Verlangen - Amanda Quick - E-Book
SONDERANGEBOT

Verlangen E-Book

Amanda Quick

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie ist der umschwärmte Star der Londoner Ballsaison. Doch sie hat nur Augen für einen mysteriösen Gentleman.

London, 19. Jahrhundert: Sie ist der Star der Ballsaison. Die temperamentvolle und äußerst eigenwillige Victoria Huntington betört die Männerwelt mit tiefen Blicken und verheißungsvollem Augenaufschlag. Da taucht unter den herausgeputzten Herren, die sie umschwärmen, ein besonders verführerisches Exemplar auf: Lucas Colebrook, der mysteriöse Earl of Stonevale, lockt sie zu gewagten Ausflügen und nächtlichen Rendezvous. Er verwirrt ihre Sinne, und plötzlich hört Victoria nicht mehr auf ihren einst so kühlen und klaren Verstand …

Leidenschaftlich, atmosphärisch und spannend bis zur letzten Seite – perfekter Schmökerstoff für alle Fans der Erfolgsserie »Bridgerton«!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 564

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

London, 19. Jahrhundert: Sie ist der Star der Ballsaison. Die temperamentvolle und äußerst eigenwillige Victoria Huntington betört die Männerwelt mit tiefen Blicken und verheißungsvollem Augenaufschlag. Da taucht unter den herausgeputzten Herren, die sie umschwärmen, ein besonders verführerisches Exemplar auf: Lucas Colebrook, der mysteriöse Earl of Stonevale, lockt sie zu gewagten Ausflügen und nächtlichen Rendezvous. Er verwirrt ihre Sinne, und plötzlich hört Victoria nicht mehr auf ihren einst so kühlen und klaren Verstand …

Autorin

Amanda Quick ist das Pseudonym der erfolgreichen, vielfach preisgekrönten Autorin Jayne Ann Krentz. Krentz hat Geschichte und Literaturwissenschaften studiert und lange als Bibliothekarin gearbeitet, bevor sie ihr Talent zum Schreiben entdeckte. Sie ist verheiratet und lebt in Seattle.

Von Amanda Quick bereits erschienen (Auswahl)

Süßer Betrug · Geheimnis der Nacht · Liebe um Mitternacht · Verführung im Mondlicht · Verzaubertes Verlangen · Riskante Nächte · Dieb meines Herzens · Süßes Gift der Liebe · Glut der Herzen · Ungezähmte Leidenschaft · Gefährliche Küsse · Zärtliche Teufelin · Geliebte Rebellin · Liebe Ohne Skrupel · Verführung · Verlangen · Verruchte Lady

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet

Amanda Quick

Verlangen

Roman

Deutsch von Uta Hege

Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel »Surrender« bei bei Bantam Books, a division of Bantam Doubleday Dell Publishing Group, Inc, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright dieser Ausgabe © 2021 by Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 1990 by Jane A. Krentz

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1994 by Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.deunter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © karandaev, © nuttapoldpspt, © cybernesco; stock.adobe.com: © Kateryna

DK · Herstellung: at

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN978-3-641-29123-5V001

www.blanvalet.de

Prolog

Die Standuhr schlug Mitternacht. Es war ein Totengeläut. Das wunderschöne, altmodische, entsetzlich schwere Kleid, das ihr nicht richtig passte, weil es für eine andere Frau geschneidert worden war, behinderte ihre panische Flucht den Gang hinab. Der feine Wollstoff schlang sich um ihre Beine und drohte, sie bei jedem verzweifelten Schritt zu Fall zu bringen. Sie schürzte die Röcke höher und höher, fast bis an die Knie, und riskierte einen flüchtigen Blick über die Schulter.

Er kam näher, hetzte sie so, wie ein Jagdhund ein Reh hetzen würde, das verletzt war. Sein einst dämonisch schönes Gesicht, dieses Gesicht, das eine unschuldige, vertrauensselige Frau erst in die Ehe und dann ins Verderben gelockt hatte, war jetzt eine Maske aus Angst und mörderischer, rasender Wut. Mit wilden, hervortretenden Augen und wirrem Haar verfolgte er sie. Das Messer in seiner Hand würde schon bald an ihrem Halse sein.

»Verteufeltes Weib!« Das Echo seines Wutschreis donnerte den oberen Gang entlang. Das Licht einer flackernden Kerze spiegelte sich auf der gleißenden Klinge, die er umklammerte. »Du bist tot. Warum kannst du mir nicht meinen Frieden lassen? Ich schwöre, ich werde dich zurück in die Hölle schicken, wohin du gehörst. Und dieses Mal werde ich sichergehen, dass die Tat richtig vollbracht wird. Höre mich, verfluchtes Schreckgespenst. Dieses Mal werde ich sichergehen.«

Sie wollte schreien und konnte nicht. Sie konnte nur um ihr Leben rennen.

»Ich werde dein Blut durch meine Finger rinnen sehen, bis kein Tropfen mehr in dir ist«, schrie er aus nächster Nähe. »Dieses Mal wirst du nicht wieder zum Leben erwachen. Du hast mir genug Ärger bereitet.«

Inzwischen war sie am oberen Ende der Treppe angelangt, wo sie nach Luft rang. Furcht riss an ihrem Innersten. Sie hielt die schweren Röcke noch höher und stürzte die Treppe hinab, eine Hand am Geländer, um nicht zu Fall zu kommen. Es wäre doch zu bittere Ironie, stürbe sie an einem gebrochenen Genick statt an einer aufgeschlitzten Kehle.

Er war so nah, allzu nah. Sie wusste, dass sie kaum eine Chance besaß, es sicher zurückzuschaffen. Dieses Mal war sie zu weit gegangen, hatte sie zu viel gewagt. Sie hatte die Rolle eines Geistes gespielt, und nun wurde sie wahrscheinlich wirklich zu einem. Er würde über ihr sein, bevor sie den Fuß der Treppe erreichte.

Endlich hatte sie den Beweis gefunden, nach dem sie gesucht hatte. Falls sie am Leben bliebe, erführe sie Gerechtigkeit für ihre arme Mutter. Doch schnell wurde deutlich, dass ihre Nachforschungen sie das Leben kosten würden.

Bald würde sie seine Hände spüren, nach ihr greifend in einer grässlichen Parodie auf die lüsterne Umarmung, mit der er sie in jungen Jahren bedroht hatte. Dann würde sie das Messer spüren.

Das Messer.

Großer Gott, das Messer.

Sie hatte die Hälfte der Treppe hinter sich gebracht, als der drohende Schrei ihres Verfolgers die Luft zerriss.

Entsetzt sah sie sich um und erkannte, dass für den Rest ihres Lebens Mitternacht nie mehr dasselbe für sie sein würde. Mitternacht, das würde für sie Alptraum bedeuten.

I

Victoria Claire Huntington wusste immer, wann ein Mann versuchte, sich an sie heranzupirschen. Sie hatte nicht das reife Alter von vierundzwanzig erreicht, ohne zu lernen, woran sie die raffinierten Mitgiftjäger der besseren Gesellschaft erkannte. Reiche Erbinnen waren schließlich Freiwild.

Die Tatsache, dass sie noch unverheiratet und Herrin über ihr eigenes beträchtliches Erbe war, stellte einen Beweis dar für ihr Talent, sich den Ansinnen der aalglatten, betrügerischen Opportunisten, die in ihrer Welt nach Reichtum trachteten, zu entziehen. Victoria hatte vor langer Zeit beschlossen, niemals das Opfer eines solchen oberflächlichen Charmes zu werden.

Doch Lucas Mallory Colebrook, der neue Graf von Stonevale, war anders. Er mochte zwar ein Opportunist sein, doch war bestimmt nichts Aalglattes oder Oberflächliches an ihm. Unter all den buntgefiederten Vögeln der besseren Gesellschaft war dieser Mann ein Falke.

Victoria begann sich zu fragen, ob eben die Eigenschaften, die sie hätten abschrecken sollen, die innere Stärke und der unbeugsame Wille, die sie bei Stonevale verspürte, sie nicht gerade zu ihm hingezogen hatten. Sie konnte nicht leugnen, dass sie von dem Mann fasziniert war, dem sie vor weniger als einer Stunde vorgestellt worden war. Der Reiz, den sie verspürte, beunruhigte sie zutiefst. Mehr noch, er war gefährlich.

»Ich glaube, ich habe gewonnen, Graf.« Victoria senkte ihre mit einem eleganten Handschuh bekleidete Hand und breitete ihre Karten auf dem mit grünem Flanell überzogenen Tisch aus. Sie schenkte dem Gegenspieler ihr strahlendstes Lächeln.

»Glückwunsch, Miss Huntington. Das Glück ist heute Abend offensichtlich ganz auf Ihrer Seite.« Stonevale, dessen graue Augen Victoria an durch die Dunkelheit der Nacht schwebende Geister erinnerten, schien ob seines Verlierens nicht im Geringsten enttäuscht zu sein. Vielmehr wirkte er still zufrieden, als hätte ein sorgsam ausgeklügelter Plan soeben Früchte getragen. Eine Aura kühler Erwartung umgab ihn.

»Ja, mein Glück heute Abend war erstaunlich, nicht wahr?«, entgegnete Victoria leise. »Man möchte beinahe vermuten, ich hätte Hilfe gehabt.«

»Ich weigere mich, eine derartige Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Ich kann Ihnen nicht erlauben, Ihre eigene Ehre in Zweifel zu ziehen, Miss Huntington.«

»Wie galant von Ihnen, Graf. Doch es war nicht meine Ehre, um die ich besorgt war. Ich versichere Ihnen, dass ich mir sehr wohl bewusst bin, nicht falsch gespielt zu haben.« Victoria hielt den Atem an in dem Bewusstsein, dass sie sich mit dieser Bemerkung auf sehr dünnes Eis gewagt hatte. Sie unterstellte dem Grafen damit praktisch, mit gezinkten Karten gespielt zu haben, um ihren Sieg sicherzustellen.

