Ungezähmte Leidenschaft - Amanda Quick - E-Book

Ungezähmte Leidenschaft E-Book

Amanda Quick

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Beschreibung

Sinnlich, schwungvoll, spannend – eine neue Amanda Quick

Miss Virginia Dean erwacht mitten in der Nacht in einer fremden Bibliothek – neben ihr liegt ein toter Körper, in der Hand hält sie ein blutiges Messer. Ihre Sinne sind benommen, und Virginia hat keinerlei Erinnerungen an die Geschehnisse des vergangenen Abends. Ihre einzige Rettung ist ein Mann, den sie erst einmal zuvor gesehen hat, aber so schnell nicht wieder vergessen wird ... der unverschämt attraktive Owen Sweetwater.

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Seitenzahl: 424

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Buch

Miss Virginia Dean erwacht mitten in der Nacht in einer fremden Bibliothek – neben ihr liegt ein toter Körper, in der Hand hält sie ein blutiges Messer. Ihre Sinne sind benommen, und Virginia hat keinerlei Erinnerungen an die Geschehnisse des vergangenen Abends. Ihre einzige Rettung ist ein Mann, den sie erst einmal zuvor gesehen hat, aber so schnell nicht wieder vergessen wird … der unverschämt attraktive Owen Sweetwater.

Autorin

Amanda Quick ist das Pseudonym der erfolgreichen, vielfach preisgekrönten Autorin Jayne Ann Krentz. Krentz hat Geschichte und Literaturwissenschaften studiert und lange als Bibliothekarin gearbeitet, bevor sie ihr Talent zum Schreiben entdeckte. Sie ist verheiratet und lebt in Seattle.

Von Amanda Quick bei Blanvalet lieferbar

Süßes Gift der Liebe (37536), Glut der Herzen (37619)

Von Jayne Ann Krentz bei Blanvalet lieferbar

Im Rausch der Gefühle (38108)

Amanda Quick

UngezähmteLeidenschaft

Roman

Deutschvon Anke Koerten

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Quicksilver« bei G. P. Putnam’s Sons, New York.

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Jayne Ann Krentz Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlagmotiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com und Chris Cocozza Redaktion: Margit von Cossart wr · Herstellung: cb Satz: DTP Service Apel, Hannover ISBN: 978-3-641-10956-1 V002 www.blanvalet.de

Für FrankDu bist mein Held

Die Geschichte der Arcane Society

Die Arcane Society wurde Ende des 17. Jahrhunderts von einem genialen und paranoiden Alchemisten namens Sylvester Jones gegründet. Jones, der über übersinnliche Talente verfügte, widmete sein Leben geheim gehaltenen Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet. Die Ergebnisse verbarg er in einem festungsähnlich gesicherten Labor in London, von dem niemand wusste, wo genau es sich befand und das schließlich zu seiner Gruft werden sollte.

Die Laborgruft Sylvesters wurde schließlich von zwei Nachfahren, Gabriel und Caleb Jones, in spätviktorianischer Zeit entdeckt und durchsucht. Im Inneren fand sich das gefährlichste Geheimnis des Alchemisten, eine Formel, die nach Ansicht Sylvesters die natürlichen psychischen Fähigkeiten eines Menschen steigern und ihm gewaltige Kräfte verleihen konnte.

Im Laufe der Jahre unternahm die Arcane Society große Anstrengungen, Sylvesters Formel, die bis zum heutigen Tag als schweres Erbe auf der Society und der Familie Jones lastet, geheim zu halten.

Wer mehr über die Welt der Arcane Society erfahren möchte, sollte www.jayneannkrentz.com. anklicken.

1

Visionen von Blut und Tod flammten bedrohlich vor ihrem inneren Auge auf. Die grausigen, von Gaslicht erhellten Szenen wurden in eine dunkle Unendlichkeit reflektiert.

Virginia lag einen Moment lang reglos und mit heftigem Herzklopfen da, bemüht, in dem Albtraum, der sie geweckt hatte, einen Sinn zu erkennen. Myriaden von Spiegelbildern einer auf einem zerwühlten, blutbefleckten Bett liegenden Frau mit wirrem, gelocktem Haar umgaben sie. In ihrem feinen Batisthemd und den weißen Strümpfen sah sie aus, als läge eine leidenschaftliche Begegnung hinter ihr, doch ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet und ließen nichts von verebbendem Verlangen erkennen.

Erst nach einigen Sekunden erkannte Virginia, dass die Frau sie selbst war. Sie war nicht allein im Bett. Neben ihr lag ein Mann. Sein offenes Hemd war blutdurchtränkt. Sein Kopf war abgewendet, doch sie sah genug von seinem hübschen Gesicht, um ihn zu erkennen. Lord Hollister.

Langsam setzte sie sich auf, ließ unwillkürlich einen Gegenstand los, den sie in den Händen gehalten haben musste, aber nicht sah. Ein Teil ihres Selbst beharrte darauf, dass sie einen schrecklichen Traum durchlebte, ihre anderen Sinne aber sagten ihr, dass sie wach war. Es kostete sie größte Überwindung, den Hals des Toten zu berühren. Ein Puls war nicht zu spüren. Sie hatte es auch nicht erwartet. Die Kälte des Todes hüllte Hollister ein.

Eine neue Woge der Panik erfasste Virginia. Verzweifelt raffte sie sich auf und erhob sich. Als sie an sich hinunterblickte, sah sie, dass ein Teil ihres Nachthemdes blutrot war. Sie schaute auf und sah nun erst das zwischen den zerwühlten Decken liegende Messer – dort, wo einen Moment zuvor noch ihre Hand gelegen hatte. Die Klinge war blutig.

Am Rand ihres Blickfeldes, tief in den Spiegeln, verschoben sich bedrohliche Schatten. Eilig schirmte Virginia ihre psychischen Sinne vor einer Deutung ab. Ihre Intuition war aufgeflammt. Sie musste den verspiegelten Raum schleunigst verlassen.

Sie drehte sich um und suchte das neue bronzefarbene Kleid, das sie für den Abend im Haus der Hollisters gewählt hatte. Es lag achtlos zusammengeknüllt mit ihren Unterröcken in einer Ecke, wie in glühender Leidenschaft ausgezogen und weggeworfen. Die Spitzen ihrer Laufschuhe lugten unter den Falten ihres Mantels hervor. Aus einem unverständlichen Grund war der Gedanke, dass Hollister sie halb ausgezogen hatte, ehe er sich ein Messer in die Brust stieß, verstörender als das Erwachen neben dem Toten.

Lieber Himmel, wie kann man einen Menschen töten, ohne sich an die Tat zu erinnern?

Wieder brodelte dunkle Energie in den Spiegeln auf. Angst und das Verlangen zu fliehen erschwerten es ihr, ihre Sinne zu besänftigen. Doch es gelang ihr, die Schatten dazu zu bewegen, sich tiefer in die Spiegel zurückzuziehen. Sie wusste, dass sie sie nicht völlig verbannen konnte. Draußen musste noch Nacht sein. Die Energie, die in Spiegeln konzentriert war, wirkte nach Einbruch der Dunkelheit am stärksten. In den Spiegeln, die sie umgaben, lauerten Szenen, denen sie sich stellen musste, doch konnte sie diese Bilder jetzt nicht deuten. Sie musste hinaus.

Ein rascher Blick zeigte Virginia, dass es keine sichtbare Tür gab. Die Wände des kleinen Raumes schienen völlig verspiegelt zu sein. Das ist unmöglich, dachte sie. Die Luft im Raum war frisch. Die Gasleuchte brannte stetig. Es musste eine verborgene Luftzufuhr geben und irgendwo auch eine Tür. Und wo es eine Tür gab, gab es vielleicht einen Luftzug über der Schwelle.

Sie zwang sich, sich auf eine Sache zu konzentrieren, und beschloss, sich erst einmal anzukleiden. Es kostete sie große Mühe, die Unterröcke festzubinden, das Kleid hochzuziehen und das Miederteil zuzuhaken, weil ihre Hände so sehr zitterten.

Plötzlich war das Ächzen verborgener Türangeln zu hören. Wieder wurde Virginia von einer Panikwelle überflutet. In der Spiegelwand vor ihr sah sie, wie sich hinter ihr ein Glaspaneel öffnete. Ein Mann trat ein, von einer unsichtbaren Woge dunkler Kraft getragen. Sie erkannte ihn sofort, obwohl sie ihm nur ein einziges Mal begegnet war, und erstarrte. Eine Frau vergaß keinen Mann, in dessen dunklen Augen die Verheißung von Himmel oder Hölle lag. Virginia konnte sich nicht rühren.

