«
»Betrachten Sie die Sache doch einmal genauer.« Ein Klicken ertönte, als Arthur sein Glas nachfüllte. »Die ideale Gesellschafterin ist eine wohlerzogene, gebildete Dame von exzellentem Ruf. Sie hat starke Nerven, ein sanftes Gemüt und ist bescheiden in ihren Handlungen und der Art, sich zu kleiden. Sind das nicht genau die Eigenschaften, an die man denkt, wenn man die perfekte Ehefrau beschreibt?«
»Eine bezahlte Gesellschafterin ist per definitionem verarmt und ganz allein auf der Welt.«
»Natürlich ist sie arm und ohne Vermögen.« Arthur zuckte mit den Schultern. »Warum sollte sie sich sonst um eine so schlecht bezahlte Stelle bewerben?«
»Aber die meisten Männer bevorzugen eine Frau, die bereits ein Vermögen oder ein Stück Land mit in die Ehe bringt«, erklärte Bennett.
»Ja, aber in dieser Beziehung habe ich einen großen Vorteil, nicht wahr?« Arthur blieb an der Tür zum Kartenzimmer stehen und beobachtete das lebhafte Spiel an den Tischen. »Ich will mich ja nicht rühmen, aber ich bin unermesslich reich und werde jeden Tag reicher. Ich brauche keine wohlhabende Frau.«
Bennett stellte sich neben ihn und gab ihm zögernd Recht. »Das stimmt.«
»Das Beste an bezahlten Gesellschafterinnen ist, dass sie arm sind«, fuhr Arthur fort. »Sie sind für jede Beschäftigung, die ihnen angeboten wird, dankbar.«
»Daran hatte ich in der Tat gar nicht gedacht.« Bennett trank erneut einen Schluck von dem Wein und stellte das Glas ab.
»Ich glaube, langsam kann ich Ihren Gedankengängen folgen.«
»Im Gegensatz zu wohl behüteten, romantischen jungen Damen, deren Bild von der Liebe durch die Lektüre von Byron und den Romanen der Minerva Press kläglich verbogen wurde, sind bezahlte Geliebte notgedrungen wesentlich praktischer veranlagt. Sie haben es bereits erfahren, wie schlimm die Welt sein kann.«
»Zweifellos.«
»Die typische bezahlte Gesellschafterin würde also alles tun, um ihre Stellung zu behalten. Man könnte zum Beispiel erwarten, dass eine solche Dame nicht kurz vor der Hochzeit mit einem anderen durchbrennt.«
»Vielleicht ist es der Wein, aber ich glaube, ich kann Ihren Worten folgen.« Bennett runzelte die Stirn.
»Aber wie würde es gelingen, eine Ehefrau mit diesen Eigenschaften zu finden?«
»Fleming, Sie enttäuschen mich. Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand. Man geht zu einer Agentur, die solche Damen vermittelt, befragt einige Bewerberinnen und trifft dann eine Auswahl.«
Bennett blinzelte. »Eine Agentur?«
»Warum nicht?« Arthur nickte. »Ich hätte schon vor ein paar Monaten diese Idee haben sollen, dann hätte ich mir einiges ersparen können.«
»Ja, aber …«
»Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich glaube, am Spieltisch in der Ecke ist ein Platz frei geworden.«
»Das Spiel ist riskant«, warnte Bennett. »Sind Sie sich ganz sicher …«
Arthur hörte jedoch nicht mehr zu. Er ging durch den Raum und setzte sich an den Kartentisch. Als er sich Stunden später von seinem Platz erhob, war er um einige hundert Pfund reicher. Die Tatsache, dass der Graf seine Abneigung gegen Glücksspiele aufgegeben hatte und an jenem Abend eine beträchtliche Summe Geldes gewann, verlieh der Legende über St. Merryn eine neue Dimension.
Der heraufdämmernde Morgen zeigte sich grau und regnerisch, als Sir Arthur den Club verließ. Er stieg in die wartende Kutsche und ließ sich zu dem großen, düsteren Haus in der Rain Street zurückfahren. Dann ging er sofort zu Bett.
Um halb zehn weckte ihn sein alter Butler und erzählte ihm, dass der Vater seiner Verlobten seine Tochter in einem Gasthaus aufgespürt hatte, wo sie mit ihrem gut aussehenden, jungen Retter ein Zimmer teilte. Um das Ansehen der jungen Dame zu bewahren, gab es jetzt nur eines. Der aufgebrachte Vater wollte, dass das Paar auf der Stelle heiratete, und zwar per Sondererlaubnis.
Arthur dankte seinem Diener für die Nachricht, drehte sich auf die Seite und fiel sofort wieder in einen tiefen Schlaf.
Elenora
Die Nachricht vom Tod ihres Stiefvaters wurde Elenora Lodge von zwei Männern überbracht, die um drei Uhr nachmittags vor ihrer Tür standen. Ihr Stiefvater hatte in ein Unternehmen investiert, das gescheitert war, und hatte sein gesamtes Vermögen an diese Männer verloren.
»Samuel Jones erlitt einen Schlaganfall, nachdem er erfuhr, dass das Bergbauprojekt gescheitert ist«, sagte einer der Männer, die aus London kamen, ohne jedes Mitgefühl.
»Das Haus und die Ländereien, die sich von hier bis zum Fluss erstrecken, gehören jetzt uns«, verkündete der andere und schwenkte ein Bündel Papiere, die auf jeder Seite die Unterschrift von Samuel Jones trugen.
Der erste der beiden schielte verstohlen auf den kleinen goldenen Ring, den Elenora an ihrem kleinen Finger trug. »Der Verstorbene hat Ihren Schmuck und alles, was Sie besitzen, mit Ausnahme Ihrer Kleidung, auf die Liste der Dinge gesetzt, die er als Sicherheit für das Darlehen aufgestellt hat.«
Der zweite Gläubiger deutete mit dem Daumen auf den groß gewachsenen Mann, der an der Seite hinter ihm stand. »Dies ist Detektiv Hitchins. Wir haben ihn direkt von der Bow Street angeheuert. Er wird sicherstellen, dass Sie nichts Wertvolles aus dem Haus mitgehen lassen.«
Der ungeschlachte grauhaarige Mann, der die beiden Männer begleitete, hatte einen harten, wachsamen Blick. An seinem Rock trug er das Abzeichen seiner Detektei, einen Schlagstock.
Elenora stand den drei aggressiv aussehenden Männern direkt gegenüber und bemerkte, dass ihre Haushälterin und das Dienstmädchen in der Eingangshalle aufgeregt hin und her liefen. Ihre Gedanken flogen zu den Stallknechten und den Bediensteten, die sich um die Gärten und um Haus und Hof kümmerten. Sie wusste nur zu gut, dass sie kaum etwas tun konnte, um sie zu schützen. Sie musste den Männern einfach zu verstehen geben, dass es äußerst töricht wäre, sie zu entlassen.
»Ich nehme an, Sie wissen, dass mit dem Grundstück ein beträchtliches Einkommen verbunden ist«, sagte sie.
»Das ist mir bekannt, Miss Lodge.« Der erste Gläubiger schaukelte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf seinen Fersen vor und zurück. »Samuel Jones hat das zweifelsohne bestätigt.«
Der andere Mann ließ seinen Blick erwartungsvoll über das gepflegte Gelände schweifen. »Es ist wirklich ein außerordentlich attraktives Anwesen.«
»Dann wissen Sie vielleicht auch, dass das Land nur deshalb so wertvoll ist, weil die Menschen, die es bewirtschaften und sich um die Hauswirtschaft kümmern, hoch qualifiziert sind. Man kann sie unmöglich ersetzen. Wenn Sie sie entlassen, können Sie davon ausgehen, dass die nächste Ernte misslingt und das Haus innerhalb von wenigen Monaten an Wert verliert.«
Die beiden Gläubiger sahen einander missmutig an. Offensichtlich hatte keiner von ihnen an die Arbeiter und das Dienstpersonal gedacht. Die grauen Augenbrauen des Detektivs hoben sich, und ein merkwürdiger Ausdruck trat auf sein Gesicht. Er sagte jedoch nichts. Warum auch?, dachte Elenora.
Die geschäftliche Seite hatte ganz und gar nichts mit ihm zu tun.
Die beiden Gläubiger waren zu einer stillschweigenden Vereinbarung gekommen. Der erste räusperte sich geräuschvoll.
»Das Personal wird bleiben«, sagte er. »Wir haben den Verkauf des Besitzes bereits in die Wege geleitet, und der neue Besitzer möchte, dass alles so bleibt, wie es ist.«
»Mit Ausnahme von Ihnen natürlich, Miss Lodge.« Der andere wackelte mit dem Kopf. »Der neue Besitzer braucht Sie nicht.«
Elenora verlor etwas von ihrer Anspannung. Wenigstens war ihr Personal in Sicherheit. Jetzt konnte sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihr eigenes Leben und die Zukunft richten.
