Riskante Nächte - Amanda Quick - E-Book

Riskante Nächte E-Book

Amanda Quick

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Beschreibung

Was als gewagtes Ablenkungsmanöver beginnt, entwickelt sich schnell zu einer leidenschaftlichen Affäre …

Louisa Bryce ist wie vom Donner gerührt: Als sie sich heimlich durch das Herrenhaus von Mr. Hastings schleicht, wird sie plötzlich von Anthony Stalbridge gepackt und – leidenschaftlich geküsst! Was als gewagtes Ablenkungsmanöver beginnt, entwickelt sich zu einer Passion. Und Louisa und Anthony teilen bald weit mehr als nur den gemeinsamen Feind …

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Seitenzahl: 454

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Buch

England, Ende des 19. Jahrhunderts: Zwei Gäste einer Abendgala schleichen durch die Gänge des Hauses von Elwin Hastings, einem der angesehensten Mitglieder der feinen Gesellschaft. Beide sind auf der Suche nach Beweisen für ungeheuerliche Verdachtsmomente – und um ein Haar werden sie von einem bewaffneten Bediensteten erwischt. Louisa Bryce ist wie vom Donner gerührt, als sie von Anthony Stalbridge gepackt wird und er sie zu einem leidenschaftlichen Kuss an sich zieht. Das Ablenkungsmanöver gelingt: Die Wache lässt die beiden vermeintlich Liebenden unbehelligt.

Doch tatsächlich kennen sich Louisa und Anthony kaum – ein paar Tänze bei gesellschaftlichen Anlässen – und wissen erst recht nichts über die Motive des jeweils anderen. Während Louisa nach Beweisen dafür sucht, dass Hastings ein Bordell betreibt, will Anthony den angeblichen Selbstmord seiner Verlobten aufklären: Er beschuldigt Hastings des Mordes. Die beiden finden nicht nur die Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen sowie Beweise für noch viel schwerer wiegende Verbrechen – sie finden auch zueinander, denn hinter Louisas tugendhafter Fassade des Mädchens vom Lande steckt eine schöne, scharfsinnige und leidenschaftliche Frau, deren Feuer allein der Richtige zum Lodern bringen kann …

Autorin

Amanda Quick ist das Pseudonym der erfolgreichen, vielfach preisgekrönten Autorin Jayne Ann Krentz. Krentz hat Geschichte und Literaturwissenschaften studiert und lange als Bibliothekarin gearbeitet, bevor sie ihr Talent zum Schreiben entdeckte. Sie ist verheiratet und lebt in Seattle.

Von Amanda Quick sind im Blanvalet Taschenbuch bereits erschienen:

Verstohlene Küsse (35257) – Im Bann der Leidenschaft (35828) – Geheimnis der Nacht (36195) – Verführung im Mondlicht (36309) – Verzaubertes Verlangen (36735) – Geliebte Rebellin/Verstohlene Küsse (36352)

Amanda Quick

Riskante Nächte

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The River Knows« bei G.P. Putnam’s Sons, a member of Penguin Group (USA) Inc.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung November 2007 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2007 by Jane Ann Krentz Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: HildenDesign, München Umschlagbild: © Alan Ayers Redaktion: Birgit Gehring lf

Herstellung: Heidrun Nawrot

Satz: DTP Service Apel,

Hannover

ISBN: 978-3-641-24646-4V002

www.blanvalet.de

Dieses Buch ist Susan Elizabeth Phillips gewidmet:

Eine großartige Schriftstellerin und ein Mitglied der Schwesternschaft.

Auf die Freundschaft!

Prolog

In den letzten Jahren der Regentschaft von Königin Viktoria …

Sie wagte nicht, eine der Lampen heller zu drehen, aus Furcht, ein Passant könnte das Licht bemerken und sich später daran erinnern, wenn die Polizei kam und Fragen stellte. Draußen in der Straße wurde der Nebel immer dichter, doch noch immer fiel genügend Mondlicht durch das Fenster, um die kleine Stube zu erhellen. Obgleich sie auf das kalte, silberne Licht nicht angewiesen war. Sie kannte die gemütlichen Räume über dem Laden in- und auswendig. Seit fast zwei Jahren war die kleine Wohnung ihr Zuhause.

Sie kauerte sich vor die schwere Truhe in der Ecke und mühte sich, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ihre Hände zitterten schrecklich. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, in dem fruchtlosen Versuch, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Nach drei unbeholfenen Versuchen gelang es ihr endlich, die Truhe zu öffnen. Das Quietschen der Scharniere hallte in der Totenstille wie leises Schreien.

Sie griff in die Truhe, holte die beiden ledergebundenen Bände heraus, die sie darin aufbewahrt hatte, und trug sie zu dem kleinen Koffer auf der anderen Seite des Zimmers.

Unten im Laden standen Dutzende Bücher, von denen etliche gutes Geld einbrächten, doch diese beiden Bände waren wertvoller als sie alle zusammen.

Sie musste sich bei der Zahl der Bücher, die sie mitnahm, beschränken. Bücher wogen schwer. Doch selbst wenn sie noch weitere hätte tragen können, wäre es unklug gewesen, sie mitzunehmen. Es würde nur Verdacht erregen, wenn eine größere Anzahl wertvoller Bände aus den Regalen fehlte.

Aus dem gleichen Grund hatte sie auch nur das Allernötigste an Kleidung eingepackt. Die Polizei sollte nicht darüber stutzen, dass eine angebliche Selbstmörderin ihre gesamte Garderobe mit ins Wasser genommen hatte.

Sie klappte den Koffer zu. Gott sei Dank hatte sie die beiden Bände nicht verkauft. Während der letzten zwei Jahre hatte es durchaus Zeiten gegeben, in denen sie das Geld gut hätte gebrauchen können. Doch sie hatte es nicht über sich gebracht, sich von den Büchern zu trennen, die ihrem Vater so lieb gewesen waren. Sie waren das Einzige, was ihr geblieben war, nicht nur vom Vater, sondern auch von der vier Jahre zuvor verstorbenen Mutter.

Ihr Vater hatte den Verlust seiner geliebten Frau nie überwunden. Da hatte es niemanden übermäßig überrascht, als er sich nach einem katastrophalen finanziellen Debakel eine Pistole an den Kopf gesetzt hatte. Die Gläubiger hatten das behagliche Haus sowie den größten Teil des Mobiliars genommen. Glücklicherweise hatten sie die gut sortierte Bibliothek für wertlos erachtet.

Angesichts der Möglichkeiten, die einer Frau in ihrer Situation offenstanden – nämlich entweder ein erbärmliches Leben als bezahlte Gesellschafterin oder als Gouvernante zu führen –, hatte sie sich der Bücher bedient und etwas Unerhörtes getan: Sie hatte ein Geschäft eröffnet.

In den Augen der feinen Gesellschaft hatte sie damit von einem Moment zum anderen aufgehört zu existieren. Nicht, dass sie je Umgang mit den Angehörigen jener Welt gepflegt hätte. Die Barclay-Familie hatte sich nie in den gehobenen Kreisen bewegt.

Ihre vom Vater abgeschauten Kenntnisse auf dem Gebiet der antiquarischen Bücher und bibliophilen Sammler hatten es ihr erlaubt, bereits nach wenigen Monaten im Geschäft einen bescheidenen Profit zu machen. In den zwei Jahren, die sie den Laden jetzt besaß, hatte sie ein kleines, doch erfolgreiches Antiquariat etablieren können.

Ihr neues Leben mit den schlichten Kleidern, der täglichen Buchhaltung und der umfangreichen Geschäftskorrespondenz war nicht zu vergleichen mit der sorglosen, vornehmen Welt, in der sie aufgewachsen war. Doch hatte sie alsbald festgestellt, welch tiefe Befriedigung sie daraus zog, ihr eigenes Geschäft zu besitzen und zu führen. Es hatte schon gewisse Vorzüge, selbstbestimmt über die eigenen Finanzen zu verfügen. Außerdem war sie als Ladenbesitzerin endlich von vielen der erstickenden Regeln und Konventionen befreit, die die Gesellschaft alleinstehenden Ladys aus gutem Hause auferlegte. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie gesellschaftlich abgestiegen war, doch die Erfahrung hatte es ihr erlaubt, ihr Schicksal in einer Weise in die eigene Hand zu nehmen, die ihr zuvor verwehrt gewesen war.

Vor knapp einer Stunde nun aber war der Traum von der glücklichen, unabhängigen Zukunft zerstört und sie mitten in einen Albtraum geschleudert worden. Ihr blieb keine andere Wahl, als von der Bildfläche zu verschwinden, und sie konnte nur eine Handvoll persönlicher Habseligkeiten, die Tageseinnahmen und die beiden wertvollen Bücher mitnehmen.

Sie musste untertauchen, das stand außer Frage, doch sie musste sicherstellen, dass niemand nach ihr suchen würde. Die verzweifelte Eingebung kam ihr schließlich, als ihr eine Meldung einfiel, die sie einige Tage zuvor in der Zeitung gelesen hatte.