»Mr. Sweetwater«, flüsterte sie.

Er musterte sie mit einem raschen Blick von Kopf bis Fuß. Das Licht der Lampe warf dunkle Schatten auf sein Gesicht und ließ es hart und verschlossen wirken. Er kniff die Augen zusammen. Bei einem anderen hätte diese Miene auf Besorgnis schließen lassen, aber Owen Sweetwater besaß nichts, was normalen menschlichen Gefühlen nahekam. Und es gab nur zwei möglichen Erklärungen für seine Anwesenheit im Todeszimmer: Er war gekommen, um sie zu töten oder um sie zu retten. Bei Sweetwater gab es keinen Mittelweg.

»Sind Sie verletzt, Miss Dean?«, fragte er, als erkundigte er sich nur höflich nach ihrem Wohlergehen.

Die Förmlichkeit seines Tons löste einen Blitz von Empörung in Virginia aus. »Ich bin unverletzt, Mr. Sweetwater«, erwiderte sie und warf dann einen Blick zum Bett hin. »Was man von Lord Hollister nicht behaupten kann.«

Er trat ans Bett und musterte Hollisters Leichnam. Knisternde Energie im Raum verriet Virginia, dass Owen sein Talent aktiviert hatte. Sie wusste nicht, über welche psychische Fähigkeit er verfügte, sie spürte nur, dass sie gefährlich war.

Owen drehte sich um. »Ausgezeichnete Arbeit, Miss Dean, wenn auch ein wenig unsauber.«

»Wie bitte?«

»Hollister stellt kein Problem mehr dar, das steht fest. Nun müssen wir Sie hier sicher herausschaffen, ehe man Sie wegen Mordes verhaftet.«

»Nein«, stieß sie aus.

Owens Brauen hoben sich. »Sie wollen nicht weg?«

Sie schluckte schwer. »Ich wollte nur sagen, dass ich ihn nicht getötet habe.«

Zumindest glaube ich das.

Virginia wurde klar, dass ihre Erinnerung ausgesetzt hatte, nachdem sie den Spiegel im Herrenhaus der Hollisters gedeutet hatte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu behaupten, dass sie unschuldig war. Wurde sie wegen Mordes an Lord Hollister verhaftet, würde sie mit Sicherheit am Galgen enden.

Wieder sah Owen sie kurz und abschätzend an. »Ja, ich sehe, dass Sie ihm das Küchenmesser nicht in die Brust gestoßen haben.«

Sie starrte ihn ungläubig an. »Wie können Sie wissen, dass ich unschuldig bin?«

»Die Einzelheiten können wir zu passenderer Zeit erörtern«, sagte Owen und kam mit dem entschlossenen Schritt eines Raubtieres kurz vor dem Zupacken auf sie zu. »Kommen Sie, lassen Sie mich das machen.«

Sie begriff nicht, was er wollte, bis er direkt vor ihr stand und die Häkchen an ihrem Mieder schloss. Er tat es mit raschen, sparsamen Bewegungen und ruhigen und sicheren Händen. Hätten sich ihre feinen Nackenhaare nicht schon gesträubt, dann hätte Owens Berührung sie elektrisiert. Die Energie, die ihn umgab, lud die Atmosphäre auf und berauschte ihre Sinne. Sie war auf einmal hin- und hergerissen zwischen dem überwältigenden Drang, um ihr Leben zu laufen, und dem ebenso starken Verlangen, sich ihm in die Arme zu werfen.

Die Ereignisse der Nacht hatten ihrem Verstand stark zugesetzt. Da sie keinem ihrer offenbar erschütterten Sinne mehr trauen konnte, suchte sie Zuflucht in der Selbstbeherrschung, die sie ihr ganzes Leben lang mehr und mehr perfektioniert hatte. Ein Glück, dass sie ihr auch dieses Mal half.

»Mr. Sweetwater«, sagte sie kalt und trat rasch zurück.

Er ließ die Hände sinken. Sein Blick glitt kritisch über ihren Körper. »Das muss im Moment genügen. Mitternacht ist vorüber, der Nebel ist dicht. Sobald wir draußen sind, sind wir in Sicherheit.«

»Mitternacht?« Sie griff nach der kleinen Taschenuhr, die an der Taille ihres Kleides befestigt war. Als sie sah, dass er recht hatte, überlief sie ein Schaudern. »Ich hatte um acht Uhr einen Termin. Lieber Gott, mir fehlen vier Stunden.«

»Ich muss mich für meine Verspätung entschuldigen, aber ich erfuhr erst vor einer Stunde, dass Sie abgängig sind.«

»Was reden Sie da?«

»Später. Ziehen Sie Ihre Schuhe an. Vor uns liegt ein unangenehmer Weg. Wir sollten dieses Haus rasch hinter uns lassen.«

Sie widersprach nicht, hob Röcke und Unterröcke an und schob einen bestrumpften Fuß in einen Schuh. Mit den Schnürsenkeln gab sie sich nicht ab.

Owen betrachtete den Toten auf dem Bett, während er wartete. »Sind sie sicher, dass Sie unverletzt sind?«

Sie zwinkerte und versuchte, aus der tödlichen Schärfe seines Tones klug zu werden.

»Er hat mir nicht Gewalt angetan, falls Sie das meinen«, sagte sie spröde. »Sicher ist Ihnen nicht entgangen, dass er voll bekleidet ist.«

»Ja, natürlich«, sagte Owen. Er drehte sich zu ihr um, blickte sie mit seinen merkwürdigen Augen noch kühler an als zuvor. »Verzeihen Sie. In den letzten Stunden wurde ich von dem Gefühl verzehrt, dass etwas nicht stimmte. Als ich vorhin durch die Tür kam, entdeckte ich, dass ich recht hatte.«

»Meinen Sie damit, dass Sie zu spät kamen, um Seine Lordschaft zu retten, Sir?«

»Nein, Miss Dean, zu spät, um Sie zu retten. Zum Glück konnten Sie sich selbst retten.«

Sie schob ihren zweiten Fuß in den anderen Schuh. »Hollister weine ich gewiss nicht nach. Ich glaube, dass er ein Monstrum war. Aber an seinem jetzigen Zustand bin ich nicht schuld.«

»Ja, das sehe ich«, sagte Owen mit eisiger Ruhe.

»Tun Sie nicht so, als müssten Sie mich bei Laune halten, Sir.« Sie bückte sich zu ihrem schweren Mantel hinunter. »Ich möchte noch einmal betonen, dass ich Seine Lordschaft nicht ermordet habe.«

»Ehrlich gesagt, ist mir das einerlei. Hollisters Tod ist ein Segen für die Welt.«

»Ich gebe Ihnen völlig recht, aber …« Das erneute Geräusch ächzender Türangeln ließ sie verstummen.

»Die Tür«, hauchte sie. »Sie wurde geschlossen.«

Owen erreichte die Tür als Erster, doch das Spiegelpaneel schwang zurück, ehe er seinen Fuß in die Öffnung stecken konnte. Virginia vernahm ein unheilvolles Klicken.

»Verschlossen«, brachte sie erschrocken heraus.

»Wie könnte es anders sein«, murrte Owen. »Die Sache war für mich von Anfang an eine Quelle großen Verdrusses.«

»Mein Beileid«, murmelte sie.

Ihren Sarkasmus ignorierend, ging er zurück ans Bett und griff nach dem blutigen Messer. Dann durchquerte er wieder den Raum und stieß den schweren Messergriff gegen das Türpaneel. Es knackte, und ein großer Riss erschien im Spiegel. Wieder schlug Owen zu. Diesmal fielen ein paar gezackte Splitter zu Boden und enthüllten Teile einer Holztür.

Virginia studierte das neue Schloss, mit dem man die uralte Tür ausgestattet hatte. »Sie können wohl keine Schlösser aufbrechen, Mr. Sweetwater?«

»Was glauben Sie, wie ich heute hier eindringen konnte?«

Er holte ein schmales metallenes Gerät aus seiner Jackentasche, ging in die Hocke und machte sich an die Arbeit. Binnen Sekunden hatte er die Tür geöffnet.