»Ich hoffe, Sie geben mir noch die Zeit, meine Sachen zu packen«, sagte sie kühl. Die beiden Männer schienen die Verachtung in ihrer Stimme nicht zu hören. Einer von ihnen zog eine Uhr aus seiner Tasche.
»Sie haben dreißig Minuten, Miss Lodge.« Er nickte dem großen Mann von der Bow Street zu. »Mr. Hitchins wird bei Ihnen bleiben, während Sie packen, um sicherzustellen, dass Sie das Tafelsilber nicht mitgehen lassen. Wenn Sie so weit sind, wird einer der Bauern Sie ins Dorf bringen und am Gasthaus absetzen. Was Sie danach machen, bleibt Ihnen überlassen.«
Elenora wandte sich hochmütig von ihnen ab. Dann erblickte sie die laut schluchzende Haushälterin und das verzweifelte Dienstmädchen.
Ihr schwirrte der Kopf von all den Sorgen, aber sie wusste, dass sie vor ihrem Personal die Haltung bewahren musste. Sie schenkte den beiden ein aufmunterndes Lächeln.
»Beruhigt euch«, sagte sie mit energischer Stimme.
»Wie ihr gerade gehört habt, werdet ihr eure Stellung behalten, und die Arbeiter können ebenfalls bleiben.«
Die Haushälterin und das Dienstmädchen hörten auf zu schluchzen und legten die Taschentücher beiseite. Beiden wurde vor Erleichterung ganz schwach.
»Danke, Miss Elenora«, flüsterte die Haushälterin.
Elenora tätschelte ihre Schulter und lief zur Treppe. Sie versuchte, den Detektiv zu ignorieren, der sie auf Schritt und Tritt verfolgte.
Hitchins stand in der Tür zu ihrem Schlafzimmer. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Beine gespreizt, während er beobachtete, wie sie einen großen Schrankkoffer unter ihrem Bett hervorzog.
Sie überlegte, wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihm sagte, dass er der einzige Mann war, der jemals ihr Schlafzimmer betreten hatte.
»Dies war der Reisekoffer meiner Großmutter«, sagte sie stattdessen und öffnete den Deckel, um ihm zu beweisen, dass der Koffer leer war. »Sie war Schauspielerin. Ihr Bühnenname lautete Agatha Knight. Als sie meinen Großvater heiratete, gab es schrecklichen Ärger in der Familie. Einen Riesenskandal. Meine Urgroßeltern drohten meinem Großvater damit, ihn zu enterben. Aber schließlich mussten sie die Tatsachen akzeptieren. Sie wissen sicherlich, was sich in Familien so abspielt.«
Hitchins grunzte. Entweder hatte er keine Erfahrung, weil er keine Familie hatte, oder er fand ihre Geschichte äußerst langweilig. Sie vermutete Letzteres.
Trotz Hitchins’ Schweigen plapperte sie weiterhin munter drauflos, während sie ihre Kleidung aus dem Schrank nahm. Sie wollte ihn ablenken, damit er nicht neugierig auf den alten Schrankkoffer wurde.
»Meine arme Mutter hat sich entsetzlich geschämt, dass ihre Mutter auf der Theaterbühne stand. Sie hat ihr ganzes Leben damit zugebracht, über Großmutters berüchtigte Karriere hinwegzukommen.«
Hitchins schaute auf seine Uhr. »Sie haben noch zehn Minuten.«
»Danke, Mr. Hitchins.« Sie schenkte ihm ein kaltes Lächeln. »Sie sind wirklich sehr hilfsbereit.«
Hitchins war Sarkasmus gewöhnt. Zweifellos wurde er in seinem Beruf tagtäglich damit konfrontiert.
Elenora zog eine Schublade auf und nahm einen Stapel ordentlich gefalteter Leinenwäsche heraus. »Vielleicht möchten Sie Ihren Blick abwenden, Sir.«
Hitchins war Gott sei Dank so taktvoll, nicht auf ihre Unterwäsche und Nachthemden zu starren. Als sie jedoch nach der kleinen Uhr auf dem Nachttisch griff, presste er seine dünnen Lippen zusammen.
»Sie dürfen nichts mitnehmen außer Ihrer Kleidung, Miss Lodge«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Ja, natürlich.« Schade, der Pfandleiher hätte bestimmt noch einige Pfund für die Uhr bezahlt. »Wie konnte ich das nur vergessen?«
Sie ließ den Deckel fallen und verschloss den Koffer, während ein Schauer der Erleichterung über ihren Rücken rieselte. Hitchins hatte nicht das geringste Interesse an dem alten Theaterkoffer ihrer Großmutter gezeigt.
»Die Leute sagen, dass ich genauso aussehe wie sie, als sie so alt war wie ich«, sagte sie im Plauderton. »Wer denn, Miss Lodge?«
»Meine Großmutter, die Schauspielerin.«
»Ist das so?« Hitchins zuckte die Schultern. »Sind Sie fertig?«
»Ja, ich nehme an, Sie werden die Sachen für mich runterbringen?«
»In Ordnung, Madam.«
Hitchins hob den Koffer hoch und trug ihn in die Eingangshalle hinunter. Dann lud er ihn auf den Bauernkarren, der bereits auf der Straße stand, und wartete.
Als Elenora Hitchins folgen wollte, trat einer der Gläubiger ihr in den Weg. »Den kleinen goldenen Ring an Ihrer Hand bitte, Miss Lodge«, sagte er in scharfem Ton.
Genau in dem Moment, als der Mann die Hand ausstreckte, um ihr den Ring wegzunehmen, zog sie ihn von ihrem Finger und ließ ihn auf den Boden fallen, wo er ein paar Mal hin und her sprang.
»Verdammt.« Ärgerlich beugte sich der kleine Mann, um den Ring aufzuheben.
Während er in dieser lächerlich gebückten Haltung dastand, rauschte Elenora an ihm vorbei die Treppe hinunter. Agatha Knight hatte immer großen Wert auf einen bühnenreifen Abgang gelegt.
Hitchins, der sein Verhalten unerwarteterweise geändert hatte und ihr gegenüber freundlicher war, half ihr beim Einsteigen in den Karren.
»Danke, Sir«, murmelte sie. Mit der gleichen Würde und Selbstsicherheit, die sie auch an den Tag gelegt hätte, wenn sie in eine vornehme Kutsche gestiegen wäre, ließ sie sich auf dem harten Holzsitz nieder.
Ein Funke von Bewunderung trat in Hitchins Augen.
»Viel Glück, Miss Lodge.« Er warf einen Blick in den hinteren Teil des Karrens, wo der Koffer hoch aufragte.
»Habe ich bereits erwähnt, dass mein Onkel in jungen Jahren mit einer Gruppe von Schauspielern durch das Land gezogen ist?«
Elenora erstarrte. »Nein, das haben Sie nicht.«
»Er hatte genau so einen Koffer wie der Ihre. Er sagte, dass er sehr nützlich war. Auch hat er sich immer vergewissert, dass er das Nötigste gepackt hatte, falls er die Stadt ganz plötzlich einmal verlassen musste.«
Sie schluckte. »Meine Großmutter hat mir den gleichen Rat gegeben.«
»Und Sie haben ihn hoffentlich befolgt, Miss Lodge?«
»Gewiss, Mr. Hitchins, das habe ich.«
»Sie werden schon zurechtkommen, Miss Lodge. Sie sind sehr beherzt.« Er zwinkerte ihr zu, tippte an seinen Hut und ging zu seinen Arbeitgebern zurück.
Elenora atmete tief ein. Mit einem Schnappen spannte sie ihren Sonnenschirm auf und hielt ihn wie ein grelles Schlachtbanner in die Höhe. Der Karren setzte sich langsam in Bewegung.
Sie warf keinen einzigen Blick auf das Haus zurück, wo sie geboren worden war und ihr ganzes Leben verbracht hatte.
Der Tod ihres Stiefvaters war keine große Überraschung, und sie war nicht besonders traurig darüber gewesen. Sie war sechzehn Jahre alt, als Samuel Jones ihre Mutter heiratete. Er hatte hier auf dem Land nur sehr wenig Zeit verbracht und ein Leben in London, wo er seinen Geschäften nachgehen konnte, vorgezogen. Nachdem Elenoras Mutter vor drei Jahren gestorben war, hatte er sich fast überhaupt nicht mehr blicken lassen.
Das war Elenora sehr gelegen gekommen. Sie mochte Jones nicht und war froh, ihn nicht ständig um sich herum zu haben. Aber das war natürlich, bevor sie herausgefunden hatte, dass sein Rechtsanwalt ihr Erbe, das aus dem Haus und dem Grundstück bestand, von ihrer Großmutter auf Jones übertragen hatte. Und jetzt hatte sie alles verloren.