… Zum zweiten Mal in weniger als einer Woche betrauert die gehobene Gesellschaft den schockierenden Verlust einer hochgestellten Lady. Die Themse hat ein weiteres tragisches Opfer gefordert.

Mrs. Victoria Hastings hat sich, vermutlich heimgesucht von einem ihrer wiederkehrenden Schwermutsanfälle, von einer Brücke in die eisigen, unerbittlichen Fluten der Themse gestürzt. Die Leiche wurde bislang noch nicht geborgen. Die Polizei geht davon aus, dass sie entweder ins Meer gespült wurde oder sich unter Wasser in Wrackgut verfangen hat. Ihr ergebener Gatte, Elwin Hastings, ist von Gram gebrochen.

Unsere geneigten Leser werden sich erinnern, dass vor einer knappen Woche Miss Fiona Risby, die Verlobte von Mr. Anthony Stalbridge, ebenfalls ins Wasser ging. Ihre Leiche wurde jedoch geborgen …

Zwei Ladys aus der feinen Gesellschaft hatten sich binnen einer Woche in den Fluss gestürzt. Und auch verzweifelte Frauen aus weit weniger erhabenen Kreisen wählten immer wieder diesen Weg. Es würde niemanden wundern, wenn eine unbedeutende Buchhändlerin in gleicher Weise Selbstmord beging.

Sie schrieb mit zitternder Hand ihren Abschiedsbrief und rang damit, die richtigen Worte, überzeugende Worte zu finden.

… Ich bin verzweifelt. Ich kann nicht mit dem Wissen leben, was ich heute Nacht getan habe, und ebenso wenig kann ich den Gedanken an eine Zukunft ertragen, in der mich nur die öffentliche Demütigung eines Prozesses und die Schlinge des Henkers erwarten. Lieber überantworte ich mich dem ewigen Vergessen des Flusses …

Sie unterschrieb die Zeilen mit ihrem Namen, legte den Abschiedsbrief auf den kleinen Tisch, an dem sie ihre einsamen Mahlzeiten einnahm, und stellte zur Sicherheit eine kleine Büste von Shakespeare auf das Blatt. Es sollte nicht angehen, dass der Brief auf den Boden geweht und möglicherweise von der Polizei übersehen wurde.

Sie zog ihren Mantel an und schaute sich ein letztes Mal im Zimmer um. Sie hatte sich hier wohlgefühlt. Zugegeben, die Einsamkeit war gelegentlich schwer zu ertragen, besonders abends und nachts, doch daran gewöhnte man sich. Sie hatte überlegt, sich einen Hund zuzulegen, der ihr Gesellschaft leistete.

Sie drehte sich um und griff nach dem schweren Koffer.

Abermals zauderte sie. An den Haken an der Wand hingen zwei Hüte: Ein Sommerkäppchen und ein breitkrempiger Wagenradhut mit Feder, den sie bei Spaziergängen trug. Ihr ging durch den Sinn, dass es sehr nützlich – sehr überzeugend – sein könnte, wenn der federgeschmückte Hut in der Nähe einer Brücke am Uferrand entdeckt werden würde. Sie nahm den Hut und setzte ihn sich achtlos auf.

Ihr Blick wanderte zu dem Vorhang, der das Schlafzimmer abteilte. Bei dem Gedanken, was sich dahinter verbarg, lief es ihr kalt den Rücken hinunter.

Sie eilte mit dem Koffer nach unten ins Hinterzimmer des Ladens. Dort öffnete sie die Haustür und trat hinaus in die dunkle Gasse. Es war nicht nötig, sich mit dem Schlüssel abzumühen. Das Schloss war vor einer knappen Stunde aufgebrochen worden, als der Eindringling sich gewaltsam Zutritt zum Haus verschafft hatte.

Sie huschte die pechschwarze Gasse hinter der Ladenzeile entlang und ließ sich dabei ganz von ihrer guten Ortskenntnis leiten.

Mit etwas Glück würde es einige Tage dauern, bis sich jemand darüber wunderte, dass die Barclay’sche Buchhandlung schon längere Zeit nicht mehr geöffnet hatte. Doch früher oder später würde jemand – höchstwahrscheinlich ihr Vermieter – aufmerksam werden. Mr. Jenkins würde kommen und an die Tür klopfen. Schließlich würde er ärgerlich einen der Schlüssel von dem Bund nehmen, den er immer bei sich trug, und den Laden aufschließen, um die Miete zu verlangen.

Das war der Moment, in dem die Leiche im Zimmer oben entdeckt werden würde. Kurz darauf würde die Polizei die Suche nach der Frau beginnen, die Lord Gavin ermordet hatte, einen der wohlhabendsten, angesehensten Gentlemen der gehobenen Gesellschaft.

Sie flüchtete in die Nacht.

1

Ein Jahr und zwei Monate später …

Die geheimnisvolle Witwe war verschwunden.

Anthony Stalbridge pirschte den dunklen Flur entlang und hielt nach einem verräterischen Lichtschimmer unter einer der Türen Ausschau. Alle Zimmer schienen leer zu sein, doch er wusste, dass sie irgendwo in der Nähe sein musste. Wenige Minuten zuvor hatte er einen flüchtigen Blick auf sie erhascht, als sie die Dienstbotentreppe hinaufgeschlichen war.

Er hatte ihr etwas Vorsprung gelassen, bevor er ihr die schmale Stiege hinauf gefolgt war. Doch als er die Etage mit den Privatgemächern erreichte, war Mrs. Bryce nirgends zu entdecken gewesen.

Aus dem Ballsaal schollen die gedämpfte Melodie eines Walzers und das dumpfe Stimmengewirr champagnerfreudiger Unterhaltung herauf. Das Erdgeschoss des Hastings’schen Herrenhauses war strahlend hell erleuchtet und gefüllt mit elegant gekleideten Gästen, aber hier oben gab es nur den fahlen Lichtschein vereinzelter Wandleuchten und eine unheilvolle Stille.

Es war ein großes Haus, doch Elwin Hastings, seine sehr neue, sehr reiche, sehr junge Gattin und das Personal waren seine einzigen Bewohner. Die Bediensteten schliefen unten im Dienstbotenflügel. Das bedeutete, dass die meisten Schlafzimmer in diesem Stock unbenutzt waren.

Leerstehende Schlafzimmer lockten bei einem rauschenden Fest gelegentlich Gäste auf der Suche nach einem Plätzchen für ein intimes Tête-à-tête an. War Mrs. Bryce heraufgekommen, um sich mit einem Mann zu treffen? Aus irgendeinem unerklärlichen Grund missfiel ihm dieser Gedanke. Nicht, dass er irgendeinen Anspruch auf sie erheben könnte. Sie hatten bei verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen der vergangenen Woche das eine oder andere Mal miteinander getanzt und verhaltene, quälend bemühte Konversation betrieben. Das war auch schon das gesamte Ausmaß ihrer Verbindung. Doch seine Intuition – ganz zu schweigen von jedem männlichen Instinkt, den er besaß – warnte ihn, dass sie tatsächlich ein waghalsiges Duell ausfochten. Es war ein Duell, das er nicht zu verlieren beabsichtigte.

Seit ihrer ersten Begegnung hatte Louisa Bryce sich alle Mühe gegeben, seine Avancen abzuwehren, zumindest verbal. Das war natürlich nicht ganz unerwartet, angesichts des alten Skandals, der noch immer mit seinem Namen verknüpft war. Was ihn jedoch neugierig machte, war die Tatsache, dass sie auf jedem Fest, dem sie beiwohnte, alles in ihrer Macht Stehende tat, um jeden anwesenden Mann zu vergraulen.

Er war ein Mann von Welt. Er wusste, dass es Frauen gab, die sich nicht zu Männern hingezogen fühlten, doch bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er Louisa auf die Tanzfläche und in seine Arme hatte locken können, war er überzeugt gewesen, dass sie sich der Sinnlichkeit seiner körperlichen Nähe ebenso bewusst war wie er sich ihrer. Walzer waren wie geschaffen dazu, so etwas festzustellen. Andererseits machte er sich vielleicht aus dem ältesten Grund der Welt etwas vor: Er begehrte sie.

Sie konnte kaum ahnen, dass es gerade ihre gelehrte, goldgefasste Brille, die geschmacklosen Kleider und die ernsten, unbeschreiblich öden Unterhaltungen waren, die sein Feuer entfacht hatten. Die gewissenhafte, langweilige Fassade war so offensichtlich aufgesetzt. Er musste allerdings einräumen, dass sie beim Rest der feinen Gesellschaft die gewünschte Wirkung nicht verfehlte. Mrs. Bryces Name wurde nie im gleichen Atemzug mit dem irgendeines Gentleman genannt. Er hatte sich die Mühe gemacht, Erkundigungen einzuholen – diskret selbstverständlich. Soweit er es feststellen konnte, hatte Louisa keine intime Liaison mit irgendeinem Mann.

