Süßer Betrug - Amanda Quick - E-Book

Süßer Betrug E-Book

Amanda Quick

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Beschreibung

Wie ein rettender Engel taucht er in ihrem Leben auf: Zuerst befreit der mysteriöse Fremde die hübsche Olympia Wingfield aus den Klauen eines zudringlichen Nachbarn, dann stellt er sich unter dem Namen Chillhurst als der neue Hauslehrer vor. Von weiten Reisen in ferne Länder erzählend, betört er die träumerische Olympia mit seinem exotischen Zauber. Doch seine Absichten sind keineswegs ohne schurkische Hintergedanken …

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Seitenzahl: 561

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

 

 

Buch

Die hübsche Olympia Wingfield hat alle Hände voll zu tun, als sie sich plötzlich um ihre verzogenen Neffen kümmern muß, die soeben ihre Mutter verloren haben. Zu allem Überfluß muß sie sich auch noch einen etwas zudringlichen, aber unermüdlichen Nachbarn vom Hals halten. Als er sie eines Tages in der Bibliothek überrascht und sie ihm ausgeliefert scheint, kommt ihr ein mysteriöser Fremder zu Hilfe, der behauptet, sein Name sei Chillhurst und er der neue Hauslehrer ihrer Neffen. Er erzählt von weiten Reisen und fernen Inseln und schlägt die träumerische Olympia mit seinem exotischen Zauber völlig in seinen Bann. Und längst hat Olympia sich auf eine skandalöse Affäre eingelassen, als sie erfährt, daß Chillhurst der Nachkomme eines berüchtigten Seeräubers ist und sich mit hinterhältigen Absichten in ihr Leben geschlichen hat.

 

Autorin

Amanda Quick ist das Pseudonym der erfolgreichen, vielfach ausgezeichneten Autorin Jayne Ann Krentz. Die Auflagen ihrer historischen und zeitgenössischen Liebesromane haben in den USA die Millionen-Grenze weit überschritten. Auch in Deutschland gehört sie mittlerweile zu den Top-Autorinnen ihres Genres. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie an der pazifischen Nordwestküste der USA.

 

AMANDA QUICK

SÜSSER BETRUG

Roman

 

 

 

 

Aus dem Amerikanischen von Uta Hege

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Deception« bei Bantam Books, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 1993 by Jayne A. Krentz

Published by arrangement with Bantam Books, a division of Bantam Doubleday Dell Publishing Group, Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1994 by Wilhelm Goldmann Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: Design Team München Coverfoto: Agentur Schlück/Lina Levy

ISBN 978-3-641-24642-6

V004

FÜR REBECCA CABAZA:

Eine Verlegerin mit Verständnis

für Romantik. Es ist ein Vergnügen,

mit Dir zu arbeiten.

 

 

 

Prolog

»Sagen Sie ihr, daß sie sich vor dem Wächter hüten muß.« Artemis Wingfield beugte sich über den Tisch in der Taverne. Der Blick aus seinen blaßblauen Augen unter den buschigen grauen Brauen war eindringlich. »Haben Sie das verstanden, Chillhurst? Sie muß sich vor dem Wächter hüten.«

Jared Ryder, Vicomte Chillhurst, stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte die Fingerspitzen aneinander und betrachtete sein Gegenüber mit seinem gesunden Auge. Wingfield hatte in den letzten zwei Tagen Vertrauen zu ihm gefaßt, dachte er, so großes Vertrauen, daß er die schwarze Samtklappe nicht länger anstarrte, die Jareds blindes Auge verdeckte.

Es war offensichtlich, daß Wingfield Jared als den akzeptiert hatte, der er vorgab zu sein – ein abenteuerlustiger Engländer, der, nachdem der Krieg gegen Napoleon zu Ende war, endlich wieder reisen wollte.

Die beiden Männer hatten die letzten zwei Nächte in demselben Gasthaus in dem tristen, kleinen französischen Hafen verbracht, wo sie auf die Schiffe warteten, die sie an ihre jeweiligen Bestimmungsorte bringen sollten.

Schweißtropfen liefen über Wingfields Gesicht. Es war ein warmer Abend im Spätfrühling, und die verräucherte Taverne war zum Bersten voll. Jared war der Meinung, daß Wingfield unnötigerweise unter der Hitze litt. Der hohe Kragen, die elegant gebundene Krawatte, die engsitzende Weste sowie der vornehme Rock des älteren Mannes trugen gewiß zu seinem Unbehagen bei.

Die modische Kleidung paßte weder zu der milden Nacht noch zu der schäbigen Hafenkneipe. Wingfield gehörte jedoch offensichtlich zu der Sorte von Engländern, denen das Erscheinungsbild weit wichtiger war als Bequemlichkeit. Jared nahm an, daß sein neuer Bekannter sich auf seinen Reisen allabendlich zum Dinner umzog, auch wenn das Mahl in einem Zelt serviertwurde.

»Ich verstehe die Worte, Sir.« Jareds Fingerspitzen klopften gegeneinander. »Aber mir entgeht ihr Sinn. Wer oder was ist dieserWächter?«

Wingfields Barthaare zuckten. »Das alles ist vollkommener Unsinn, wenn Sie mich fragen. Es ist nur Teil einer alten Legende in Verbindung mit einem Tagebuch, das ich meiner Nichte nach England schicke. Der alte Mann, der mir das Buch verkauft hat, erzählte mir von der Warnung.«

»Ich verstehe«, sagte Jared höflich. »Hüten Sie sich vor dem Wächter. Interessant.«

»Wie gesagt, das ist nur eine alte Legende, die mit dem Tagebuch zusammenhängt. Trotzdem, letzte Nacht ist etwas Seltsames passiert, und man kann nicht vorsichtig genug sein.«

»Etwas Seltsames?«

Wingfields Blick verengte sich. »Ich glaube, mein Zimmer hier im Gasthaus wurde durchsucht, während ich beim Essen war.«

Jared runzelte die Stirn. »Davon haben Sie heute morgen beim Frühstück nichts erzählt.«

»Ich war mir nicht sicher. Sehen Sie, es wurde nichts gestohlen. Aber den ganzen Tag über hatte ich das höchst eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden.«

»Äußerst unangenehm.«

»In der Tat. Zweifellos hat das alles nichts mit dem Tagebuch zu tun, aber ich war doch leicht beunruhigt. Schließlich möchte ich meine Nichte nicht in Gefahr bringen.«

Jared nahm die Hände auseinander und genehmigte sich einen Schluck von seinem Leichtbier. »Was ist das für ein Tagebuch, das Sie ihr daschicken?«

»Das Tagebuch einer Lady«, erläuterte Wingfield. »Es gehörte einer Frau namens Claire Lightbourne. Das ist alles, was ich darüber weiß. Die Einträge sind größtenteils vollkommen unverständlich.«

»Wie das?«

»Es scheint in einer abstrusen Mischung aus Griechisch, Latein und Englisch geschrieben worden zu sein. Fast wie ein Geheimcode. Meine Nichte glaubt, daß das Lightbourne-Tagebuch der Schlüssel zu einem sagenhaften Schatz ist.« Wingfield schnaubte.

»Sie glauben die Geschichte nicht?«

»Das Ganze klingt ziemlich phantastisch, wenn Sie mich fragen. Aber es wird Olympia Spaß machen, die Eintragungen zu entziffern. Ihr gefallen solche Dinge.«

»Klingt, als sei sie eine recht ungewöhnliche Frau.«

Wingfield kicherte vergnügt. »Das ist sie. Nehme an, es ist nicht ihre Schuld. Sie wuchs bei einer recht exzentrischen Tante und deren Freundin auf. Ich kannte diesen Zweig der Familie nicht besonders gut, aber es hieß, daß die beiden Damen Olympias Erziehung selbst übernommen haben. Sie haben ihr lauter seltsame Dinge in den Kopfgesetzt.«

»Was für Dinge?«

»Dank ihrer Erziehung kümmert Olympia sich nicht im geringsten um Fragen der Schicklichkeit. Verstehen Sie mich nicht falsch, sie ist eine wohlerzogene junge Dame. Ihr Ruf ist tadellos. Aber sie interessiert sich nicht im geringsten für die Dinge, für die sich junge Frauen im allgemeinen interessieren sollten, wenn Sie verstehen, was ichmeine.«

»Was zum Beispiel?«

»Mode. Sie hat keinerlei Interesse an schönen Kleidern. Und ihre Tante hat ihr niemals all die nützlichen Dinge beigebracht, die eine Lady braucht, wie zum Beispiel Tanzen, Flirten oder wie man einem potentiellen Verehrer gefällt.« Wingfield schüttelte den Kopf. »Sie hat eine höchst eigenartige Erziehung genossen, wenn Sie mich fragen. Ich nehme an, das ist der Hauptgrund dafür, daß sie keinen Ehemann gefunden hat.«

»Wofür interessiert sich Ihre Nichte denn?« Jareds Neugierde war geweckt.

»Alles, was mit den Bräuchen und Legenden ferner Länder zu tun hat, fasziniert das Mädchen. Sie ist aktives Mitglied der Gesellschaft für Reisen und die Erforschung fremder Länder, wissen Sie, obgleich sie in ihrem ganzen Leben noch nicht aus Dorset herausgekommen ist.«

Jared blickte ihn an. »Wenn sie selbst nicht reist, wie kann sie dann aktives Mitglied in der Gesellschaft sein?«

»Sie spürt alte Bücher, Magazine und Briefe auf, die mit Reisen und der Erforschung fremder Länder zu tun haben. Sie studiert alles sehr sorgfältig, zieht eigene Schlußfolgerungen und schreibt dann darüber Berichte. Während der letzten drei Jahre hat sie verschiedene Abhandlungen im vierteljährlich erscheinenden Magazin der Gesellschaft veröffentlicht.«

»Hat sie das?« Jareds Interesse wuchs mit jeder Minute.