Aber nicht alles, dachte sie mit grimmiger Genugtuung. Samuel Jones’ Gläubiger wussten nichts von den Perlen- und Goldbroschen ihrer Großmutter sowie den dazupassenden Ohrringen, die im doppelten Boden des alten Kostümkoffers versteckt waren.
Agatha Knight hatte ihr den Schmuck gegeben, nachdem ihre Mutter Samuel Jones geheiratet hatte. Agatha hatte das Geschenk geheim gehalten und Elenora geraten, die Brosche und die Ohrringe in dem Koffer zu verstecken und niemandem etwas darüber zu erzählen, nicht einmal ihrer Mutter.
Es lag klar auf der Hand, dass Agathas Intuition bezüglich Jones richtig gewesen war.
Die beiden Gläubiger wussten auch nichts von den zwanzig Pfund in Banknoten, die ebenfalls in dem Koffer versteckt waren. Elenora hatte das Geld nach dem Verkauf der Ernte auf die Seite gelegt und es zusammen mit dem Schmuck versteckt, nachdem ihr bewusst geworden war, dass Jones ihr jeden Penny abnehmen und in sein Bergbauvorhaben stecken würde.
Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern, dachte Elenora. Sie musste jetzt an die Zukunft denken. Ihr Schicksal war sicherlich alles andere als positiv verlaufen, aber wenigstens war sie nicht völlig allein auf der Welt. Sie war verlobt und würde bald einen wirklichen Gentleman heiraten. Wenn Jeremy Clyde erfuhr, was ihr widerfahren war, würde er ihr sicherlich sofort zu Hilfe eilen. Er würde zweifellos darauf bestehen, das Datum ihrer Hochzeit vorzuverlegen.
In ungefähr einem Monat würde das schreckliche Geschehen bereits hinter ihr liegen. Sie wäre eine verheiratete Frau und müsste sich nur noch um ihren Haushalt kümmern. Diese Aussicht erfüllte sie mit großer Freude.
Wenn es etwas gab, das sie außerordentlich gut beherrschte, dann war das, die unzähligen Aufgaben, die mit der Führung eines ordentlichen Haushalts und einer erfolgreichen Landwirtschaft verbunden waren, zu organisieren und zu überwachen. Sie konnte sich um den Gewinn bringenden Verkauf der Ernteerzeugnisse und die Buchhaltung kümmern sowie um die Instandsetzung der kleineren Häuser, konnte neues Hauspersonal und Arbeitskräfte einstellen und im Destillierraum Heilkräuter und Arzneimittel mischen.
Sie würde Jeremy eine ausgezeichnete Ehefrau sein, wenn sie nur selbst daran glaubte.
Jeremy Clyde ritt spät an jenem Abend auf den Hof des Gasthauses. Gerade hatte Elenora der Frau des Gastwirts eine Lektion darüber erteilt, wie wichtig es war, dass die Laken auf ihrem Bett frisch gewaschen waren.
Als sie aus dem Fenster schaute und sah, wer angekommen war, brach Elenora ihren Vortrag ab und eilte nach unten, wo sie in Jeremys Arme flog.
»Liebste.« Jeremy umarmte sie rasch und schob sie dann sachte von sich. Auf seinem attraktiven Gesicht erschienen tiefe Sorgenfalten. »Ich bin sofort aufgebrochen, als ich die Nachricht bekommen hatte. Wie schrecklich für dich. Die
Gläubiger deines Stiefvaters haben dir alles genommen? Das
Haus und den gesamten Besitz?«
Sie seufzte. »Ich fürchte, ja.«
»Das ist ein schrecklicher Schlag für dich, meine Liebe. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
Es stellte sich jedoch heraus, dass Jeremy in der Tat etwas äußerst Wichtiges zu sagen hatte. Er machte einen langen Anlauf und begann seine einleitenden Worte mit der Versicherung, dass es ihm das Herz breche, ihr das sagen zu müssen, dass er jedoch keine Wahl habe.
Alles lief auf eine sehr einfache Formel hinaus: Angesichts der Tatsache, dass Elenora ihres Erbes beraubt worden war, sah Jeremy sich gezwungen, ihre Verlobung auf der Stelle zu lösen.
Wenig später ritt er davon, genauso schnell, wie er gekommen war.
Elenora stieg die Treppe zu ihrem kleinen Zimmer hinauf und bestellte eine Flasche Wein, den preiswertesten, den der Gastwirt vorrätig hatte. Als sie gebracht wurde, verriegelte sie die Tür, zündete eine Kerze an und schenkte sich ein Glas ein.
Lange Zeit saß sie so da, starrte aus dem Fenster, trank den minderwertigen Wein und dachte an ihre Zukunft.
Jetzt war sie wirklich ganz allein auf der Welt – ein merkwürdiger, beunruhigender Gedanke. Ihr wohl geordnetes, durchgeplantes Leben war auf einmal völlig durcheinander geraten.
Erst wenige Stunden vorher hatte ihre Zukunft klar und rosig ausgesehen. Jeremy hatte vorgehabt, nach der Hochzeit in ihr Haus einzuziehen. Sie hatte davon geträumt, seine Frau und Lebenspartnerin zu sein, hatte sich vorgestellt, wie sie den Haushalt führte, die Kinder erzog und weiterhin die geschäftlichen Dinge im Zusammenhang mit der Farm überwachte. Doch die schillernde Traumblase war geplatzt.
Sehr viel später am Abend, nachdem sie die Weinflasche fast ausgetrunken hatte, kam ihr der Gedanke, dass sie jetzt so frei war wie niemals zuvor in ihrem Leben. Zum ersten Mal hatte sie niemandem gegenüber irgendwelche Verpflichtungen. Weder Mieter noch Personal waren von ihr abhängig. Es gab niemanden, der sie brauchte. Sie hatte keine Wurzeln mehr, keine familiären Bindungen, kein Zuhause. Niemand würde es kümmern, wenn sie auf die schiefe Bahn geriet oder ihr Name in einem Skandal durch den Dreck gezogen wurde, wie es ihrer Großmutter passiert war. Sie hatte die Möglichkeit, ihren Lebensweg selbst zu bestimmen.
Im blassen Licht der Morgendämmerung stellte sie sich vor, wie ihre Zukunft aussehen würde. Eine Zukunft, in der sie frei war von den engstirnigen Vorschriften und Einschränkungen, denen man unterworfen ist, wenn man in einem kleinen Dorf lebt. Eine Zukunft, in der sie über ihren Besitz und ihre Finanzen selbst entscheiden konnte.
In dieser herrlichen neuen Zukunft würde sie all die Dinge tun, die sie in ihrem alten Leben niemals hätte tun können. Sie würde sich vielleicht sogar erlauben, von jenen erregenden Vergnügungen zu kosten, die man, wie ihre Großmutter ihr versichert hatte, in den Armen des richtigen Mannes finden konnte.
Aber sie würde nicht den Preis zahlen, den die meisten Frauen in ihrer Lebenssituation zahlen mussten, um diese Freuden kennen zu lernen, das schwor sie sich. Sie brauchte nicht zu heiraten. Es gab niemanden, der sich darum scherte, wenn sie ihren guten Ruf verlor. Ja, diese neue Zukunft würde wirklich wunderbar werden. Sie musste nur einen Weg finden, um sie sich leisten zu können.
Plötzlich tauchte ein geisterhaftes, leichenblasses Gesicht auf. Es erhob sich aus den Tiefen einer unergründlichen Dunkelheit wie ein dämonischer Wächter, der danach trachtete, verbotene Geheimnisse zu schützen. Das Licht der Laterne warf einen schaurigen Schimmer auf das harte, starre Gesicht.
Beim Anblick des Monsters stieß der Mann in dem kleinen Boot einen grellen Schrei aus, aber niemand hörte ihn.
Sein Schreckensschrei hallte von den alten Steinmauern wider, die ihn in einem Korridor aus endloser Dunkelheit einschlossen. Durch sein Schreien verlor er das Gleichgewicht und geriet ins Wanken, wodurch das kleine Boot, in dem er fuhr, in der Strömung des schwarzen Wassers gefährlich hinund herschaukelte.
Sein Herz raste wie wild. Er war schweißgebadet, und ihm stockte der Atem.
Reflexartig griff er nach der langen Stange, die er benutzt hatte, um das kleine Boot den trägen Fluss hinaufzusteuern, und kämpfte darum, sein Gleichgewicht zu halten.
Glücklicherweise grub sich das Ende der Stange fest in das Flussbett hinein, so dass das Boot wieder ins Gleichgewicht gebracht wurde. Langsam verhallte sein Schrei, und es gelang ihm, ruhig zu atmen.
Die bleierne Stille senkte sich erneut herab. Mit zitternden Händen starrte er auf den Schädel, der etwas größer war als der Kopf eines Menschen.
Es handelte sich jedoch nur um eine der zahlreichen klassischen Statuen, die wie so viele abgetrennte Gliedmaßen überall am Ufer des Flusses verstreut herumlagen. Der Helm auf dem Kopf der Statue ließ auf Minerva schließen.