Die Lady war ihm zweifellos ein Rätsel, und eines der rätselhaftesten Dinge an ihr war ihr heimliches Interesse an ihrem heutigen Gastgeber, Elwin Hastings, und den Gentlemen, die Hastings’ jüngst gegründetem Finanzkonsortium angehörten.

Am anderen Ende des Flurs ging eine Tür auf. Er drückte sich in die tiefen Schatten einer kleinen Nische und wartete.

Louisa trat aus dem Zimmer. Er konnte im Schummerlicht ihre Züge nicht klar sehen, doch er erkannte das triste rotbraune Kleid mit der unmodisch kleinen Tournüre. Ebenso erkannte er das stolz hochgereckte Kinn und die anmutig geschwungenen Schultern.

Ungeachtet der gewagten Situation, oder gerade deswegen, spürte er die Anspannung brennender Begierde in seinen Lenden. Er beobachtete Louisa, während sie in der Dunkelheit auf ihn zukam, und erinnerte sich daran, wie sie in seinen Armen gelegen hatte, als er kurz zuvor mit ihr getanzt hatte. Sie hatte sich wie üblich alle Mühe gegeben, spröde und langweilig zu wirken, doch selbst die gestelzteste Unterhaltung vermochte nicht die wachsame Intelligenz und die reizvolle Herausforderung in jenen bernsteinfarbenen Augen zu verbergen. Ebenso wenig konnte das stumpfsinnige Geplapper davon ablenken, wie sich ihr graziöser Rücken gegen seine Handfläche schmiegte. Er fragte sich, ob ihr bewusst war, dass sie ihn mit ihrer abweisenden Haltung nur noch mehr anstachelte, ihre Geheimnisse zu enthüllen.

Ohne ihn zu bemerken, eilte sie den Flur hinab zurück zur Dienstbotentreppe. Im Licht einer Wandleuchte funkelte das Gestell ihrer Brille kurz auf. Er überlegte noch, ob er sich zu erkennen und sie zur Rede stellen sollte, oder ob er ihr weiter heimlich folgen sollte, als eine raue Stimme vom Absatz der Dienstbotentreppe herüberscholl.

»Wer ist da?«, fragte ein Mann barsch.

Es war keine Frage, sondern ein Befehl und nicht im höflichen, unterwürfigen Tonfall eines Dieners gesprochen.

Quinby. Einer der beiden Leibwächter, die Hastings in jüngster Zeit überallhin begleiteten.

Anthony streckte seinen Arm aus, packte Louisa im Vorbeigehen und hielt sie fest.

Sie drehte sich mit einem erstickten Aufschrei zu ihm um. Ihre Augen waren angstvoll geweitet. Er presste ihr eilig seine Hand auf den Mund.

»Sssch«, zischte er ihr ins Ohr. »Vertrauen Sie mir.«

Er zog sie eng an sich und küsste sie forsch genug, um sie zum Schweigen zu zwingen.

Einen Moment lang sträubte sie sich heftig, doch er küsste sie eindringlicher, sodass sie schließlich reagieren musste. Sie hörte abrupt auf, sich zu wehren. In diesem überwältigenden Moment innigen Kontaktes entlud sich zwischen ihnen etwas, das so gewaltig und elektrisierend war wie ein Blitzschlag. Er war sicher, dass auch sie es spürte. Er konnte ihre schockierte Reaktion fühlen. Und dies hatte nichts mit dem Herannahen des Leibwächters zu tun.

Quinbys schwere Schritte hallten durch den Flur. Anthony fluchte still. Nichts hätte er lieber getan, als Louisa weiterzuküssen. Alles in ihm drängte danach, sie in das nächstgelegene Schlafzimmer zu ziehen, sie auf das Bett zu legen und sie von ihrer Brille und dem schlichten Kleid zu befreien …

»Was machen Sie beide hier oben?«, donnerte Quinby.

Anthony schaute auf und tat überrascht. Sein Widerwille und seine Verärgerung waren allerdings nicht gespielt. Louisa wich einen Schritt zurück und setzte eine Gewittermiene auf, als wäre auch ihr diese Störung ausgesprochen unlieb. Anthony bemerkte, dass ihre Augen hinter den Brillengläsern etwas glasig wirkten, und dass sie keuchte.

»Wir haben Gesellschaft, mein Liebling«, sagte er gelassen.

Quinby hatte sie fast erreicht. Er wirkte einschüchternd groß und breitschultrig in seinem dunklen Mantel. Eine der Manteltaschen wurde von dem Gewicht des Gegenstands darin nach unten gezogen. An Quinbys Hand funkelte ein massiver, teuer aussehender Goldring mit einem Onyx.

Louisa drehte sich abrupt zu dem Leibwächter um. Anthony spürte, dass sie verängstigt war, doch sie verbarg dies sehr geschickt, indem sie ihren Fächer mit einer ärgerlichen Geste aufschnappen ließ.

»Ich glaube nicht, dass wir einander vorgestellt wurden«, zischte sie in einem Tonfall, der Feuer hätte gefrieren lassen. Obgleich sie um einiges kleiner war, gelang ihr das Kunststück, auf Quinby herabzusehen. »Wie können Sie es wagen, uns zu stören?«

»Tut mir leid, Madam«, sagte Quinby und sah dabei Anthony durchdringend an, »aber Gäste haben zu diesem Stockwerk keinen Zutritt. Ich werde Sie beide nach unten begleiten.«

»Wir brauchen keine Eskorte«, erwiderte Anthony kühl.

»Wir kennen den Weg.«

»In der Tat«, pflichtete Louisa ihm bei. »Bestens sogar.«

Sie raffte ihre Röcke und wollte an Quinby vorbeirauschen. Er packte sie am Ellbogen.

Sie stieß einen Laut aus, als wäre sie bis ins Mark empört. »Was erlauben Sie sich?«

»Sie müssen entschuldigen, aber bevor Sie gehen, muss ich Sie noch fragen, was Sie hier oben gemacht haben«, sagte er.

Ihre Augen blitzten gefährlich hinter ihren Brillengläsern. »Nehmen Sie auf der Stelle Ihre Hand weg, oder ich werde persönlich dafür Sorge tragen, dass Mr. Hastings von diesem Zwischenfall erfährt.«

»Er wird sowieso davon erfahren.« Quinby zeigte sich ungerührt. »Es ist meine Aufgabe, ihm zu melden, wenn solche Sachen passieren.«

»Von welchen Sachen reden Sie da, meine Güte noch mal?«, gab sie zurück. »Was wollen Sie damit unterstellen?« Anthony fixierte Quinby mit einem stählernen Blick. »Lassen Sie den Arm der Lady los.«

Quinbys Augen verengten sich gefährlich. Er mochte es offensichtlich nicht, wenn ihm Befehle erteilt wurden, dachte Anthony bei sich.

»Sofort«, fügte Anthony sehr leise hinzu.

Quinby ließ Louisa los.

»Ich muss auf einer Antwort auf meine Frage bestehen«, knurrte er, ohne Anthony aus den Augen zu lassen. »Warum sind Sie heraufgekommen?«

Die Frage war eindeutig an ihn gerichtet, erkannte Anthony. Quinby war nicht länger an Louisa interessiert.

Anthony fasste Louisa besitzergreifend am Ellbogen, ganz wie ein Geliebter dies tun würde. »Ich hätte gedacht, dass die Antwort darauf offensichtlich wäre. Die Lady und ich sind heraufgekommen, um ungestört zu sein.«

Er konnte erkennen, dass Louisa nicht gerade begeistert von dieser Anspielung war, doch sie war sich wohl bewusst, dass ihr keine andere Wahl blieb, als sich auf sein Spiel einzulassen. Und sie tat es, ohne mit der Wimper zu zucken, das musste ihr der Neid lassen.

»Dann werden wir eben woanders hingehen müssen«, sagte sie.

»So scheint es«, pflichtete Anthony ihr bei.

Er umfasste ihren Ellbogen fester, drehte sie um und steuerte sie in Richtung der Haupttreppe.

»Heda! Nicht so schnell!«, bellte Quinby hinter ihnen.

»Ich weiß nicht, was Sie beide im Schilde führen, aber …« »Ganz genau«, erwiderte Anthony über die Schulter. »Sie haben keine Ahnung, was meine gute Bekannte und ich hier oben machen, und Sie werden es auch nicht erfahren.«

»Ich wurde eingestellt, um ein Auge auf alles zu haben, was hier im Haus vor sich geht«, erklärte Quinby, während er ihnen den Flur hinab folgte.

»Ich verstehe«, erwiderte Anthony. »Die Lady und ich waren uns allerdings nicht bewusst, dass der Zutritt zu den oberen Etagen des Hauses untersagt ist. Wir haben jedenfalls keine dementsprechenden Schilder gesehen.«

»Natürlich stehen da keine Schilder«, knurrte Quinby. »Leute wie Mr. Hastings haben nicht die Angewohnheit, in vornehmen Häusern wie diesem Schilder aufzustellen.«

»Dann können Sie es uns wohl kaum verübeln, dass wir heraufgekommen sind, als wir den Wunsch verspürten, uns von der Gästeschar unten zurückzuziehen«, sagte Anthony freundlich.