»In der Tat.« Stolz flackerte in Wingfields Augen auf. »Höchst erfolgreiche Abhandlungen, weil sie alle möglichen interessanten Informationen über die Sitten und Gebräuche fremder Völker enthalten.«

»Und wie hat sie das Lightbourne-Tagebuch entdeckt?« fragte Jared vorsichtig.

Wingfield zuckte mit den Schultern. »Durch eine Reihe von Briefen, die sie im Verlauf ihrer Nachforschungen entdeckt hat. Sie brauchte fast ein Jahr, aber schließlich fand sie heraus, daß das Tagebuch in einer kleinen Stadt hier an der französischen Küste sein mußte. Es war ursprünglich Teil einer wesentlich größeren Büchersammlung, die während des Krieges zerstört wurde.«

»Sie sind extra hierhergekommen, um dieses Tagebuch für Ihre Nichte zu erwerben?«

»Es lag auf meinem Weg«, sagte Wingfield. »Ich bin unterwegs nach Italien. Offensichtlich hat das Tagebuch in den letzten Jahren ziemlich häufig den Besitzer gewechselt. Der alte Mann, der es mir verkauft hat, war in einer Notlage. Er brauchte dringend Geld und war überglücklich, ein paar von seinen Büchern verkaufen zu können. Ich habe bei der Gelegenheit gleich noch ein paar andere Bände für Olympia erstanden.«

»Und wo ist das Tagebuch jetzt?«

»Oh, es ist in Sicherheit.« Wingfield blickte selbstzufrieden. »Ich habe es gestern eingepackt und mit den anderen Sachen, die ich Olympia schicke, an Bord der Sea Flame bringen lassen.«

»Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Sachen, während sie an Bord des Schiffes sind?«

»Gütiger Himmel, nein. Die Sea Flame ist eines der Flamecrest-Schiffe. Hervorragender Ruf. Zuverlässige Besatzung und erfahrene, vertrauenswürdige Kapitäne. Nein, nein, meine Sachen sind dort in sicheren Händen.«

»Aber die englischen Straßen halten Sie nicht für sonderlich sicher, oder?«

Wingfield verzog das Gesicht. »Ich bin wesentlich ruhiger, seit ich weiß, daß Sie die Waren persönlich nach Upper Tudway in Dorset begleiten werden.«

»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen.«

»Ja, Sir, meine Nichte wird begeistert sein, wenn sie das Tagebuch sieht.«

Jared beschloß, daß Olympia Wingfield tatsächlich ein höchst eigenartiges Geschöpf war. Nicht, daß er selbst nicht ausreichend Erfahrung hätte mit seltsamen Menschen. Schließlich war er in einer Familie von außergewöhnlichen Exzentrikern aufgewachsen.

Wingfield lehnte sich in seiner Ecke zurück und sah sich in der Taverne um. Sein Blick fiel auf einen narbenübersäten, kräftigen Mann am Nebentisch. Der Mann trug ein Messer und hatte einen brutalen Gesichtsausdruck, der alle Besucher davon abhielt, sich zu ihm zu setzen. So wie er sahen viele der Gäste aus.

»Ziemlich rauh, die Kerle, nicht wahr?« fragte Wingfield etwas beklommen.

»Die Hälfte der Männer, die Sie hier heute abend sehen, sind wohl nur wenig besser als Piraten«, sagte Jared. »Soldaten, die nicht wußten wohin, als Napoleon schließlich besiegt wurde. Matrosen, die auf ein Schiff warten. Männer auf der Suche nach einer willigen Hure oder einer Schlägerei. Das normale Gesindel, das sich so in Hafenstädtenherumtreibt.«

»Und die andere Hälfte?«

Jared lächelte leicht. »Das sind wahrscheinlich Piraten.«

»Überrascht mich nicht. Sie sagten, Sie seien ziemlich viel gereist, Sir. Sie müssen also Orte wie diesen zur Genüge kennen. Nehme an, Sie haben gelernt, auf sich aufzupassen.«

»Wie Sie sehen, habe ich bisher überlebt.«

Wingfield blickte vielsagend auf die schwarze Samtklappe, die Jareds zerstörtes Auge verdeckte. »Wie ich feststelle, jedoch nicht ganz unbeschadet.«

»Nein, nicht ganz unbeschadet.« Jareds Mund verzog sich zu einem humorlosen Lächeln. Er war sich durchaus bewußt, daß die Leute sein Äußeres im allgemeinen nicht gerade vertrauenerweckend fanden. Und nicht nur die Augenklappe machte sie mißtrauisch. Selbst im günstigsten Fall, wenn sein Haar gerade vernünftig geschnitten war und er modische Kleider trug, sah er immer noch aus wie ein Pirat. Das hatten sogar die Mitglieder seiner eigenen Familie häufig genugfestgestellt.

Deren Hauptsorge war jedoch die, daß er sich nicht auch noch wie ein Pirat verhielt.

Alles in allem war Jared eher ein kühler Geschäftsmann als der leidenschaftliche, draufgängerische Sohn, von dem sein Vater gehofft hatte, daß er die Familientradition weiterführen würde.

Am Anfang hatte Wingfield vorsichtige Distanz zu ihm gewahrt. Jared wußte, daß nicht sein Äußeres, sondern seine ruhige Art und seine gewählte Ausdrucksweise den älteren Mann veranlaßt hatten, ihn schließlich doch als ebenbürtigen Gentleman zu akzeptieren.

»Wie haben Sie Ihr Auge verloren, wenn ich fragen darf?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Jared. »Und eine schmerzhafte dazu. Ich würde im Augenblick lieber nicht darüber sprechen.«

»Natürlich, natürlich.« Wingfield errötete. »Bitte entschuldigen Sie meine Impertinenz.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich bin es gewohnt, daß die Leute mich anstarren.«

»Ja, nun, ich muß sagen, daß ich mir erheblich weniger Sorgen machen werde, wenn die Sea Flame morgen früh erst einmal in See gestochen ist. Es ist eine große Beruhigung für mich zu wissen, daß Sie an Bord sein werden und meine Waren dann sogar noch bis nach Upper Tudway begleiten. Ich möchte Ihnen noch einmal für Ihre freundliche Hilfsbereitschaft danken.«

»Da ich selbst auf dem Weg zurück nach Dorset bin, ist es mir ein Vergnügen, Ihnen behilflich zu sein.«

»Auf diese Weise spare ich sogar noch eine nicht unbeträchtliche Summe«, vertraute Wingfield ihm an. »Ich brauche nicht wie sonst extra in Weymouth eine Firma mit dem Weitertransport der Waren zu beauftragen. Ganz schön teuer, so etwas.«

»Es ist nie ganz billig, Sachen zu importieren.«

»Nein, und unglücklicherweise hat Olympia für die letzten beiden Warensendungen bei weitem nicht soviel Geld erhalten, wie ich gehofft hatte. Ich hatte angenommen, das Geschäft sei etwas einträglicher.«

»Der Markt für importierte Waren ist äußerst schwankend«, sagte Jared. »Ist Ihre Nichte denn eine gute Geschäftsfrau?«

»Gütiger Himmel, nein.« Wingfield kicherte vergnügt. »Olympia hat nicht den geringsten Geschäftssinn. Sie ist zwar äußerst clever, hat aber einfach kein Interesse an Finanzdingen. Ich fürchte, sie schlägt ganz nach meinem Zweig der Familie. Am liebsten würde sie wie ich die Welt bereisen, aber das ist natürlichunmöglich.«

»Eine Frau allein hätte in den meisten Teilen der Welt erhebliche Schwierigkeiten«, pflichtete Jared ihm bei.

»Nun, das hätte meine Nichte bestimmt nicht am Reisen gehindert. Ich habe ja bereits gesagt, daß sie kein typisches englisches Fräulein ist. Sie ist jetzt fünfundzwanzig und hat ihren eigenen Kopf. Nicht auszudenken, was sie alles unternehmen würde, wenn sie über ein entsprechendes Einkommen verfügte und nicht ihre drei Neffen am Hals hätte.«

»Sie zieht ihre Neffen auf?«

Wingfields Barthaare zuckten. »Sie nennt sie ihre Neffen, und sie nennen sie Tante Olympia, aber in Wahrheit ist die verwandtschaftliche Beziehung nicht ganz so eng. Bei den Jungen handelt es sich um die Söhne eines Cousins und seiner Frau, die vor ein paar Jahren bei einem Kutschenunglück ums Leben kamen.«

»Und wie sind die Kinder zu Ihrer Nichte gekommen?«

»Sie wissen, wie solche Dinge laufen, Sir. Nach dem Tod ihrer Eltern wurden die Jungen von einem Verwandten zum anderen weitergereicht, bis sie schließlich vor sechs Monaten bei Olympia landeten. Sie hat sie dann aufgenommen.«

»Ganz schön viel Arbeit für eine alleinstehende junge Frau.«

»Besonders, wenn sie nichts anderes im Kopf hat als die Erforschung fremder Länder und alter Legenden.« Wingfield runzelte nachdenklich die Stirn. »Die Jungen sind recht wild. Sie haben in den sechs Monaten bereits drei Hauslehrern das Fürchten gelehrt. Reizende Kinder, aber nichts als Unfug im Kopf. Der ganze Haushalt scheint permanent in Aufruhr zusein.«

»Ich verstehe.« Jared war selbst in einem Haushalt aufgewachsen, in dem es drunter und drüber gegangen war. Diese Erfahrung reichte ihm. Er zog ein ruhiges, geordnetes Leben vor.

»Natürlich versuche ich, Olympia so gut es geht zu helfen. Ich tue, was ich kann, wenn ich in England bin.«

Aber Sie bleiben nicht lange genug in England, um sich selbst dieser drei jungen anzunehmen, nicht wahr? dachte Jared. »Was schikken Sie Ihrer Nichte noch außer dem Lightbourne-Tagebuch?«

Wingfield leerte sein Bierglas. »Stoffe, Gewürze und ein paar billige Schmuckstücke. Und natürlich Bücher.«

»Und sie sorgt dafür, daß die Sachen in London verkauft werden?«

»Alles außer den Büchern. Die sind für ihre Bibliothek. Der Rest geht nach London. Mit einem Teil des Geldes führt sie ihren eigenen Haushalt, und das, was übrig ist, spart sie, um meine Reisen mitzufinanzieren. Das System ist also für uns beide von Vorteil, obgleich ich wie gesagt gedacht hätte, daß wir ein wenig mehr damit verdienen würden.«

»Es ist schwierig, erfolgreich Geschäfte zu machen, wenn man sich nicht selbst um alles kümmert«, bemerkte Jared trocken.