Obwohl dies nicht die einzige Statue war, der er auf seiner sonderbaren Reise begegnet war, war sie zweifellos diejenige, die ihn am meisten beunruhigte. Sie glich einem abgetrennten Kopf, der achtlos in den Schlamm des Flussufers geworfen worden war.
Erneut durchfuhr ihn ein Schauer. Verärgert verstärkte er seinen Griff um die Stange und stieß kräftig zu. Was war nur los mit ihm? Er konnte sich nicht erlauben, so leicht die Nerven zu verlieren. Schließlich hatte er eine Mission zu erfüllen.
Das kleine Boot schoss an dem marmornen Kopf vorbei und folgte der Biegung, die der Fluss machte. Im Licht der Laterne war eine der niedrigen, gewölbten Fußgängerbrücken zu erkennen, die den Fluss an verschiedenen Stellen überspannten. Sie führten eigentlich nirgendwohin und endeten an den Tunnelwänden. Der Mann duckte sich ein wenig, um sich nicht den Kopf anzustoßen.
Als der letzte Rest Angst von ihm gewichen war, überkam ihn plötzlich freudige Erregung. Genauso hatte es sein Vorgänger in seinem Tagebuch beschrieben. Der verlorene Fluss existierte tatsächlich und schlängelte sich jenseits der Stadt dahin, eine geheime Wasserstraße, die vor vielen Jahrhunderten von Pflanzen überwachsen worden und in Vergessenheit geraten war.
Der Verfasser des Tagebuchs hatte daraus den Schluss gezogen, dass die Römer, die sich kein potenzielles Bauprojekt entgehen ließen, die Ersten waren, die den Fluss einfassten, damit sie ihn in seinen Grenzen halten und darauf Gebäude errichten konnten. Im Licht der Laterne waren hier und dort Beweisstücke für ihr Maurerhandwerk zu erkennen. An anderen Stellen war der unterirdische Tunnel, durch den der Fluss hindurchlief, gewölbt, wie es im Mittelalter üblich war.
Der eingeschlossene Teil des Flusses diente zweifellos als Abwasserkanal für die große Stadt darüber. Er leitete überschüssiges Regenwasser und das Wasser aus den Abflussrohren in die Themse. Der Gestank war penetrant. Es war so still in dieser ewigen Finsternis, dass der Mann das Umherhuschen der Ratten und anderen Ungeziefers an den schmalen Randstreifen hören konnte.
Jetzt ist es nicht mehr weit, dachte der Mann. Wenn die Wegbeschreibungen in dem Tagebuch richtig waren, würde er bald die steinerne Krypta erreichen, die den Eingang zum geheimen unterirdischen Labor seines Vorgängers kennzeichnete. Er hoffte inständig, dass er die merkwürdige Maschine dort finden würde, wo sie bereits all die Jahre über war.
Sein Vorgänger war gezwungen gewesen, das Projekt abzubrechen, weil es ihm nicht gelungen war, das letzte große Rätsel der alten Steine zu entziffern. Der Mann in dem Boot wusste jedoch, dass ihm dort Erfolg beschieden war, wo sein Vorgänger versagt hatte. Es war ihm gelungen, die Beschreibungen des alten Alchimisten zu entziffern. Er war sicher, dass er die Arbeit zum Abschluss bringen konnte.
Wenn er Glück hatte und das Gerät fand, gab es noch eine Menge zu tun, bevor es in Gang gesetzt werden konnte. Er musste die zwei fehlenden Steine finden und die beiden alten Männer loswerden, die die Geheimnisse aus der Vergangenheit kannten. Aber darin sah er keine große Schwierigkeit.
Informationen waren der Schlüssel zum Erfolg, und er wusste, wie er sie erhalten konnte. Er bewegte sich in höheren Kreisen und hatte einige wertvolle Kontakte. Aber er legte ebenso großen Wert darauf, einen Teil seiner Zeit in dreckigen Spelunken und Bordellen zu verbringen, wo die Gentlemen der feinen Gesellschaft zwielichtigen Vergnügungen nachgingen. Solche Orte waren immer die besten Quellen von Gerüchten und Klatsch und Tratsch.
Es gab nur eine einzige Person, die genug wusste, um zu erkennen, was er vorhatte, sie stellte jedoch kein Problem dar. Ihre große Schwäche war ihre Liebe zu ihm, und es war ihm bisher immer gelungen, ihre Zuneigung und ihr Vertrauen auszunutzen, um sie zu beeinflussen.
Wenn er das Gerät heute Nacht fand, würde ihn nichts davon abhalten, sein Schicksal zu erfüllen.
Man hatte seinen Vorgänger als Verrückten abgestempelt und sich geweigert, ihn als Genie anzuerkennen. Aber diesmal würden sich die Dinge vollkommen anders entwickeln.
Wenn er den Bau der tödlichen Maschine beendet und seine zerstörerische Energie bewiesen hatte, würde ganz England, ja, sogar ganz Europa gezwungen sein, den zweiten Newton in seiner Mitte willkommen zu heißen.
»Sie entspricht ganz und gar nicht meinen Ansprüchen. Sie ist zu schüchtern, zu sanftmütig.« Arthur sah, wie sich die Tür hinter der Frau schloss, die er soeben befragt hatte. »Ich dachte, ich hätte Ihnen klar gemacht, dass ich eine Dame mit Temperament und einem gewissen Auftreten suche. Ich möchte keine von den typischen bezahlten Gesellschafterinnen. Stellen Sie mir noch weitere Damen vor.«
Mrs. Goodhew tauschte einen Blick mit ihrer Geschäftspartnerin, Mrs. Willis. Arthur spürte, dass ihre Geduld bald ein Ende haben würde. In den letzten anderthalb Stunden hatte er mit sieben Bewerberinnen gesprochen. Keines dieser schüchternen, farblosen Wesen, die die Agentur Goodhew & Willis in ihrer Kartei hatte, entsprach im Geringsten seinen Vorstellungen und kam für die Position, die er anzubieten hatte, in Frage.
Er verstand, warum die beiden Damen kurz davor waren, auf die Palme zu gehen, denn er war selbst mehr als verärgert, ja, er war der Verzweiflung nahe.
Mrs. Goodhew räusperte sich kurz, dann faltete sie ihre großen Hände auf der Schreibtischplatte und sah Arthur mit ernster Miene an.
»Mylord, ich bedauere, Ihnen sagen zu müssen, dass unsere Liste mit geeigneten Damen erschöpft ist.«
»Unmöglich. Es muss doch noch andere geben.« Es musste doch noch eine Kandidatin geben. Sein ganzer Plan basierte darauf, die richtige Frau zu finden.
Mrs. Goodhew und Mrs. Willis warfen ihm von ihren fast identischen Schreibtischen aus einen finsteren Blick zu. Beide waren eindrucksvolle Frauen. Mrs. Goodhew war groß und wohl proportioniert. Sie hatte ein Gesicht, das auf eine alte Münze hätte geprägt sein können. Ihre Kollegin war dünn und scharfzüngig.
Beide trugen schlichte, aber teure Kleidung. Graue Fäden durchzogen ihr Haar, und in ihren Augen lag ein beträchtliches Maß an Erfahrung.
Auf dem Schild draußen an der Eingangstür stand geschrieben, dass die Agentur Goodhew & Willis über eine fünfzehnjährige Erfahrung in der Vermittlung von bezahlten Gefährtinnen und Gouvernanten an Leute von Welt verfügte. Die Tatsache, dass die beiden Frauen die Agentur aufgebaut hatten und offensichtlich die ganze Zeit über Gewinn bringend leiteten, war auf ihre Intelligenz und ihren guten Geschäftssinn zurückzuführen.
Arthur sah den entschlossenen Gesichtsausdruck der beiden Frauen und dachte über seine Möglichkeiten nach. Bevor er hierher gekommen war, hatte er noch zwei andere Agenturen aufgesucht, die sich mit einer großen Auswahl an Damen brüsteten, die als bezahlte Gesellschafterinnen arbeiten wollten. Beide Agenturen hatten jedoch nur eine Hand voll langweiliger Bewerberinnen vorzuweisen gehabt, für die er lediglich eine entfernte Anwandlung von Mitleid empfunden hatte. Er war davon überzeugt, dass nur große Armut diese Frauen dazu treiben konnte, sich auf die Suche nach einer solchen Stelle zu begeben. Aber er war nicht an einer Frau interessiert, die in anderen ein Gefühl von Mitleid erweckte.
Er faltete die Hände hinter seinem Rücken, vergrößerte den Abstand zwischen ihnen und blickte Mrs. Goodhew und Mrs. Willis von der anderen Seite des Zimmers aus an.
»Wenn die Liste mit geeigneten Kandidatinnen erschöpft ist, gibt es nur eine Lösung. Suchen Sie mir eine Dame, die ungeeignet ist.«
Die beiden Frauen starrten ihn an, als sei er völlig von Sinnen.