»Sie versetzen mich in Erstaunen, Sir«, sagte Virginia. »Seit wann lernen Gentlemen die Kunst des Schlösserknackens?«

»Diese Kunst hat mir im Laufe meiner Ermittlungen schon sehr oft geholfen.«

»Sie meinen, im Laufe Ihres unseligen Feldzugs mit dem Ziel, den Broterwerb hart arbeitender Menschen wie ich einer bin, zu stören, Menschen, die sich nichts anderes zuschulden kommen lassen, als ihren Unterhalt zu verdienen.«

»Ich glaube, Sie beziehen sich auf meine Bemühungen, jene zu entlarven, die ihren Unterhalt damit verdienen, Leichtgläubige hinters Licht zu führen. Ja, Miss Dean, das ist genau jene Art von Ermittlungen, die mich in letzter Zeit in Anspruch nehmen.«

»Wir, die wir unsere paranormalen Fähigkeiten praktisch nutzen, können nur hoffen, dass Sie sich bald ein neues Hobby zulegen, ehe Sie unsere Profession ganz zugrunde richten«, sagte sie.

»Ach, kommen Sie, Miss Dean. Sind Sie nicht erleichtert, mich heute zu sehen? Wäre ich nicht im richtigen Moment zur Stelle gewesen, wären Sie noch immer mit dem Toten in einem Raum eingeschlossen.«

»Der Punkt geht an Sie«, musste sie zugeben.

»Bedanken können Sie sich später.«

»Hoffentlich vergesse ich es nicht.«

Er warf das Messer weg und zog sie mit seiner behandschuhten Hand zur Tür. Virginia traute Owen Sweetwater nicht über den Weg, konnte es sich gar nicht leisten, ihm zu trauen. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, paranormal Agierende als Scharlatane zu entlarven. Owen war nicht der erste sogenannte Ermittler, der versuchte, alle auf übersinnlichem Gebiet Tätigen als Betrüger zu überführen. Aber insgeheim fragte sie sich, ob Sweetwater in seinem Übereifer nicht noch einen Schritt darüber hinausging – in den vergangenen Wochen waren zwei Spiegel-Deuterinnen, Frauen mit Talenten, die ihren ähnlich waren, unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen. Die Behörden hatten die Todesfälle als Unfälle zu den Akten gelegt, Virginia aber hatte ihre Zweifel.

Vielleicht hatte Owen Sweetwater mehr im Sinn, als berufliche Laufbahnen zu vernichten. Vielleicht agierte er nicht nur als Richter und Geschworenentribunal, sondern maßte sich auch die Rolle des Exekutivorgans an. Die Energie, die von ihm ausging, verriet ihr, dass seine Natur die eines Jägers war und die Beute, der er nachstellte, menschlich.

Sweetwater war mit Sicherheit kein Freund oder Verbündeter, alle Anzeichen aber deuteten darauf hin, dass er nicht die Absicht hatte, sie zu töten, zumindest nicht hier und jetzt. Mit ihm zu gehen erschien ihr klüger, als sich auf eigene Faust in Sicherheit zu bringen.

Als sie die Tür durchschritten, blieb Owen kurz stehen, um eine Lampe zu entzünden, die er hier wohl deponiert hatte. Das aufflammende Licht erhellte einen alten gemauerten Gang.

»Wo sind wir?«, flüsterte sie.

»Im Kellergewölbe unter den Grundmauern des Hollister-Hauses«, sagte Owen. »Es wurde auf den Ruinen einer mittelalterlichen Abtei errichtet. Hier unten verläuft ein wahres Labyrinth von Tunneln, die von Zellen gesäumt werden. Ein richtiger Irrgarten.«

»Wie haben Sie mich gefunden?«

»Die Antwort auf diese Frage wird Ihnen nicht gefallen.«

»Ich bestehe darauf zu erfahren, wie Sie mich fanden.«

»Ich ließ Ihr Haus in den letzten Nächten von zwei Personen aus einem leeren Haus gegenüber beobachten.«

Virginia war einen Moment so perplex, dass sie kein Wort herausbrachte. »Wie können Sie es wagen!«, stieß sie schließlich hervor.

»Ich sagte ja, dass Ihnen die Antwort nicht gefallen würde. Als Sie gestern Abend zu einer Deutung aufbrachen, dachten sich meine Späher nichts dabei. Sie gingen abends ja oft außer Haus, um Ihre Kunst auszuüben. Aber als Sie nach einer vernünftigen Zeitspanne nicht zurück waren, verständigten mich meine Leute. Ich begab mich zu Ihrem Haus und erkundigte mich bei Ihrer Haushälterin nach dem Namen Ihres Kunden.«

»Und Mrs. Crofton verriet Ihnen, ich sei zu einer Spiegel-Deutung bei Lady Hollister?«

»Sie war schon in großer Sorge, weil Sie noch nicht zu Hause waren. Auf dem Anwesen der Hollisters angelangt, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte.«

»Das sagte Ihnen Ihr Talent?«, fragte sie wachsam.

»Leider ja.«

»Wie denn?«

»Sagen wir es so … Sie sind nicht die erste Frau, die in diesem Tunnelsystem verschwand. Im Unterschied zu den anderen Opfern Hollisters sind Sie aber noch am Leben.«

»Du lieber Himmel.« Es dauerte einen Moment, bis sie den Sinn seiner Worte erfasst hatte. »Sie haben gewaltsamen Tod gespürt?«

»In gewisser Weise.«

»Erklären Sie sich, Sir.«

»Glauben Sie mir, es ist besser, wenn Sie nichts wissen.«

»Es ist zu spät, sich um meine Empfindlichkeit zu sorgen«, entgegnete sie gekränkt. »Ich erwachte eben neben einem hochgestellten Gentleman, der erstochen wurde.«

»Ihre Nerven halten offenbar einiges aus. Trotzdem ist es weder der Ort noch die richtige Zeit, um die Natur meines Talents zu erörtern.«

»Und warum ist das so?«, fragte sie.

»Im Moment gibt es Dringenderes. Darf ich Sie daran erinnern, dass jemand anderes Hollister erstochen haben muss, wenn Sie es nicht taten? Dieser Jemand könnte noch in der Nähe sein.«

Sie schluckte schwer. »Also gut. Dann spare ich mir die Frage für später auf.«

»Eine kluge Entscheidung«, sagte Owen.

Er blieb so unvermittelt stehen, dass Virginia strauchelte und gegen ihn stieß. Er schien es nicht zu spüren und hob die Lampe, um den Gang zu ihrer Rechten zu erhellen.

»Spüren Sie irgendeine Energie?«, fragte er leise.

Ein sonderbares Gefühl eisiger Bewusstheit durchfuhr Virginias Sinne. »Ja«, sagte sie.

Die Empfindung wurde stärker und nun auch von einem rhythmischen Klappern begleitet. Aus der Finsternis kam eine Miniaturkutsche auf sie zugerollt. Als sie den Lichtkreis erreichte, sah Virginia, dass sie von zwei Pferden gezogen wurde. Das Gefährt war jedoch ein wahres Kunstwerk und kein Kinderspielzeug. Jedes einzelne Detail des schwarz emaillierten und kunstvoll vergoldeten Wagens war von erlesener Feinheit, die kleinen Fenster blitzten im Lampenlicht. Die Pferde mit ihren wallenden schwarzen Mähnen und Schweifen und dem golden verzierten Zaumzeug waren naturgetreu nachgebildet.

»Warum lässt jemand hier ein so kostbares Spielzeug zurück?«, fragte Virginia.

Owen nahm wieder ihren Arm und zog sie einen Schritt zurück. »Das ist kein Spielzeug.«

Virginia konnte den Blick nicht von der kleinen Kutsche losreißen, so fasziniert war sie. »Was ist es dann?«, fragte sie.

»Verdammt, wenn ich das wüsste.«

Wieder streifte eine Welle eisiger Energie Virginias Sinne. »Ich spüre die Kraft«, sagte sie. »Es ist Glaslicht, dieselbe Energie, die in Spiegeln enthalten ist. Aber psychische Energie können nur Menschen hervorbringen. Wie macht das der Wagen nur?«

»Das werden wir jetzt nicht untersuchen.« Owen zog sie um eine Ecke. »Wir müssen zwischen uns und diesen Apparat, oder was immer es ist, eine Wand bringen. Stein blockt psychische Strömungen ab.«

Das Klappern verstummte, dafür drang ein schwaches, verängstigtes Stimmchen aus dem dunklen Gang, in dem die Kutsche stand.