Er dachte an die Probleme, die er selbst während der letzten sechs Monate gehabt hatte. Er würde seine Nachforschungen intensivieren müssen. Es gab keinen Zweifel mehr, daß mehrere tausend Pfund aus dem enormen Flamecrest-Vermögen unterschlagen worden waren. Es war Jared egal, daß er getäuscht worden war. Er hatte jedoch keineswegs die Absicht, sich weiterhin von jemandem zum Narren halten zu lassen.

Alles zu seiner Zeit, ermahnte er sich. Im Augenblick mußte er sich um das Tagebuch kümmern.

»Sie haben vollkommen recht, wenn Sie sagen, daß man sich am besten um alles selbst kümmert, aber Tatsache ist nun einmal, daß weder Olympia noch ich großes Interesse an derart langweiligen Dingen haben. Nun, zumindest kommen wir über die Runden.« Wingfield blickte Jared an. »Sind Sie sich auch wirklich sicher, daß es Ihnen nichts ausmacht, mir diesen Gefallen zu erweisen?«

»Nicht das geringste.« Jared blickte aus dem Fenster auf den nächtlichen Hafen. Er konnte den dunklen Rumpf der Sea Flame erkennen, wie sie dort vor Anker lag und auf die Morgenflut wartete.

»Ich weiß Ihre Hilfsbereitschaft zu schätzen, Sir. Ich habe wirklich außerordentliches Glück, daß ich hier in diesem Teil von Frankreich einem Gentleman wie Ihnen begegnet bin und daß Sie auch noch ausgerechnet an Bord der Sea Flame nach England übersetzen wollen.«

Jared lächelte leicht. »Ja, das ist ein glücklicher Zufall.« Er fragte sich, was Wingfield wohl sagen würde, wenn er erführe, daß Jared nicht nur die Sea Flame, sondern die gesamte Flamecrest-Flotte beherrschte.

»Ja, nun, ich fühle mich erheblich wohler, seit ich weiß, daß Sie dafür sorgen werden, daß die Waren und das Tagebuch sicher bei meiner Nichte ankommen. Jetzt kann ich beruhigt weiterreisen.«

»Ich glaube, Sie sagten, es ginge weiter nach Italien?«

»Ja, und von dort nach Indien.« In Wingfields Blick lag die Begeisterung des leidenschaftlichen Reisenden. »Wissen Sie, ich wollte immer schon einmal nach Indien.«

»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise«, sagte Jared.

»Die wünsche ich Ihnen ebenfalls, Sir. Und nochmals, vielen Dank.«

»Es ist mir ein Vergnügen.« Jared zog eine goldene Uhr hervor. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Er ließ die Uhr wieder in die Tasche gleiten und erhob sich.

Wingfield blickte zu ihm auf. »Sie gehen sicher schlafen?«

»Noch nicht. Ich glaube, ich mache noch einen kleinen Spaziergang am Kai. Ich brauche noch etwas frische Luft, ehe ich zu Bett gehe.«

»Seien Sie vorsichtig«, riet Wingfield mit gesenkter Stimme. »Die Meute hier gefällt mir ganz und gar nicht. Und man kann nie wissen, was für ein Gesindel sich um diese Zeit draußen herumtreibt.«

»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Sir.« Jared nickte höflich zum Abschied. Dann drehte er sich um und ging in Richtung der Tür.

Ein, zwei der Männer, die über ihren Krügen hingen, bedachten seine teuren Stiefel mit einem abschätzenden Blick. Dann glitten ihre Augen hinauf über das Messer, das an seinem Bein festgebunden war, bis hin zu der schwarzen Augenklappe.

Niemand erhob sich, um Jared nach draußen zu folgen.

Die Brise vom Meer fuhr Jared durch das lange, wirre Haar, als er hinaus in die Dunkelheit trat. Im Gegensatz zu Wingfield war er passend für das milde Klima gekleidet. Er trug kein Halstuch, da er Halstücher und Krawatten verabscheute. Der Kragen seines feingewobenen Baumwollhemdes war geöffnet, und die Ärmel waren bis zu den Ellbogen aufgekrempelt.

Jared ging den Kai entlang. Er dachte an die vor ihm liegende Aufgabe, hatte jedoch zugleich sämtliche Sinne auf die nächtliche Umgebung ausgerichtet. Ein Mann, der bereits ein Auge verloren hatte, hatte allen Grund, auf das andere aufzupassen.

Am anderen Ende des Kais baumelte eine Laterne. Als Jared näher kam, sah er, wie zwei Männer aus der Dunkelheit heraustraten. Beide waren groß und breitschultrig, fast ebensolche Hünen wie er selbst. Ihre zerklüfteten Gesichter wurden von silbrigen Backenbärten und von Mähnen von weißem Haar eingerahmt. Sie gingen mit beherztem, stolzem Schritt, obgleich sie gewiß schon über sechzig waren. Zwei alternde Freibeuter, dachte Jared ohne Zuneigung.

Der erste der beiden Männer grüßte Jared mit einem strahlenden Lächeln. Die Augenfarbe des älteren Mannes wirkte im Mondschein wäßrig und verwaschen, aber Jared kannte den ungewöhnlichen Grauton genau. Jeden Morgen, wenn er sich rasierte, sah er dieselbe Farbe im Spiegel.

»Guten Abend, Sir«, sagte Jared höflich zu seinem Vater. Dann nickte er dem anderen Mann zu. »Onkel Thaddeus. Eine angenehme Nacht, nicht wahr?«

»Wurde langsam Zeit, daß du auftauchst.« Magnus, Graf Flamecrest, blickte finster. »Ich dachte schon, dein neuer Bekannter würde dich die ganze Nacht mit Beschlag belegen.«

»Wingfield unterhält sich nun einmal gerne.«

Thaddeus hielt die Laterne höher. »Nun, Junge? Was haste rausgekriegt?«

Jared war vierunddreißig Jahre alt. Seit langer Zeit sah er sich nicht mehr als Jungen. Tatsächlich hatte er häufig das Gefühl, um Jahre älter zu sein als der Rest der Familie. Aber es war zwecklos, Thaddeus darauf aufmerksam zu machen.

»Wingfield glaubt, er habe Claire Lightbournes Tagebuch gefunden«, sagte Jared ruhig.

»Hört, hört.« Die Zufriedenheit in Magnus’ Gesicht war nicht zu übersehen. »Also stimmtes.

Das Tagebuch ist nach all den Jahren endlich wieder aufgetaucht.«

»Verdammt«, rief Thaddeus. »Wie, zum Teufel, ist Wingfield bloß da drangekommen?«

»Ich glaube, es war seine Nichte, die das Buch ausfindig gemacht hat«, erläuterte Jared. »Und zwar wurde es hier in Frankreich entdeckt. Wie Ihr seht, waren die Bemühungen meiner Cousins offensichtlich vergeblich, als sie vor zwei Monaten in die spanischen Berge gejagt sind, um dort zu suchen.«

»Nun, Jared«, sagte Magnus besänftigend. »Der junge Charles und William hatten allen Grund zu der Annahme, das Buch sei während des Krieges dort gelandet. Du bist ja nur verärgert, weil deine Cousins sich von diesen verdammten Banditen haben schnappenlassen.«

»Die ganze Angelegenheit war wirklich lästig«, räumte Jared grimmig ein. »Außerdem hat sie mich fast zweitausend Pfund Lösegeld gekostet, ganz zu schweigen von der Zeit, die dabei draufgegangen ist, während der ich mich nicht um meine Geschäfte kümmern konnte.«

»Verflucht, Sohn«, donnerte Magnus. »Kannst du nicht einmal an etwas anderes als an deine Geschäfte denken? Bei Gott, in deinen Adern fließt Freibeuterblut, aber du hast das Herz und die Seele eines Krämers.«

»Mir ist durchaus bewußt, daß ich für Sie und den Rest der Familie eine Enttäuschung bin, Sir.« Jared lehnte sich an die Steinmauer, die den Hafen umschloß. »Aber da wir bereits unzählige Male über diese Sache gesprochen haben, können wir uns das heute abend wohl sparen.«

»Er hat recht, Magnus«, beeilte sich Thaddeus zu sagen. »Im Augenblick gibt es wichtigere Dinge zu besprechen. Das Tagebuch ist praktisch in Reichweite. Wir brauchen es uns nur noch zu holen.«

Jared zog eine Braue hoch. »Wer von Euch hat gestern abend versucht, das Tagebuch zu klauen? Wingfield sagt, sein Zimmer sei durchsucht worden.«

»Es war einen Versuch wert«, sagte Thaddeus unverfroren. Magnus nickte. »Wir haben uns nur mal umgesehen, das ist alles.«

Jared unterdrückte einen verzweifelten Fluch. »Das Tagebuch befindet sich seit gestern nachmittag an Bord der Sea Flame. Wir müßten das ganze verdammte Schiff entladen, um es zu finden.«

»Oje«, murmelte Thaddeus niedergeschlagen.

»Auf jeden Fall«, fuhr Jared fort, »gehört das Tagebuch Miss Olympia Wingfield, Meadow Stream Cottage in Dorset. Sie hat es gekauft und dafür bezahlt.«

»Bah, das Tagebuch gehört uns«, sagte Magnus stur. »Es ist ein Familienerbstück. Ich sage dir, sie hat keinerlei Anspruch darauf.«

»Du scheinst vergessen zu haben, daß es uns höchstwahrscheinlich nicht gelingen wird, die Eintragungen zu entziffern, selbst wenn wir das Tagebuch in die Hände bekommen. Auf alle Fälle …« Jared unterbrach sich lange genug, um sicher zu sein, daß er die volle Aufmerksamkeit seines Vaters und seines Onkels hatte.