Mrs. Willis fand als Erste die Sprache wieder. »Dies ist eine respektable Agentur, Sir. Wir führen keine ungeeigneten Frauen in unserer Kartei«, sagte sie mit messerscharfer Stimme. »Unsere Damen besitzen samt und sonders einen tadellosen Ruf und verfügen über ausgezeichnete Referenzen.«
»Vielleicht täten Sie gut daran, es bei einer anderen Agentur zu versuchen«, schlug Mrs. Goodhew beschwichtigend vor.
»Ich habe aber keine Zeit, zu einer anderen Agentur zu gehen.« Arthur konnte einfach nicht glauben, dass sein sorgfältig ausgeklügelter Plan scheitern sollte, weil er nicht die richtige Frau fand. Er hatte gedacht, dass dieser Teil seines Vorhabens der einfachste sein würde. Stattdessen hatte er sich als äußerst kompliziert herausgestellt.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich muss sofort jemanden für die Position finden …«
Er hatte keine Zeit mehr, den Satz zu beenden, denn plötzlich wurde hinter ihm die Tür aufgerissen.
Zusammen mit Mrs. Goodhews und Mrs. Willis drehte er sich um und sah eine Frau, die wie ein Wirbelwind in das Büro stürmte.
Es fiel ihm sofort auf, dass sie – vielleicht zufällig, aber wahrscheinlich eher absichtlich – versucht hatte, ihr attraktives Äußeres zu kaschieren. Eine goldgerahmte Brille verdeckte teilweise ihre lebhaften braungoldenen Augen. Ihr glänzendes schwarzes Haar war auf eine bemerkenswert strenge Art und Weise zurückgekämmt, die eher zu einer Hausangestellten oder einem Dienstmädchen gepasst hätte.
Sie trug ein strapazierfähiges Kostüm aus schwerem Stoff in einem besonders hässlichen Grauton. Es sah ganz so aus, als wäre das Kostüm nur aus dem Grund geschneidert worden, um seine Trägerin darin absichtlich kleiner und fülliger aussehen zu lassen als sie in Wirklichkeit war.
Die Kenner der Szene und widerwärtigen Angeber, die in der Bond Street unablässig irgendwelchen Damen auflauerten, hätten diese Frau keines Blickes gewürdigt. Aber sie waren zu dumm, um die inneren Werte einer Frau zu erkennen, dachte Arthur bei sich.
Er bemerkte die zielstrebige, jedoch anmutige Art, wie sie sich bewegte. Sie war weder schüchtern noch unentschlossen. In ihren exotischen Augen schimmerte eine lebendige Intelligenz. Sie strahlte Temperament und Entschlussfreudigkeit aus.
In einem Versuch, seine Objektivität beizubehalten, stellte Arthur fest, dass die Dame nichts von der glatten, oberflächlichen Perfektion hatte, die die Männer der Szene dazu veranlasst hätten, sie als erstklassiges Juwel zu betrachten. Trotzdem, sie hatte etwas an sich, das sofort ins Auge sprang, eine Energie und Vitalität, die eine unsichtbare Aura um sie herum schufen. In angemessener Kleidung würden sich im Ballsaal alle nach ihr umdrehen.
»Miss Lodge, bitte, Sie können dort nicht hineingehen.« Die mitgenommen aussehende Frau, die an einem Schreibtisch im Vorzimmer arbeitete, stand unsicher in der Türöffnung. »Ich habe Ihnen doch gerade erklärt, dass Mrs. Goodhew und Mrs. Willis im Augenblick eine wichtige Besprechung mit einem Kunden haben.«
»Es ist mir egal, ob sie ihr Testament oder ihre Beisetzung besprechen, Mrs. McNab. Ich verlange, sofort mit ihnen zu reden. Ich habe von diesem ganzen Quatsch die Nase voll.«
Miss Lodge baute sich unmittelbar vor den beiden Schreibtischen auf. Arthur wusste, dass sie ihn nicht bemerkt hatte, denn er stand direkt hinter ihr. Der Grund dafür, dass sie ihn nicht sehen konnte, war der dichte Nebel draußen, der nur ein spärliches graues Licht in das Büro hereinließ, das zu schwach war, um weit genug vorzudringen.
Mrs. Willis stieß einen gequälten Seufzer aus. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, der zu verstehen gab, dass sie sich mit dem Unausweichlichen abgefunden hatte.
Mrs. Goodhew jedoch, die anscheinend aus härterem Holz geschnitzt war, sprang plötzlich auf. »Was, um Himmels willen, denken Sie sich dabei, uns auf diese ungehörige Art und Weise zu stören, Miss Lodge?«
»Ich möchte nur den offenbar entstandenen Eindruck korrigieren, dass ich eine Stelle bei einem Trinker oder einem lüsternen Wüstling suche.« Miss Lodge kniff die Augen zusammen. »Dass wir uns deutlich verstehen: Ich brauche eine Stelle, und zwar sofort. Ich kann keine Zeit mehr darauf verschwenden, Arbeitgeber zu befragen, die offensichtlich ungeeignet sind.«
»Wir werden dies später besprechen, Miss Lodge«, fuhr Mrs. Goodhew sie an.
»Wir werden es jetzt sofort besprechen. Ich komme gerade von dem Vorstellungsgespräch, das Sie heute Nachmittag für mich vereinbart hatten, und ich kann Ihnen versichern, dass ich diese Stelle selbst dann nicht annehmen würde, wenn es die letzte wäre, die Sie anzubieten haben.«
Mrs. Goodhew lächelte sie mit einer Art kaltem Triumph an. »Zufälligerweise, Miss Lodge, ist dies wirklich die letzte Stelle, die Ihnen diese Agentur anbieten kann.«
Miss Lodge zog die Stirn in Falten. »Seien Sie nicht albern. So ärgerlich das Ganze für alle Betroffenen ist, und ganz besonders für mich, so befürchte ich doch, dass wir weitersuchen müssen.«
Mrs. Goodhew und Mrs. Willis sahen einander an. Mrs. Goodhew wandte sich wieder an Miss Lodge.
»Im Gegenteil«, sagte sie kalt. »Es ist absolut zwecklos, Ihnen noch ein weiteres Vorstellungsgespräch zu vermitteln.«
»Haben Sie nicht aufgepasst, Mrs. Goodhew?«, fauchte Miss Lodge sie an. »Ich sagte Ihnen, dass ich unverzüglich eine neue Stelle brauche. Übermorgen verlässt meine jetzige Arbeitgeberin die Stadt und zieht zu ihrer Freundin aufs Land. Sie hat mir freundlicherweise erlaubt, bis zu ihrer Abreise bei ihr zu bleiben, aber danach muss ich unbedingt eine neue Unterkunft finden. Momentan kann ich mir jedoch keine Unterkunft leisten, weil ich in den letzten Monaten sehr schlecht bezahlt worden bin.«
Mit scheinbar aufrichtigem Bedauern schüttelte Mrs. Willis den Kopf. »Wir haben unser Bestes getan, um eine neue Stellung für Sie zu finden, Miss Lodge. Sie hatten in den letzten drei Tagen fünf Vorstellungsgespräche bei fünf verschiedenen Kunden, aber jedes Mal sind Sie gescheitert.«
»Das lag mit Sicherheit nicht an mir, sondern an den künftigen Arbeitgebern.« Miss Lodge hob ihre behandschuhte Hand und begann an ihren Fingern abzuzählen, während sie fortfuhr. »Mrs. Tibbett war schon ziemlich betrunken, als ich zu ihr kam, und sie trank so lange von ihrer Flasche Gin, bis sie umfiel und auf dem Sofa einschlief. Warum sie eine bezahlte Gefährtin sucht, ist mir unverständlich. Sie war ja noch nicht einmal in der Lage, eine vernünftige Unterhaltung zu führen.«
»Jetzt ist es aber genug, Miss Lodge«, stieß Mrs. Goodhew zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
»Mrs. Oxby hat während des ganzen Vorstellungsgesprächs überhaupt nichts gesagt. Stattdessen hat sie ihrem Sohn erlaubt, mich zu befragen.« Miss Lodge schüttelte sich. »Offenbar ist er einer von diesen schrecklichen Kerlen, der die schwachen, hilflosen Frauen in seinem eigenen Haushalt drangsaliert. Es war eine schier unmögliche Situation. Ich habe nicht die Absicht, mit einem solch abscheulichen Menschen unter einem Dach zu wohnen.«
»Miss Lodge, bitte.« Mrs. Goodhew griff nach dem Briefbeschwerer und schlug damit auf ihren Schreibtisch.