Über den Tisch hinweg trafen Stonevales Augen auf die ihren und hielten sie in seinem Bann. Sein Gesicht war ausdruckslos. Beängstigend neutral, dachte Victoria mit einem leichten Schaudern. Es hätte ein Anflug von Gefühlen in diesem kühlen, grauen Blick liegen sollen. Doch sie konnte nichts in seinem Gesicht erkennen außer einer gewissen lauernden Wachsamkeit.

»Hätten Sie wohl die Güte, diese Bemerkung zu erläutern, Miss Huntington?«

Schnell entschloss sich Victoria zum Rückzug auf festeren Grund. »Ich bitte Sie, meinem Ausspruch keine Beachtung zu schenken, Graf. Ich bin lediglich ebenso verblüfft über mein heutiges Glück beim Kartenspiel wie Sie. Ich bin bestenfalls eine mittelmäßige Spielerin. Sie hingegen haben, wie man mir berichtete, den Ruf eines geschickten Spielers.«

»Sie schmeicheln mir, Miss Huntington.«

»Ich glaube nicht«, sagte Victoria. »Ich habe von dem Geschick gehört, das Sie an den Tischen von White’s und Brook’s und in gewissen anderen Clubs mit, sagen wir, weniger respektablem Ruf hier in der Stadt unter Beweis stellen.«

»Erheblich ausgeschmückte Berichte, denke ich. Doch Sie machen mich neugierig. Da wir uns eben zum ersten Mal begegnet sind, wo haben Sie diese Geschichten gehört?«

Sie konnte schwerlich zugeben, dass sie ihre Freundin Annabella Lyndwood in dem Moment nach ihm gefragt hatte, als er vor zwei Stunden den Ballsaal betreten hatte. »Ich bin sicher, dass Ihnen bekannt ist, wie derartige Gerüchte kursieren, Graf.«

»In der Tat. Doch eine Frau von Ihrer offensichtlichen Intelligenz sollte Besseres im Sinn haben, als auf Gerüchte zu hören.« Mit einer leichten, mühelosen Bewegung ordnete Stonevale die Karten zu einem übersichtlichen Stapel. Er ließ seine elegante, schmale Hand darauf ruhen und lächelte Victoria kühl an. »Nun, Miss Huntington, haben Sie sich bereits Gedanken über die Art Ihres Gewinnes gemacht?«

Victoria beobachtete ihn argwöhnisch, unfähig, die in ihr aufwallende Erregung zu unterdrücken. Besäße sie noch etwas Verstand, sie würde das Ganze sofort und auf der Stelle beenden, sagte sie sich. Doch heute Abend war es schwierig, mit der kühlen, klaren Logik zu denken, die sie für gewöhnlich in derartigen Situationen anwandte. Nie zuvor war sie jemandem wie Stonevale begegnet.

Das Gesumme aus Unterhaltung und Gelächter in Lady Athertons Spielsalon trat in den Hintergrund, und die Musik aus dem Ballsaal erschien schwach und weit entfernt. Das riesige Londoner Haus der Athertons war angefüllt mit elegant gekleideten Mitgliedern der besseren Gesellschaft sowie mit zahllosen Bediensteten, doch Victoria hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie völlig allein mit dem Grafen.

»Mein Gewinn«, wiederholte Victoria langsam in dem Versuch, ihre Gedanken zu ordnen. »Ja, ich werde mir wohl etwas überlegen müssen, nicht wahr?«

»Ich denke, als Einsatz hatten wir einen Gefallen vereinbart, nicht? Als Gewinnerin sind Sie berechtigt, mich um einen Gefallen zu bitten. Ich stehe Ihnen zu Diensten.«

»Leider, Graf, wüsste ich momentan keinen Dienst, den Sie mir erweisen könnten.«

»Sind Sie sich dessen ganz sicher?«

Sie war überrascht von dem wissenden Ausdruck in den Augen des Grafen. Dies war ein Mann, der immer mehr wusste, als er sollte. »Ganz sicher.«

»Ich fürchte, ich muss Ihnen widersprechen, Miss Huntington. Ich glaube, ich kann Ihnen einen Dienst erweisen. Mir wurde berichtet, dass Sie im Verlaufe des heutigen Abends noch eine Begleitung benötigen, wenn Sie und Miss Lyndwood Ihr kleines Abenteuer auf dem Jahrmarkt suchen.«

Victoria wurde sehr still. »Was wissen Sie darüber?«

Stonevale blätterte anscheinend zerstreut mit einer Hand durch die Karten. »Lyndwood und ich sind Freunde. Gehören zum selben Club. Sie wissen, wie das ist.«

»Lord Lyndwood? Annabellas Bruder? Sie haben mit ihm gesprochen?«

»Ja.«

Victoria war wütend. »Er versprach, uns heute Abend zu begleiten, und gab uns sein Wort, über die Angelegenheit Schweigen zu bewahren. Wie kann er es wagen, diese Sache mit seinen Freunden zu besprechen? Das geht entschieden zu weit. Und dann besitzen Männer die Kühnheit, uns Frauen des Klatsches zu bezichtigen. Es ist empörend.«

»Urteilen Sie über diesen Mann nicht vorschnell, Miss Huntington.«

»Was hat Lyndwood getan? Hat er öffentlich in einem seiner Clubs bekanntgegeben, dass er seine Schwester und ihre Freundin auf den Jahrmarkt begleiten würde?«

»Ich versichere Ihnen, er hat es nicht öffentlich bekanntgegeben. Er war äußerst diskret. Schließlich ist seine Schwester involviert, nicht wahr? Wenn Sie darauf bestehen, die Wahrheit zu erfahren, ich glaube, Lyndwood hat sich mir anvertraut, da er die Last der Verantwortung spürte.«

»Last? Welche Last? In dieser ganzen Angelegenheit gibt es nichts, was ihn beunruhigen sollte. Er wird Annabella und mich lediglich in den Park begleiten, in dem der Jahrmarkt stattfindet. Was könnte einfacher sein als das?«, fuhr sie ihn an.

»Wie ich die Sache sehe, haben Sie und Ihre Freundin ein gewisses Maß an Druck auf Lyndwood ausgeübt, damit er seine Zustimmung zu Ihrem Vorhaben gibt. Der arme Junge ist noch unerfahren genug, um sich durch derartige weibliche Taktik beeinflussen zu lassen. Glücklicherweise war er jedoch weise genug, seine Schwäche einzusehen, und klug genug, Beistand zu suchen.«

»Armer Junge, wahrlich. Was für ein Unsinn. Sie stellen es so dar, als hätten Annabella und ich Bertie zu etwas gezwungen.«

»Haben Sie das nicht getan?«, schoss Stonevale zurück.

»Natürlich nicht. Wir haben ihm lediglich zu verstehen gegeben, dass wir beabsichtigen, heute Abend auf den Jahrmarkt zu gehen, und er bestand darauf, uns zu begleiten. Höchst galant von ihm. Das jedenfalls dachten wir.«

»Sie ließen ihm als Gentleman kaum eine andere Wahl. Er konnte Sie kaum allein gehen lassen, und das wussten Sie. Es war Erpressung. Darüber hinaus vermute ich, war es vor allem Ihre Idee, Miss Huntington.«

»Erpressung.« Nun war Victoria ernsthaft wütend. »Ich verbitte mir diese Anschuldigung, Graf.«

»Weshalb? Sie ist so gut wie wahr. Denken Sie, Lord Lyndwood hätte sich freiwillig bereit erklärt, Sie und seine Schwester zu einer derart verrufenen Veranstaltung zu begleiten, wenn Sie nicht gedroht hätten, allein zu gehen? Miss Lyndwoods Frau Mama würde der Schlag treffen, wenn sie von dieser kleinen Eskapade heute Abend zu hören bekäme, und ebenso, vermute ich, ginge es Ihrer Frau Tante.«

»Ich versichere Ihnen, Tante Cleo ist viel zu robust, um sich vom Schlag treffen zu lassen«, erklärte die ihrer Tante treu ergebene Victoria. Doch sie wusste, dass Stonevale völlig recht hatte, was Annabellas Mutter betraf. Lady Lyndwood würde tatsächlich einen hysterischen Anfall erleiden, wenn sie von den Plänen ihrer Tochter für den heutigen Abend erführe. Wohlerzogene junge Damen der besseren Gesellschaft gingen abends nicht auf den Jahrmarkt.

»Ihre Tante mag eine robuste Natur haben. Ich nehme Sie beim Wort, da ich bisher noch nicht die Ehre hatte, Lady Nettleship vorgestellt zu werden. Doch bezweifle ich ehrlich, dass sie mit Ihren Plänen für heute Abend einverstanden wäre«, sagte Stonevale.

»Ich werde Lord Lyndwood erwürgen, wenn ich ihn sehe. Er ist kein Gentleman, wenn er unser Vertrauen derart missbraucht.«

»Es war nicht gänzlich seine Schuld, dass er sich mir anvertraute. Ich habe genügend Jahre als Offizier gedient, um zu sehen, wenn ein junger Mann wegen einer Sache erregt ist. Es war nicht allzu schwierig, die Einzelheiten aus ihm herauszubekommen.«

Victorias Augen verengten sich. »Weshalb?«

»Sagen wir, ich war einfach neugierig. Als Lord Lyndwood entdeckte, dass ich ihm nur allzu gern behilflich sein würde heute Abend, gestand er alles und bat um einen Begleiter.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Weshalb waren Sie so neugierig?«

»Meine Gründe sind gleichgültig«, Stonevales lange Finger blätterten erneut leicht durch den Kartenstoß. »Mir scheint, wir haben da ein wesentlich dringlicheres Problem.«

»Ich sehe kein Problem«, erwiderte Victoria, in Gedanken hinzufügend: »Außer Sie loszuwerden.« Ihr erster Instinkt war richtig gewesen. Sie hätte weglaufen sollen, als sie die Möglichkeit besaß. Doch so langsam kam es ihr vor, als hätte sie diese Chance gar nicht erst besessen. Alles schien plötzlich nach einem Gesamtplan zu verlaufen, der in Gang gesetzt worden war und über den sie immer weniger Kontrolle hatte.