»Ja?« fragte Magnus neugierig.

»Artemis Wingfield ist sich sicher, daß seine Nichte in der Lage sein wird, den Code zu entschlüsseln, in dem das Tagebuch geschrieben wurde«, sagte Jared. »Offenbar hat Miss Wingfield Talent für solche Dinge.«

Thaddeus’ Miene erhellte sich. »Tja, Junge, dann ist wohl klar, was du machen mußt. Du wirst das Tagebuch zu seinem Bestimmungsort begleiten und Miss Wingfields Vertrauen erschleichen, damit sie dir alles erzählt, was sieherausfindet.«

»Hervorragender Plan.« Magnus’ Barthaare zitterten vor Aufregung. »Laß deinen Charme spielen, Sohn. Verführe sie. Dann bringst du sie dazu, dir alles anzuvertrauen, was in dem Tagebuch steht. Und dann werden wir ihr das Ding entwenden.«

Jared seufzte. Es war schwierig, der einzig Normale und Vernünftige in einer Familie von Exzentrikern und Originalen zu sein. Die Suche nach dem Lightbourne-Tagebuch hatte seit drei Generationen sämtliche Flamecrestschen Männer außer Jared beschäftigt. Ebenso wie sein Großvater und sein Großonkel hatten es Jareds Vater, Onkel und Cousins alle irgendwann einmal versucht. Der Gedanke an den verborgenen Schatz faszinierte den Clan, der von einem echten Freibeuter abstammte.

Aber irgendwann mußte einmal Schluß sein. Vor ein paar Wochen wären seine Cousins wegen des Tagebuchs beinahe umgebracht worden. Jared hatte beschlossen, daß es an der Zeit war, dem Unsinn ein für allemal ein Ende zu machen. Unglücklicherweise war dies nur möglich, indem er das Tagebuch in die Hände bekam, um zu sehen, ob es wirklich das Geheimnis des verlorenen Schatzesenthüllte.

Niemand hatte ihm widersprochen, als er verkündet hatte, nun sei die Reihe an ihm, das geheimnisvolle Vermögen zu suchen, das vor beinahe hundert Jahren verschwunden war. In Wahrheit waren sie alle, besonders sein Vater, nur allzu erfreut darüber, daß Jared offenbar endlich Interesse an der Sache zeigte.

Jared wußte, daß die Familie seinen kühlen Geschäftssinn nützlich fand. Aber das zählte nicht viel in einer Familie, die für ihre leidenschaftlichen, heißblütigen Männer berühmt war.

In den Augen seiner Verwandten war Jared ein hoffnungsloser Langweiler. Sie sagten, ihm fehle das Feuer der Flamecrests. Er seinerseits war der Ansicht, daß ihnen Selbstbeherrschung und Vernunft fehlten. Es war ihm nicht entgangen, daß sie nur allzu bereit waren, mit ihren Schwierigkeiten, besonders mit Geldproblemen, zu ihm zu kommen.

Jared hatte immer alle Angelegenheiten für sie geregelt und dem Flamecrest-Clan die langweiligen Alltagsgeschäfte abgenommen, seit er neunzehn war. Die gesamte Familie war der Meinung, daß das das einzige war, wofür er Talent besaß.

Es schien Jared, als sei er unablässig mit der Rettung des einen oder anderen Familienmitgliedes beschäftigt.

Manchmal, wenn er spätabends über seinem Terminkalender saß, fragte er sich flüchtig, ob es wohl jemals jemanden gäbe, der ihn im Notfall retten würde.

»Ihr könnt leicht von Charme und Verführung reden«, sagte Jared, »aber wir alle wissen, daß ich das Flamecrestsche Talent für diese Dinge nicht geerbt habe.«

»Bah.« Magnus wischte diesen Einwurf mit einer Handbewegung beiseite. »Das Problem ist einfach, daß du es noch nie wirklich versucht hast.«

Ein Ausdruck ernster Besorgnis erschien auf Thaddeus’ Gesicht.

»Tja, nun, Magnus, ich würde nicht so weit gehen zu sagen, daß er es nicht versucht hätte. Schließlich hatten wir vor drei Jahren die unglückliche Situation, als der Junge versucht hat, eine Frau zu finden.«

Jared sah seinen Onkel an. »Ich nehme an, wir können uns diese Diskussion sparen. Ich habe nicht die Absicht, Miss Wingfield oder irgend jemand anderen zu verführen, um an das Geheimnis des Tagebuchs zu kommen.«

Thaddeus runzelte die Stirn. »Wie willst du es dann aus ihr herauskriegen, Junge?«

»Ich werde ihr anbieten, ihr die Informationen abzukaufen«, sagte Jared.

»Abzukaufen.« Magnus blickte ihn entsetzt an. »Du denkst, du kannst ein so legendäres Geheimnis mit bloßem Geld erkaufen?«

»Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man mit Geld fast alles erkaufen kann«, erläuterte Jared. »Ein direkter, geschäftsmäßiger Ansatz wirkt wahre Wunder in fast jeder Situation.«

»Junge, Junge, was sollen wir bloß mit dir machen?« stöhnte Thaddeus.

»Ihr werdet mich die Sache nach meinen Vorstellungen durchführen lassen«, sagte Jared.

»Nun denn, daß wir uns richtig verstehen. Ich werde euch das Tagebuch verschaffen. Bis dahin will ich euer Wort, daß ihr euch an die Abmachung haltet.«

»Welche Abmachung?« fragte Magnus verblüfft.

Jareds Gesicht spannte sich. »Solange ich mich mit der Sache befasse, haltet ihr euch vollkommen aus den geschäftlichen Angelegenheiten der Familie heraus.«

»Verdammt, Sohn, Thaddeus und ich haben die Familiengeschäfte schon geführt, als du noch nicht einmal geboren warst.«

»Ja, Sir, ich weiß. Ihr beide hättet die Familie beinahe ruiniert.« Magnus’ Schnurrbart hüpfte vor Empörung. »Es war schließlich nicht unsere Schuld, daß wir ein bißchen Pech damit hatten. Damals liefen die Geschäfte eben schlecht.«

Jared beschloß, das Thema nicht zu vertiefen. Sie alle wußten, daß der fehlende Geschäftssinn des Grafen und seines Bruders Thaddeus dazu geführt hatte, daß das wenige, was vom Vermögen der Flamecrests übrig gewesen war, auch noch verlorengegangen war.

Es war Jared gewesen, der im Alter von neunzehn Jahren die Geschäfte übernahm, gerade rechtzeitig, um das eine altersschwache Schiff zu retten, das der Familie noch geblieben war. Er hatte die Kette seiner Mutter versetzt, um an das dafür erforderliche Geld zu kommen. Niemand in der Familie hatte ihm diesen schockierenden Mangel an Sentimentalität jemals verziehen, besonders seine Mutter nicht. Zum letzten Mal hatte sie vor zwei Jahren über die Sache gesprochen, auf dem Totenbett. Jared war zu sehr in seiner Trauer gefangen gewesen, um sie daran zu erinnern, daß sie die Früchte des neu erworbenen Vermögens ebenso wie der Rest der Familie extremgenossen hatte.

Jared war es gelungen, mit diesem einen Schiff das Flamecrestsche Imperium wieder aufzubauen. Er hoffte inständig, daß er diese Aufgabe nicht noch einmal erfüllen müßte, wenn er dieses idiotische Abenteuer hinter sich hätte.

»Schwer zu glauben, daß das verlorene Vermögen der Familie endlich in Reichweite ist.« Thaddeus schüttelte triumphierend die Faust.

»Wir besitzen bereits ein Vermögen«, sagte Jared. »Wir brauchen den gestohlenen Schatz nicht, den Käpt’n Jack und sein Partner Edward Yorke auf dieser verdammten Insel vor fast hundert Jahren vergraben haben.«

»Der Schatz war nicht gestohlen«, donnerte Magnus.

»Wie Sie sich vielleicht erinnern, Sir, war Urgroßvater ein Pirat, als er auf den Westindischen Inseln lebte.« Jared zog die Brauen hoch. »Es ist also höchst unwahrscheinlich, daß er und Yorke den Schatz auf ehrliche Art und Weise in die Hände bekamen.«

»Käpt’n Jack war kein Pirat«, verkündete Thaddeus stolz. »Er war ein loyaler Engländer, der im Auftrag der Krone segelte. Bei Gott, der Schatz war Bestandteil der rechtmäßigen Beute von einem spanischen Handelsschiff.«

»Es wäre interessant, einmal die spanische Version der Geschichte zu hören«, bemerkte Jared.

»Bah.« Magnus blickte ihn finster an. »Sie haben die Schuld an der Sache. Hätten die verfluchten Spanier sich nicht an die Verfolgung von Käpt’n Jack und Yorke gemacht, hätten die beiden die Beute nicht auf dieser verdammten Insel vergraben müssen, und wir würden heute nacht nicht hier rumstehen und uns überlegen, wie wir sie zurückbekommen.«

»Ja, Sir«, sagte Jared schwach. Er hatte diese Rede schon unendlich oft gehört. Und immer wieder langweilte sie ihn.