Miss Lodge ignorierte sie. »Und diese Mrs. Stanbridge, bei der ich mich danach vorgestellt habe, war so krank, dass sie gezwungen war, mich von ihrem Bett aus zu befragen. Es war mir sofort klar, dass sie keine zwei Wochen mehr leben wird. Ihre Verwandten kümmern sich bereits um ihren Nachlass. Sie können es kaum erwarten, dass sie endlich die Augen zumacht, damit sie an ihr Geld kommen. Ich habe sofort begriffen, dass ich von ihnen bestimmt keinen Lohn erhalten würde.«
Mrs. Goodhew richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie bebte vor Zorn. »Sie können Ihre künftigen Arbeitgeber nicht für Ihre Notlage verantwortlich machen, Miss Lodge. Sie allein sind dafür verantwortlich, dass Sie es nicht geschafft haben, eine neue Stelle zu finden.«
»Unsinn. Vor sechs Monaten, als ich mich zum ersten Mal bei dieser Agentur beworben habe, hatte ich absolut keine Schwierigkeiten, eine angemessene Stelle zu finden.«
»Mrs. Willis und ich sind der Meinung, dass Sie damals nur deshalb Glück hatten, weil Ihre erste Arbeitgeberin eine Exzentrikerin war, die Sie aus für uns unverständlichen Gründen ganz amüsant fand«, erklärte Mrs. Goodhew.
»Leider, Miss Lodge«, fügte Mrs. Willis ironisch hinzu, »haben wir momentan keine Exzentriker in unserer Kartei. Und im Allgemeinen ist dieser Personenkreis für uns auch nicht von Interesse.«
Arthur bemerkte plötzlich, dass die Spannung im Raum dermaßen angestiegen war, dass die drei Frauen vollkommen vergessen hatten, dass er da war.
Miss Lodge wurde vor Zorn puterrot. »Mrs. Egan ist ganz und gar nicht exzentrisch. Sie ist intelligent, weit gereist und verfügt über eine ausgezeichnete Allgemeinbildung. Sie weiß zu jedem Thema etwas Nützliches zu sagen.«
»Vor zwanzig Jahren hatte sie eine ganze Reihe von Liebhabern, die halbe Modewelt, sowohl Männer als auch Frauen«, schoss Mrs. Goodhew zurück. »Man sagt, sie ist eine begeisterte Anhängerin von Wollstonecrafts merkwürdigen Ideen über weibliches Verhalten. Sie weigert sich, Fleisch zu essen, studiert Metaphysik, und alle wissen, dass sie einmal bis nach Ägypten und wieder zurückgereist ist und nur zwei Diener mitgenommen hat, die ihr Gesellschaft leisten mussten.«
»Außerdem ist sie dafür bekannt, dass sie nur violette Kleider trägt«, ergänzte Mrs. Willis. »Seien Sie versichert, Miss Lodge, exzentrisch ist noch ein höfliches Wort für das, was Ihre Chefin ist.«
»Das ist äußerst unfair«. Miss Lodges Augen funkelten vor Zorn. »Mrs. Egan ist eine respektable Person, und ich gestatte nicht, dass Sie ihre Ehre verletzen.«
Arthur war amüsiert, aber auch merkwürdig berührt, dass sie gegenüber ihrer ehemaligen Arbeitgeberin dermaßen loyal war.
Mrs. Goodhew schnaubte verächtlich. »Wir sind nicht dazu da, Mrs. Egans Eigenschaften zu diskutieren, obwohl Sie diese wohl sehr schätzen. Tatsache ist, dass wir absolut nichts mehr für Sie tun können, Miss Lodge.«
»Das glaube ich keinen Augenblick«, sagte Elenora Lodge.
Mrs. Willis zog ihre buschigen Brauen hoch. »Wie sollen wir eine Arbeit für Sie finden, wenn Sie sich ständig weigern, das für eine gut bezahlte Gesellschafterin angemessene Benehmen anzunehmen? Wir haben Ihnen schon Dutzende von Malen erklärt, dass Unterwürfigkeit, Bescheidenheit und leises, verhaltenes Sprechen von außerordentlich großer Bedeutung sind.«
»Oh, unterwürfig und bescheiden bin ich bis jetzt immer gewesen.« Miss Lodge war über die Kritik sichtlich verletzt. »Und was leises Sprechen angeht, möchte ich gerne von Ihnen beiden den Beweis, dass meine Art zu reden bisher laut und zügellos war.«
Mrs. Willis warf einen flehentlichen Blick zur Decke.
Mrs. Goodhew schnaubte. »Ihr Verständnis von angemessenem Benehmen unterscheidet sich beträchtlich von dem unserer Agentur. Wir können leider nichts mehr für Sie tun, Miss Lodge.«
Arthur bemerkte, dass Miss Lodge jetzt äußerst bekümmert aussah. Ihr energisches Gesicht war sichtbar angespannt. Er konnte erkennen, dass sie drauf und dran war, ihre Strategie zu ändern.
»Lassen Sie uns nicht voreilig handeln«, sagte sie sanft. »Ich bin sicher, dass Sie noch mehr Arbeitgeber in Ihrer Kartei haben, die in Frage kommen könnten.« Sie schenkte den beiden Frauen ein strahlendes Lächeln. »Wenn Sie mir erlauben, sie durchzusehen, könnte ich uns allen zweifellos viel Zeit ersparen.«
»Ihnen erlauben, unsere Kundenkartei durchzusehen?« Mrs. Willis zuckte zurück, als hätte sie einen elektrisch geladenen Zaun berührt. »Das steht völlig außer Frage. Es handelt sich um vertrauliche Angaben.«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Miss Lodge. »Ich habe nicht die Absicht, irgendwelche Klatschgeschichten über Ihre Kunden zu verbreiten. Ich möchte die Kartei nur durchsehen, um mir eine fundierte Meinung von meiner künftigen Stelle bilden zu können.«
Mrs. Willis blinzelte sie über ihre lange, spitze Nase hinweg an. »Offenbar verstehen Sie immer noch nicht, was der springende Punkt hierbei ist, Miss Lodge. Der Kunde trifft die Entscheidung, wenn es um die Besetzung der Stelle geht, und nicht der Bewerber.«
»Ganz im Gegenteil.« Miss Lodge trat näher an Mrs. Willis’ Schreibtisch, lehnte sich etwas vor und legte ihre behandschuhten Hände auf die polierte Oberfläche. »Sie sind es, die offensichtlich nichts begreift. Ich kann es mir wirklich nicht leisten, meine wertvolle Zeit noch weiter zu vergeuden. Wenn Sie mir erlauben würden, Ihre Kartei durchzusehen, wäre dies ein vernünftiger Ansatz zur Lösung des Problems, das wir haben.«
»Wir haben kein Problem, sondern Sie, Miss Lodge.« Mrs. Goodhew zog die Augenbrauen hoch. »Und ich befürchte, dass Sie ab sofort jemand anderen mit Ihrem Problem belästigen müssen.«
»Das ist ganz unmöglich.« Miss Lodge sah sie an. »Ich habe Ihnen bereits erklärt, dass ich nicht genügend Zeit habe, mich bei einer anderen Agentur vorzustellen. Ich muss eine Stelle finden, bevor Mrs. Egan aufs Land fährt.«
Jetzt war Arthur an der Reihe. »Vielleicht würden Sie ein letztes Angebot von dieser Agentur in Betracht ziehen, Miss
Lodge.«
Der Klang seiner beherrschten, kühlen Stimme, die aus dem Dunkel hinter ihr an ihr Ohr drang, erschreckte Elenora so sehr, dass sie beinahe ihre Brille fallen lassen hätte.
Mit einem unterdrückten Schrei wirbelte sie herum.
Ein paar beunruhigende Sekunden lang konnte sie nicht klar erkennen, wer hinter ihr stand, aber, wer auch immer es sein mochte, dieser Mann konnte sich als gefährlich erweisen. Ein merkwürdig berauschendes Gefühl der Erwartung durchfuhr sie.
Hastig versuchte sie, dieses Gefühl loszuwerden. Nie zuvor hatte sie in dieser Weise auf einen Mann reagiert. Zweifellos lag es an dem schwachen Licht. Der dichte Nebel hatte sich vor die Fenster geschoben, und die beiden kleinen Lampen, die auf den Schreibtischen von Mrs. Goodhew und Mrs. Willis standen, erzeugten mehr Schatten als sie vertrieben. Dann bemerkte sie, dass sie immer noch die Brille trug, die Mrs. Egan ihr geliehen hatte, um bei den heutigen Vorstellungsgesprächen ihr Erscheinungsbild als bezahlte Gefährtin zu vervollkommnen. Mit einer raschen Bewegung nahm sie sie von ihrer Nase und blinzelte einige Male, um wieder klar sehen zu können.
Jetzt sah sie den Mann, der dort in den Schatten stand, recht deutlich, was jedoch nichts an ihrem ersten Eindruck von ihm änderte. Im Gegenteil, es verstärkte ihre Angst und Aufregung nur noch.