»Wir sollten die Einzelheiten des kleinen Abenteuers besprechen, meinen Sie nicht?«

»Die Details wurden bereits durchdacht, danke.« Victoria missbehagte das Gefühl, die Kontrolle über die Dinge zu verlieren.

»Bitte verstehen Sie. Vielleicht ist es der ehemalige Soldat in mir, vielleicht ist es auch reine Neugierde, doch ich möchte vor Beginn eines Unternehmens genau über dessen Ablauf Bescheid wissen. Wären Sie demnach so freundlich und würden Sie mir den Plan für heute Abend genauer erläutern?«, fragte Stonevale unschuldig.

»Ich wüsste nicht, weshalb ich das tun sollte. Ich habe Sie nicht aufgefordert, uns zu begleiten.«

»Ich möchte lediglich behilflich sein, Miss Huntington. Nicht nur, dass Lyndwood dankbar ist für meine Hilfe heute Abend, sondern Sie, Sie selbst fänden es eventuell höchst passend, einen weiteren Begleiter zu haben. Das Gesindel kann abends sehr wild und flegelhaft werden.«

»Das flegelhafte Gesindel kümmert mich nicht im Geringsten. Es ist Teil dessen, was das gesamte Unternehmen erst aufregend werden lässt.«

»Dann bin ich sicher, dass Sie zumindest dankbar sein werden über mein Stillschweigen, sollte ich heute Abend das Glück haben, Ihrer Tante vorgestellt zu werden.«

Während eines kurzen, angespannten Augenblicks betrachtete Victoria ihn stumm. »Mir scheint, als sei Lord Lyndwood nicht der Einzige, der Gefahr läuft, erpresst zu werden. Vielmehr sieht es ganz so aus, als sei auch ich als Opfer auserkoren.«

»Sie verletzen mich tief, Miss Huntington.«

»Unglücklicherweise nicht tödlich, ansonsten wäre mein Problem ja wohl gelöst, nicht wahr?«

»Sie sollten in mir lieber eine Lösung als ein Problem sehen.« Stonevale lächelte sein langsames Lächeln, das jedoch die Geister in seinen Augen nicht erreichte. »Ich bitte lediglich darum, Sie heute Abend begleiten zu dürfen, wenn Sie sich in die gefährlichen Straßen der Stadt hinauswagen. Mir ist sehr daran gelegen, meine Spielschulden einzulösen.«

»Und wenn ich es ablehne, meinen Gewinn in Form Ihrer abendlichen Begleitung anzunehmen, erzählen Sie meiner Tante von unserem Plan, wenn ich es recht verstehe.«

Stonevale seufzte. »Es wäre für alle Beteiligten höchst unangenehm, wenn Miss Lyndwoods Frau Mama oder Ihre Frau Tante von Ihrem Vorhaben erführen, doch schließlich weiß man nie, welche Gesprächsthemen sich im Verlauf eines Abends ergeben, nicht wahr?«

Victoria schlug mit ihrem geschlossenen Fächer gegen den Tisch. »Ich wusste es. Dies ist Erpressung.«

»Ein hässliches Wort, doch ja, ich denke, in gewisser Weise handelt es sich hier um Erpressung.«

Mitgiftjäger. Das war die einzige Erklärung. Nie zuvor war ihr jemand derart Dreistes und Draufgängerisches begegnet. Im Allgemeinen war diese Sorte Mann extrem wohlerzogen und kultiviert, zumindest zu Anfang. Doch Victoria vertraute auf ihren Instinkt. Einen Moment lang ließ sie ihre Augen auf Stonevale ruhen, fasziniert von dem ruhigen, abwartenden Funkeln in seinem harten, grauen Blick. Als sie begann, sich vom Spieltisch abzuwenden, sprang der Graf auf, um ihr behilflich zu sein.

»Ich freue mich, Sie später am Abend zu treffen«, sagte er mit leiser Stimme, während sie sich erhob.

»Falls Sie auf der Suche nach einer lohnenden Mitgift sind, Graf«, erwiderte Victoria gedehnt, »dann werfen Sie Ihren Köder besser woanders aus. Sie vergeuden Ihre Zeit mit mir. Ich räume ein, dass Ihre Technik neu ist, doch finde ich sie nicht im Geringsten anziehend. Ich versichere Ihnen, dass ich schon weitaus angenehmere Köder verschmäht habe.«

»Das hat man mir berichtet.«

Er ging ihr voran in den glitzernden, von Menschen wimmelnden Ballsaal. Wie bereits zuvor fiel Victoria erneut Stonevales eigentümlich balancierter, doch zugleich unregelmäßiger Gang auf. Die elegante schwarze Abendgarderobe, korrekt gebundene Krawatte, enganliegende Reithosen und polierte Stiefel, versteckte nicht das Hinken, das die Bewegung seines linken Beins behinderte.

»Was genau hat man Ihnen berichtet, Graf?«, fragte Victoria.

Er zuckte mit den Schultern. »Man sagt, Sie hätten wenig Interesse an der Ehe, Miss Huntington.«

»Ihre Informanten haben unrecht.« Sie lächelte schwach. »Ich habe nicht nur wenig, sondern absolut kein Interesse an der Ehe.«

Stonevale warf ihr einen wohlberechneten Seitenblick zu. »Wie bedauerlich. Wenn Sie einen Gatten und eine Familie hätten, die Ihre Zeit am Abend in Anspruch nähmen, hätten Sie es vielleicht nicht nötig, sich mit derart riskanten Abenteuern wie dem für heute Abend geplanten die Zeit zu vertreiben.«

Victorias Lächeln verstärkte sich. »Ich bin sicher, dass die Art von Abenteuer, die ich für den heutigen Abend geplant habe, weit unterhaltsamer ist, als die abendlichen Pflichten einer Ehefrau es sind.«

»Was macht Sie da so sicher?«

»Die eigene Erfahrung, Graf. Meine Mutter wurde wegen ihres Vermögens geheiratet, und diese Ehe zerstörte sie. Auch meine liebe Tante wurde wegen ihres Geldes geheiratet. Sie hatte jedoch das Glück, dass mein Onkel die Güte besaß, früh bei einem Jagdunfall ums Leben zu kommen. Doch da ich nicht auf ähnliches Glück hoffen darf, ziehe ich es vor, gar nicht erst das Risiko einer Ehe einzugehen.«

»Fürchten Sie nicht, dass Sie einen wichtigen Teil im Leben einer Frau versäumen?«, äußerte er.

»Nicht im Geringsten. Ich habe bisher nichts an der Ehe entdeckt, was sie reizvoll machen könnte.« Victoria öffnete ihren vergoldeten Fächer, um ein Schaudern zu verbergen. Erinnerungen an die gelegentlichen kleinen Grausamkeiten und betrunkenen Gewalttaten ihres Stiefvaters gegen ihre Mutter waren allgegenwärtig. Selbst der Glanz des Ballsaals konnte sie nicht gänzlich verdrängen.

Sie fächerte sich ein-, zweimal schwach zu in der Hoffnung, Stonevale würde den Eindruck gewinnen, sie sei extrem von der Unterhaltung gelangweilt. »Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, Graf, ich sehe gerade eine Freundin, mit der ich sprechen muss.«

Er folgte ihrem Blick. »Ah, ja, die unerschrockene Annabella Lyndwood. Zweifellos kann sie es ebenfalls nicht erwarten, den Plan für heute Abend zu besprechen. Da Sie ja entschlossen sind, nicht zu kooperieren, scheint es, als müsse ich die Einzelheiten selbst herausfinden. Doch keine Angst, Strategiespiele sind meine Stärke.« Stonevale beugte seinen Kopf kurz über Victorias Hand. »Bis später, Miss Huntington.«

»Ich bete, dass Sie einen unterhaltsameren Zeitvertreib finden werden, als uns zu begleiten.«

»Das ist eher unwahrscheinlich.« Das schwache Lächeln des Grafen wandelte sich in ein kurzes, boshaftes Grinsen, bei dem seine kräftigen weißen Zähne sichtbar wurden.

Mit einem eleganten Wirbeln ihrer goldgelben Seidenröcke wandte sich Victoria ab, ohne ihm die Genugtuung eines letzten Blickes zu gönnen. Dieser Mann war nicht nur potentiell gefährlich, er war unerträglich.

Victoria unterdrückte ein leichtes Stöhnen, als sie durch die Menge fegte. Warum war sie nur so naiv gewesen? Nie hätte sie dem Grafen gestatten sollen, sie heute Abend in den Spielsalon zu locken. Schließlich gehörte es sich für eine Dame nicht unbedingt, mit einem Mann bei einer derartigen Veranstaltung Karten zu spielen. Doch sie hatte Abenteuern noch niemals widerstehen können, und dieser abscheuliche Mensch hatte das anscheinend fast sofort gespürt. Die Schwäche gespürt und ausgenutzt. Sie durfte das niemals vergessen.

Dabei war sie durch nichts gewarnt worden. Schließlich war Stonevale ihr von keiner Geringeren als Jessica Atherton ordentlich vorgestellt worden.

Jedermann wusste, dass Lady Atherton eine Frau ohne Tadel war, ein wahrer Ausbund an Tugend. Schlank, dunkelhaarig und blauäugig; die Vicomtesse war nicht nur jung, sanft und einfach liebreizend, sondern zugleich von gebührender Bescheidenheit, unfehlbarer Kultiviertheit, überragendem Ansehen, eine hartnäckige Verfechterin der Regeln des Anstands. Mit anderen Worten, sie hätte gewiss keinen ihrer weiblichen Gäste mit einem bekannten Lebemann oder Mitgiftjäger bekannt gemacht.

»Vicky, ich habe dich bereits überall gesucht.« Annabella Lyndwood eilte hinüber zu ihrer Freundin.