»Der einzige wirkliche Pirat war Edward Yorke«, fuhr Magnus fort. »Dieser verlogene, betrügerische, mörderische Schurke, der deinen Urgroßvater an die Spanier verraten hat. Nur mit Gottes Hilfe ist es Käpt’n Jack gelungen, der Falle zu entgehen.«

»Das alles ist fast hundert Jahre her. Wir wissen nicht sicher, ob Yorke Käpt’n Jack verraten hat«, entgegnete Jared ruhig. »Auf alle Fälle ist es jetzt auch egal.«

»Es ist alles andere als egal«, schnauzte Magnus. »Unsere Familie steht in einer stolzen Tradition, mein Junge. Es ist deine Pflicht, den verlorenen Schatz zu finden. Er gehört uns, und wir haben das Recht, ihn zurückzufordern.«

»Schließlich«, sagte Thaddeus ernst, »bist du der neue Wächter, Junge.«

»Verdammt«, knurrte Jared. »Das ist alles blanker Unsinn, und ihr wißt es.«

»Es ist durchaus kein Unsinn«, beharrte Thaddeus auf seiner Meinung. »Du hast das Recht auf diesen Titel vor Jahren erworben, als du Käpt’n Jacks eigenen Dolch benutzt hast, um deine Cousins vor den Schmugglern zu retten. Hast du das etwavergessen?«

»Ich werde diesen Zwischenfall wohl kaum jemals vergessen, da er mich schließlich ein Auge gekostet hat, Sir«, murmelte Jared. Er wollte sich jedoch nicht schon wieder auf einen Streit wegen einer weiteren idiotischen Familienlegende einlassen. Er hatte alle Hände voll mit der alten Geschichte von dem verborgenen Schatz zu tun.

»Du kommst um die Tatsache nicht herum, daß du der neue Wächter bist«, sagte Magnus mit weiser Miene. »Du hast den Dolch mit Blut benetzt. Außerdem bist du Käpt’n Jack wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Genug damit.« Jared zog seine Uhr hervor und hielt sie in das Licht der Laterne. »Es ist spät, und ich muß früh aufstehen.«

»Du und deine verdammte Uhr«, brummte Thaddeus. »Ich wette, du hast auch deinen Terminkalender dabei.«

»Selbstverständlich«, versicherte Jared ihm kühl. »Du weißt, daß ich ihn brauche.«

Seine Uhr und sein Terminkalender waren die beiden Dinge, die er im Alltag am meisten schätzte, dachte Jared. Seit Jahren hatten sie es ihm ermöglicht, Ordnung und Routine in einer Welt aufrechtzuerhalten, die wegen seiner wilden, unberechenbaren Familie häufig genug aus den Fugen geriet.

»Ich kann es einfach nicht glauben.« Magnus schüttelte traurig den Kopf. »Da bist du dabei, dich auf die Suche nach dem Geheimnis eines großartigen Schatzes zu begeben, und alles was du machst, ist, auf die Uhr zu gucken und deinen Terminkalender zu überprüfen. Wie ein langweiliger Geschäftsmann.«

»Ich bin ein langweiliger Geschäftsmann, Sir«, sagte Jared.

»Das treibt einem Vater die Tränen in die Augen«, brummte Magnus.

»Versuch, ein bißchen vom Flamecrestschen Feuer an den Tag zu legen, Junge«, drängte Thaddeus.

»Wir sind im Begriff, unser verlorenes Erbe zurückzuerlangen, mein Sohn.« Magnus stützte sich auf den Rand der Kaimauer und blickte hinaus auf die nächtliche See. Er wirkte wie ein Mann, der über den Horizont hinaussehen konnte. »Ich habe es im Gefühl. Nach all den Jahren ist der Familienschatz in Reichweite. Und dir wird die große Ehre zuteil, ihn für uns alle zurückzuholen.«

»Ich versichere Ihnen, Sir«, erwiderte Jared höflich, »meine Freude und Aufregung ist grenzenlos.«

 

 

Kapitel 1

»Ich habe noch ein anderes Buch, das Sie vielleicht interessiert, Mr. Draycott.« Olympia Wingfield balancierte mit einem Fuß auf der Leiter, stützte sich mit dem anderen Fuß auf einem Regal ab und streckte sich nach einem Buch, das ganz oben im Bücherschrank stand. »Es enthält eine Reihe faszinierender Informationen über die Legende von der Goldinsel. Und ich glaube, hier ist noch ein Buch, das Sie lesen sollten.«

»Ich flehe Sie an, seien Sie vorsichtig, Miss Wingfield.« Reginald Draycott griff nach den Seitenstreben der Leiter, um sie festzuhalten. Er starrte hinauf zu Olympia, die sich gerade nach vorne beugte, um ein weiteres Buch aus dem Schrank zu nehmen. »Sie werden noch herunterfallen, wenn Sie nicht aufpassen.«

»Unsinn. Ich versichere Ihnen, daß ich es durchaus gewohnt bin, auf dieser Leiter herumzuklettern. Nun, dieses Buch hier habe ich für meine letzte Abhandlung für das Magazin der Gesellschaft für Reisen und die Erforschung fremder Länder benutzt. Es ist äußerst nützlich, weil es Berichte über die höchst ungewöhnlichen Bräuche der Bewohner einiger Südseeinseln enthält.«

»Sehr freundlich von Ihnen, mir das Werk zu borgen, Miss Wingfield, aber ich mache mir wirklich die größten Sorgen, wenn ich Sie dort oben auf der Leiter herumturnen sehe.«

»Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, Sir.« Olympia blickte mit einem beruhigenden Lächeln auf Draycott hinab. Er hatte einen höchst eigenartigen Gesichtsausdruck. Seine blassen Augen waren gläsern, und sein Mund stand sperrangelweit auf.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Mr. Draycott?«

»Doch, doch, durchaus, meine Liebe.« Draycott fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und starrte weiter zu ihr hinauf.

»Sind Sie sich ganz sicher? Sie sehen aus, als sei Ihnen übel. Ich kann Ihnen die Bücher auch ein andermal geben.«

»Ich möchte auf keinen Fall auch nur einen Tag länger darauf warten. Ich gebe Ihnen mein Wort, mir geht es wirklich ausgezeichnet. Auf jeden Fall haben Sie mein Interesse an der Legende von der Goldinsel geweckt, meine Liebe. Ich werde Ihr Haus nicht ohne weiteres Studienmaterial verlassen.«

»Nun denn, wenn Sie sicher sind, daß Ihnen nichts fehlt. Also, dieser Band hier handelt von einigen ungewöhnlichen Bräuchen der Bewohner der legendären Goldinsel. Ich für meinen Teil war immer fasziniert von den Sitten und Gebräuchen, die in fremden Ländern herrschen.«

»Ach, tatsächlich?«

»O ja. Als Frau von Welt finde ich solche Dinge höchst anregend. Die Rituale, die die Bewohner der Goldinsel in der Hochzeitsnacht zelebrieren, sind zum Beispiel höchst bemerkenswert.« Während Olympia in dem alten Buch blätterte, fiel ihr Blick erneut auf Draycott.

Irgend etwas stimmte nicht mit ihm, dachte sie. Sein Gesichtsausdruck erfüllte sie mit einem gewissen Unbehagen. Seine Augen waren nicht auf ihr Gesicht gerichtet, sondern blickten starr auf irgend etwas weiter unten.

»Sagten Sie Rituale während der Hochzeitsnacht, Miss Wingfield?«

»Ja, es handelt sich dabei um sehr ungewöhnliche Bräuche.« Olympia runzelte angestrengt die Stirn. »Offensichtlich macht der Bräutigam der Braut einen großen goldenen Gegenstand zum Geschenk, der die Form eines Phallusaufweist.«

»Sagten Sie Phallus, Miss Wingfield?« Draycott klang, als drücke ihm jemand die Kehle zu.

Plötzlich kam Olympia der Gedanke, daß Draycott vom Fuß der Leiter auseine hervorragende Sicht direkt unter ihre Röckehatte.

»Gütiger Himmel.« Olympia verlor das Gleichgewicht und klammerte sich an die oberste Sprosse der Leiter. Eines der Bücher, die sie in der Hand gehalten hatte, fiel mit Gepolter auf den Teppich.

»Stimmt etwas nicht, meine Liebe?« fragte Draycott eilig.

Vor lauter Verlegenheit darüber, daß er einen solch ungehinderten Blick auf einen nicht unbeachtlichen Teil ihrer bestrumpften Beine werfen konnte, schoß Olympia das Blut ins Gesicht.

»Es ist alles in Ordnung, Mr. Draycott. Ich habe die Bände gefunden, die ich gesucht habe.

Ich komme wieder herunter. Sie können jetzt beiseite treten.«

»Erlauben Sie mir, Ihnen behilflich zu sein.« Draycotts Wurstfinger strichen über Olympias Waden.

»Nein, danke. Es geht auch so.« Olympia rang nach Luft. Nie zuvor hatten sich Männerhände auf ihre Beine gelegt. Draycotts Berührung ließ sie erschreckt zusammenfahren.

Sie versuchte, die Leiter wieder hinaufzuklettern, um Draycotts Händen zu entkommen. Seine Finger schlossen sich jedoch um ihren Knöchel, noch ehe sie außer Reichweite gelangen konnte.

Olympia versuchte vergeblich, seinen Griff abzuschütteln. Ihre Verlegenheit wich zunehmender Verärgerung. »Würden Sie mir bitte aus dem Weg gehen, Mr. Draycott. Dann kann ich endlich sicher die Leiterherunterklettern.«

»Ich kann nicht zulassen, daß Sie möglicherweise stürzen.« Draycotts Finger glitten höher.

»Ich brauche Ihre Hilfe nicht.« Olympia fiel ein weiteres Buch aus dem Arm. Mit einem Knall landete es auf dem Teppich. »Würden Sie jetzt bitte freundlicherweise meinen Knöchel loslassen, Sir.«

»Ich versuche lediglich, Ihnen behilflich zu sein, meine Liebe.« Jetzt war Olympia wirklich erbost. Sie kannte Reginald Draycott seit Jahren und konnte einfach nicht glauben, daß er sich ihrer Bitte widersetzte. Sie trat gegen Draycotts Schulter.

»Au.« Draycott stolperte einen Schritt zurück und warf Olympia einen gekränkten Blick zu. Olympia ignorierte den stummen Vorwurf. Mit wehenden Rökken stürzte sie die Leiter hinab.