»Ist da draußen jemand? Bitte, helfen Sie mir.«

Owen erstarrte. »Verdammt«, sagte er leise. »Eine Komplikation nach der anderen.«

Virginia drehte sich um. »Wer ist da?«, rief sie.

»Ich heiße Becky, Ma’am. Helfen Sie mir, ich bitte Sie. Ich kann nicht hinaus. Hier ist es ganz dunkel. An der Tür sind Gitterstäbe.«

»Eines von Hollisters Opfern«, sagte Owen.

Virginia sah ihn an. »Wir müssen etwas tun.«

»Wir können nicht zu ihr, wenn wir nicht an diesem mechanischen Ding vorbeikommen.«

»Es produziert meine Art von Energie«, sagte sie. »Ich könnte sie in den Griff bekommen.«

»Sind Sie sicher?«

»Ich muss es versuchen. Lassen Sie mich mal hinsehen.«

Owens Finger umschlossen ihr Handgelenk wie eine Fessel. »Was Sie auch tun, ich lasse Sie nicht los. Verstanden?«

»Ja, ja, natürlich«, sagte sie ungeduldig. »Ich brauche etwas Licht.«

Er hielt die Lampe so hoch, dass sie den Korridor, in dem die Kutsche stand, zum Teil erhellte. Virginia riskierte einen Blick um die Ecke. Im flammenden Licht blinkten unheilvoll die Fenster des Miniaturvehikels, und wieder setzte das Klappern ein. Als witterte sie ein Opfer, tat die Kutsche einen Satz vorwärts.

Owen lauschte. »Interessant«, sagte er. »Das Gefährt scheint durch Bewegung aktiviert zu werden. Vielleicht reagiert sie auf unsere Auren.«

»Ja, das glaube ich auch.« Virginia zog sich aus der Reichweite des Wagens zurück und drückte sich an die Mauer. »Die Energie wird durch die Fenster zugeführt. Ganz sicher kann ich erst sein, wenn ich es versuche, aber ich glaube, dass ich die Strömungen zumindest vorübergehend neutralisieren kann.«

Im anschließenden Korridor verstummten die Geräusche wieder.

»Die Kutsche reagiert eindeutig auf Bewegung«, sagte Owen. »Wenn Sie es schaffen, das Ding so lange zu neutralisieren, dass ich ganz nahe herankommen kann, könnte ich es zerschmettern oder irgendwie außer Betrieb setzen. Falls es eine Mechanik hat, muss es einen Schlüssel geben.«

»Sind Sie noch da, Ma’am?«, kam Beckys Stimme aus der Dunkelheit. »Bitte, lassen Sie mich nicht hier zurück.«

»Ich komme schon, Becky«, gab Virginia gelassen zurück. »Einen Moment noch.«

»Vielen Dank, Ma’am. Aber beeilen Sie sich, bitte. Ich habe solche Angst.«

»Wir haben alles im Griff, Becky«, antwortete Virginia.

Owen umfasste ihr Handgelenk fester. »Versuchen Sie es. Wenn ich spüre, dass Ihre Kräfte nachlassen, ziehe ich Sie außer Reichweite.«

»Klingt vernünftig.«

Sie beruhigte ihre Nerven, konzentrierte sich auf ihr Talent und bog vorsichtig um die Ecke. Owen hielt das Licht so, dass es auf das bewegungslos dastehende Gefährt fiel.

Es herrschte kurze, angespannte Stille, ehe die dunklen Fenster zu funkeln anfingen, als würden sie vom Wageninneren her beleuchtet. Virginia spürte abermals Energie in der Atmosphäre. Die mechanischen Pferde setzten sich in Bewegung. Die Räder drehten sich. Nun war ihr das Ding schon viel näher.

Unvermittelt wurde Virginia von Energieströmungen getroffen, die ihre Sinne zu lähmen drohten. Obwohl darauf gefasst, zuckte sie unter dem Angriff zusammen. Owen hielt sie fester. Sie wusste, dass er bereit war, sie um die Ecke und außer Reichweite der als Wagen getarnten Waffe zu ziehen.

»Schon gut«, brachte sie heraus. »Ich schaffe das.«

Der lähmenden Energiewelle widerstehend, fand sie einen Fokus, als blickte sie tief in einen Spiegel. Sie stellte ein kontraproduktives Schema her, das die oszillierenden, vom Gerät ausgeschickten Kraftwellen dämpfte. Die Wirkung trat fast unmittelbar ein. Die Strömungen verebbten. Der Wagen rollte weiter.

»Geschafft«, sagte Virginia. Sie wagte es nicht, das Gefährt aus den Augen zu lassen. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich weiß nicht, wie lange ich das Ding unter Kontrolle habe.« Man konnte auf so hohem Niveau, wie sie es nun tat, nur kurze Zeit von psychischen Reserven zehren.

Owen vergeudete keine Zeit mit Fragen. Er ließ sie los und ging rasch um die Ecke in den Gang, wo er vor der Miniaturkutsche stehen blieb. Mit einer Schuhspitze kippte er sie um. Die Pferdebeine schlugen rhythmisch und nutzlos in der Luft weiter. Man konnte ein gedämpftes Ticktack vernehmen.

»Klingt wie ein Uhrwerk«, sagte Virginia.

Owen ging neben dem kleinen Gefährt in die Knie. »Irgendwie muss sich das Ding öffnen lassen.«

Er streifte seine Handschuhe ab und strich mit der Fingerspitze über die kunstvoll gearbeitete Rarität.

»Ich dachte, Sie wollten es zerschmettern«, sagte Virginia.

»Ich möchte es wenn möglich intakt lassen, um es zu studieren. Meines Wissens hat es noch niemand geschafft, einer toten Materie wie Glas Energie zuzuführen, deren Strömungen mechanisch aktiviert werden können. Ein außerordentliches Gebilde.«

»Vielleicht können Sie Ihre Untersuchung ein anderes Mal durchführen?«, schlug sie ungehalten vor. »Ich kann diesen Zustand nicht beliebig lange aufrechterhalten.«

»Ma’am?«, rief Becky flehentlich.

»Wir sind da, Becky«, rief Virginia zurück. »Mr. Sweetwater, wenn Sie nichts dagegen haben?«

Owens Finger glitten über das Wagendach, ertasteten winzige Scharniere. »Ich hab’s«, sagte er.

Das Dach schwang auf. Er griff ins Innere. Sekunden später verstummte das Ticken. Die Energieströme, die Virginia neutralisiert hatte, erloschen. Vorsichtig entspannte sie ihre Sinne.

»Ein Standardmechanismus.« Owen richtete sich auf. »Man hält den Wagen an, wie man eine Uhr anhält. Kommen Sie, suchen wir das Mädchen.«

Virginia war schon in Bewegung und schritt, die Lampe hochhaltend, an einer Reihe dunkler Zellen vorüber.

»Becky?«, rief sie. »Wo sind Sie?«

»Verdammt«, murmelte Owen und lief ihr eilig nach. »Vorsicht, Virginia. Man muss mit weiteren Fallen rechnen.«

Vage nahm sie wahr, dass er ihren Vornamen benutzt hatte, als wären sie alte Freunde und sich nicht nahezu fremd, doch sie verwendete keinen weiteren Gedanken daran. Vor einer schweren eisenbeschlagenen Holztür blieb sie stehen. Die kleine Öffnung in der Tür war vergittert. Ein verängstigtes junges Mädchen, nicht älter als vierzehn oder fünfzehn, starrte sie an, die Eisenstäbe umklammernd. Seine tränennassen Augen waren vor Angst weit geöffnet.

»Sind Sie verletzt?«, fragte Virginia und stellte sich und Owen vor.

»Nein, Ma’am. Es ist wundervoll, dass Sie kommen. Wer weiß, was mit mir passiert wäre.«

Owen holte seinen Dietrich hervor. »Gleich holen wir Sie heraus.«

»Was ist geschehen?«, fragte Virginia leise.