Mit einem leichten Schlag öffnete sie ihren Fächer und verdeckte damit ihre Lippen, während sie im Flüsterton sprach. »Hast du tatsächlich mit Stonevale Karten gespielt? Wie ungezogen von dir. Wer hat gewonnen?«

Victoria seufzte. »Ich, leider.«

»Hat er dir erzählt, dass Bertie ihn aufgefordert hat, uns heute Abend zu begleiten? Ich war wirklich erzürnt deswegen, doch Bertie besteht darauf, dass wir einen zweiten männlichen Begleiter bräuchten.«

»So wurde es mir erklärt.«

»Oje, du bist ärgerlich. Es tut mir so leid, wirklich Vicky, doch es lässt sich nicht ändern. Bertie hatte mir versprochen, nichts von unseren Plänen zu verraten, doch anscheinend hat Stonevale ihn mit einem Trick dazu gebracht, ihm alles zu erzählen.«

»Ja, ich kann mir vorstellen, wie so etwas geschieht. Wahrscheinlich ließ er so lange Weißwein durch Berties Kehle fließen, bis die Wahrheit herauskam. Es ist gewiss bedauerlich, dass dein Bruder seinen Mund nicht halten konnte, aber mach dir keine Sorgen, Bella. Ich bin wild entschlossen, mich trotzdem zu amüsieren.«

Annabellas himmelblaue Augen schimmerten in offensichtlicher Erleichterung. Ihre blonden Locken hüpften verführerisch, als sie mit dem Kopf nickte und lächelte. Annabella Lyndwood war in den Augen einiger strenger Verfechter der gängigen Mode ein klein wenig zu wohlgerundet, doch diese Neigung zur Fülligkeit schreckte ihre zahlreichen Verehrer in keinster Weise. Vor kurzem hatte sie ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert und Victoria anvertraut, sie sei zweifelsohne verpflichtet, einen der verschiedenen Anträge anzunehmen, die ihr in dieser Saison gemacht worden waren. Wegen des verfrühten Todes ihres Vaters war Annabella erst sehr spät auf dem Heiratsmarkt erschienen, doch als sie schließlich in der Londoner Gesellschaft ihren Auftritt hatte, erwies sie sich als ungemein beliebt.

»Was weißt du über ihn, Bella?«, fragte Victoria ruhig.

»Wen? Stonevale? Nicht viel, um ehrlich zu sein. Bertie sagt, er genieße einiges Ansehen in den Clubs. Seinen Titel hat er, glaube ich, erst kürzlich erhalten. Der vorherige Graf war wohl irgendein entfernter Verwandter. Ein Onkel oder so. Bertie erwähnte irgendwelche Güter in Yorkshire.«

»Hatte Bertie sonst noch etwas über ihn zu berichten?«

»Lass mich nachdenken. Bertie zufolge ist die Linie der Familie so gut wie ausgestorben. Sie wäre fast ganz ausgestorben, glaube ich, als Lucas Colebrook vor etwa einem Jahr gegen Napoleon in Spanien schwer verwundet wurde.«

Victoria spürte, wie sich ihr Magen unangenehm zusammenzog. »Das Hinken?«

»Ja. Es war anscheinend das Ende seiner militärischen Laufbahn. Nun denn, diese Karriere hätte sowieso geendet, als er sein Erbe antrat. Seine oberste Pflicht gilt jetzt selbstverständlich seinem Titel und seinen Gütern.«

»Natürlich.« Victoria wollte die nächste Frage nicht stellen, doch sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Wie ist das passiert?«

»Die Verwundung seines Beins? Ich kenne keine Einzelheiten. Bertie sagt, Stonevale spricht nie darüber. Doch hat meinem Bruder zufolge Wellington höchstpersönlich den Grafen in verschiedenen seiner Depeschen erwähnt. Es heißt, dass es Stonevale während der Schlacht, in der er verwundet wurde, gelang, im Sattel zu bleiben und seine Männer weiterzuführen, so dass sie noch das Angriffsziel einnehmen konnten, bevor er zusammenbrach und totgeglaubt auf dem Feld zurückgelassen wurde.«

Totgeglaubt und zurückgelassen. Victoria fühlte sich elend. Sie verdrängte die aufsteigende Übelkeit und ermahnte sich selbst, dass Stonevale nicht die Art Mann sei, für die Mitleid zu empfinden sie sich leisten konnte. Außerdem bezweifelte sie stark, dass er ein solches Gefühl gutheißen würde. Es sei denn, natürlich, er fände einen Weg, dieses zu seinem Vorteil zu nutzen.

Plötzlich kam ihr der Gedanke, ob Stonevale das Kartenspiel vielleicht vorgeschlagen hatte, um der Verpflichtung zu entgehen, eine Reihe von Volkstänzen zu absolvieren. Wahrscheinlich hielt ihn das Hinken von der Tanzfläche fern.

»Was hältst du von ihm, Vicky? Ich habe gesehen, wie die perfekte Miss Pilkington und eine ganze Reihe anderer Damen im Saal ihn den ganzen Abend beobachtet haben. Ganz zu schweigen von ihren Frau Mamas. Es geht doch nichts über ein wenig frisches Blut, um den Appetit anzuregen, nicht wahr?«, stichelte Annabella scherzhaft.

»Was für ein abscheuliches Bild.« Dennoch musste Victoria wider Willen lachen. »Ich frage mich, ob Stonevale weiß, dass er wie ein Zuchthengst begutachtet wird.«

»Ich weiß es nicht, doch bisher bist du die Einzige gewesen, die er begutachtet hat. Allen ist aufgefallen, dass du es warst, die er in den Spielsalon gelockt hat.«

»Ich nehme an, er ist auf der Suche nach einem Vermögen«, sagte Victoria.

»Wirklich, Vicky, du glaubst immer, dass die Männer hinter deinem Vermögen her sind. Du bist in dieser Angelegenheit verbohrt bis hin zur Idiotie. Wäre es nicht möglich, dass einige deiner Bewunderer ernsthaftes Interesse an dir und nicht an deinem Geld haben?«

»Bella, ich bin fast fünfundzwanzig. Wir wissen beide, dass die Männer in unseren Kreisen Frauen meines fortgeschrittenen Alters keine Anträge machen, es sei denn, sie würden durch praktische Erwägungen gelenkt. Und mein Vermögen ist ein äußerst praktischer Grund.«

»Du sprichst, als gehörtest du bereits zum alten Eisen, aber das stimmt einfach nicht.«

»Natürlich stimmt es. Und, um ehrlich zu sein, mir ist es lieber so«, erwiderte Victoria gelassen.

Annabella schüttelte den Kopf. »Aber weshalb?«

»Es macht alles so viel einfacher«, erklärte Victoria vage, während sie sich unbewusst in der Menge nach Stonevale umsah. Sie entdeckte ihn schließlich im Gespräch mit der Gastgeberin nahe der Tür, die auf die weiten athertonschen Gärten hinausführte. Sie betrachtete die intime Art, mit der er sich über die engelsgleiche Lady Atherton beugte, die wie eine Vision in Rosa erschien.

»Falls du dich dann etwas besser fühlst, versichere ich dir, dass Bertie absolut nichts gesagt hat, was die Vermutung rechtfertigen würde, Stonevale sei ein Mitgiftjäger«, sagte Annabella. »Ganz im Gegenteil. Es geht das Gerücht um, der alte Graf sei ein Exzentriker gewesen, der seine Reichtümer gehortet habe bis zum Tage seines Todes. Nun gehört alles unserem neuen Grafen. Und du kennst Bertie. Es würde ihm nicht im Traum einfallen, eine Person zu bitten, uns heute Abend zu begleiten, die er nicht vollkommen billigen würde.«

Victoria musste einräumen, dass das zutraf. Lord Lyndwood, nur zwei Jahre älter als seine Schwester, nahm die Pflichten, die ihm aus dem kürzlich ererbten Titel erwuchsen, äußerst ernst. Er war sehr fürsorglich gegenüber seiner koketten, überschwänglichen Schwester, und Victoria gegenüber war er immer ein angenehmer Freund. Er würde keine der beiden Frauen einem Manne aussetzen, dessen Hintergrund oder Ruf zweifelhaft war. Vielleicht hatte Annabella recht, dachte Victoria. Vielleicht war sie, wenn es um arglistige Mitgiftjäger ging, ein wenig überängstlich.

Dann erinnerte sie sich an Stonevales Augen. Selbst wenn er kein Mitgiftjäger war, so war er doch gefährlicher als jeder andere Mann, dem sie jemals begegnet war, vielleicht mit Ausnahme ihres Stiefvaters.

Bei dem Gedanken sog Victoria scharf die Luft ein, um sie ärgerlich wieder auszustoßen. Nein, sagte sie mit plötzlicher Heftigkeit zu sich selbst, egal, wie gefährlich Stonevale sein mochte, sie würde ihn nicht auf eine Stufe mit dem brutalen Menschen stellen, der ihre Mutter geheiratet hatte. Tief in ihrem Innersten sagte ihr etwas, dass die beiden Männer nicht aus demselben Holz geschnitzt seien.

»Nun, meinen Glückwunsch, Victoria, meine Liebe. Ich sehe, Sie haben die Aufmerksamkeit unseres neuen Grafen geweckt. Stonevale ist ein interessantes Exemplar, nicht wahr?«

Aus ihren Gedanken gerissen durch die vertraute, kehlige Stimme, blickte Victoria zu ihrer Linken, wo sie lsabel Rycott neben sich stehen sah. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Eigentlich war ihr die Frau ziemlich egal, doch fühlte sie jedes Mal, wenn sie in ihrer Nähe war, einen Hauch von Neid und Unbehagen.

Isabel Rycott erinnerte Victoria immer an ein seltenes Juwel. Sie war Anfang dreißig und verströmte eine Aura üppiger, weiblicher Rätselhaftigkeit, die Männer anzog wie der Honig die Bienen. Das Gefühl des Exotischen wurde verstärkt durch Isabels katzenhafte Geschmeidigkeit, ihr glattes schwarzes Haar und ihre leicht schrägen Augen. Sie war im Saal eine der wenigen Frauen neben Victoria, die der gängigen Mode trotzten, indem sie leuchtende Farben trugen statt der heute Abend vorherrschenden dezenten Weiß- oder Pastelltöne. Ihr paillettenbesetztes, tief smaragdgrünes Kleid schimmerte glitzernd im Licht des Ballsaals.