»Moment«, knurrte Quinby.

Anthony ignorierte ihn. »Ich denke, meine Kutsche wird uns die Ungestörtheit bieten, die wir suchen«, sagte er laut genug zu Louisa, dass auch Quinby es hören konnte.

Sie sah ihn verunsichert an, doch zum Glück schwieg sie.

Sie gingen die Stufen hinunter. Quinby blieb oben am Treppenabsatz stehen. Anthony fühlte, wie sich die Augen des Leibwächters in seinen Rücken bohrten.

»Wir müssen das Fest sofort verlassen«, flüsterte er Louisa zu. »Tun wir das nicht, wird er argwöhnisch werden.«

»Ich bin in Begleitung von Lady Ashton hier«, flüsterte Louisa zurück. Ihr Unbehagen war offensichtlich. »Ich kann nicht einfach weggehen. Sie würde sich große Sorgen machen.«

»Ich bin sicher, einer der Diener wird ihr gern eine Nachricht überbringen, dass Sie mit mir fortgegangen sind.«

Sie sah ihn entgeistert an. »Das kann ich nicht tun, Sir.«

»Ich sehe nicht, was Sie hindern sollte. Die Nacht ist noch jung, und es gibt viel, worüber wir uns unterhalten sollten, oder nicht?«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen. Ich bedanke mich für Ihr rasches Eingreifen gerade eben, aber es war ganz und gar unnötig, denn ich wäre auch allein mit dem Mann fertiggeworden. Und jetzt muss ich wirklich darauf bestehen, dass …«

»Ich fürchte, ich bin es, der darauf bestehen muss, dass Sie mich begleiten. Sie haben nämlich meine Neugier geweckt. Ich werde heute Nacht keinen Schlaf finden, bis ich nicht einige Antworten erhalten habe.«

Sie musterte ihn kurz mit einem misstrauischen, abschätzenden Blick. Er lächelte und machte ein entschlossenes Gesicht. Ihre Miene wurde verkniffen, doch sie widersprach nicht länger. Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihre Flucht zu planen, dachte er bei sich. Höchstwahrscheinlich würde sie eine Gelegenheit bei ihrer Rückkehr in den Ballsaal abpassen, wo die versammelte Gesellschaft eine Szene unmöglich machte.

»Sie sollten besser alle Absichten aufgeben, Reißaus zu nehmen, Mrs. Bryce«, sagte er. »Ich werde Sie nach Hause begleiten, ob Ihnen das nun lieb ist oder nicht.«

»Sie können mich nicht zwingen, in Ihre Kutsche einzusteigen.«

»Mir fiele nicht im Traum ein, Gewalt anzuwenden. Nicht, wenn vernünftige Argumente das gleiche Ziel erreichen können.«

»Und welche vernünftigen Argumente sollen das sein?«

»Warum beginnen wir nicht mit der Feststellung, dass Sie und ich anscheinend ein gemeinsames Interesse an den persönlichen Angelegenheiten unseres Gastgebers haben?«

Er sah, wie ihr der Atem stockte. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

»Das war Hastings’ Schlafzimmer, aus dem Sie da vor wenigen Minuten gekommen sind.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, entgegnete sie. »Sie raten doch nur.«

»Ich rate nur selten, Mrs. Bryce, und keinesfalls, wenn ich Fakten an der Hand habe. Ich weiß, dass es Hastings’ Schlafzimmer ist, weil ich mir gestern einen Grundriss des Hauses besorgt habe.«

»Du meine Güte, Sir.« Schlagartig verstand sie, und unendliche Erleichterung ließ ihre Augen strahlen. »Sind Sie ein Einbrecher?«

Eine feine, wohlerzogene Lady wäre entsetzt gewesen, ging es ihm durch den Sinn. Aber Louisa schien nicht im Geringsten beunruhigt, sich in der Gesellschaft eines Vertreters der Verbrecherzunft zu befinden. Im Gegenteil, sie war eindeutig fasziniert. Begeistert sogar. Er hatte recht gehabt: Sie war eine wirklich außergewöhnliche Frau.

»Sie können kaum von mir erwarten, Ihren Verdacht zu bestätigen«, erwiderte er. »Als Nächstes rufen Sie sonst noch die Polizei und lassen mich festnehmen.«

Zu seiner Verblüffung lachte sie. Der glockenhelle Laut bezauberte ihn.

»Ganz und gar nicht, Sir«, versicherte sie ihm und wedelte anmutig mit ihrem Fächer. »Mich kümmert es nicht, wenn Sie Ihren Lebensunterhalt damit verdienen, Leute wie Elwin Hastings zu bestehlen. Ich muss allerdings gestehen, dass diese Offenbarung einiges erklärt.«

Er hatte den Eindruck, dass ihre Unterhaltung eine recht bizarre Richtung nahm.

»Wie meinen Sie das?«, fragte er.

»Ich gebe zu, dass Sie seit unserer ersten Begegnung meine Neugier geweckt haben, Sir.«

»Sollte ich mich jetzt geschmeichelt fühlen oder beunruhigt sein?«

Sie beantwortete seine Frage nicht. Stattdessen lächelte sie und wirkte so selbstzufrieden wie eine kleine Katze, die sich auf einem warmen Ofen zusammengerollt hatte.

»Ich fand auf den ersten Blick, dass Sie etwas Geheimnisvolles an sich haben«, sagte sie.

»Und was veranlasste sie zu dieser Annahme?«

»Nun, weil Sie sich mir haben vorstellen lassen und tatsächlich mit mir getanzt haben, selbstverständlich.« Sie ließ ihren Fächer auf- und zuschnappen zum Zeichen, dass ihr Argument unwiderlegbar sei.

»Was ist daran so besonders?«

»Gentlemen zeigen niemals Interesse, meine Bekanntschaft zu machen, ganz zu schweigen davon, mich auf die Tanzfläche zu führen. Als Sie beim Empfang der Wellworths abermals mit mir getanzt haben, war mir sofort bewusst, dass Sie etwas im Schilde führen.«

»Verstehe.«

»Ich hatte natürlich angenommen, dass Sie mich als Tarnung benutzten, um Ihr Interesse an einer anderen Lady zu verschleiern.« Sie machte eine taktvolle Pause. »Einer verheirateten Frau, möglicherweise.«

»Sie haben in den vergangenen Tagen offenkundig viel über mich nachgedacht.«

Ebenso viel, wie er über sie nachgedacht hatte, stellte er fest und fand das sehr befriedigend.

»Sie waren mir ein Rätsel«, erklärte sie schlicht. »Und selbstverständlich war es mir ein Bedürfnis, eine Antwort zu finden. Es wäre mir allerdings nie in den Sinn gekommen, dass Sie ein Dieb sind. Ich muss gestehen, dies ist eine wahrlich glückliche Fügung.«

Sie erreichten das Vestibül, bevor Anthony eine passende Antwort auf diese Bemerkung einfiel. Ein Diener in einer altmodischen Livree in Blau und Silber und mit einer gepuderten Perücke auf dem Kopf eilte heran.

»Mrs. Bryces Mantel bitte«, wies Anthony ihn an. »Dann rufen Sie bitte meine Kutsche, und anschließend teilen Sie Lady Ashton mit, dass die Lady mit mir fortgegangen ist.« »Ja, Sir.« Der Diener eilte davon.

Louisa erhob keinen Widerspruch. Anthony hatte den Eindruck, dass sie inzwischen ebenso darauf erpicht war, das Haus zu verlassen, wie er. Anscheinend ängstigte sie die Vorstellung, mit einem Dieb in die Nacht fortzueilen, nicht sonderlich. Er war nicht sicher, wie er das verstehen sollte.

Der Diener kehrte mit einem Mantel in stumpfem Rotbraun zurück, der zu dem faden rotbraunen Kleid passte. Anthony nahm ihm den Mantel ab und legte ihn Louisa um die Schultern. Diese kleine galante Geste würde nicht unbemerkt bleiben. Wenn Hastings später seinen Diener aushorchen sollte, könnte der in aller Ehrlichkeit behaupten, dass Mrs. Bryce und Mr. Stalbridge augenscheinlich auf vertrautem Fuß standen.

Die Kutsche hielt vor den Stufen des Eingangs. Louisa ließ sich in den Verschlag helfen. Anthony folgte ihr, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Er nahm ihr gegenüber Platz und zog die Tür zu. Die Dunkelheit des Verschlags umschloss sie. Sie schien Louisas zarten Duft nach blumigem Parfüm und Frau noch zu verstärken und weckte eine lustvolle Erregung in ihm. Sein Begehren machte sich bereits deutlich bemerkbar, wie er bei einem Blick auf seine Lenden feststellte. Er musste sich zwingen, sich auf die Angelegenheit zu konzentrieren, die sie zusammengeführt hatte.