Becky zögerte. »Ich kann mich kaum erinnern. Ich stand an meiner Ecke vor einer Kneipe. Eine vornehme Kutsche hielt an. Ein stattlicher Gentleman beugte sich heraus und sagte, ich sei ein hübsches Mädchen. Er wollte mir doppelt so viel wie üblich zahlen. Ich stieg ein, und dann weiß ich nichts mehr, bis ich an diesem grässlichen Ort erwachte. Lange rief und rief ich, aber niemand antwortete. Als ich gerade aufgeben wollte, hörte ich Sie und Ihren Freund.«

Owen öffnete die Tür und trat zurück. »Kommen Sie, Becky. Wir haben hier genug Zeit vertan.«

Becky stürzte aus der Zelle. »Danke, Sir.«

Owen gab keine Antwort. Sein Blick war auf den Steinboden gerichtet. Virginia spürte die Bewegung dunkler Energie in der Luft und wusste, dass er sein Talent, wie immer es beschaffen sein mochte, eingesetzt hatte.

»Interessant«, sagte er.

»Was ist es?«, fragte sie.

»Das könnte die Stelle sein, wo Hollister der Person begegnete, die ihm das Messer in die Brust stieß.«

Er sprach ganz leise, aber Virginia wusste, dass Becky nicht zuhörte. Das Mädchen wollte nichts anderes als hinaus aus dem Tunnel.

»Sie können solche Dinge sehen?«, fragte Virginia.

»Ich kann sehen, wo die Mörderin stand, als sie die Tat beging«, sagte Owen.

»Eine Frau hat ihn getötet?«

»Ja. Mehr noch, sie war wahnsinnig.«

»O Gott. Lady Hollister.«

2

Owen war klar, dass er kein Recht hatte, wegen Virginias überaus wachsamer Haltung beleidigt zu sein. Schließlich war er ein Sweetwater. In der Regel waren Frauen entweder fasziniert von den Männern seiner Familie, oder sie fühlten sich abgestoßen. Einen Mittelweg gab es selten. Aber in welche Gruppe sie fallen mochten – Frauen hielten die Sweetwater-Männer intuitiv für gefährlich. Laut seiner Tante Marian, einem Aura-Talent, bewirkte die Aura der Sweetwater-Männer, dass empfindliche Menschen, ob mit oder ohne Talent, ein unbehagliches Gefühl überkam.

Virginias Misstrauen hatte ihn völlig unerwartet getroffen. Er war ein hoffnungslos romantischer Narr. Enttäuscht nahm er wahr, dass er tatsächlich ziemlich niedergeschlagen war. Aber er war selbst schuld, da er zu einer falschen Taktik gegriffen hatte. Rückblickend erkannte er, dass es ein Fehler gewesen war, sich als Ermittler zu etablieren, dessen Spezialgebiet das Entlarven betrügerischer Talente war. Aber wie sonst hätte er sich Zutritt zu dem engen Zirkel professionell praktizierender Talente, die mit dem Leybrook Institute in Verbindung standen, verschaffen sollen?

Er bückte sich nach dem mechanischen Gefährt und nahm es unter den Arm. Die kleinen Pferde baumelten an ihrem Geschirr. Später würde genug Zeit sein, sich über diesen Schnitzer den Kopf zu zerbrechen, jetzt musste er zwei Frauen in Sicherheit bringen.

»Miss Dean, würden Sie wohl die Lampe nehmen?«, fragte er.

»Hab sie schon«, sagte sie und hielt sie in die Höhe.

Er sah die zwei Frauen an und ging los. »Bleibt in der Nähe. Wir werden das Haus so verlassen, wie ich hereinkam, nämlich durch den alten Trockenschuppen. In der Nähe wartet ein Wagen.«

Er vernahm hinter sich einen kleinen erstickten Laut. Das Licht zuckte hell über die Wände.

»Alles in Ordnung, Miss Dean?«, fragte er.

»Ja, natürlich«, sagte sie. »Ich bin nur gestolpert. Der Boden ist uneben und das Licht sehr schlecht.«

Trotz seiner Verdrossenheit lächelte er. Virginia Dean erfüllte seine Erwartungen. Um ihre Nerven zu erschüttern, bedurfte es mehr als einer blutigen Leiche und einer Begegnung mit einem todbringenden mechanischen Spielzeug. Er hatte auch nicht erwartet, dass sie schwache Nerven hatte. Er wusste längst, dass sie eine unerschrockene Lady war, voller Entschlossenheit und großer Tatkraft. Auch war sie eine Frau mit beträchtlichem Talent, größer als das so vieler anderer Spiegel-Deuterinnen. In der sie umgebenden Atmosphäre gab es anregende Energie – zumindest fand er sie anregend.

Seiner Erfahrung nach waren die meisten ihrer Konkurrenten glatte Betrüger. Im besten Fall konnte man sie als Entertainer bezeichnen, die wie Zauberkünstler und Illusionisten verblüffende, auf Fingerfertigkeit beruhende Tricks perfektioniert hatten. Schlimmstenfalls waren sie Halunken, die Leichtgläubige hinters Licht führten.

Virginia Dean hatte ihn vom ersten Moment an gefesselt. Es war eine Woche zuvor gewesen, als er in der Nähe einer kleinen Gruppe von Arcane-Ermittlern im Hintergrund von Lady Pomeroys elegantem Salon gestanden und Virginia bei ihrer Spiegel-Deutung beobachtet hatte. Er hatte deutlich knisternde Energie in der Atmosphäre gespürt. Ihre Blicke hatten sich flüchtig im Spiegel getroffen. Während dieses kurzen Kontakts hatte er gespürt, dass sie sich seiner Gegenwart ebenso bewusst war wie umgekehrt, jedenfalls hatte er das glauben wollen.

Ihr dunkles, konservativ geschnittenes Kleid mit dem hohen Kragen und den langen, engen Ärmeln war mit einer kleinen, diskret angebrachten Turnüre geschmückt gewesen, ähnlich jener, die sie jetzt trug. Ihr rotgolden schimmerndes Haar hatte sie unter einem flotten kleinen Hütchen festgesteckt. Falls sie die strenge Aufmachung gewählt hatte, um die feenhafte Wirkung ihrer scheuen blaugrünen Augen vergessen zu lassen, war es ihr misslungen. Sie war keine Schönheit im herkömmlichen Sinn, doch für einen Mann seiner Natur war das umso reizvoller – eine unergründliche Frau voller Stärke. Er war vollkommen hingerissen gewesen.

Er war sicher gewesen, dass sie sein starkes Interesse gespürt hatte, und er hatte noch etwas gewusst. In ihr hatte es insgeheim gekocht. Lady Pomeroy, die sie für die Sitzung engagiert hatte, hatte ihr vorher nicht gesagt, dass paranormale Ermittler unter den Zuschauern sein würden. Er hatte ihr angesehen, dass Virginia es nicht schätzte, überrumpelt zu werden.

Was Virginia damals im Spiegel gesehen hatte, wusste er nicht, doch als sie fertig war, hatte sie sich abgewendet und ganz leise mit Lady Pomeroy ein paar Worte gewechselt. Die anderen Anwesenden hatten Fragen in den Raum gerufen und ihr Talent auf die Probe stellen wollen. Sie hatte sich ihnen mit einer Miene eisiger Verachtung gestellt, die einer ungnädigen Queen Victoria sehr wohl angestanden hätte.

»Meine Deutungen dienen nicht dazu, andere zu unterhalten oder ihre Neugier zu befriedigen«, hatte sie gesagt. »Als ich diesen Termin ausmachte, glaubte ich, es stünde eine ernsthafte Bitte dahinter. Mir war nicht klar, dass ich auf die Probe gestellt werden sollte. Leider habe ich für diesen Unsinn keine Zeit.«

Damit hatte sie dem Publikum den Rücken gekehrt und war wortlos gegangen. Der Schock, der die kleine Gruppe im Salon gefangen genommen hatte, hatte Owen unendlich amüsiert. Lady Pomeroy und die Forscher der Arcane Society bewegten sich in äußerst gehobenen, zuweilen sogar exklusiven Kreisen. Die kalte Verachtung einer gesellschaftlich unter ihnen stehenden psychischen Praktikerin, einer Frau, die ihre Talente zum Broterwerb nutzte, war für sie ungewohnt.

Nachdem sie sich erholt hatten, war ein hitziger Dialog zwischen der hochroten und sehr verärgerten Lady Pomeroy und den Mitgliedern der Arcane Society entfacht.

»Was sagte sie, Ma’am?«, hatte Hedgeworth gefragt.