Doch es war nicht Isabels ungewöhnliches Äußeres, das Victoria veranlasste, sie mit einem gewissen sehnsüchtigen Neid zu betrachten. Vielmehr bewunderte Victoria heimlich die Freiheit, die dieser Frau aufgrund ihres Alters und ihres Witwenstandes verliehen war. Eine Frau in Lady Rycotts Position wurde nicht so schnell Gegenstand forschender Überwachung durch die bessere Gesellschaft wie Victoria. Lady Rycott besaß sogar die Freiheit, in diskreten Affären zu schwelgen.

Victoria war noch nie einem Mann begegnet, mit dem sie eine Affäre hätte beginnen wollen, doch hätte sie schrecklich gern die Freiheit dazu besessen, falls ihr eines Tages der Richtige über den Weg laufen würde.

»Guten Abend, Lady Rycott.« Victoria sah auf die Frau hinab, die einige Zentimeter kleiner war als sie. »Sind Sie mit dem Grafen bekannt?«

Isabel schüttelte ihren wohlgeformten Kopf. »Leider wurden wir einander noch nicht vorgestellt. Er hat erst kürzlich Eingang in unsere Kreise gefunden, obgleich ich hörte, dass er an den Spieltischen in den Clubs bereits seit einiger Zeit aktiv ist.«

»Ich habe dasselbe gehört«, sagte Annabella. »Bertie sagt, der Mann ist ein hervorragender Spieler. Äußerst kaltblütig.«

»Wirklich?« Isabel warf einen Blick quer durch den Saal und fixierte den Grafen, der sich nach wie vor mit Lady Atherton unterhielt. »Er ist nicht hübsch, nicht wahr, und trotzdem hat er etwas Faszinierendes an sich.«

Hübsch? Bei der Verwendung eines solch faden Ausdrucks für die Beschreibung Stonevales hätte Victoria in lautes Gelächter ausbrechen mögen. Nein, er war nicht hübsch. Sein Gesicht war streng, gar rau, mit einer Nase gleich einer scharfen Klinge, einem hervortretenden Kiefer und diesen grauen Augen von unerbittlicher Wachsamkeit. Sein Haar hatte die Farbe eines mondlosen Nachthimmels, mit silbernen Fäden an den Schläfen, doch nichts davon berechtigte zu der Bezeichnung hübsch. Wenn man Stonevale betrachtete, sah man ruhige, kontrollierte, männliche Stärke, keinen feinen Dandy.

»Sie müssen zugeben«, sagte Annabella, »dass ihm seine Kleidung sehr gut steht.«

»Ja«, stimmte Isabel sanft zu. »Seine Kleidung steht ihm hervorragend.«

Victoria mochte den abschätzenden Blick nicht, mit dem Isabel den Grafen musterte, doch war nicht zu leugnen, dass Stonevale einer dieser seltenen Männer war, die nicht durch die eleganten Anzüge beherrscht wurden, die derzeit so modern waren. Seine kräftigen Schultern, die flachen Hüften und wohlgeformten Schenkel brauchten weder Polster noch Kaschierung.

»Vielleicht erweist er sich als amüsant«, sagte Isabel.

»Ja, gewiss«, stimmte Annabella fröhlich zu.

Victoria warf der großen, dunklen Gestalt neben Lady Atherton einen erneuten Blick zu. »Amüsant ist vielleicht nicht ganz das passende Wort.« Gefährlich war das passende Wort.

Doch plötzlich war Victoria bereit, sich auf diese prickelnde Gefahr einzulassen. Das gesellige Treiben der besseren Gesellschaft, das sie seit kurzem mehr und mehr brauchte, um die langen Abendstunden auszufüllen, genügte ihr nicht mehr. Sie brauchte etwas anderes, um die endlosen Alpträume in Schach zu halten.

Vielleicht bot der Graf von Stonevale genau die Erfrischung, nach der sie gesucht hatte.

»Liebster Lucas, welchen Eindruck hattest du von ihr? Ist sie die Richtige?« Lady Atherton blickte zu ihm auf, einen Anflug von Aufregung in ihren schönen, sanften Augen.

»Ich denke, sie ist genau die Richtige, Jessica.« Lucas nippte an dem Champagnerglas in seiner Hand und ließ seine Augen über die Menge wandern.

»Ich weiß, sie ist etwas alt.«

»Ich bin selbst etwas alt«, entgegnete er trocken.

»Unsinn. Vierunddreißig ist ein hervorragendes Alter für einen Mann, der die Absicht hat zu heiraten. Edward war dreiunddreißig, als ich ihn heiratete.«

»Ja, tatsächlich, nicht wahr?«

Jessica Athertons Augen waren sofort erfüllt mit tiefer Reue. »Lucas, es tut mir leid. Wie unbeholfen von mir. Du musst wissen, dass ich dich nicht verletzen wollte.«

»Ich werde es überleben.« Endlich entdeckte Lucas Victoria in der Menge. Er ließ seinen Blick auf seinem anmutigen Opfer ruhen, während sie mit einem plumpen, ältlichen Baron die Tanzfläche betrat. Offensichtlich tanzte Victoria gern, obgleich sie sich bei ihrer Partnerwahl auf sehr junge, gesellschaftlich unerfahrene oder aber auf Männer zu beschränken schien, die wesentlich älter waren als sie selbst. Wahrscheinlich erachtete sie diese Männer als harmlos.

Er bedauerte, dass er es nicht wagte, sie auf die Tanzfläche zu bitten. Es wäre interessant zu sehen, ob sie ihm dorthin ebenso leicht folgen würde wie in den Spielsalon. Doch er war nicht sicher, inwieweit sie die fehlende Anmut seines verdammten linken Beins tolerieren würde, und an diesem Punkt konnte er kein Risiko eingehen.

Zwar verspürte er bei ihr keinerlei Anzeichen von Grausamkeit. Sicherlich war sie temperamentvoll, doch er wusste, dass sie sich weder zu Beleidigungen noch zu schneidenden Bemerkungen hinsichtlich seines Hinkens herablassen würde. Dennoch könnte sie ihm recht kräftig auf die Zehen treten, wenn es ihm gelänge, sie ebenso aufzustacheln, wie er es im Spielsalon getan hatte. Bei der Vorstellung musste Lucas lächeln.

»Natürlich war es unerhört, dass sie dich in den Spielsalon begleitet hat«, sagte Lady Atherton. »Doch ich fürchte, so ist unsere Miss Huntington nun einmal. Sie hat eine Neigung, sich gefährlich am Rande dessen zu bewegen, was noch als schicklich angesehen werden kann. Doch ich bin mir sicher, dass dieser bedauerliche Wesenszug unter der Führung eines Ehemannes leicht unter Kontrolle gehalten werden könnte.«

»Eine interessante Feststellung.«

»Und sie hat eine bemerkenswerte Vorliebe für diese eher grellen Gelbtöne«, fügte Lady Atherton hinzu.

»Es ist klar, dass Miss Huntington ihren eigenen Willen hat. Doch muss ich zugeben, dass ihr das Gelb sehr gut steht. Nicht viele Frauen könnten diese Farbe tragen.«

Lucas betrachtete Victorias große, geschmeidige Gestalt in dem taillierten Kleid. In dem überfüllten Saal erschien die gelbe Seide wie ein Strahl honigfarbenen Sonnenlichtes. Sie verströmte einen reichen, warmen Glanz inmitten der klassischen, aber wässrigen Pastelltöne.

Was ihn betraf, so bestand der einzige Nachteil dieses Kleides darin, dass das Mieder wesentlich zu tief ausgeschnitten war. Es enthüllte entschieden zu viel der sanften, hohen Wölbungen von Victorias Brüsten. Lucas verspürte den fast unwiderstehlichen Drang, sich von einer der würdigen älteren Damen ein Schultertuch zu borgen und Victorias Dekolleté damit zu umhüllen. Ein solcher Impuls war für ihn derart ungewöhnlich, dass er einen Moment lang regelrecht verblüfft darüber war.

»Ich fürchte, sie steht in dem Ruf, ein rechtes Original zu sein. Das liegt zweifellos an ihrer Tante. Cleo Nettleship selbst ist eine höchst ungewöhnliche Person«, sagte Lady Atherton.

»Auf alle Fälle ziehe ich eine Dame vor, die anders ist als die Masse. So etwas ist eine Garantie für interessante Unterhaltungen, meinst du nicht? Ich nehme doch an, dass ich auf die eine oder andere Art mit der Frau, die ich heiraten werde, eine ganze Reihe von Unterhaltungen führen werde. Dies scheint mir unumgänglich.«

Jessica seufzte leicht. »Unglücklicherweise gibt es in dieser Saison nicht gerade eine große Auswahl an reichen Erbinnen. Aber eigentlich ist das ja immer so. Nun, zumindest wäre da noch Miss Pilkington. Auf alle Fälle solltest du sie noch kennenlernen, bevor du deine Entscheidung triffst, Lucas. Ich schwöre, sie ist eine bewundernswerte Person. Sie weiß sich immer korrekt zu benehmen, wohingegen Miss Huntington, wie ich fürchte, ein gewisser Hang zur Eigensinnigkeit nicht abzusprechen ist.«

»Miss Pilkington interessiert mich nicht. Ich bin recht zufrieden mit Miss Huntington.«

»Wäre sie wenigstens nicht schon fast fünfundzwanzig. Miss Pilkington ist erst neunzehn. Jüngere Frauen lassen sich im Allgemeinen durch einen Ehemann leichter beeinflussen, Lucas.«

»Jessica, bitte glaube mir, wenn ich dir sage, dass Miss Huntingtons Alter kein Problem für mich ist.«

»Bist du dir da vollkommen sicher?« Lady Atherton sah ihn unbehaglich an.