»Also, Mrs. Bryce«, begann er, »wo waren wir stehengeblieben?«

»Ich glaube, Sie wollten mir gerade etwas über Ihren recht ungewöhnlichen Beruf erzählen.« Sie griff in ihren Muff und holte einen Bleistift und einen Notizblock heraus. »Wären Sie wohl so freundlich, die Lampen höher zu drehen? Ich möchte mir Notizen machen.«

2

Es herrschte völlige Stille.

Louisa schaute auf. Anthony sah sie sprachlos an. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

»Keine Sorge«, beruhigte sie ihn, während sie das kleine ledergebundene Notizbuch aufklappte, das sie immer bei sich trug. »Ich habe nicht vor, Ihre Berufsgeheimnisse zu stehlen.«

»Das trifft sich gut, denn ich habe nicht vor, Ihnen selbige zu verraten«, erwiderte er trocken. »Stecken Sie das Notizbuch wieder weg, Mrs. Bryce.«

Sie spürte ein leichtes Kribbeln. Es war der gleiche warnende Schauder, der ihr über den Rücken gelaufen war, als dieser Mann ihr vor einigen Tagen auf dem Ball der Hammonds vorgestellt worden war. Sein Name hatte bei ihr eine sehr laute Alarmglocke klingen lassen. Doch sie hatte sich eingeredet, dass es bloßer Zufall wäre, von dem Mann, dessen Verlobte vor etwas über einem Jahr in der Themse ertrunken war, zum Tanz aufgefordert zu werden, und nicht etwa die grausame Hand des Schicksals. Die gehobene Gesellschaft war schließlich eine recht kleine Welt. Nichtsdestotrotz war sie, als sie ihn heute Abend im Flur vor Hastings’ Schlafzimmer entdeckte, in Panik verfallen. Er konnte es nicht ahnen, doch die Wahrheit war, dass die Begegnung mit ihm ihr einen bedeutend größeren Schrecken eingejagt hatte als das Aufeinandertreffen mit dem Wächter.

Sie war überzeugt, sie hätte mit Quinby fertigwerden können. Schließlich schenkte die Gesellschaft der Fassade Glauben, die sie und Lady Ashton über die vergangenen Monate so sorgfältig errichtet hatten. Sie war Louisa Bryce, die unbedeutende, unelegante, ausgesprochen langweilige Verwandte aus der Provinz, die Lady Ashton aus der Güte ihres Herzens als Gesellschafterin bei sich aufgenommen hatte. Es bestand kein Grund, weshalb Quinby ihr gegenüber sonderlich argwöhnisch sein sollte.

Anthonys unerwartetes Auftauchen in jenem Flur hatte sie allerdings erschüttert. Diesmal ließ sich nicht leugnen, dass hier mehr als Zufall am Werk war.

Sie hatte bei ihrer ersten Begegnung intuitiv gespürt, dass die Tristesse und das weltmüde Desinteresse, die Anthony zur Schau trug, nur vorgetäuscht waren. Aus diesem Grund war sie in seiner Nähe sehr wachsam gewesen. Und vielleicht hatte er sie darum auch von Anfang an fasziniert.

Die Erkenntnis, dass er sehr wahrscheinlich ein Juwelendieb war, diente ihr nicht nur zur Beruhigung, sondern hatte ihr sogar einen brillanten Einfall beschert. Zumindest war er ihr zu jenem Zeitpunkt brillant erschienen. Langsam kamen ihr Zweifel. Vielleicht war es keine Eingebung gewesen, die ihr vor einigen Minuten gekommen war. Rückblickend könnte es ebenso gut die Tollkühnheit der Verzweiflung gewesen sein.

Sie bemerkte, dass er sie mit einer Mischung aus amüsierter Verärgerung und gnadenloser Entschlossenheit betrachtete.

»Wenn Sie darauf bestehen«, sagte sie. Sie hielt ihren Tonfall höflich und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Keine Notizen.«

Widerstrebend steckte sie das Büchlein und den Bleistift wieder zurück in die kleine Tasche im Inneren des Muffs.

Er machte keine Anstalten, die Flammen der Lampen im Verschlag höher zu drehen, wie sie ihn gebeten hatte, und so blieb sein Gesicht in Schatten getaucht. Doch Louisa hatte im Verlauf der vergangenen Woche mehrfach mit ihm getanzt. Seine geheimnisvollen Augen und seine markanten Züge hatten sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt. Als ihre behandschuhten Fingerspitzen während des Walzers ganz sacht auf seiner Schulter geruht hatten, hatte sie die Kraft in den geschmeidigen Muskeln unter seinem maßgeschneiderten Frack gefühlt.

Mit Anthony zu tanzen war so, als würde man mit einem ausgesprochen gut gekleideten, wohlerzogenen Wolf tanzen: Das Erlebnis war zugleich gefährlich und erregend. Der Kuss vor einigen Augenblicken war noch tausendmal erregender gewesen und zweifellos tausendmal gefährlicher. Sie würde jene schockierende, lustvolle Umarmung im Flur vor Hastings’ Schlafzimmer nie vergessen, das wusste sie.

Anthony strahlte kühle Selbstbeherrschung aus, einen stählernen Willen, der sie gleichzeitig anzog und sie wachsam machte. Sie hatte gehört, dass er viel Zeit damit zugebracht hatte, ferne Länder zu bereisen, bevor er vor vier Jahren nach England zurückgekehrt war. Sie hatte den Eindruck, dass seine Erlebnisse im Ausland ihn gelehrt hatten, hinter die Fassade der Dinge zu blicken, von der sich die feine Gesellschaft so oft blenden ließ.

Die Stalbridge-Familie war allgemein für ihre zahlreichen exzentrischen Mitglieder berüchtigt. Sie zeigten sich fast nie in den gehobenen Kreisen. In den letzten Jahren waren die Stalbridges allerdings zu einem beachtlichen Vermögen gekommen, und der Stammbaum der Familie war makellos. Angesichts dieser alles entscheidenden Faktoren konnte die feine Gesellschaft die Stalbridges nicht ignorieren, hatte Lady Ashton erklärt. Anthony und die anderen Mitglieder seiner Familie wurden gewohnheitsmäßig auf jeder Gästeliste geführt, obgleich sie die Einladungen nur selten annahmen.

Jede Gastgeberin, der es gelang, einen Stalbridge zu einer Gesellschaft zu locken, konnte sich rühmen, dass ihr ein ganz besonderer Coup gelungen war. Die neue Mrs. Hastings war zweifellos sehr stolz darauf, Anthony beim ersten Ball, den sie als Hastings’ Gattin gab, präsentieren zu können.

Zufrieden, dass Notizbuch und Stift wieder verschwunden waren, machte Anthony es sich auf dem Sitz bequem und musterte Louisa eingehend.

»Was hat Sie in Hastings’ Schlafzimmer geführt?«, fragte er.

Die Unterhaltung verlief nicht so, wie sie es geplant hatte. Es war ihre Absicht gewesen, von Anfang an die Offensive zu ergreifen, aber irgendwie hatte er die Zügel an sich gerissen und verhörte jetzt sie. Ihr blieb nichts weiter übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Ich habe die Tür aus Versehen geöffnet«, erklärte sie.

»Ich hoffe, Sie verübeln es mir nicht, wenn ich Ihnen sage, dass ich kein einziges Wort dieser fadenscheinigen Ausrede glaube und dass ich bezweifle, der Mann, der uns überrascht hat, hätte es getan.«

»Ich hatte mir für diese abscheuliche Kreatur eine absolut glaubhafte Geschichte zurechtgelegt«, entgegnete sie, ohne sich ihre Worte zu überlegen. »Wenn Sie sich nicht eingemischt hätten, hätte ich ihm gesagt, dass ich nur auf der Suche nach einem Zimmer war, in dem ich schnell einen Riss in meinem Kleid flicken konnte.«

»Ich denke nicht, dass er diese Geschichte glaubhafter gefunden hätte als ich.« Anthony streckte seine Beine aus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nebenbei bemerkt, der Name jener abscheulichen Kreatur, wie Sie ihn titulierten, ist Quinby. Er ist ein bezahlter Leibwächter. Hastings hat jüngst zwei von seiner Sorte eingestellt. Beide tragen Revolver.«

Sie sah ihn entsetzt an. »Gütiger Gott, Sir. Wollen Sie damit etwa sagen, dass Mr. Quinby bewaffnet war?«

»Der Revolver steckte in seiner Manteltasche. Ich vermute, dass er außerdem ein Messer hat. Meiner Erfahrung nach tragen Männer, die im Milieu aufgewachsen sind, üblicherweise eines.«

»Verstehe.« Sie schluckte schwer, während sie diese Bemerkung sinken ließ. »Haben Sie diese Erfahrung im Verlauf Ihrer Reisen im Ausland gemacht?«

»Sie haben Erkundigungen über mich angestellt. Ich fühle mich geehrt, dass ich Sie derart beschäftigt habe.«

Sie errötete. »Nun, wie ich bereits sagte, Ihr sonderbares Interesse an mir hat meine Neugier geweckt.«

»Mein Interesse ist ganz und gar nicht sonderbar. Sie können mir gern glauben, wenn ich Ihnen sage, dass sie ausgesprochen faszinierend sind, Mrs. Bryce. Und in Antwort auf Ihre Frage: Ja, ich habe einige Zeit in Gegenden verbracht, in denen Männer gewohnheitsmäßig bewaffnet sind, und ich habe dort eine Menge gelernt.« Er machte eine Kunstpause. »Ich erkenne Männer wie Quinby auf den ersten Blick.«

Sie wusste nicht ganz, wie sie die Bemerkung, sie sei ausgesprochen faszinierend, verstehen sollte, daher entschied sie, seine Worte zu ignorieren.