Sie spürte, wie sich der Knoten, mit dem sie ihr Haar zusammenhielt, löste. Ihre weiße Musselinhaube war verrutscht. Als die Spitze ihres Pantoffels den Teppich berührte, umschlossen Draycotts Hände von hinten ihreTaille.

»Meine teure Olympia, ich kann meine Gefühle einfach nicht länger bezähmen.«

»Das reicht, Mr. Draycott.« Olympia gab jeden Versuch auf, die Situation auf damenhafte Weise zu meistern. Sie rammte ihm ihren Ellbogen in den Bauch.

Draycott stöhnte, ließ jedoch nicht von ihr ab. Er keuchte in ihr Ohr. Sie nahm den Zwiebelgeruch seines Atems wahr, und ihr Magen zog sich zusammen.

»Olympia, mein Liebling, du bist eine reife Frau und kein junges Mädchen, das eben erst der Schule entsprungen ist. Du bist dein Leben lang lebendig hier in Upper Tudway begraben gewesen. Du hattest nie die Gelegenheit, die Freuden der Leidenschaft kennenzulernen. Es ist an der Zeit, daß du anfängst zu leben.«

»Ich glaube, ich muß mich gleich auf Ihre Stiefel übergeben, Mr. Draycott.«

»Sei nicht albern. Du bist zweifelsohne ein bißchen nervös, weil dir die Freuden körperlichen Verlangens fremd sind. Keine Angst, ich werde dir alles beibringen, was du wissen mußt.«

»Lassen Sie mich los, Mr. Draycott.«Olympia ließ auch noch das letzte Buch fallen und zerrte an seinen Händen.

»Du bist eine wunderbare Frau, die noch niemals in den Genuß von l’amour gekommen ist.

Du wirst dir doch sicher nicht die höchste sinnliche Erfahrung versagen wollen.«

»Mr. Draycott, wenn Sie mich nicht sofort loslassen, fange ich an zu schreien.«

»Es ist niemand hier, meine Liebe.« Draycott zerrte sie hinüber zur Couch. »Deine Neffen sind fort.«

»Ich bin sicher, daß Mrs. Bird irgendwo in der Nähe ist.«

»Deine Haushälterin ist draußen im Garten.« Draycott begann ihren Nacken zu liebkosen.

»Keine Angst, meine Süße, wir sind ganz allein.«

»Mr. Draycott. Nehmen Sie sich zusammen, Sir. Sie wissen nicht, was Sie tun.«

»Nenn mich Reggie, meine Liebe.«

Verzweifelt versuchte Olympia, die Silberstatue des Trojanischen Pferdes, die auf ihrem Schreibtisch stand, in die Hand zu bekommen. Ihr Arm war nicht lang genug. Zu ihrer Überraschung jaulte Draycott jedoch plötzlich auf und ließ sie los.

»Verdammt.« Er rang nach Atem.

Endlich frei, doch aus dem Gleichgewicht, stolperte Olympia zur Seite. Sie hielt sich am Schreibtisch fest. Sie hörte, wie Draycott hinter ihr erneut aufschrie.

»Wer, zum Teufel, sind Sie?« setzte er empört an.

Olympia vernahm das unangenehme Geräusch eines gelungenen Fausthiebs, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag.

Ihre Haube baumelte über einem Ohr, als sie herumwirbelte. Sie schob sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und starrte verblüfft auf Draycott, der zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Unweigerlich wanderte ihr Blick weiter in Richtung der schwarzen Stiefel, die neben dem Häuflein Elend aus dem Teppich zuwachsen schienen. Langsam sah sie an den Stiefeln hinauf.

Dann starrte sie in das Gesicht eines Mannes, der direkt aus einer Legende zu kommen schien,einerLegendevonverborgenenSchätzenundgeheimnisvollenInselninunerforschten Meeren. Von dem langen, windzerzausten, schwarzen Haar über die samtene Augenklappe bis hin zu dem am Oberschenkel befestigten Dolch war ihr Gegenüber eine wahrhaft furchterregendeErscheinung.

Dies hier war einer der kraftvollsten und imposantesten Männer, die Olympia je zu Gesicht bekommen hatte. Groß, breitschultrig und sehnig verströmte dieser Mensch zugleich Stärke und männlichen Charme. Seine Gesichtszüge waren von der beherzten, furchtlosen Hand eines Bildhauers geschaffen worden, der Feinheit und Vornehmheit verachtete.

»Sind Sie zufällig Miss Olympia Wingfield?« fragte der Mann ruhig, als sei eine bewußtlose Person zu seinen Füßen etwas Alltägliches.

»Ja.« Olympia merkte, daß ihre Stimme ein einziges Quieksen war. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Ja, das bin ich. Und wie ist Ihr Name, Sir?«

»Chillhurst.«

»Oh.« Sie blickte ihn verwirrt an. Den Namen hatte sie noch nie gehört. »Angenehm, Mr.

Chillhurst.«

Der Reitmantel und die Reithosen standen ihm gut, doch selbst sie, die ihr gesamtes bisheriges Leben auf dem Land verbracht hatte, erkannte, daß die Garderobe hoffnungslos unmodern war. Offensichtlich ein nicht sonderlich gut betuchter Mann. Er konnte sich anscheinend noch nicht einmal ein Halstuch leisten, da er definitiv keines trug. Der Kragen seines Hemdes stand offen. Der Anblick seines nackten Halses hatte etwas Unzivilisiertes, gar Primitives. Olympia entdeckte sogar einen kleinen Teil seiner Brust, die mit dunklem, lockigem Haar bedeckt zu seinschien.

Der Mann sah gefährlich aus. Gefährlich und faszinierend.

Olympia erschauderte leicht. Anders als unter dem unangenehmen Griff von Draycott war dies ein Schauder derErregung.

»Ich glaube nicht, daß ich jemanden namens Chillhurst kenne«, gelang es Olympia zu sagen.

»Ihr Onkel, Artemis Wingfield, hat mich geschickt.«

»Onkel Artemis?« Erleichterung wallte in ihr auf. »Haben Sie ihn irgendwo unterwegs getroffen? Geht es ihm gut?«

»Sehr gut, Miss Wingfield. Ich habe ihn an der französischen Küste getroffen.«

»Wunderbar.« Olympia schenkte ihm ein erfreutes Lächeln. »Ich kann es kaum erwarten, alle Neuigkeiten zu hören. Onkel Artemis erlebt immer so interessante Abenteuer. Wie ich ihn beneide. Sie müssen heute abend mit uns essen, Mr. Chillhurst. Dann können Sie uns alles erzählen.«

»Geht es Ihnen gut, Miss Wingfield?«

»Wie bitte?« Olympia starrte ihn verwirrt an. »Natürlich geht es mir gut. Weshalb sollte es mir nicht gut gehen? Ich habe eine gute Gesundheit. Immer schon gehabt. Danke für die Nachfrage, Mr.Chillhurst.«

Chillhurst zog die schwarze Braue über seinem gesunden Auge hoch. »Meine Frage bezog sich auf Ihr Erlebnis mit dieser Person da auf dem Fußboden.«

»Oh, ich verstehe.« Abrupt fiel Olympia Draycotts Anwesenheit wieder ein. »Gütiger Himmel, den hätte ich beinahe vergessen.« Sie sah, wie Draycotts Lider flatterten, und fragte sich, was sie nun tun sollte. Sie war nicht besonders bewandert in Fragen des gesellschaftlichen Umgangs, besonders nicht in Situationen wie dieser. Tante Sophy und Tante Ida hatten sich nie die Mühe gemacht, sie in solchen Nebensächlichkeiten zu unterweisen.

»Das ist Mr. Draycott«, sagte Olympia. »Ein Nachbar von uns. Ich kenne ihn seit Jahren.«

»Hat er schon immer die Angewohnheit gehabt, alleinstehende Damen in ihrem Heim zu überfallen?« fragte Chillhurst trocken.

»Was? Oh, nein.« Olympia errötete. »Zumindest glaube ich das nicht. Er scheint ohnmächtig zu sein. Meinen Sie, ich sollte meine Haushälterin rufen und sie nach dem Riechfläschchen schicken?«

»Machen Sie sich keine Umstände. Er wird früh genug wieder zu sich kommen.«

»Ja? Ich habe keine sonderliche Erfahrung mit den Auswirkungen von Faustkämpfen. Aber meine Neffen sind begeisterte Anhänger des Boxsports.« Olympia bedachte ihn mit einem fragenden Blick. »Sie scheinen sich damit sehr gut auszukennen. Haben Sie das in einer der Londoner Boxschulen gelernt?«

»Nein.«

»Ich dachte, das hätten Sie vielleicht. Nun, ist auch egal.« Sie blickte erneut auf Draycott hinab. »Auf alle Fälle war er recht lästig. Ich hoffe, er hat aus dieser Sache gelernt. Ich muß sagen, wenn er sich weiterhin so benimmt, werde ich ihm nicht mehr erlauben, meine Bibliothek zu benutzen.«

Chillhurst sah sie an, als sei sie verrückt geworden. »Miss Wingfield, gestatten Sie mir die Bemerkung, daß er unter keinen Umständen die Erlaubnis bekommen sollte, Ihr Haus noch einmal zu betreten. Zudem sollte eine Frau Ihres Alters sowieso niemals allein Herrenbesuch in ihrer Bibliothek empfangen.«

»Seien Sie nicht albern. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, Sir. Ich habe von Herrenbesuchen nichts zu befürchten. Auf jeden Fall bin ich eine Frau von Welt und lasse mich als solche nicht leicht durch ungewöhnliche oder außergewöhnliche Umstände aus der Fassung bringen.«

»Tatsächlich, Miss Wingfield?«

»Ganz bestimmt. Ich nehme an, der arme Mr. Draycott wurde einfach von der Art intellektueller Leidenschaft erfaßt, die oft durch großes Interesse an alten Legenden hervorgerufen wird. Diese ganzen Geschichten von verlorenen Schätzen und so haben eine äußerst erregende Wirkung auf die Sinne mancher Menschen.«

Chillhurst starrte sie an. »Und sind Sie dieser erregenden Wirkung auch schon erlegen, Miss Wingfield?«

»In der Tat.« Olympia unterbrach sich, da Draycott sich zu regen begann. »Sehen Sie, er öffnet die Augen. Meinen Sie, er wird Kopfschmerzen haben wegen des entsetzlichen Schlags, den Sie ihm verpaßt haben?«

»Mit etwas Glück, ja«, murmelte Chillhurst.