»Ich habe es weit lieber mit einer reiferen Frau zu tun, die weiß, was sie will, als mit einem jungen Ding, das gerade erst der Schulbank entsprungen ist. Und ich muss sagen, dass Miss Huntington tatsächlich weiß, was sie will.«

»Du meinst, weil es ihr gelungen ist, so lange unverheiratet zu bleiben? Wahrscheinlich hast du recht. Sie hat es sehr deutlich gemacht, dass sie nicht das geringste Interesse daran verspürt, ihr Erbe an einen Ehemann abzutreten. Selbst die eifrigsten Mitgiftjäger haben es inzwischen aufgegeben, ihr Avancen zu machen.«

Stonevales Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Womit also das Feld mir überlassen wäre.«

»Bitte, versteh mich nicht falsch. Sie hat ein einnehmendes, auf gewisse Weise erfrischendes Wesen, genau wie ihre Tante. Victoria hat eine ganze Reihe von Verehrern, doch scheint sie die alle auf den Rang von Freunden verwiesen zu haben.«

»Mit anderen Worten, sie wissen alle, wo ihr Platz ist, und damit begnügen sie sich.«

»Wenn sie zu weit gehen, lässt sie sie sofort fallen. Miss Huntington ist bekannt für ihre weitgehende Freundlichkeit, sie hat immer ein Lächeln oder ein charmantes Wort parat. Gern bereit, auch mit den am wenigsten anziehenden Männern im Saal zu tanzen. Doch gegenüber den Galanen, die sie umschmeicheln, lässt sie unerbittliche Strenge walten«, fügte Jessica hinzu.

Das überraschte ihn nicht. Miss Huntington wäre nicht so lange ihre eigene Herrin geblieben, hätte sie nicht die Fähigkeit entwickelt, die Männer in ihrer Umgebung zu manipulieren. Sie zu hofieren würde für ihn ein regelrechter Balanceakt werden.

»Ich nehme an, sie hat eine gute Erziehung genossen?«, fragte Lucas.

»Manche würden ihre Erziehung wohl als hervorragend bezeichnen. Ich habe gehört, dass Lady Nettleship den Großteil der Verantwortung für die Erziehung ihrer Nichte übernommen hat, und das Ergebnis spricht für sich. Ohne die unangreifbare Stellung ihrer Tante wäre Miss Huntington zweifellos bereits vor langer Zeit gesellschaftlich gescheitert.«

»Was geschah mit Miss Huntingtons Eltern?«

Lady Atherton zögerte und sagte dann ruhig: »Tot. Alle beide. Wahrlich traurig. Doch der Herr gibt es, und der Herr nimmt es.«

»Das tut er gewiss.«

Lady Atherton warf ihm einen unsicheren Blick zu und räusperte sich: »Ja nun, der Vater starb, als Miss Huntington noch ein kleines Mädchen war, und ihre Mutter heiratete kurze Zeit später erneut. Doch Caroline Huntington kam bei einem Reitunfall vor etwas mehr als achtzehn Monaten ums Leben. Und dann starb Miss Huntingtons Stiefvater, Samuel Whitlock, weniger als zwei Monate nach seiner Frau. Ein schrecklicher Sturz von der Treppe, wie ich hörte. Brach sich das Genick.«

»Eine seltsame Reihe von Tragödien, doch das Ergebnis ist, dass Miss Huntington keine Eltern mehr hat, die sich verpflichtet fühlen könnten, genauere Nachforschungen hinsichtlich meiner finanziellen Situation anzustrengen. Das nützliche Gerücht über die gehorteten Reichtümer meines Onkels hielte einer genaueren Untersuchung nicht stand.«

Missbilligend schürzte Jessica die Lippen. »Ich fürchte, wir kommen nicht um die Tatsache herum, dass Miss Huntington die Trauer um ihren Stiefvater auf das erforderliche Minimum begrenzte. Sie machte es sehr deutlich, dass sie nur um ihre Mutter trauerte, und selbst diese Trauer endete zum frühestmöglichen, noch der Schicklichkeit entsprechenden Zeitpunkt.«

»Das beruhigt mich, Jessica. Das Letzte, was ich will, ist eine Frau, die Vergnügungen wie langer Trauer frönt. Das Leben kann sehr kurz sein, und es ist eine Schande, es damit zu vergeuden, Dingen nachzutrauern, die man nicht haben kann, meinst du nicht?«

»Wir müssen jedoch lernen, die uns auferlegten Bürden zu tragen. Solche Dinge stärken den Charakter. Und zugleich gilt es, den Anstand zu wahren«, mahnte Jessica leicht betroffen. »Auf jeden Fall ist Lady Nettleship, die Tante, eine hervorragende Frau mit guten Beziehungen, doch lässt es sich nicht leugnen, dass sie in mancher Beziehung ein wenig seltsam ist. Ich fürchte, sie hat es zugelassen, dass ihre Nichte ein wenig verwildert. Denkst du, du kannst Miss Huntingtons eher ungewöhnliches Betragen tolerieren?«

»Ich denke, ich werde mit Miss Huntington sehr gut fertigwerden, Jessica.« Lucas nahm einen weiteren Schluck Champagner, während seine Aufmerksamkeit auf Victoria gerichtet war, die nach wie vor mit ihrem ältlichen Baron tanzte.

Sie war anders, als er erwartet hatte, dachte Lucas mit einem seltsamen Gefühl der Erleichterung. Er war darauf vorbereitet gewesen, seine Pflicht gegenüber seinem Namen, Titel und den zahlreichen Menschen, für die er nun verantwortlich war, zu erfüllen, doch hatte er nicht erwartet, dabei Vergnügen zu empfinden.

Bestimmt nicht, was er erwartet hatte.

Zum einen hatte er diese fast gewaltsam aufbrausende körperliche Anziehung nicht erwartet. Jessica hatte ihm lediglich erklärt, Victoria Huntington sei vorzeigbar, doch weiter ging die Beschreibung nicht.

Sie war größer, als er glauben gemacht worden war, erheblich größer als die Mehrzahl der Frauen in ihrer Umgebung. Doch Lucas war ein großer Mann, und es war gut, eine Frau zu finden, deren Kopf angenehm auf seiner Schulter ruhen würde statt irgendwo mitten auf seiner Brust.

Nicht, was er erwartet hatte.

Und sie bewegte sich mit einem langen, graziösen Schritt, der nicht die Spur der gewöhnlichen Geziertheit aufwies, die Frauen so oft an den Tag legten. Auch tanzte sie gut, stellte er nicht ohne eine Spur der Verärgerung fest. Er wusste, wenn es darum ginge, sie beim Tanzen zu begleiten, könnte er noch nicht einmal mit dem ältlichen Baron Schritt halten.

Lucas sah zu, wie der Baron Victoria mühelos unter einem glitzernden Kronleuchter hindurchführte. Die zahlreichen Lichter ließen die goldenen Strähnen in ihrem prächtigen lohfarbenen braunen Haar aufleuchten. Für Lucas’ Geschmack trug sie ihren dichten Schopf wesentlich zu kurz. Doch der kurze, auf raffinierte Weise nachlässige Stil enthüllte die feine, verführerische Linie ihres Nackens und umrahmte ihre glänzenden bernsteinfarbenen Augen. Wenn es um Mode ging, wusste die Dame eindeutig Bescheid.

Nicht, was er erwartet hatte.

Jessica hatte ihn gewarnt, dass es zwar nichts an Miss Huntingtons Zügen auszusetzen gebe, sie jedoch auch keine ausgesprochene Schönheit sei. Während er aus der Entfernung die lebendigen, munteren Züge in Victorias Gesicht studierte, stellte Lucas fest, dass Jessica in gewisser Weise recht hatte. Doch er beschloss, dass die warmen goldenen Augen, die so herausfordernd blicken konnten, die hochmütige, doch zugleich äußerst feminine Nase und das strahlende Lächeln sehr nett zusammenpassten. Victoria hatte etwas Faszinierendes, Lebendiges, das den Blick anzog und festhielt. Ihr Wesen ließ eine unterdrückte Leidenschaft vermuten, die nur darauf wartete, durch den richtigen Mann geweckt zu werden.

Lucas warf einen erneuten Blick auf das Lächeln, das Victoria dem Baron schenkte, und beschloss, dass er Victorias Lippen äußerst gerne kosten würde. Bald.

»Lucas, mein Lieber?«

Widerwillig wandte Lucas den Blick von seiner reichen Erbin. Meine reiche Erbin, dachte er amüsiert, als er den Ausdruck erneut durch seine Gedanken wandern ließ.

»Ja, Jessica?« Forschend sah er auf die schöne Frau hinab, die er einst geliebt und mangels Titels und Vermögens verloren hatte.

»Ist sie die Richtige, Lucas? Wirklich? Es ist noch nicht zu spät, wenn du auch Miss Pilkington kennenlernen möchtest, weißt du?«

Lucas dachte daran, wie Jessica, sich dem Diktat ihrer Familie unterwerfend, einen anderen Mann geheiratet hatte, um sich sowohl einen Titel als auch ein Vermögen zu sichern. Damals hatte er sie weder wirklich verstanden noch ihr vergeben. Nun, mit seinem Titel, aber nach wie vor ohne das dringend benötigte Vermögen verstand Lucas endlich die Lage, in der sich Jessica vor vier Jahren befunden hatte.

Er wusste jetzt, dass eine Ehe keine Angelegenheit des Herzens war; es war eine Sache der Pflicht. Und Pflicht war etwas, das Lucas sehr gut verstand.

»Nun, Lucas?«, drängte Jessica erneut, ihre Augen voll ernster Besorgnis. »Kannst du dich überwinden, sie zu heiraten? Um Stonevales Willen?«

»Ja«, sagte Lucas. »Miss Huntington ist die Richtige.«

2

»Ist meine Tante zu Hause, Rathbone?«, fragte Victoria, als sie in die Eingangshalle des Stadthauses eilte. Draußen auf der Straße war das Klappern von Rädern zu hören. Die Kutsche von Annabella und ihrer ältlichen Tante, die Victoria auf den Ball begleitet hatten, fuhr wieder ab.