»Du lieber Himmel«, sagte Mrs. Willis rasch. »Ich hatte ja ganz vergessen, dass Sie die ganze Zeit dort standen, Sir. Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Erlauben Sie mir, Ihnen Miss Elenora Lodge vorzustellen. Miss Lodge, Graf von St. Merryn.«
St. Merryn neigte leicht den Kopf. »Es ist mir ein Vergnügen, Miss Lodge.«
Niemand würde ihn als attraktiv bezeichnen, dachte Elenora bei sich. Macht, Kontrolle und eine scharfe Intelligenz, die sich in seine Gesichtszüge geprägt hatten, ließen keinen Platz für Eleganz, kultiviertes Benehmen oder herkömmliche maskuline Schönheit.
Sein Haar war von einem tiefen Dunkelbraun. Unergründliche rauchig grüne Augen sahen sie aus einem verborgenen Winkel tief in seinem Innern an. Seine kühne Nase, die hohen Wangenknochen und das energische Kinn erinnerten Elenora an Lebewesen, die aufgrund ihrer Jagdkünste überlebten.
Sie war sich plötzlich dessen bewusst, dass ihre Fantasie langsam die Überhand gewann. Es war ein sehr langer Tag gewesen.
Sie riss sich zusammen und machte einen Knicks. »Mylord.«
»Es scheint so, als könnten wir einander von Nutzen sein, Miss Lodge«, sagte er. Sein Blick war unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet. »Sie brauchen dringend eine Stelle. Ich habe eine entfernte Verwandte, die Witwe eines Cousins meines Vaters, die während der Ballsaison bei mir wohnt. Ich benötige eine Gesellschafterin für sie. Ich wäre bereit, Ihnen das Dreifache Ihres bisherigen Lohns zu zahlen.«
Das Dreifache ihres bisherigen Lohns. Elenora stockte der Atem. Beruhig dich, ermahnte sie sich. Was sie auch tat, sie musste unbedingt den Anschein von Ruhe aufrechterhalten. Wenn St. Merryn feststellte, dass sie ein schwaches Nervenkostüm hatte und leicht erregbar war, würde er sein Angebot sicherlich zurückziehen.
Sie hob ihr Kinn und schenkte ihm ein, wie sie hoffte, kühles, höfliches Lächeln. »Ich bin bereit, mit Ihnen über die Stelle zu reden, Sir.«
Sie hörte, wie Mrs. Goodhew und Mrs. Willis miteinander tuschelten, schenkte ihnen jedoch keine Beachtung. Sie war zu sehr damit beschäftigt, die Genugtuung, die kurz in den geheimnisvollen Augen des Grafen aufblitzte, zu beobachten.
»Mit der Stelle sind ein paar mehr Aufgaben verbunden, als man sie normalerweise von einer bezahlten Gesellschafterin verlangt«, sagte St. Merryn bedächtig.
Elenora dachte an die alte Redensart Zu schön, um wahr zu sein, und nahm ihren ganzen Mut zusammen.
»Irgendwie bin ich nicht überrascht, dies zu hören«, sagte sie trocken. »Würden Sie es mir vielleicht bitte erklären?«
»Natürlich.« St. Merryn richtete seine Aufmerksamkeit auf Mrs. Goodhew und Mrs. Willis. »Ich würde es vorziehen, diese Unterhaltung mit Miss Lodge unter vier Augen zu führen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Er hielt einen Moment inne und lächelte. »Es handelt sich um eine Familienangelegenheit. Ich bin sicher, Sie werden das verstehen.«
»Sicherlich«, sagte Mrs. Goodhew. Sie schien erleichtert, endlich einen Vorwand gefunden zu haben, um den Raum verlassen zu können. »Mrs. Willis?«
Mrs. Willis war bereits auf den Beinen. »Nach Ihnen, Mrs. Goodhew.«
Die beiden Frauen gingen rasch um die Schreibtische herum, durchquerten den Raum und ließen dann die Tür energisch ins Schloss fallen.
Schweigen breitete sich im Zimmer aus, und Elenora spürte die Angst, die langsam in ihr hochkroch. Die Aufregung war verschwunden, und an ihre Stelle war Wachsamkeit getreten. Ihre Handflächen kribbelten vor Kälte. Sie ahnte das Gewicht des dichten Nebels, der gegen die Fenster drückte. Er war so dicht geworden, dass sie die Häuser auf der anderen Seite der schmalen Straße nicht mehr erkennen konnte. Bildete sie sich nur ein, dass das Zimmer plötzlich so klein und schrecklich intim war?
Bedächtigen Schrittes ging St. Merryn im Büro umher und blieb vor einem der Fenster stehen. Er betrachtete eine Zeit lang die Nebelschwaden, die die enge Straße einhüllten. Elenora ahnte, dass er überlegte, wie viel er ihr erzählen konnte.
»Also, eigentlich könnte ich sofort zur Sache kommen, Miss Lodge«, sagte er nach einer Weile. »Ich habe Mrs. Goodhew und Mrs. Willis nicht die ganze Wahrheit erzählt. Ich suche keine Gefährtin für meine Verwandte, die, in der Tat, in
meinem Haus wohnt.«
»Ich verstehe. Was suchen Sie dann, Sir?«
»Eine Verlobte.«
Verzweifelt schloss Elenora die Augen. Gerade als sie anfing zu glauben, dass die Eigenarten potenzieller Arbeitgeber in der Kartei von Goodhew & Willis nicht schlimmer werden konnten, stand dieser Verrückte vor ihr.
»Miss Lodge?« St. Merryns Stimme knallte durch den Raum wie eine Peitsche. »Geht es Ihnen gut?«
Erschrocken öffnete sie die Augen und setzte, wie sie hoffte, ein beruhigendes Lächeln auf. »Natürlich, Mylord. Es geht mir sehr gut. Nun denn, es gibt vielleicht jemanden, den man herbeirufen sollte.«
»Wie bitte?«
»Ein Familienmitglied oder einen privaten Diener, vielleicht?« Sie zögerte einen Moment. »Oder einen Wärter?«
Die Armen lieferten ihre geistig umnachteten Angehörigen den Schrecken einer Anstalt wie Bedlam aus. Bei den Reichen hingegen war es üblich, ein betroffenes Familienmitglied in einer privaten Anstalt unterzubringen. Sie fragte sich, wann St. Merryn getürmt war und ob irgendjemand bereits bemerkt hatte, dass er nicht mehr in seiner verriegelten Zelle war.
»Einen Wärter?« St. Merryns Miene verhärtete sich. »Was, zum Teufel, reden Sie da?«
»Es ist ziemlich dunkel und scheußlich dort draußen, nicht wahr?«, sagte sie sanft. »In einem solchen Nebel kann man leicht die Orientierung verlieren.« Besonders, wenn der Kopf voll ist von merkwürdigen Dämpfen und Visionen, fügte sie im Geist hinzu. »Aber ich bin sicher, jemand wird kommen und Sie nach Hause zurückbringen. Wenn Sie bitte so freundlich wären, Mrs. Goodhew und Mrs. Willis wissen zu lassen, an wen sie eine Nachricht schicken sollen …«
Plötzlich begriff St. Merryn, und eine eiskalte Belustigung trat in seine Augen. »Sie denken, ich bin verrückt, nicht wahr?«
»Auf keinen Fall, Mylord. Ich wollte Ihnen nur helfen.« Vorsichtig ging sie einen Schritt zurück in Richtung Tür. »Aber wenn es hier zufällig irgendein Problem geben sollte, bin ich davon überzeugt, dass Mrs. Goodhew und Mrs. Willis bestimmt eine Lösung finden werden.«
Sie hielt es für sinnvoll, einem Verrückten nicht den Rücken zuzukehren, und tastete mit einer unbeholfenen Bewegung nach hinten, um den Türgriff zu suchen.
»Zweifellos.« Er brachte ein kurzes, bitteres Lächeln zustande. »Ich wette, die beiden werden mit fast allem fertig, auch mit einem geistesgestörten Kunden. Aber zufällig bin ich nicht verrückt, Miss Lodge.« Er zuckte die Schultern. »Zumindest glaube ich das. Wenn Sie Ihre Hand vom Türgriff nehmen, werde ich versuchen, Ihnen alles zu erklären.« Elenora rührte sich nicht.
Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich verspreche Ihnen, dass Sie es nicht bereuen werden.«
»Vom finanziellen Standpunkt aus gesehen?«
Er verzog leicht den Mund. »Gibt es noch einen anderen Standpunkt?«
Nicht, was sie betraf, dachte sie. In ihrer gegenwärtigen Notlage konnte sie es sich nicht leisten, vernünftige Arbeitsangebote auszuschlagen. Der schillernde Traum von einer neuen Zukunft, den sie vor sechs Monaten in jener langen, einsamen Nacht gehabt hatte, war weit schwieriger zu verwirklichen, als sie es sich jemals vorgestellt hätte. Das Problem war Geld. Sie brauchte diese Stelle dringend.