»Nun, das erklärt einiges in Bezug auf Mr. Quinby«, sagte sie forsch. »Ich hatte mich gefragt, woher er das Recht nahm, uns in solch rüder Weise zur Rede zu stellen. Es war offensichtlich, dass er kein gewöhnlicher Diener ist.«

»Nein«, pflichtete Anthony bei. »Lektion Nummer Eins, Mrs. Bryce: Wenn Sie das nächste Mal einem Mann begegnen, dessen Mantel an merkwürdigen Stellen Beulen aufweist, seien Sie auf der Hut.«

»Ich werde es mir zu Herzen nehmen. Vielen Dank für den Rat, Sir.«

»Verflucht und zugenäht! Es ist reine Zeitverschwendung, Ihnen Angst machen zu wollen, nicht wahr?«

»Ich versichere Ihnen, ich bin durchaus imstande, Angst zu empfinden, Mr. Stalbridge, aber meiner Ansicht nach geht nichts über Fakten. Je mehr man über die Verbrecherwelt weiß, desto besser ist man natürlich gewappnet, sich gegen sie zu schützen. Da Sie offenkundig ein Experte sind, bin ich Ihnen sehr dankbar für jedwede Einsicht, die Sie mir bieten können.«

»Ich muss mir überlegen, welches Honorar ich dafür veranschlage.«

»Ein ausgezeichneter Gedanke, Sir«, sagte sie, und ihre Begeisterung kehrte zurück. »Ich zahle gern für Unterweisung in derartigen Dingen. Es wäre ausgesprochen nützlich.«

Er schaute aus dem Fenster im Verschlag in die Nacht hinaus, so als hoffe er auf eine Eingebung von einer überirdischen Quelle. »Geschieht mir recht. Ich hätte es besser wissen sollen, als mich darauf einzulassen.«

»Wie bitte?«

»Nichts, Mrs. Bryce. Ich rede nur mit mir selbst. Dazu haben Sie mich getrieben.«

Sie trommelte mit ihrem behandschuhten Zeigefinger auf dem Sitzpolster. Jetzt, da sie den Schrecken, mit einem bewaffneten Mann zusammengestoßen zu sein, langsam überwand, gewannen Neugier und der Kitzel des Rätselhaften die Oberhand. Warum sah Elwin Hastings die Notwendigkeit, zwei Leibwächter einzustellen? Das war eine ausgesprochen interessante Frage. Eine weitere Frage folgte der ersten auf den Fuß.

Louisa sah Anthony an. »Woher wussten Sie, dass Hastings Leibwächter eingestellt hat und dass diese bewaffnet sind?«

Anthony riss seinen Blick von der Nachtszene der Straße los. »Lassen Sie uns schlicht sagen, dass ich allem, was Hastings angeht, große Aufmerksamkeit schenke.«

»Offensichtlich. Nun, was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen den Blick nach vorne richten.«

Er wirkte amüsiert. »Ist das alles, was ich als Dank für Ihre Rettung erhalte?«

Sie lächelte kühl. »Lassen Sie uns ehrlich sein, Sir. Es kam Ihnen gut zupass, sich in dem betreffenden Moment zu erkennen zu geben, oder nicht?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, ich hatte eine ausgezeichnete Ausrede parat, aber wir wissen beide nur zu gut, dass es für Sie bedeutend schwieriger gewesen wäre, Ihre Anwesenheit in dem Flur zu erklären. Um genau zu sein: Ich denke, Sie sollten sich bei mir bedanken, dass ich Sie vor einer ausgesprochen peinlichen Situation bewahrt habe.«

Sie lehnte sich in den Sitz zurück, äußerst zufrieden damit, dass sie mit ihrer Logik geschickt den Spieß umgedreht hatte.

»Erinnern Sie mich nachher daran, Ihnen meine Dankbarkeit zu erweisen«, erwiderte er. »Um zum eigentlichen Thema zurückzukehren: Mir wollen nur zwei Gründe einfallen, weshalb jemand während eines Balls in die Privatgemächer der Gastgeber schleichen sollte. Der erste und offensichtlichste Grund ist natürlich ein Stelldichein. Sagen Sie mir, sind Sie hinaufgegangen, um sich mit Hastings zu treffen?«

Die Frage verschlug ihr die Sprache, und sie konnte ihn nur entgeistert anstarren. Schließlich schüttelte sie sich entsetzt. »Nein. Als ob ich mich je auf eine Liaison mit einem Mann von solch verderbtem Charakter einlassen würde.«

Anthony zögerte. »Was wissen Sie über ihn?«

»Unter anderem, dass er ein jung verheirateter Ehemann ist, der seine Frau demütigt, indem er hinter ihrem Rücken ein berüchtigtes Bordell besucht.«

»Wie zum Teufel haben Sie das herausgefunden?«, entfuhr es Anthony ehrlich verblüfft.

Sie hätte beinahe laut aufgelacht. »Es überrascht mich immer wieder, wie sehr es Männer schockiert, wenn sie herausfinden, dass Frauen nicht so naiv sind, wie sie angenommen haben. Wir haben unsere Quellen für Gerüchte, Sir, genau wie Sie.«

»Das bezweifle ich nicht im Geringsten. Sagen Sie mir, wenn Sie Hastings’ Moral derart verwerflich finden, warum haben Sie dann die Einladung zum heutigen Ball angenommen?«

Sie zauderte, noch nicht bereit, sich ihm anzuvertrauen. Seine aggressive Befragungsweise weckte Bedenken in ihr, ob es tatsächlich klug gewesen war, seine Hilfe zu suchen.

»Es war Lady Ashtons Wunsch, dem Ball beizuwohnen«, erklärte sie mit glatter Zunge. »Sie hat mich gebeten, sie zu begleiten.«

Anthony überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Ich fürchte, diese Version der Geschehnisse klingt nicht sehr überzeugend.«

Die kühle Unterstellung machte sie zornig. »Das ist schade, denn es ist die einzig existierende Version.«

»Wenn Sie nicht nach oben gegangen sind, um sich mit Hastings zu treffen, dann muss ich annehmen, dass Sie mit der Absicht in sein Schlafzimmer eindrangen, dort etwas zu stehlen.«

Sie erstarrte. »Ich sehe mich nicht genötigt, Ihre Fragen zu beantworten, solange Sie nicht bereit sind, auch nur eine meiner Fragen zu beantworten.«

»Verzeihen Sie mir. Wenn die Neugier mich erst einmal gepackt hat, dann lasse ich nicht mehr locker.«

»Was für ein Zufall. Mir geht es ebenso.«

»Wonach haben Sie in Hastings’ Schlafzimmer gesucht?«, fragte er unerbittlich.

Ihr Mund war schlagartig wie ausgetrocknet. Den Ball mit ihm zu verlassen war tatsächlich eine sehr schlechte Idee gewesen. Das sah sie jetzt deutlich.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Sir«, sagte sie.

»Sie ersparen uns beiden eine Menge Zeit und Energie, wenn Sie einfach die Frage beantworten.«

Sie reckte trotzig ihr Kinn nach oben. »Sie erwarten doch wohl nicht von mir, dass ich Ihnen derart persönliche Auskünfte erteile? Wir kennen uns ja kaum.«

»Nach dem heutigen Abend wird die gehobene Gesellschaft das anders sehen.«

Seine Worte trafen sie wie ein Dolch. Er hatte recht. Gerüchte verbreiteten sich in der feinen Gesellschaft wie Lauffeuer. Auch wenn man mit Fug und Recht davon ausgehen konnte, dass sich niemand auch nur einen Pfifferling um sie scherte, ergab sich in Bezug auf Anthony ein gänzlich anderes Bild. Reiche, alleinstehende Gentlemen mit makellosem Stammbaum waren für die gehobenen Kreise immer von großem Interesse. Darüber hinaus war da der Hauch von Skandal, der ihm wegen des Selbstmordes seiner Verlobten noch immer anhaftete. Morgen würde es zweifellos viel Gerede geben, dachte sie.