»Verdammt«, brummte Draycott. »Was ist bloß passiert?« Er starrte Chillhurst verwirrt an. Nach einer ganzen Weile riß er plötzlich überrascht die Augen auf. »Wer, in drei Teufels Namen, sind Sie, Sir?«

Chillhurst blickte zu ihm hinab. »Ein Freund der Familie.«

»Was fällt Ihnen ein, mich einfach anzugreifen?« fragte Draycott. Vorsichtig berührte er seine Wange. »Bei Gott, dafür werde ich Sie vor den Richter bringen.«

»Das werden Sie tunlichst bleiben lassen, Mr. Draycott«, sagte Olympia scharf. »Ihr Benehmen war wahrhaft abscheulich, wie Sie zweifellos selbst wissen. Ich bin sicher, daß Sie sich umgehend empfehlen möchten.«

»Erst wird er sich bei Ihnen entschuldigen, Miss Wingfield«, warf Chillhurst leise ein. Olympia starrte ihn überrascht an. »Wird er das?«

»Ja.«

»Verdammt. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen«, sagte Draycott in beleidigtem Ton. »Ich habe lediglich versucht, Miss Wingfield von der Leiter zu helfen. Und das ist der Dank dafür.«

Chillhurst beugte sich vor, packte Draycott beim Halstuch und zerrte den angeschlagenen Mann auf die Füße. »Sie werden sich auf der Stelle entschuldigen«, sagte er bestimmt. »Und dann werden Sie das Haus verlassen.«

Draycott blinzelte mehrere Male. Sein Blick fiel auf Chillhursts unbewegte Miene. Schnell wandte er sich ab und sagte: »Ja, natürlich. Das alles war ein Mißverständnis. Es tut mir furchtbar leid.« Ohne Vorwarnung ließ ihn Chillhurst los. Draycott stolperte und machte schnell einen Satz nach hinten, um sich außer Reichweite zu bringen. Mit dem Ausdruck größten Unbehagens wandte er sich an Olympia.

»Es tut mir leid, wenn es zwischen uns ein Mißverständnis gegeben hat, Miss Wingfield«, sagte er steif. »Ich wollte Ihnen gewiß nicht zu nahe treten.«

»Natürlich wollten Sie das nicht.« Olympia konnte sich nicht helfen, neben Mr. Chillhurst erschien ihr Draycott plötzlich sehr klein und harmlos. Es fiel ihr schwer sich vorzustellen, daß sie noch vor wenigen Minuten wegen seines Benehmens tatsächlich leicht beunruhigt gewesen war. »Ich glaube, es ist das beste, wenn wir beide die Angelegenheit schnellstens vergessen. Tun wir, als sei nichts geschehen.«

Draycott warf einen Blick auf Chillhurst. »Wie Sie wünschen.«

Er strich seinen Mantel glatt und rückte sein Halstuch zurecht. »Nun, wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Ich muß gehen. Bemühen Sie sich nicht, ich finde allein hinaus.«

Nachdem Draycott die Bibliothek eilig verlassen hatte, senkte sich Schweigen über den Raum. Olympia sah Chillhurst an, der wiederum sie mit einem ausdruckslosen Blick betrachtete. Keiner der beiden sagte ein Wort, ehe die Haustür hinter Draycott ins Schloß gefallenwar.

Dann lächelte Olympia. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Chillhurst. Das war äußerst galant von Ihnen. Ich bin noch nie zuvor von jemandem gerettet worden. Eine höchst ungewöhnliche Erfahrung.«

Chillhurst verbeugte sich mit einem ironischen Grinsen. »Nicht der Rede wert, Miss Wingfield. Es freut mich, daß ich Ihnen einen Gefallen erweisen konnte.«

»Das haben Sie in der Tat, obgleich ich bezweifle, daß Mr. Draycott mehr wollte als einen harmlosen Kuß.«

»Ach.«

Olympia runzelte die Stirn angesichts der Skepsis in Chillhursts Augen. »Er ist wirklich kein schlechter Mensch. Ich kenne ihn, seit ich nach Upper Tudway kam. Aber ich muß zugeben, daß er sich recht seltsam verhält seit dem Tod seiner Frau vor sechs Monaten.« Sie hielt inne. »Er hat in jüngster Zeit ein erstaunliches Interesse an alten Legenden entwickelt, was zufällig mein Spezialgebiet ist.«

»Das überrascht mich nicht.«

»Was? Daß das mein Spezialgebiet ist?«

»Nein, daß Draycott ein solch plötzliches Interesse daran entwikkelt hat.« Chillhurst blickte finster. »Offensichtlich nahm er an, es sei dann leichter, Sie zu verführen, Miss Wingfield.«

Olympia war entsetzt. »Gütiger Himmel, Sie glauben doch nicht allen Ernstes, daß das, was heute nachmittag passiert ist, von ihm geplant war?«

»Ich nehme an, es war durchaus geplant, Miss Wingfield.«

»Ich verstehe.« Olympia dachte kurz darüber nach. »Diese Möglichkeit hatte ich noch nicht in Betracht gezogen.«

»Offensichtlich nicht. Ich möchte Ihnen nur raten, ihn nicht mehr allein zu empfangen.« Olympia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nun, es ist wirklich nicht so wichtig. Oje, ich bin wirklich unhöflich. Sie hätten gewiß gern eine Tasse Tee, nicht wahr? Wahrscheinlich hatten Sie eine anstrengende Reise. Ich werde meine Haushälterin rufen.«

Noch ehe Olympia nach Mrs. Bird läuten konnte, öffnete sich krachend die Haustür. Lautes Bellen erfüllte die Eingangshalle. Hundepfoten kratzten auf dem Holzfußboden vor der Bibliothek. Stiefelgepolter war zu hören. jugendliche Stimmen erhoben sich zu einem tosenden Chor.

»Tante Olympia? Tante Olympia, wo bist du?«

»Wir sind wieder da, Tante Olympia.«

Olympia blickte Chillhurst an. »Ich glaube, meine Neffen sind von ihrem Angelausflug zurück. Sie werden Sie unbedingt sehen wollen. Sie hängen sehr an Onkel Artemis, und ich bin sicher, daß sie alles hören wollen, was Sie uns von Ihrer Begegnung mit ihm zu berichten haben. Sie könnten vielleicht auch etwas von Ihrer Erfahrung im Boxkampf erzählen. Meine Neffen werden eine Menge Fragen haben.«

In dem Augenblick platzte ein riesiger zotteliger Hund von unbestimmter Rasse in die Bibliothek. Er bedachte Chillhurst mit einem lauten Bellen und galoppierte dann auf Olympia zu. Er war klatschnaß, und seine enormen Pfoten hinterließen matschige Abdrücke auf dem Teppich.

»Oje, Minotaurus ist mal wieder nicht angeleint.« Olympia richtete sich auf. »Sitz, Minotaurus. Sitz, habe ich gesagt. Sei ein braver Hund.«

Ohne auch nur kurz innezuhalten, stürzte der Hund vorwärts. Seine Zunge baumelte aus seinem grinsenden Maul.

Olympia machte einen schnellen Satz zurück. »Ethan? Hugh? Bitte ruft euren Hund zurück.«

»Hierher, Minotaurus«, schrie Ethan aus der Eingangshalle. »Hierher, alter Junge.«

»Komm sofort zurück, Minotaurus«, brüllte Hugh.

Minotaurus schenkte den beiden Jungen keinerlei Beachtung. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Olympia zu begrüßen, und niemand konnte ihn davon abhalten. Er war ein freundliches Ungetüm von einem Hund, und Olympia hatte ihn ins Herz geschlossen, nachdem ihre Neffen ihn gefunden und mit heimgebracht hatten. Nur hatte das Biest unglücklicherweise keinerlei Manieren.

Der riesige Hund kam direkt vor ihr zum Stehen und setzte sich auf die Hinterpfoten. Olympia streckte eine Hand aus, um ihn abzuwehren, aber sie wußte, daß es sinnlos war.

»Bleib sitzen, Junge, bleib sitzen«, sagte sie, ohne wirklich daran zu glauben. »Bitte, sitz. Bitte.«

Minotaurus jaulte begeistert auf. Er fühlte seinen Sieg nahen. Seine schmutzigen Pfoten rutschten unaufhaltsam an Olympias schönem Kleid hinab.

»Das reicht«, sagte Chillhurst. »Undressierte Hunde im Haus haben mir noch nie gefallen.«

Aus den Augenwinkeln heraus sah Olympia, daß er sich bewegte. Er machte einen einzigen ruhigen Schritt auf Minotaurus zu, packte das Lederhalsband des Hundes und zog ihn mit fester Hand herunter, bis wieder alle vier Pfoten auf der Erde waren.

»Sitz«, sagte Chillhurst zu dem Hund. »Sitz.«

Minotaurus blickte überrascht zu ihm auf. Einen Moment lang beäugten sich Mann und Hund gegenseitig. Dann jedoch setzte Minotaurus sich gehorsam auf die Hinterbacken.

»Das ist wirklich erstaunlich«, sagte Olympia. »Wie haben Sie das bloß geschafft, Mr.

Chillhurst? Minotaurus gehorcht sonst nie.«

»Er braucht einfach eine feste Hand.«

»Tante Olympia? Bist du in der Bibliothek?« Ethan kam durch die Tür gerannt. Das Gesicht des Achtjährigen spiegelte helle Aufregung wider. Sein sandfarbenes Haar klebte am Kopf. Seine Kleider waren ebenso naß wie das Fell des Hundes. »Da draußen steht eine fremde Kutsche. Sie ist riesengroß und voll mit Kisten. Ist Onkel Artemis zu Besuchgekommen?«

»Nein.« Olympia runzelte die Stirn, als sie seine Aufmachung sah.