Victoria war recht froh, der Enge des Fahrzeuges entronnen zu sein. In ihrer Funktion als Anstandsdame der beiden jüngeren Frauen hatte Annabellas Tante sich verpflichtet gefühlt, ihren Schützlingen einen längeren Vortrag über das eher zweifelhafte Benehmen von Frauen zu halten, die auf eleganten Bällen mit Männern Karten spielen.

Victoria hasste Vorträge dieser Art.

Rathbone, ein gediegener, vornehm aussehender Mann mit schütterem grauem Haar und einer Nase, die eines Herzogs würdig gewesen wäre, zeigte feierlich auf die geschlossene Tür der Bibliothek: »Ich glaube, Lady Nettleship hat eine Versammlung mit einigen Mitgliedern ihrer Gesellschaft für die Erforschung von Naturgeschichte und Gartenbau.«

»Hervorragend, bitte schauen Sie nicht so niedergeschlagen, Rathbone. Noch ist nicht alles verloren. Noch ist es ihnen nicht gelungen, die Bibliothek in Brand zu setzen.«

»Das ist nur eine Frage der Zeit«, brummte Rathbone.

Victoria grinste, als sie an ihm vorbeisegelte und ihre Handschuhe auf dem Weg zum Eingang der Bibliothek abstreifte. »Kommen Sie, Rathbone. Sie standen bereits im Dienst meiner Tante, als ich als kleines Kind zum ersten Mal zu Besuch kam, und nicht ein einziges Mal hat sie das Haus niedergebrannt.«

»Ich bitte um Verzeihung, Miss Huntington, doch denken Sie nur an die Zeit, in der Sie beide die Experimente mit dem Schießpulver durchgeführt haben.« Rathbone fühlte sich verpflichtet, Victoria an diese Episode zu erinnern.

»Was? Wollen Sie mir erzählen, dass Sie sich immer noch an unseren lächerlichen kleinen Versuch, unsere eigenen Feuerwerkskörper herzustellen, erinnern? Was für ein gutes Gedächtnis Sie haben, Rathbone.«

»Einige Ereignisse in unserem Leben graben sich unauslöschlich in das Gedächtnis ein. Wir sehen sie heute ebenso deutlich wie in dem Moment, als sie sich zugetragen haben. Ich persönlich werde niemals den Ausdruck auf dem Gesicht des ersten Pagen vergessen, als sich die Explosion ereignete. Einen entsetzlichen Moment lang glaubten wir, Sie wären dabei ums Leben gekommen.«

»Wie sich jedoch herausstellte, war ich nur leicht betäubt. Die Tatsache, dass ich über und über mit Asche bedeckt war, war wohl der Grund für die allgemeine Besorgnis«, bemerkte Victoria.

»Sie sahen grau wie der Tod aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Miss Huntington.«

»Ja, der Effekt war recht spektakulär, nicht wahr? Nun denn, man sollte nicht allzu viel über vergangenen Ruhm nachdenken. Es gibt viel zu viele neue und aufregende Wunder der Natur, die darauf warten, ergründet zu werden. Wollen wir mal sehen, was meine Tante heute Abend treibt.«

Rathbone beobachtete, wie ein Page die Tür zur Bibliothek öffnete, wobei sein Gesichtsausdruck deutlich zeigte, dass er auf ziemlich alles gefasst war.

Doch zunächst einmal war überhaupt nichts zu sehen. Die Bibliothek lag in vollkommener Dunkelheit. Selbst das Feuer im Kamin war gelöscht worden. Victoria trat vorsichtig ein, wobei sie vergeblich versuchte, etwas in der tiefen Dunkelheit zu erkennen. Am anderen Ende des Raumes vernahm sie das Geräusch einer Kurbel, an der gedreht wurde.

»Tante Cleo?«

Die Antwort war ein leuchtender Bogen blendend weißen Lichts. Er strahlte mitten aus der Dunkelheit heraus und zeigte einen Moment lang deutlich die Umrisse der Menschen, die sich in einem kleinen Kreis mitten im Raum versammelt hatten. Die Anwesenden hielten vor Verwunderung den Atem an.

Eine Sekunde später erlosch der riesige Funke, und es ertönte lauter Beifall.

Victoria lächelte in Richtung der offenen Tür, wo Rathbone und der Page standen. »Heute Abend brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, versicherte sie ihnen. »Die Mitglieder der Gesellschaft spielen lediglich mit Lord Potburys neuer Elektrizitätsmaschine.«

»Sehr beruhigend, Miss Huntington«, antwortete Rathbone trocken.

»Oh, Vicky, meine Liebe, du bist zurück«, klang eine Stimme aus der Dunkelheit heraus. »Hat es dir auf dem Ball bei den Athertons gefallen? Komm herein. Wir sind gerade bei einer Reihe höchst faszinierender Vorführungen.«

»So scheint es. Ich bedauere, dass ich einige der Vorführungen verpasst habe. Du weißt, welches Vergnügen mir Experimente mit Elektrizität bereiten.«

»Ja, ich weiß, meine Liebe.« Der Lichtstrahl, der durch die offene Tür hereindrang, fiel auf Victorias Tante Cleo, als diese hervortrat, um ihre Nichte zu begrüßen. Lady Nettleship war fast so groß wie Victoria. Sie war knapp über fünfzig, und ihr lohfarbenes Haar wies einige elegante Silbersträhnen auf. Sie hatte lebendige Augen und die gleichen munteren, lebhaften Züge, die für die Frauen in Victorias Familie so typisch waren.

Diese Züge verliehen selbst einer Frau in Tante Cleos Alter eine gewisse Schönheit, auch wenn ein objektiver Betrachter nur wenig wahre Perfektion entdecken konnte. Wie immer war Cleo hochmodisch gekleidet. Der Schnitt ihres pfirsichfarbenen Kleides enthüllte ihre noch immer schlanke Figur.

»Rathbone, schließen Sie die Tür«, sagte Lady Nettleship energisch. »Der Effekt der Maschine ist in der Dunkelheit weitaus beeindruckender.«

»Mit Vergnügen, Madam.« Rathbone nickte dem Pagen zu, der die Tür in offensichtlicher Erleichterung schloss, und die Bibliothek lag erneut in tiefster Dunkelheit.

»Komm herein, komm herein«, sagte Cleo, während sie ihre Nichte am Arm nahm und durch die Finsternis zu der kleinen Gruppe führte, die nach wie vor um die Elektrizitätsmaschine versammelt war. »Du kennst alle Anwesenden, nicht wahr?«

»Ich glaube schon«, sagte Victoria in Erinnerung an den kurzen Blick, den sie einen Moment zuvor auf die Gesichter hatte werfen können. Die Schatten äußerten eine Reihe von Grüßen. Lady Nettleships Besucher waren an kleine Unannehmlichkeiten wie Begrüßungen in tiefster Finsternis gewöhnt.

»’n Abend, Miss Huntington.«

»Ihr ergebenster Diener, Miss Huntington. Sie sehen bezaubernd aus heute Abend. Bezaubernd.«

»Angenehm, Miss Huntington. Sie kommen gerade rechtzeitig zum nächsten Experiment.«

Victoria erkannte diese drei Männerstimmen sofort. Lord Potbury, Lord Grimshaw und Lord Tottingham gehörten zum Kreis der treuen Verehrer ihrer Tante. Lord Potbury war mit seinen fünfzig Jahren der jüngste, und der fast siebzigjährige Lord Tottingham war der älteste in der Runde. Grimshaw, so wusste Victoria, war Anfang sechzig.

Solange Victoria denken konnte, hatten die drei Männer ihrer Tante den Hof gemacht. Sie wusste nicht, ob sie anfangs ein ebensolches Interesse an wissenschaftlichen Untersuchungen hatten wie ihre Angebetete, doch mit den Jahren hatten sie zweifellos eine ähnliche Leidenschaft für Experimente und Sammlungen entwickelt wie sie.

»Bitte fahren Sie mit Ihren Vorführungen fort«, drängte Victoria. »Ich kann nur ein oder zwei Ihrer Demonstrationen beiwohnen, dann muss ich mich wohl zu Bett begeben. Lady Athertons Ball war wirklich recht anstrengend.«

»Selbstverständlich«, sagte Cleo und tätschelte ihr den Arm. »Potbury, weshalb lassen Sie dieses Mal nicht Grimshaw die Kurbel betätigen?«

»Gern«, sagte Potbury. »Ich muss sagen, es ist etwas anstrengend. Bitte, Grimshaw. Werfen Sie das Ding an.«

Grimshaw brummte eine Antwort, und einen Moment später war erneut das Knarren der Handkurbel zu vernehmen. Ein Stück Tuch wurde schnell an einem langen Glaszylinder gerieben, bis eine beträchtliche Spannung erzeugt war. Alle Anwesenden warteten gespannt, und zu gegebener Zeit krachte ein weiterer gleißender Lichtblitz los und tanzte über die Schatten. Erneut erfüllten Zufriedenheitsbezeugungen und Freudenrufe den Raum.

»Ich habe gehört, dass Versuche unternommen worden sind, eine Reihe von Leichen mit Elektrizität wiederzubeleben«, verkündete Potbury der kleinen Gesellschaft.

»Faszinierend«, sagte Cleo, deutlich entzückt von dem Gedanken. »Was ist dabei herausgekommen?«

»Die Arme und Beine haben ein paarmal gezuckt, aber nichts Dauerhaftes. Ich selbst habe es mit einem Frosch probiert. Kein Problem, die Glieder ein wenig zum Zucken zu bringen, aber der Frosch war immer noch mausetot. Ich glaube nicht, dass diese Experimente zu brauchbaren Ergebnissen führen werden.«

»Woher kamen denn die Körper?«, fragte Victoria, der es unmöglich war, ihre krankhafte Neugierde im Zaum zu halten.