»Miss Dean eröffnete mir, dass mein Mann nicht ermordet wurde und dass sein Tod auch kein Selbstmord war, wie vielfach vermutet wurde«, hatte Lady Pomeroy brüsk geantwortet. »Sie sagte, Carlton hätte sich allein hier im Salon befunden, als er eines natürlichen Tode starb, wie ich es immer schon vermutete. Es gäbe keine Hinweise auf Gewalt.«

»Nun, für sie war das wohl eine völlig sichere Aussage«, hatte einer der anderen hervorgehoben. »Nach mehreren Monaten kann man das Gegenteil nicht beweisen.«

»Zweifellos hat sie sich eingehend mit dem Tod Ihres Gemahls befasst, ehe sie kam, Lady Pomeroy«, war Hobson erneut zu hören gewesen. »Schließlich waren die Zeitungen voll davon. In der Presse war die Rede von einem Schlaganfall.«

»Ganz recht«, meldete sich einer der anderen zu Wort. »Diese Dean könnte eine Betrügerin sein. Die Scharlatane auf diesem Gebiet sind sehr geschickt. Und da keiner von uns ein Spiegellicht-Talent ist, können wir nicht ausschließen, dass wir getäuscht wurden.«

Owen aber hatte gewusst, dass Virginia Deans Talent echt war. Die Schatten in ihren Augen hatten ihm verraten, dass sie den Tod schon oft gesehen hatte. Er kannte diese Schatten gut. Immer wenn er in den Spiegel sah, erblickte er ähnliche Gespenster in seinen eigenen Augen.

Er bog in einen anderen Korridor ab, Virginia und Becky folgten ihm.

»Ich bewundere Ihren Mut, Miss Dean«, sagte er. »Und jenen Miss Beckys. Sie beide haben heute einiges mitgemacht. Viele Menschen, Männer wie Frauen, wären inzwischen völlig am Ende.«

»Keine Angst, Mr. Sweetwater«, sagte Virginia. »Becky und ich leisten uns unsere Nervenzusammenbrüche zu einem passenderen Zeitpunkt. So ist es doch, Becky?«

»Ja, Ma’am«, sagte Becky. »Im Moment möchte ich nichts wie fort von diesem Ort.«

»Genau wie ich«, sagte Virginia. »Becky, sind Sie sicher, dass Ihre Erinnerung völlig aussetzte, nachdem Sie in die Kutsche des Gentlemans stiegen?«

»Ja, Ma’am.« Becky zögerte. »Ich weiß nur, dass der Herr so hübsch und liebenswürdig war. Ach, und die Blumen. Ich kann mich an diese Blumen erinnern.«

»Was für Blumen?«

»Sicher bin ich nicht, aber ich roch etwas ganz Süßes wie welke Rosen.«

»Chloroform«, sagte Virginia grimmig. »Sie wurden betäubt. Becky. Deshalb setzte bei Ihnen die Erinnerung aus.«

Owen öffnete eine Tür am Ende des Korridors und ließ sie in den alten Schuppen eintreten.

»Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, Sir, Ma’am«, sagte Becky. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, aber ich begreife nicht, wie Sie mich finden konnten. Woher wussten Sie, wo ich bin?«

»Mr. Sweetwater ist Ermittler«, sagte Virginia. »Eine Art Privatdetektiv. Menschen zu finden gehört zu seinen Aufgaben. So ist es doch, Sir?«

»In gewisser Weise«, erwiderte Owen.

»Ach, ich verstehe.« Beckys Miene erhellte sich. »Einem Privatermittler bin ich noch nie begegnet. Ein interessanter Beruf.«

»Gelegentlich«, gab Owen zurück.

Er konzentrierte sich auf seine Sinnesempfindungen und spähte hinaus in die in Nebel gehüllte Gartenanlage. In der Finsternis rührte sich nichts. Das von Mauern umschlossene Anwesen war so gespenstisch still wie bei seiner Ankunft. Auch das Haus wirkte verlassen.

Owen führte die Frauen aus dem Schuppen ins Freie. Hinter sich hörte er Becky leise zu Virginia sprechen.

»Sind Sie Mr. Sweetwaters Assistentin, Ma’am?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Virginia entschieden. »Ich arbeite nicht für Mr. Sweetwater.«

»Ach, dann sind Sie seine Geliebte«, sagte Becky altklug. »Das dachte ich mir. Es muss sehr aufregend sein, die Geliebte eines Privatermittlers zu sein.«

Owen zuckte zusammen, auf das Gewitter gefasst, das im nächsten Moment im Garten losbrechen würde. Zu seiner Verwunderung aber verlor Virginia nicht die Fassung. Ihr Ton war höflich, fast sanft. Nie hätte man vermutet, dass sie eben zutiefst beleidigt worden war.

»Nein, Becky«, sagte sie. »Ich habe keinerlei persönliche oder intime Beziehung zu Mr. Sweetwater.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Becky. »Wenn Sie nicht für ihn arbeiten und auch nicht seine Geliebte sind, warum sind Sie dann mitten in der Nacht hier mit ihm?«

»Ich wusste heute Abend nichts mit mir anzufangen«, entgegnete Virginia. »Da dachte ich mir, es könnte amüsant sein, mit einem Privatermittler auszugehen und ein Abenteuer zu erleben.«

»Sicher war es aufregend«, sagte Becky.

»Ja, in der Tat«, bestätigte Virginia.

Owen warf einen Blick über die Schulter. »War es aufregend, Miss Dean?«

»Nun ja, das ist vielleicht nicht das richtige Wort«, sagte Virginia.

Er geleitete sie durch das Gartentor hinaus auf die Gasse und zu einem wartenden Kutschwagen. Die Gestalt auf dem Kutschbock regte sich und blickte herunter.

»Wie ich sehe, hast du nicht eine, sondern zwei Damen gefunden, Onkel Owen. Gute Nachtarbeit.«

»Es war ein Quäntchen Glück dabei, Matt, aber alle sind in Sicherheit.« Owen öffnete den Wagenschlag. »Wir setzen unsere Gäste an ihren Adressen ab.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Matt.

Virginia zog Owen beiseite, während Becky einstieg. »Wir bringen Becky in das Wohlfahrtsinstitut in der Elm Street«, sagte sie leise »Dort wird man sich heute Nacht um sie kümmern. Die Leiterin wird Becky ein sauberes Bett und ein gutes Essen geben und ihr einen Weg zeigen, von der Straße wegzukommen.«

»Ich kenne das Heim«, sagte Owen lächelnd. »Wissen Sie, dass die Arcane Society kürzlich die Schirmherrschaft übernommen hat?«

»Arcane unterhält eine Zuflucht für junge Prostituierte?« Virginia konnte es nicht fassen. »Ich glaube es nicht. Seit wann interessiert die Society sich für Wohltätigkeit?«

»Das ist die moderne Zeit, sagt man, Miss Dean. Die Welt verändert sich und mit ihr die Arcane Society.«

»Dass ich nicht lache. Ich bezweifle, dass dieser Haufen arroganter, engstirniger alter Alchemisten zu Veränderungen fähig ist.«

Sie drehte sich um und stieg in den Wagen. Er kletterte hinter den Frauen hinein, stellte das mechanische Miniaturspielzeug auf den Boden des Wagens und schloss die Tür. Die Kutsche rumpelte die Gasse entlang.

Becky betrachtete das verhängnisvolle Gefährt kritisch. »Ist das ein Spielzeug?«

»Nein«, sagte Owen. »Es ist ein Automat, eine mechanische Kuriosität. Jemand hat sie vergessen. Ich wollte sie retten.«

»Ach, wie hübsch«, sagte Becky.

»Ja«, sagte er.

Sofort erlosch ihr Interesse, und sie ließ sich seufzend in die Ecke des Sitzes zurücksinken. »Meinen Sie, der hübsche Mann in der Kutsche wird nach mir suchen? Sicher wird er wütend sein, wenn er entdeckt, dass ich fort bin. Er kennt meinen Standplatz an der Ecke.«

»Ich verspreche Ihnen, dass Sie ihn niemals wiedersehen werden«, sagte Virginia. Sie berührte die Hand des Mädchens. »Sie sind in Sicherheit.«

3

Sie überließen Becky der Wärme und dem herzlichen Willkommen Mrs. Mallorys, der Leiterin des Heims in der Elm Street. Becky schien verwirrt, doch die Aussicht auf eine warme Mahlzeit und ein sicheres Bett bewogen sie, sich zu fügen, zumindest für eine Nacht.