»Der Tratsch wird sich bald wieder legen«, sagte sie. »Früher oder später werden Sie mit einer anderen tanzen, und mich werden alle wieder vergessen.«

»Sie scheinen versessen darauf, mich alsbald loszuwerden. Das trifft mich zutiefst.«

»Ich bin kein naiver Backfisch. Wir wissen beide, dass Sie kein persönliches Interesse an mir haben. Sie haben mich während der vergangenen Woche für Ihre ganz eigenen Zwecke benutzt.«

»Denken Sie das wirklich?«

»Ja, selbstverständlich.« Sie trat mitleidlos den kleinen Funken wehmütiger Hoffnung aus, der im tiefsten Winkel ihres Herzens glomm. »Beleidigen Sie bitte nicht meine Intelligenz, Sir. Es gibt keine andere Erklärung für Ihre Avancen. Ich muss gestehen, dass ich mich gewundert hatte, was Sie wohl im Schilde führten, aber ich glaube, diese Frage wurde heute Abend beantwortet.«

»Tatsächlich? Und wie lautet die Antwort?«

»Angesichts Ihrer Karriere als Juwelendieb haben Sie selbstverständlich gute Gründe, bestimmten gesellschaftlichen Anlässen beizuwohnen. Ebenso selbstverständlich erachten Sie es als nützlich, die Leute in die Irre zu führen, damit niemand es bemerkt, wenn Sie Ihren diebischen Machenschaften nachgehen. Während der vergangenen Woche bedienten Sie sich zu diesem Zweck Lady Ashtons mittelloser Verwandten aus der Provinz, oder trifft das etwa nicht zu?«

»Sie denken, ich hätte Sie als Tarnung für meine kriminellen Umtriebe benutzt?«, fragte er ungläubig.

Sie breitete die Hände aus. »Ich glaube, unter Magiern nennt man so etwas Irreführung. Solange die Leute glauben, dass der weltmüde Mr. Stalbridge sich damit amüsiert, eine Witwe vom Lande zu verführen, werden sie sich nicht fragen, was er sonst noch alles treiben mag.«

»Teufel noch einmal«, entfuhr es ihm nicht ohne Bewunderung. »Sie glauben tatsächlich, dass es meine Angewohnheit ist, mir anderer Leute Wertgegenstände anzueignen.«

»Das ist die einzige Erklärung, die angesichts der Fakten einen Sinn ergibt.« Sie räusperte sich. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihre nächtliche Karriere erklärt, weshalb sich die Stalbridges in jüngsten Jahren eines wachsenden Wohlstands erfreuen? Lady Ashton erzählte mir, dass bis vor vier Jahren, bevor Sie nach England zurückkehrten, das Gerücht ging, Ihre Familie stünde am Rande des Bankrotts.«

»Sie denken, ich hätte die Finanzen meiner Familie gerettet, indem ich eine Laufbahn als Juwelendieb eingeschlagen habe?«

»Sie müssen zugeben, dass es eine begründete Hypothese ist.«

»Basierend auf der Tatsache, dass ich Sie im Lauf der vergangenen Woche mehrmals zum Tanz aufgefordert habe? Nein, Mrs. Bryce, ich gestehe nicht zu, dass das eine begründete Hypothese ist. Ihre Beweise sind viel zu schwach.«

»Oh, da ist natürlich ein bisschen mehr als nur das Tanzen, Sir«, erwiderte sie kühl.

Er rührte sich nicht. »Und das wäre?«

»Ich habe letztens beobachtet, wie Sie sich aus Lady Hammonds Ballsaal gestohlen haben. Ich nahm an, Sie hätten ein Stelldichein im Garten, doch Sie sind stattdessen nach oben geschlichen.«

»Gütiger Gott, Sie sind mir gefolgt?«

»Nur bis zum Fuß der Treppe«, versicherte sie ihm. »Ich fand, dass ich unter den Umständen das Recht hätte zu erfahren, was Sie im Schilde führten.«

»Unter den Umständen? Zum Teufel, Mrs. Bryce, ich habe doch nur ein paar Male mit Ihnen getanzt, mehr nicht!«

»Ja, und ich wusste, dass es dafür einen Grund geben musste«, entgegnete sie. »Wie Sie selbst bereits sagten, gibt es nur eine begrenzte Anzahl Gründe, weshalb jemand während eines Balls die Dienstbotentreppe hinaufschleichen sollte. Bislang war ich davon ausgegangen, dass es Ihre Angewohnheit sei, sich in dieser Weise mit Ihren Liebschaften zu treffen, doch heute Abend habe ich erkannt, dass Sie aller Wahrscheinlichkeit nach ein Dieb sind.«

»Sie verschlagen mir den Atem, Mrs. Bryce.«

Sie bezweifelte, dass dies als Kompliment gemeint war. So viel zu dem Versuch, die Wahrheit aus ihm herauszukitzeln. Er hatte offenbar nicht die Absicht, zu gestehen, dass er ein Einbrecher war. Nun gut. Sie würde ihm auch keines ihrer Geheimnisse anvertrauen, trotz der beachtlichen Wirkung, die seine Gegenwart auf ihren Herzschlag hatte.

»In Anbetracht Ihres Berufs, Mr. Stalbridge, sind Sie wohl kaum in der Position, mich bezüglich meiner Handlungen auszufragen, ganz zu schweigen davon, diese zu kritisieren.«

»Mrs. Bryce, diese Unterhaltung ist ohne jeden Zweifel die faszinierendste, die ich seit Jahren geführt habe. Ich werde jedoch ganz unverblümt sprechen. Ich weiß nicht, was Sie heute Abend vorhatten, aber ich muss Ihnen sagen, dass Sie ein großes Risiko eingegangen sind, als Sie sich in Elwin Hastings’ Schlafzimmer geschlichen haben. Sie machen sich offensichtlich keine Vorstellung von der Gefahr, in die Sie sich begeben haben.«

Die grimmige Gewissheit seiner Worte ließ sie stocken.

»Die einzige ernstliche Gefahr, in der ich mich befand, bestand darin, möglicherweise einen etwas peinlichen Moment überstehen zu müssen«, sagte sie.

»Wenn Sie das glauben, dann muss ich Ihnen leider sagen, dass Sie Hastings beileibe nicht so gut kennen, wie Sie denken.«

»Ich gestehe Ihnen durchaus zu, dass Sie bedeutend mehr über ihn wissen.« Sie hielt kurz inne, dann schenkte sie ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Vielleicht wären Sie so freundlich, mich aufzuklären?«

Seine Züge wurden hart. »Geben Sie gut acht, Mrs. Bryce. Wenn Hastings Grund zu der Annahme hätte, Sie stellen möglicherweise eine Bedrohung für ihn dar, könnten Sie sich in sehr großer Gefahr befinden.«

Ihr Lächeln erlosch. »Sie wollen doch wohl nicht andeuten, dass er so weit gehen würde, mich zu ermorden, nur weil ich aus Versehen die Tür seines Schlafzimmers geöffnet habe?«

»Doch, Mrs. Bryce, genau das will ich sagen.«

Ihr stockte hörbar der Atem. »Das ist doch lächerlich, Sir. Er ist sicher kein netter Mensch, aber er ist ein Gentleman. Ich bezweifle sehr, dass er sich herabließe, eine Lady zu ermorden, die ihm nichts getan hat.«

Anthony setzte sich abrupt auf, sodass sie erschrocken zusammenfuhr. Er ergriff ihre Handgelenke und beugte sich dicht zu ihr.

»Hören Sie mir gut zu, Mrs. Bryce. Wenn ich mit meinen Vermutungen über Elwin Hastings recht habe, dann hat er bereits zwei Morde begangen.«

Entsetzen ließ sie erschaudern. »Gütiger Himmel, Sir. Sind Sie da sicher?«

»Ich habe noch keine Beweise, aber ja, ich bin sicher.«

»Ich schätze, ich muss mich auf Ihr Wort verlassen«, sag-

te sie bedächtig. »Sie verfügen zweifellos über bessere Verbindungen zur Verbrecherwelt als ich, und deshalb kennen Sie sich in derlei Dingen natürlich besser aus.«

»Höre ich da einen Anflug von Neid?«

»Nun, ich muss gestehen, gelegentlich wären mir fundierte Kenntnisse über die kriminelle Unterwelt ausgesprochen nützlich.«

»Was genau ist Ihre Beschäftigung, Mrs. Bryce?«, fragte er eindringlich.

Abermals lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Sie war sich bewusst, wie fest seine kräftigen Finger ihre Handgelenke umschlossen. Er tat ihr nicht weh, doch es bestand kein Zweifel daran, dass Sie seine Gefangene war. Es kostete sie alle Willenskraft, ihre Stimme ruhig zu halten.

»Keine Sorge, Sir, ich bin keine Konkurrenz für Sie«, versicherte sie ihm. »Ich habe kein Interesse an Hastings’ Juwelen.«

»Was zum Henker haben Sie dann in seinem Zimmer zu finden gehofft?«

Sie zögerte kurz, dann traf sie eine Entscheidung. Er wusste bereits, dass sie in dem Zimmer gewesen war, und er hatte sie nicht an den Leibwächter verraten. Es war eindeutig, dass er kein Freund von Elwin Hastings war, und obgleich er nach außen hin wie ein Gentleman wirkte, war und blieb er ein erklärter Dieb, eine Spezies, die nicht gerade für ihre Skrupel bekannt war. Außerdem blieb ihr keine große Wahl. Anthony war ein ungewöhnlicher Gentleman, so ganz anders als andere Männer. Vielleicht würde er ihr tatsächlich helfen, und wenn auch nur aus dem Grund, weil ihn die Herausforderung reizte.