St. Merryn war vielleicht verrückt, aber er schien kein verkommmener Weiberheld oder Trunkenbold zu sein, wie es bei zwei potenziellen Arbeitgebern an jenem Nachmittag der Fall gewesen war.
In der Tat klang er nach und nach wie ein Mann, der etwas davon verstand, wie man eine Geschäftsverhandlung führte. Sie bewunderte diese Eigenschaft bei einem Gentleman.
Und er lag auch noch nicht auf dem Sterbebett wie die dritte Kundin an diesem Tag. Ganz im Gegenteil, er hatte etwas an sich, eine beunruhigende, äußerst faszinierende, maskuline Vitalität, die sie auf eine Art und Weise erregte, die sie nicht beschreiben konnte. Er war nicht attraktiv, jedenfalls nicht so wie Jeremy Clyde es gewesen war. Dieser Gedanke, bei dem sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten, war auf merkwürdige Weise stimulierend.
Zögernd ließ sie den Türgriff los, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. Der Fluchtweg war jederzeit offen. Eine gut bezahlte Gesellschafterin musste sich immer auf unerwartete Dinge einstellen.
»In Ordnung, Sir, ich höre Ihnen zu.«
St. Merryn ging auf Mrs. Goodhews Schreibtisch zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und streckte die Arme zur Seite aus. Sein ausgezeichnet geschnittener Mantel passte sich seinen starken Schultern an. Sie bemerkte seinen breiten Brustkorb, den flachen Bauch und seine schlanken Hüften. Er war ganz und gar nicht dünn, verweichlicht oder schwach.
»Ich bin in dieser Ballsaison für ein paar Wochen nach London gekommen, um einige ziemlich komplizierte Geschäftsverhandlungen zu führen. Ich werde Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, aber kurz gesagt habe ich die Absicht, ein Konsortium von Investoren zu gründen. Das Projekt verlangt Verschwiegenheit und Geheimhaltung. Wenn Sie die gehobene Gesellschaft kennen, werden Sie wissen, dass beide Voraussetzungen außerordentlich schwer zu erreichen sind. Die feine Gesellschaft nährt sich von Klatsch und Gerüchten.«
Langsam entspannte sich Elenora etwas. Vielleicht war er letzten Endes doch nicht verrückt.
»Bitte fahren Sie fort, Sir.«
»Angesichts meiner gegenwärtigen Situation und im Hinblick auf einen Vorfall, der sich vor einem Jahr ereignete, wird es etwas schwierig für mich sein, meinen Geschäften ohne störende Einmischung von außen nachzugehen, außer man vermutet, dass ich mich nicht auf dem Heiratsmarkt umsehe.«
Elenora räusperte sich. »Ihre Situation?«, fragte sie so vorsichtig, wie sie konnte.
Er zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe einen Titel, einige schöne Besitztümer und ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Und ich bin unverheiratet.«
»Wie schön für Sie«, murmelte sie.
Für einen kurzen Augenblick sah er amüsiert aus. »Sarkasmus wird allgemein nicht als wünschenswerte Eigenschaft bei einer bezahlten Gesellschafterin angesehen, aber unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ich genauso verzweifelt bin wie Sie, bin ich bereit, ausnahmsweise einmal darüber hinwegzusehen.«
Sie errötete. »Ich bitte um Entschuldigung, Sir. Es war ein ausgesprochen anstrengender Tag.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass mein Tag genauso unangenehm war.«
Es war Zeit, zum Thema zurückzukehren, beschloss sie.
»Ich verstehe, dass Ihre Position Sie in gewissen Kreisen zu einem außerordentlich begehrten Objekt macht.«
»Und zu einem ziemlich langweiligen in anderen Kreisen.«
Sie bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken. Seine trockene Selbstironie überraschte sie.
St. Merryn schien ihre Belustigung nicht wahrzunehmen. Rhythmisch trommelte er mit seinen Fingerspitzen auf den Schreibtisch. »Aber das ist weder hier noch dort der Fall. Wie ich bereits sagte, wird meine Situation noch dadurch erschwert, dass ich während der letzten Ballsaison eine Zeit lang mit einer jungen Dame verlobt war, die dann mit einem anderen Mann davongelaufen ist.«
Diese Worte machten Elenora mehr betroffen, als sie jemals vermutet hätte. »Sagen Sie das nicht.«
Er sah sie ungeduldig an. »Es gibt eine Reihe von Leuten, die Ihnen gerne erzählen würden, dass die betreffende junge Dame gerade noch einmal davongekommen ist.«
»Hm.«
»Was, zum Teufel, soll das heißen?«
»Eigentlich nichts. Es fiel mir gerade ein, dass Sie vielleicht derjenige sind, der noch einmal davongekommen ist, Sir. Ich habe vor sechs Monaten eine ebensolche Erfahrung gemacht.«
In seinen Augen blitzte Neugier auf. »Wirklich? Ist das der Grund dafür, dass Sie sich jetzt um die Stelle einer bezahlten Gefährtin bewerben?«
»Das ist teilweise ein Grund dafür. Aber angesichts dessen, was ich jetzt über meinen früheren Verlobten weiß, kann ich Ihnen mit bestem Gewissen sagen, dass ich mir lieber heute Nachmittag eine neue Stelle suche, als mit einem Lügner und Betrüger verheiratet zu sein.«
»Ich verstehe.«
»Aber ich habe jetzt genug von meinem Leben erzählt, Sir. Tatsache ist, dass ich Ihr Dilemma vollkommen verstehe. Wenn die vornehme Gesellschaft erfährt, dass Sie in der Stadt sind, wird man annehmen, dass Sie zurückgekommen sind, um auf dem Heiratsmarkt erneut Ihr Glück zu versuchen. Die Kupplerinnen der Gesellschaft, die darauf aus sind, ihre Töchter zu vermählen, werden Sie als frische Beute willkommen heißen.«
»Das hätte ich nicht treffender ausdrücken können. Und daher, Miss Lodge, brauche ich eine Dame, die überzeugend die Rolle meiner Verlobten übernehmen kann. Es ist alles ziemlich einfach.«
»Wirklich?«, fragte sie misstrauisch.
»Ganz sicher. Obwohl ich hier bin, um mich um private Geschäfte zu kümmern, wird man annehmen, dass ich wieder auf Brautschau bin. Ich möchte nicht über irgendwelche jungen Küken stolpern, die man in die Stadt gebracht hat, um in dieser Ballsaison einen Mann zu finden. Wenn man weiß, dass ich verlobt bin und in Kürze heiraten werde, werden die Kupplerinnen ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Opfer lenken müssen.«
Sie bezweifelte ernsthaft, dass St. Merryns Vorhaben derart einfach war. Aber sie wollte sich nicht mit ihm streiten.
»Das sieht nach einem äußerst gerissenen Plan aus, Mylord«, sagte sie höflich. »Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei.«
»Ich sehe schon, Sie glauben nicht einen Moment daran, dass er erfolgreich sein könnte.«
Sie seufzte. »Es liegt mir fern, Sie daran zu erinnern, dass manch ein Mann in Ihrer Situation die Schläue und Entschlusskraft einer Mutter unterschätzt, die darauf bedacht ist, einen guten Fang für ihre Tochter zu machen.«
»Ich versichere Ihnen, Madam, dass ich größten Respekt vor weiblichen Wesen habe. Daraus resultiert mein Plan, der gehobenen Gesellschaft in den nächsten Wochen eine falsche Verlobte zu präsentieren. Also, nehmen Sie die angebotene Stelle an?«
»Sir, bitte missverstehen Sie mich nicht, ich habe absolut nichts dagegen, die Stelle anzunehmen. Im Gegenteil, ich glaube, es würde mir großen Spaß machen.«
Ihre Worte machten ihn neugierig. »Warum sagen Sie das?«
»Meine Großmutter war eine ausgezeichnete Schauspielerin, die ihren Beruf aufgab, als sie meinen Großvater heiratete«, erklärte sie. »Man hat mir gesagt, dass ich ihr auffallend ähnlich bin. Ich habe mich oft gefragt, ob ich auch ihr Talent und ihr Aussehen geerbt habe. Ihre Verlobte zu spielen wäre eine äußerst interessante und verlockende Herausforderung.« »Ich verstehe. Nun, dann …«
Sie hob eine Hand. »Aber wir müssen realistisch sein, Sir. So gerne ich mich in die Rolle hineinversetzen und den ausgezeichneten Lohn, den Sie mir zahlen, annehmen würde, es wäre doch ausgesprochen schwierig, mich für Ihre Verlobte auszugeben.«
Seine Lippen zuckten vor Ungeduld. »Warum?« Wo soll ich anfangen?, dachte sie bei sich.
Sie ließ eine Hand an ihren Röcken hinuntergleiten und deutete auf ihr langweiliges graues Kleid. »Erstens habe ich keine angemessene Garderobe.«