Gerade als sie fragen wollte, weshalb er mit seinen Kleidern baden gegangen sei, kam Ethans Zwilling Hugh ins Zimmer gestürzt. Er war ebenso schlammbedeckt wie sein Bruder. Außerdem war auch noch sein Hemd zerrissen.

»Sag mal, Tante Olympia, haben wir Besuch?« fragte er aufgeregt. Seine blauen Augen blitzten vor Begeisterung.

Beide Jungen blieben abrupt stehen, als sie Chillhurst entdeckten. Sie starrten ihn an, während Wasser auf den Teppich rann.

»Wer sind Sie?« platzte Hugh heraus.

»Kommen Sie aus London?« fragte Ethan eifrig. »Was haben Sie alles in der Kutsche?«

»Was ist mit Ihrem Auge passiert?« wollte Hugh wissen.

»Hugh, Ethan, wo bleibt euer Benehmen?« Olympia bedachte die beiden Jungen mit einem strengen, doch zugleich liebevollen Blick. »So begrüßt man einen Gast nicht. Bitte lauft schnell nach oben und zieht euch um. Ihr beide seht aus, als wärt ihr in den Bach gefallen.«

»Ethan hat mich reingeschubst, also habe ich ihn auch reingeschubst«, erklärte Hugh kurz.

»Und dann ist Minotaurus auch noch ins Wasser gesprungen.« Ethan war empört. »Ich habe dich nicht ins Wasser geschubst.«

»Hast du doch« sagte Hugh.

»Hab ich nicht.«

»Hast du doch.«

»Das ist jetzt nicht so wichtig«, beeilte sich Olympia zu sagen.

»Geht rauf und zieht euch ordentlich an. Wenn ihr wieder runterkommt, werde ich euch Mr. Chillhurst ordentlich vorstellen.«

»Oh, Tante Olympia«, sagte Ethan in dem unangenehm weinerlichen Ton, den er sich in letzter Zeit angewöhnt hatte. »Sei keine Spielverderberin. Erzähl uns erst, wer dieser Typ ist.«

Olympia fragte sich, wo Ethan diesen Jargon aufgeschnappt hatte. »Ich werde euch alles später erzählen. Es ist wirklich aufregend. Aber ihr seid beide äußerst schmutzig, und deshalb müßt ihr euch erst umziehen. Ihr wißt, wie ärgerlich Mrs. Bird wird, wenn sie Matsch auf dem Teppich entdeckt.«

»Zum Teufel mit Mrs. Bird«, sagte Hugh.

»Hugh.« Olympia schnappte nach Luft.

»Ehrlich, sie regt sich immerzu über irgend etwas auf, Tante Olympia. Das weißt du doch.« Er sah Chillhurst an. »Sind Sie ein Pirat?«

Chillhurst schwieg. Wahrscheinlich vor allem deshalb, weil in der Eingangshalle schon wieder Lärm erklang. Zwei Cockerspaniel kamen in den Raum gestürzt. Mit fröhlichem Kläffen verkündeten sie ihre Ankunft, wobei sie wild hin- und herrannten. Dann sahen sie neugierig zu Minotaurus, der nach wie vor wohlerzogen zu Chillhursts Füßensaß.

»Tante Olympia? Was ist los? In der Einfahrt steht eine fremde Kutsche. Wem gehört die?« Robert, zwei Jahre älter als die Zwillinge, erschien in der Tür. Sein Haar war dunkler als das seiner Brüder, aber seine Augen hatten dasselbe leuchtende Blau. Er war zwar nicht tropfnaß, aber seine Stiefel waren schlammbedeckt, und sein Gesicht und seine Hände waren ebenfalls sehrschmutzig.

Unter einem Arm trug er einen riesigen Drachen. Der lange, schmutzige Schwanz schleifte auf dem Boden. Drei kleine Fische baumelten an einer Schnur, die er in der anderen Hand hielt. Als er Chillhurst entdeckte, machte er abrupt halt und riß die Augenauf.

»Hallo«, sagte Robert. »Wer sind Sie denn, Sir? Ist das da draußen Ihre Kutsche?«

Chillhurst ignorierte die wild herumspringenden Cockerspaniel und blickte die drei Jungen nachdenklich an. »Ich bin Chillhurst«, sagte er schließlich. »Euer Onkel hat mich geschickt.«

»Ehrlich?« fragte Hugh. »Woher kennen Sie denn Onkel Artemis?«

»Ich habe ihn erst kürzlich kennengelernt«, erklärte Chillhurst. »Er wußte, daß ich nach England fuhr, und bat mich, hier in Upper Tudway Station zu machen.«

Robert strahlte. »Dann hat er Ihnen bestimmt Geschenke für uns mitgegeben. Sind sie in der Kutsche?«

»Onkel Artemis schickt uns immer Geschenke«, erläuterte Hugh.

»Stimmt«, mischte sich Ethan ein. »Wo sind unsere Geschenke?«

»Ethan«, sagte Olympia. »Es ist äußerst unhöflich, einen Gast nach Geschenken zu fragen, ehe er auch nur die Gelegenheit hatte, sich nach der Reise frisch zumachen.«

»Es ist schon gut, Miss Wingfield«, sagte Chillhurst leise. Er wandte sich an Ethan. »Unter anderem hat euer Onkel mich geschickt.«

»Sie?« Ethan war wie vom Donner gerührt. »Weshalb sollte er Sie schicken?«

»Ich bin euer neuer Hauslehrer«, sagte Chillhurst. Überraschtes Schweigen. Olympia beobachtete, wie die freudige Aufregung ihrer drei Neffen in blankes Entsetzen umschlug. Sie starrten Chillhurst an.

»Verflucht«, stieß Hugh hervor.

»Wir wollen keinen anderen Hauslehrer.« Ethan rümpfte die Nase. »Der letzte war todlangweilig. Die ganze Zeit nur Latein und Griechisch.«

»Wir brauchen keinen Hauslehrer«, versicherte Hugh Chillhurst. »Stimmt doch, Robert, oder?«

»Stimmt«, beeilte sich Robert ihm beizupflichten. »Tante Olympia kann uns alles beibringen, was wir wissen müssen. Sag ihm, daß wir keinen Hauslehrer wollen, Tante Olympia.«

»Das versteh ich nicht, Mr. Chillhurst.« Olympia starrte den Piraten an, der da mitten in ihrer Bibliothek stand. »Mein Onkel würde gewiß keinen Hauslehrer engagieren, ohne mich vorher zu fragen.«

Chillhurst wandte sich mit einem eigenartig glitzernden Blick an sie. »Aber genau das hat er getan, Miss Wingfield. Ich hoffe, das stellt Sie vor keine allzu großen Probleme. Ich bin den ganzen weiten Weg gekommen, weil man mir eine Stelle versprochen hat. Ich hoffe, Sie werden Verwendung für mich haben.«

»Ich bin mir keineswegs sicher, daß ich mir einen neuen Hauslehrer leisten kann«, sagte Olympia langsam.

»Machen Sie sich wegen meines Gehalts keine Sorgen«, sagte Chillhurst freundlich. »Ichwurde bereits im voraus bezahlt.«

»Ich verstehe.« Olympia wußte nicht, was sie sagen sollte.

Chillhurst wandte sich an die drei Jungen, die ihn enttäuscht anstarrten. »Robert, du wirst wieder hinausgehen und die Fische in die Küche bringen, wo du sie ausnehmen wirst.«

»Mrs. Bird nimmt sie immer aus«, sagte Robert schnell.

»Du hast sie gefangen, also wirst du sie auch ausnehmen«, entgegnete Chillhurst ruhig.

»Ethan, Hugh, ihr beide werdet umgehend sämtliche Hunde aus dem Haus schaffen.«

»Aber die Hunde sind immer im Haus«, protestierte Ethan.

»Zumindest Minotaurus. Die Cockerspaniel gehören einem der Nachbarn.«

»Von nun an sind keine Hunde außer Minotaurus im Haus gestattet, und Minotaurus darf auch nur ins Haus, wenn er sauber und trocken ist. Seht zu, daß die Cockerspanieldahin kommen, wo sie hingehören, und dann kümmert ihr euch um euren eigenenHund.«

»Aber Mr. Chillhurst«, setzte Ethan mit seiner neuen, weinerlichen Stimme an.

»Und Gejammere gibt es auch nicht«, sagte Chillhurst. »Jammern verärgert mich.« Er zog eine goldene Taschenuhr hervor und sah nach der Zeit. »Nun, ihr habt eine halbe Stunde, um zu baden und euch umzuziehen.«

»Ich brauche kein Bad«, brummte Robert.

»Du wirst ein Bad nehmen, und zwar schnell.« Chillhurst ließ die Uhr wieder in die Tasche gleiten. »Wenn ihr fertig seid, werden wir uns treffen, und ich werde euch den Stundenplan erklären, nach dem wir arbeiten werden. Verstanden?«

»Verdammt«, flüsterte Robert. »Der Typ ist vollkommen verrückt.« Ethan und Hugh starrten Chillhurst nach wie vor mit offenen Mündernan.

»Ich fragte, ob ihr mich verstanden habt?« wiederholte Chillhurst mit gefährlich leiser Stimme.

Ethans und Hughs Blick fiel auf das Messer, das an Chillhursts Oberschenkel befestigt war.

»Ja, Sir«, sagte Ethan eilig.

Hugh schluckte. »Ja, Sir.«

Robert bedachte Chillhurst mit einem beleidigten Blick, aber auch er widersprach ihm nicht. »Ja, Sir.«

»Dann seid ihr jetzt entlassen«, sagte Chillhurst.

Die drei Jungen machten auf dem Absatz kehrt und stürzten zur Tür hinaus. Die Hunde rannten ihnen lärmend hinterher. In der Tür gab es ein kurzes Gedränge!, doch dann war alles ruhig.