»Ich hatte gehofft, Beweise zu finden, dass Hastings Teilhaber eines gewissen Bordells ist«, gestand sie. »Ein Etablissement namens Phoenix House.« Sie hielt den Atem an.

Ihre Worte schienen Anthony die Sprache zu verschlagen. Er musterte sie lange und eingehend. Er ließ ihre Handgelenke los, doch er blieb vorgebeugt sitzen; die Unterarme auf die Schenkel gestützt, die Finger locker verschränkt zwischen den Knien, betrachtete er Louisa, als wäre sie ein sonderbares Exemplar in einem außergewöhnlichen Zoo.

»Sie suchen nach Beweisen, dass Hastings Geld in ein Bordell investiert hat?«, fragte er, so als wolle er sich vergewissern, sich nicht verhört zu haben.

Sie umklammerte ihren Muff. »Ja.«

»Dürfte ich fragen, warum?«

»Nein, dürfen Sie nicht. Es geht Sie nicht das Geringste an, Sir.«

Er nickte. »Nein, das tut es wohl wirklich nicht. Wie kamen Sie auf die Idee, die Beweise könnten sich in Hastings’ Schlafzimmer befinden?«

»Ich hatte früher am Abend Gelegenheit, in die Bibliothek zu schlüpfen und seinen Schreibtisch zu durchsuchen. Die Schubladen waren nicht einmal abgeschlossen. Ich habe nichts Brauchbares gefunden. Das Schlafzimmer war der einzige andere Ort, der mir einfiel, an dem sich eine Suche lohnen könnte.«

»Sie haben seinen Schreibtisch nach Unterlagen über seine Finanzen durchsucht.« Anthony war inzwischen jenseits jeder Verblüffung. Er schüttelte nur den Kopf. »Von all den törichten, leichtsinnigen, tollkühnen …«

»Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten, Sir«, sagte sie beleidigt. »Und außerdem war es nicht tollkühn. Es war niemand in der Nähe. Die Diener waren heute Abend alle beschäftigt.«

»Es ist ein Wunder, dass Sie nicht von einem der Wächter ertappt wurden.«

»Ja, nun, ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht von deren Existenz«, gestand sie kleinlaut.

»Eine schwerwiegende Unwissenheit.«

»In der Tat«, gab sie zu. Sie richtete sich trotzig auf. »Wie ich bereits sagte, das Schlafzimmer war der einzige andere Ort, der mir für eine Suche infrage zu kommen schien.«

»Ich gehe davon aus, dass Sie die Beweise, nach denen Sie suchten, nicht gefunden haben.«

»Leider nein.« Sie seufzte. »Ich habe alle Schubladen in der Kommode durchsucht, und ich habe sogar unter dem Bett nachgeschaut. Neben dem Fenster steht ein kleiner Sekretär. Die Schublade war unverschlossen, aber es befand sich nichts darin. Ich wusste nicht, wo ich sonst noch suchen sollte. Ein Tresor war nirgends zu entdecken.«

»Weil der Tresor unter dem Fußboden verborgen ist.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Wissen Sie das genau?«

»Ja. Es ist übrigens ein Apollo Patented Safe, der sicherste Geldschrank auf dem Markt.«

»Ich bin tief beeindruckt, Sir. Sie müssen wirklich sehr gut in Ihrem Metier sein. Sie stellen offenkundig gründliche Erkundigungen an über Ihre, ähm, Zielobjekte. Es wäre mir niemals eingefallen, unter dem Fußboden nach dem Tresor zu suchen.«

»Zum Glück. Wenn Sie auch nur einen Moment länger in dem Zimmer geblieben wären, hätte der Wächter Sie wahrscheinlich dort überrascht.«

»Selbst wenn ich den Tresor entdeckt hätte, genutzt hätte es mir nichts. Ich muss zu meinem Bedauern gestehen, dass ich zwar durchaus imstande bin, einfache Schlösser mittels einer Haarnadel zu öffnen, doch leider keinerlei Erfahrung mit dem Knacken von Tresoren habe.«

»Ich höre mit Staunen, dass Ihrer Findigkeit Grenzen gesetzt sind, Mrs. Bryce.«

Ihre verschränkten Finger verkrampften sich. »Ihr Sarkasmus ist gänzlich unangebracht, Sir.«

»Falls es Sie beruhigt, ist es meines Wissens bislang noch niemandem gelungen, das Schloss eines Apollo zu knacken. Tresorknacker haben gelegentlich auf Sprengstoff zurückgegriffen, um diesen Geldschrank zu öffnen, weil das derzeit die einzig erfolgreiche Methode ist.«

»Und wie haben Sie dann beabsichtigt, Hastings’ Tresor zu öffnen, Sir? Denn das war eindeutig Ihre Absicht heute Abend.«

»Verzeihung, ich hätte sagen sollen, dass es bislang noch fast niemandem gelungen ist, das Schloss zu knacken. Es gibt eine Ausnahme.«

Sie war augenblicklich Feuer und Flamme. »Sie?«

»Ja.«

Sie nahm allen Mut zusammen. »In diesem Fall, und angesichts der Tatsache, dass wir uns inzwischen schon so gut verstehen, möchte ich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten.« »Hören Sie auf, Mrs. Bryce.« Er hielt die Hand hoch. »Sagen Sie kein weiteres Wort.«

»Ich hatte mich nur gefragt, ob Ihre professionellen Dienste möglicherweise käuflich zu erwerben sind«, platzte sie heraus.

Er zuckte mit keiner Wimper. »Sie wollen mich engagieren, Hastings’ Tresor zu knacken?«

»Genau. Mein Vorhaben heute Abend war ein Fehlschlag, aber Sie sind offenkundig ein Experte in derlei Dingen.« Sie deutete mit einer ausholenden Geste auf seine maßgeschneiderte Abendkleidung und die elegante, bequeme Kutsche, in der sie fuhren. »Sie waren in den vergangenen Jahren eindeutig sehr erfolgreich tätig. Es ist mir bewusst, dass Sie es nicht nötig haben, Klienten anzunehmen. Doch wenn Sie sowieso vorhaben, Hastings’ Tresor zu knacken, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich kurz darin umschauen würden. Ich interessiere mich für alle Unterlagen im Zusammenhang mit dem Bordell. Ich werde mich erkenntlich zeigen.«

»Mrs. Bryce, ich nehme keine Aufträge für derartige Dinge an.«

»Das verstehe ich.« Sie schenkte ihm ihr strahlendstes, aufmunterndstes Lächeln. »Aber ein gewiefter Geschäftsmann wie Sie würde doch sicher nie das Angebot einer Entlohnung vonseiten einer dankbaren Person ablehnen.« Er antwortete lange nicht.

»Nun, Sir?«, drängte sie.

»Sie sind eine außergewöhnliche Frau, Mrs. Bryce.«

»Sie selbst sind auch recht ungewöhnlich, Sir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Juwelendiebe gibt, die sich in den gehobenen Kreisen bewegen.«

Diese Bemerkung schien ihn zu amüsieren. »Sie wären überrascht, Mrs. Bryce. Ich bin überzeugt, man kann davon ausgehen, dass die Angehörigen der feinen Gesellschaft nicht ehrlicher sind als die Angehörigen anderer Schichten.«

»Da stimme ich Ihnen vorbehaltlos zu, Sir«, sagte sie. »Doch der Unterschied ist, dass die Hochgestellten bedeutend seltener für ihre Verbrechen zahlen müssen als die Angehörigen der unteren Klassen.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Sie klingen zynisch, Mrs. Bryce.«

»Ich mache mir keine Illusionen hinsichtlich der Reichen und Mächtigen, Sir. Ich weiß nur zu gut, welchen Schaden sie anrichten können und wie leicht es für sie ist, sich ihrer gerechten Strafe zu entziehen. Doch ich glaube nicht, dass dies der richtige Moment ist, diese Dinge zu debattieren, oder was meinen Sie?«

»Nein«, pflichtete er ihr bei. »Wir haben dringendere Probleme.«

»Sie haben zweifellos vor, später zu Hastings’ Haus zurückzukehren, um Ihr Vorhaben zu vollenden. Ich bitte Sie um nicht mehr, als nach Dokumenten Ausschau zu halten, die sich auf Phoenix House beziehen. Ich entlohne Sie gern für Ihre Mühe.«

»Immer vorausgesetzt, dass ich nicht erschossen werde.«

»Ja, nun, ich bin sicher, dass Sie ein sehr kompetenter Einbrecher sind, Sir. Schließlich haben Sie bis jetzt überlebt.«