»Vom Henker«, sagte Grimshaw. »Woher sonst? Ein respektabler Wissenschaftler kann wohl nicht herumschleichen und Gräber ausrauben, oder?«

»Wenn es die Körper von Verbrechern waren, denke ich, ist es ebenso gut, dass sie nicht wieder zum Leben erweckt wurden«, stellte Lady Nettleship fest. »Es wäre sinnlos, so viel Zeit und Energie in das Hängen von Dieben und Halsabschneidern zu investieren, wenn diese dann ein oder zwei Tage später wieder quicklebendig herumspringen würden, nur weil jemand das Bedürfnis hatte, mit Elektrizität herumzuexperimentieren.«

»Nein.« Victoria verspürte bei dem Gedanken an eine derartige Möglichkeit eine leichte Übelkeit. So etwas kam ihren Träumen der letzten Zeit bedrohlich nahe. »Da bin ich völlig deiner Meinung, Tante Cleo. Weshalb sollte man erst versuchen, die Verbrecher loszuwerden, wenn man nicht sicher sein kann, dass sie eines Tages wieder auftauchen.«

»Da wir gerade von der Schwierigkeit sprechen, Körper für die Experimente zu bekommen – ich muss sagen, dass es bestimmte Menschen gibt, die durch Leichenraub ein nettes Sümmchen verdienen.« Der dunkle Raum konnte den Schauder in Lady Finchs Worten nicht verdecken. »Ich habe gehört, dass die Leichenräuber letzte Nacht erneut in den Außenbezirken der Stadt zugeschlagen haben. Sie haben zwei Körper geraubt, die erst am Morgen zuvor begraben worden sind.«

»Nun, was erwarten Sie?«, fragte Potbury prosaisch. »Doktoren an den chirurgischen Schulen in Edinburgh und Glasgow brauchen etwas zum Aufschneiden. Wie sollen gute Chirurgen ausgebildet werden, wenn es keine Möglichkeit zum Üben gibt? Leichenraub mag zwar illegal sein, er dient jedoch der Erfüllung einer berechtigten Nachfrage.«

»Bitte, entschuldige mich«, wisperte Victoria ihrer Tante zu, als die Unterhaltung über den Handel mit toten Körpern die allgemeine Aufmerksamkeit zu bannen schien. »Ich glaube, ich werde jetzt zu Bett gehen.«

»Schlaf gut, meine Liebe.« Cleo tätschelte ihr liebevoll die Hand. »Erinnere mich morgen früh daran, dir die wunderbare Käfersammlung zu zeigen, die Lady Woodbury mitgebracht hat. Sie hat sie alle auf ihrer letzten Reise nach Sussex gefunden. Freundlicherweise hat sie uns gestattet, die Käfer einige Tage lang zu untersuchen.«

»Ich freue mich darauf, sie zu sehen«, sagte Victoria nicht ohne ehrliche Begeisterung. Eine interessante Insektensammlung war beinahe ebenso aufregend wie eine neue exotische Pflanze. »Aber jetzt muss ich wirklich ins Bett.«

»Gute Nacht, Liebes. Du darfst dich nicht überanstrengen, weißt du? Vielleicht hast du in der letzten Zeit ein wenig zu viel unternommen. Da ist es gerade recht, wenn du einmal vor Morgengrauen zu Hause bist.«

»Ja, vielleicht stimmt das.« Victoria verließ die dunkle Bibliothek und blinzelte ein paarmal in der hell erleuchteten Eingangshalle, bevor sie die mit einem roten Teppich ausgelegte Treppe erklomm. Als sie den Treppenabsatz erreichte, erfasste sie eine überwältigende Aufregung.

»Du kannst jetzt gehen, Nan«, verkündete sie ihrem jungen Dienstmädchen, als sie ihr luftiges, in Gelb, Gold und Weiß gehaltenes Schlafzimmer betrat.

»Aber Ihr wunderbares Kleid, Madam. Sie werden Hilfe beim Ausziehen benötigen.«

Victoria lächelte resigniert, da sie wusste, dass sie nur unnötige Fragen heraufbeschwören würde, wenn sie das Hilfsangebot ablehnte. Doch schon bald entließ sie ihre Zofe, um sich anschließend den Tiefen ihrer Kleiderkammer zuzuwenden.

Aus einer Reihe Schals zog sie Männerreithosen heraus, und unter einem Stapel Decken holte sie ein Paar Stiefel hervor. Den Frack fand sie dort, wo sie ihn in ihrer großen hölzernen Truhe versteckt hatte. Anschließend begab sie sich an die Arbeit.

Innerhalb kurzer Zeit stand Victoria vor ihrem Ankleidespiegel und überprüfte ihr Erscheinungsbild mit kritischem Auge. Über Wochen hinweg hatte sie die Männerkleidung unauffällig zusammengetragen, und nun probierte sie die Ausstattung zum ersten Mal in ihrer Gesamtheit.

Die Reithosen lagen ein wenig zu eng an, so dass die Rundung ihrer Hüften und die weibliche Form ihrer Waden betont wurden, doch das war nicht zu ändern. Mit etwas Glück würden die Schöße des Fracks und das Dunkel der Nacht die auffälligsten Anzeichen ihrer Weiblichkeit überdecken. Zumindest ließen sich ihre eher kleinen Brüste leicht unter dem sorgsam geplätteten Hemd und der gelben Weste verbergen.

Als Victoria den Zylinder im verwegenen Winkel auf ihr kurzes Haar setzte, war sie mit dem Gesamteindruck zufrieden. Sie war sicher, dass sie sich zumindest nachts gefahrlos als junger Dandy würde ausgeben können. Schließlich sahen die Menschen immer nur das, was sie zu sehen erwarteten.

Vorfreude wallte in ihr auf, und widerwillig erkannte sie, dass ihre Aufregung eher dem Wiedersehen mit Stonevale galt als dem bevorstehenden Ausflug auf den Jahrmarkt.

Annabella hatte recht. Stonevale musste ein Gentleman sein, ansonsten würden Lady Atherton und Bertie Lyndwood ihn nicht zu ihren Bekannten zählen. Doch eine Frau, besonders eine reiche Erbin, durfte sich nicht auf das Ehrgefühl irgendeines Mannes verlassen. Diese Lektion hatte ihr der Stiefvater erteilt. Immerhin wusste Victoria, dass sie heute Nacht sicher sein würde, solange sie die Kontrolle über das Geschehen behielt.

Sie entspannte sich und gestattete sich ein kurzes, selbstsicheres Lächeln. Sie hatte eine Menge Erfahrung, was die Beherrschung von Situationen betraf, an denen Männer beteiligt waren. Victoria überquerte den tiefblauen Teppich und ließ sich in dem mit gelbem Samt bezogenen Sessel neben dem Fenster nieder. In Kürze würde sie unbemerkt das Haus verlassen können.

Heute Nacht würde sie keine Zeit haben, sich wegen der schleichenden Unruhe zu sorgen, von der sie in den langen, dunklen Nachtstunden regelmäßig geplagt wurde; keine Zeit, sich dem Gefühl hinzugeben, dass etwas Gefährliches drohte; keine Zeit, sich Gedanken zu machen über seltsame Vorstellungen wie die Möglichkeit, die Toten durch Elektrizität wieder zum Leben zu erwecken.

Und das Beste von allem, es war bereits fast Mitternacht. Mit ein wenig Glück würde sie beinahe die ganze Nacht hindurch wach sein, so dass weniger Zeit bliebe für die nervenaufreibenden Träume, von denen sie in letzter Zeit verstärkt heimgesucht wurde. Sie hatte begonnen, diese Alpträume zu fürchten. Ein leichter Schauder durchfuhr sie selbst jetzt, da sie die Erinnerung an den letzten dieser Träume in die hinterste Ecke ihrer Gedanken verbannte. Immer noch sah sie das Messer in seiner Hand.

Nein, heute Nacht würden diese Alpträume wenig Gelegenheit haben, sie zu quälen. Wahrscheinlich würde sie erst im Morgengrauen zurück sein. Mit den hellen Stunden des Tages kam sie zurecht. Es war die Dunkelheit, die sie zu fürchten gelernt hatte.

Victoria starrte hinaus in den dunklen Garten und fragte sich, was Stonevale denken würde, wenn er sie in ihrer männlichen Verkleidung sähe.

Die Vorfreude auf sein überraschtes Gesicht reichte aus, um den kleinen, undeutlichen Rest des Entsetzens zu verdrängen, den ihre Gedanken noch trugen.

Lucas beugte sich auf seinem Platz in der Kutsche nach vorn und blickte finster hinaus auf die Schatten in der dunklen Straße. Er war schlechter Laune. »Ich mag diesen Unsinn nicht. Weshalb holen wir Miss Huntington nicht an der Vordertür ab?«

»Das habe ich Ihnen bereits erklärt«, sagte Annabella Lyndwood. »Ihre Tante ist eine äußerst verständnisvolle Person, doch Victoria fürchtet, dass selbst sie einige Zweifel an der Schicklichkeit unserer Pläne für den heutigen Abend hegen könnte.«

»Ich bin froh, dass noch jemand außer mir die Vernunft besitzt, Zweifel zu hegen«, grollte Lucas. Er wandte sich dem anderen Mann in der Kutsche zu. »Lyndwood, ich denke, wir sollten ein paar Vereinbarungen treffen für den Fall, dass wir uns heute Abend in der Menge verlieren.«

»Hervorragende Idee«, stimmte ihm Lyndwood bereitwillig zu. Er war offensichtlich erleichtert, Lucas dabeizuhaben. »Vielleicht sollten wir dem Kutscher sagen, dass er uns an einem vereinbarten Punkt, etwas abseits des Geschehens, erwarten soll.«

Lucas überlegte rasch und nickte. »Es wird schwierig sein, die Kutsche in die Nähe des Parks zu manövrieren. Um diese Uhrzeit werden viele Menschen unterwegs sein, so dass man nie weiß, was geschehen kann. Sagen Sie Ihrem Kutscher, wenn wir nicht an der Stelle auf ihn warten, an der er uns abgesetzt hat, soll er zwei Straßen vom Jahrmarkt entfernt in der Nähe eines kleinen Gasthauses mit Namen Hound’s Tooth auf uns warten.«