»Ob sie das Angebot annimmt, die Schule des Fürsorgeheims zu besuchen und einen anständigen Beruf zu erlernen, liegt bei ihr«, sagte Virginia, als sie wieder in den Wagen einstieg. »Aber Mrs. Mallory versteht es, die Mädchen zum Schulbesuch zu animieren. Sie ist sehr geschickt.«

Owen setzte sich ihr gegenüber.

»Sie befürworten Schulbildung für Straßenmädchen«, sagte er.

Der Wagen fuhr los.

»Es ist die einzige Hoffnung für alleinstehende Frauen«, gab Virginia zurück.

»Sie sprechen aus Erfahrung?«

»Ich wurde mit dreizehn Waise. Hätte mein Vater mir nicht ein kleines Erbe hinterlassen, aus dem die Internatskosten für mich bestritten wurden, bis ich siebzehn war, wäre ich wie die kleine Becky auf der Straße gelandet.«

»Nein«, sagte Owen. »Sie nicht. Mit Ihrem Talent und Ihrer Intelligenz hätten Sie einen anderen Weg gefunden, um zu überleben.«

Virginia blickte hinaus in die Dunkelheit. »Wer weiß? Eigentlich ist es eine Ironie des Schicksals, dass mein Beruf mich zwingt, nachts zu arbeiten.«

»Gibt es jemanden, der sich heute Ihretwegen Sorgen macht?«, fragte Owen. »Abgesehen von Ihrer Haushälterin, meine ich.«

»Nein. Tatsächlich wundert es mich, dass Mrs. Crofton sich Sorgen machte. Sie ist neu und muss sich erst an meine ungewöhnlichen Gepflogenheiten gewöhnen. Ich bin sehr oft spätabends außer Haus, wenngleich nie so spät wie heute.«

Virginias Worte verrieten ihm, dass ihr die Vorstellung fremd war, jemand könnte ihres späten Heimkommens wegen in Sorge sein.

»Warum arbeiten Sie nachts?«, fragte er.

»Die in den Spiegeln verborgene Energie ist nachts meist stärker und lässt sich leichter deuten. Nötigenfalls kann ich in einem mit Vorhängen verdunkelten Raum arbeiten, ziehe es aber vor, meine Analysen abends vorzunehmen. Dann kann ich die Dinge deutlicher sehen.«

»Das war mir nicht klar.« Sein Interesse war geweckt. »Auch mein Talent ist nachts stärker ausgeprägt, ich bin konzentrierter. Ich frage mich, ob es damit zu tun hat, dass die Sonnenenergie fehlt. Vielleicht stören diese Energieströme gewisse paranormale Wellenlängen.«

Sie sah ihn an. »Ich weiß, dass Sie und Ihre Kollegen bei Arcane eine geringe Meinung von uns, die wir unseren Unterhalt mit unseren Talenten verdienen, haben. Sie halten die überwiegende Mehrheit von uns für Scharlatane. Ebenso ist mir klar, dass die Tatsache meiner häufigen Abendauftritte mein Ansehen in Ihren und den Augen der Society nicht hebt. Ich möchte klarmachen, dass es mich keinen Deut kümmert, was Sie oder die arroganten Arcane-Mitglieder von mir und meinen Kollegen am Leybrook Institute halten.«

»Miss Dean, Sie haben Ihrer Meinung über mich und die Society bereits Ausdruck verliehen. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich nicht Mitglied bei Arcane bin.«

»Warum waren Sie dann mit der Gruppe sogenannter Forscher, die meine Talente auf die Probe stellen wollten, bei meiner Sitzung im Hause Pomeroy anwesend?«

»Das ist eine lange Geschichte. Sie sind erschöpft. Sie brauchen Ruhe und Zeit, um sich von den Anstrengungen dieser Nacht zu erholen. Ich verspreche Ihnen, dass Sie am Morgen alles erfahren.«

Sie ging darauf nicht ein. »Sie haben Ihren Kragen riskiert, um heute nach mir zu suchen. Warum?«

»Das sagte ich schon. Ich wollte Sie im Auge behalten, da ich glaubte, dass Sie in Gefahr schwebten, wenngleich ich die Situation, in der ich Sie heute antraf, nicht voraussah. Ich suchte in einer anderen Richtung.«

»Sie sagten, Sie seien kein Mitglied der Arcane.«

»Arcane ist mein Klient.«

»Ihr Klient?« Sie war perplex. »Sie arbeiten für die Society?«

»Gegenwärtig führe ich Ermittlungen für Jones & Jones durch, Arcanes neue psychische Ermittlungsagentur. Vielleicht hörten Sie schon von ihr.«

Ihr Kinn spannte sich. »Ja, ich hörte Gerüchte über eine neue Agentur.«

»Sie billigen sie nicht?«

»In meiner Welt argwöhnt man, dass J&J uns, die wir unsere Talente beruflich nutzen, die Ausübung unmöglich machen will. Arcane ist der Meinung, dass jene, die ihre psychischen Talente zu praktischen Zwecken ausüben – vor allem Mitglieder des Leybrook Institute –, die wissenschaftliche Erforschung paranormaler Phänomene in Verruf bringen.«

»Weil es unter euch so viele Scharlatane gibt und diese Betrüger die Öffentlichkeit täuschen und in die Irre führen. Das verstehe ich. Aber im Moment hat J&J es vor allem mit wirklich gefährlichen psychischen Kriminellen zu tun. Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass Caleb und Lucinda Jones, die Direktoren von J&J, sich nicht mit Medien, Veranstalterinnen von Séancen und anderen betrügerischen Scharlatanen abgeben.«

»Abwarten.«

»Ich verstehe ja, dass Sie Arcane nicht trauen, aber ich brauche Ihre Hilfe. Ich jage einen Mörder, Virginia, einen, der in Ihrer Welt agiert.«

»Was reden Sie da?«

»Zwei Spiegellicht-Deuterinnen kamen kürzlich ums Leben. J&J beauftragte mich mit den Ermittlungen.«

»Was kümmert J&J der Tod von zwei Spiegel-Deuterinnen? Die Polizei zeigte wenig Interesse. Die glaubt nicht einmal, dass Mrs. Ratford und Mrs. Hackett ermordet wurden. Niemand glaubt es. Die Behörde kam zu dem Schluss, dass beide Frauen eines natürlichen Todes starben.«

»Sie aber vermuten, dass es nicht der Fall ist, oder?«

Sie zögerte. »Ja.«

»J&J glaubt es auch nicht und ich ebenso wenig. Wie gesagt, das ist eine lange Geschichte, und es ist spät. Morgen werde ich alles erklären. Mein Wort darauf.«

»Ich lasse mich jetzt nicht ohne nähere Erklärungen abspeisen, Sir. Sie sagten, Sie ermitteln im Auftrag von Arcane im Fall der zwei Ermordeten. Welches Talent besitzen Sie, das Sie zu einer solchen Arbeit befähigt?«

»Sagen wir mal, Sie kamen der Wahrheit sehr nahe, als Sie zu Becky sagten, ich sei eine Art Privatermittler. Tatsächlich bin ich Jäger.«

»Wen oder was jagen Sie, Mr. Sweetwater?«

»Monster der menschlichen Gattung, Miss Dean. Wie Sie arbeite auch ich am besten in der Nacht.«

Sein eigenes Haus war dunkel und still, als er zurückkam, doch so war es nachts immer. Er lebte allein. Seine Haushälterin kam früh am Morgen und ging nachmittags aus dem Haus. Dieses Arrangement verschaffte ihm die Ruhe, die er nach Einbruch der Dunkelheit immer mehr suchte. Niemand war da, der registrierte, dass er nachts ausging, niemand, der seine neue Gewohnheit beiläufig vor einem Mitglied seiner Familie erwähnt hätte.

Der Fall der Spiegellicht-Deuterinnen lenkte ihn immerhin vorübergehend von seinen nächtlichen Streifzügen und dem Abgrund ab, auf den er langsam zudriftete.

Owen brachte die Kutsche in die Bibliothek und stellte sie auf einen Tisch. Die dunklen Fenster des Miniaturfahrzeugs blinkten bösartig im Licht der Gaslampe. Vor dem Zubettgehen wollte er das Ding in seinen Kellersafe einschließen. Er war zwar sicher, die Waffe entschärft zu haben, wollte aber kein Risiko eingehen. Da das Ding für ihn etwas völlig Neues war, musste er es mit größter Vorsicht behandeln.

Er trat an einen Beistelltisch, auf dem eine Flasche Brandy und Gläser standen, um sich eine ordentliche Dosis des belebenden Getränks einzuschenken. Mit dem Glas in der Hand setzte er sich vor den Kamin und betrachtete das Spielzeug. Die laufende Untersuchung hatte eine unheilvolle Wendung genommen. Dabei war Hollisters Tod seine geringste Sorge. Es gab noch immer mehr Fragen als Antworten, nur eines war klar: Virginia Dean war der Schlüssel zu der ganzen Affäre.

4

Am kommenden Morgen holte Owen die kleine Kutsche aus dem Safe, trug sie hinauf in die Bibliothek und stellte sie auf den Tisch. Er suchte eine Auswahl kleiner Werkzeuge zusammen und ging daran, das Ding auseinanderzunehmen. Als er eben vorsichtig eines der Wagenfenster entfernen wollte, klopfte es an die Tür.

»Nicht jetzt, Mrs. Brent.« Er blickte von seiner kniffligen Arbeit nicht auf. »Sie wissen, dass ich heute Morgen nicht gestört werden möchte.«

»Ja, Sir, ich weiß.« Die Stimme der Haushälterin wurde durch die Tür gedämpft. »Es ist Mrs. Sweetwater, Sir.«

»Welche Mrs. Sweetwater? In London gibt es ein halbes Dutzend.«

Die Tür ging auf. Mrs. Brent fixierte ihn streng. »Mrs. Aurelia Sweetwater, Sir. Sie muss Sie unbedingt sprechen.«

Natürlich, es ist Aurelia, dachte er. Sie war die älteste seiner Großtanten und erfreute sich der Stellung einer Familienmatriarchin. Er hatte diesen Besuch erwartet und ihn gleichzeitig gefürchtet.

»Verdammt«, murmelte er. »Also gut, Mrs. Brent, lassen Sie sie bitte eintreten.«

»Ja, Sir.« Mrs. Brent wollte sich schon in die Diele zurückziehen, als Owen sie noch einmal aufhielt.

»Aber ich warne Sie, dass es Sie Ihre Stellung kostet, falls Sie sich einfallen lassen, Tee zu servieren«, zischte er. »Ich möchte meiner Tante keinen Vorwand liefern, länger hier zu verweilen.«

Um Mrs. Brents Mund zuckte es amüsiert, wiewohl sie ihre professionelle Fassung wahrte. »Ja, Sir.«

»Ich habe das gehört«, verkündete Aurelia Sweetwater, die in diesem Moment in einem eleganten purpurnen Kleid in die Bibliothek rauschte. Ihr graues Haar war zu einem imposanten Knoten aufgetürmt, den ein auf das Kleid farblich abgestimmter Federhut krönte. Das Rascheln ihrer langen, über den Boden fegenden Unterröcke klang äußerst bedrohlich. »Zufällig habe ich heute ohnehin keine Zeit für Tee, doch das ist Nebensache.«

»Guten Morgen, Tante Aurelia«, sagte Owen, ging auf sie zu und küsste sie liebevoll auf die Wangen. »Du scheinst heute blendender Stimmung. Ein wenig früh, findest du nicht? Was führt dich um diese Zeit zu mir?«

»Du weißt sehr gut, warum ich dich in aller Herrgottsfrühe aufsuchen muss. Du bist ja nur um diese Zeit zu Hause anzutreffen. Owen, du gehst mir aus dem Weg.«

»Aber gar nicht. Ich war in letzter Zeit sehr beschäftigt. Neue Auftraggeber, musst du wissen.«

»Ich weiß, dass die Familie jetzt Arcane als Klienten hat. Ob das klug war, weiß ich nicht, aber man wird ja sehen.«

»Arcane ist im Wandel begriffen«, sagte Owen. »Unter der neuen Führung hat die Society andere Aufgaben übernommen. Wie es aussieht, fühlen sich die Jones verpflichtet, die Öffentlichkeit vor den Monstern zu schützen.«

Aurelia zog die Brauen hoch. Ein nachdenklicher Ausdruck glitt über ihr Gesicht. »Wenn das stimmt, wird J&J uns in den nächsten Jahren mit Aufträgen eindecken.«

Owen hockte sich auf die Schreibtischkante und lächelte. »Genau. An Monstern, die es zu jagen gilt, ist kein Mangel.«

Aurelia lächelte zurück. Es war ein Moment stiller familiärer Kommunikation und gegenseitigen Verstehens, den nur ein Sweetwater begreifen konnte. Die Jagd auf Monster lag den Männern der Familie dank ihres psychischen Talents im Blut, eines Talents, über dessen vorteilhafte kommerzielle Nutzung man sich schon seit Langem einig war.

Aurelia wurde wieder ernst. »Zufällig bin ich heute da, um mit dir über Arcane zu sprechen.«

»Um was geht es?«

»Die Society soll einen Ehevermittlungsservice anbieten, der darauf spezialisiert ist, zwischen Menschen mit Talent Kontakte herzustellen.«

Owen benötigte den Bruchteil einer Sekunde, um zu merken, worauf das Gespräch hinauslief. Als ihn der Schrecken mit voller Wucht traf, glitt er rasch von der Schreibtischkante.

»Tante Aurelia, lass dir ja nicht einfallen, mich bei dieser Agentur registrieren zu lassen«, sagte er drohend.

»Ach, das kann ich gar nicht.« Ungerührt von seinem Unmut, winkte sie ab. »Die Einzelheiten müsstest du selbst erledigen.«

»Ich denke nicht daran, einen Heiratsvermittler in Anspruch zu nehmen.«

»Soweit ich weiß, hat Lady Milden, die diese Agentur leitet, ein echtes Talent, Menschen mit starker psychischer Natur zusammenzuführen. Sie kann aus mehreren Quellen schöpfen, auch aus den ausführlichen genealogischen Aufzeichnungen der Society.«

»Vergiss es.« Er ging ans Fenster und blickte in den Garten hinaus. »Ich bin an diesem Weg nicht interessiert.«

»Warum nicht?«

»Die Sweetwaters suchen sich ihre Frauen selbst.«

»Es sei denn, sie tun es nicht«, sagte Aurelia. Sie sprach leise und bedeutungsvoll. »Wir beide wissen, was passiert, wenn ein Sweetwater zu lange ohne echte Gefährtin bleibt.«

Owen gab keine Antwort. Das war auch nicht nötig.

»Du hast deine nächtlichen Streifzüge wieder aufgenommen?«, fragte Aurelia leise.

Er spürte Kälte im Nacken. Vor Außenstehenden konnten die Sweetwaters ihre Geheimnisse sehr gut wahren, innerhalb der Familie war es aber verdammt schwierig.

»Ich jage immer schon nachts«, antwortete er, mit aller Kraft bemüht, sich aus der Falle zu befreien. »Das ist in der Familie bekannt. Nach Einbruch der Dunkelheit kann ich die Monster besser ausmachen.«

»Was alle in der Familie wissen«, sagte Aurelia, »ist die Tatsache, dass du nachts immer mehr Zeit auf den Straßen verbringst. Hin und wieder Monstern nachzustellen ist eines. In unserer Familie gilt das eher als Sport wie Angeln. Aber etwas ganz anderes ist es, Nacht für Nacht allein auf Beutefang zu gehen. Das ist der Weg, der die Männer der Sweetwaters in den Wahnsinn führt.«

»Die Jagd ist für mich kein Sport. Ich habe einen speziellen Klienten, nämlich J&J, und ich habe ein spezielles Ziel, einen psychisch Wahnsinnigen, der Spiegel-Deuter ermordet.«

»Ich weiß, dass du neuerdings einen Klienten hast, aber das ist doch nur eine kurze Ablenkung. Sie ändert nichts an dem, was mit dir vorgeht. Owen, deine Eltern fangen an, sich Sorgen zu machen. Wenn du nicht bald die richtige Frau findest, wird aus dir ein Nachtwandler.«

»Wieso glaubst du, dass Lady Milden für mich eine Partnerin finden könnte?«

»Sie soll sehr geschickt sein. Was hast du schon zu verlieren?«

»Zeit«, sagte er. »Zeit, in der ich mir selbst eine Frau suchen könnte.«

»Du sagst, dass wir in modernen Zeiten leben. Du solltest dir moderne, effizientere Möglichkeiten zunutze machen.«

»Ich werde es mir überlegen«, log er ihr glatt ins Gesicht.

»Ich verstehe das als Versprechen.«

Er drehte sich jäh um. »Verdammt, Tante Aurelia.«