Zärtliche Teufelin - Amanda Quick - E-Book

Zärtliche Teufelin E-Book

Amanda Quick

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Beschreibung

Für ihren riskanten Plan braucht sie dringend seine Hilfe. Doch was als Auftrag beginnt, wird schon bald zu einem Feuer der Leidenschaft.

England, 19. Jahrhundert: Die schöne Imogene Waterstone sinnt auf Rache. Ihr Erzfeind, Lord Vanneck, soll büßen für das, was er Imogenes bester Freundin angetan hat. Um ihr Opfer in den Ruin zu treiben, tüftelt die junge Frau einen raffinierten Plan aus. Doch zu dessen Ausführung ist ein Verbündeter nötig – ein Mann mit Nerven aus Stahl und einem eisernen Willen. Wer wäre dafür geeigneter als der berühmt-berüchtigte Earl of Colchester, dem der Ruf eines kühnen Weltmannes und stadtbekannten Verführers vorauseilt? Aber kaum betritt Colchester die Bühne, kommt alles ganz anders als geplant. Denn der scheinbar so kaltblütige Mann erliegt sehr bald den Reizen seiner faszinierenden Auftraggeberin. Und auch Imogene ist überrascht, wie empfänglich sie für die Wirkung seiner leidenschaftlichen Küsse ist …

Gefühlvoll, atmosphärisch und spannend bis zur letzten Seite – perfekter Schmökerstoff für alle Fans der Erfolgsserie »Bridgerton«!

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Seitenzahl: 581

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Buch

England, 19. Jahrhundert: Die schöne Imogene Waterstone sinnt auf Rache. Ihr Erzfeind, Lord Vanneck, soll büßen für das, was er Imogenes bester Freundin angetan hat. Um ihr Opfer in den Ruin zu treiben, tüftelt die junge Frau einen raffinierten Plan aus. Doch zu dessen Ausführung ist ein Verbündeter nötig – ein Mann mit Nerven aus Stahl und einem eisernen Willen. Wer wäre dafür geeigneter als der berühmt-berüchtigte Earl of Colchester, dem der Ruf eines kühnen Weltmannes und stadtbekannten Verführers vorauseilt? Aber kaum betritt Colchester die Bühne, kommt alles ganz anders als geplant. Denn der scheinbar so kaltblütige Mann erliegt sehr bald den Reizen seiner faszinierenden Auftraggeberin. Und auch Imogene ist überrascht, wie empfänglich sie für die Wirkung seiner leidenschaftlichen Küsse ist …

Autorin

Amanda Quick ist das Pseudonym der erfolgreichen, vielfach preisgekrönten Autorin Jayne Ann Krentz. Krentz hat Geschichte und Literaturwissenschaften studiert und lange als Bibliothekarin gearbeitet, bevor sie ihr Talent zum Schreiben entdeckte. Sie ist verheiratet und lebt in Seattle.

Von Amanda Quick bereits erschienen (Auswahl)

Süßer Betrug · Geheimnis der Nacht · Liebe um Mitternacht · Verführung im Mondlicht · Verzaubertes Verlangen · Riskante Nächte · Dieb meines Herzens · Süßes Gift der Liebe · Glut der Herzen · Ungezähmte Leidenschaft · Gefährliche Küsse · Zärtliche Teufelin · Geliebte Rebellin · Liebe Ohne Skrupel · Verführung · Verlangen · Verruchte Lady

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Amanda Quick

Zärtliche Teufelin

Roman

Deutsch von Uschi Gnade

Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Mischief« bei bei Bantam Books, a division of Random House Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright dieser Ausgabe © 2021 by Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 1996 by Jane A. Krentz

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1997 by Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de

unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © Fjono, © vkph64, © MyStocks; stock.adobe.com: © Ruslan

DK · Herstellung: at

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN978-3-641-29121-1V002

www.blanvalet.de

Prolog

Der schwache Schein der Kerze konnte nur wenig gegen die Flut von Dunkelheit ausrichten, die das Innere des verlassenen Herrenhauses durchströmte. Matthias Marshall, Earl von Colchester, erschien es ganz so, als hätte das riesige Haus das ureigene Wesen der Nacht in sich eingesogen. Das Gebäude hatte die ungemütliche Ausstrahlung eines Grabes, eines Ortes, an dem nur Geister freiwillig hausen würden.

Die Falten des langen schwarzen Mantels, den Matthias trug, wehten um seine schlammbespritzten Stiefel, als er die Stufen hinaufstieg. Er hielt die Kerze höher, um sich den Weg zu leuchten. Niemand hatte ihn an der Tür begrüßt, als er vor wenigen Minuten eingetroffen war, und daher hatte er sich selbst Zutritt zu der enormen Eingangshalle verschafft. Inzwischen stand fest, dass sich keine Dienstboten im Haus aufhielten, noch nicht einmal eine Zofe oder ein Lakai. Er hatte sich gezwungen gesehen, sein Pferd selbst zu versorgen, da ihm aus den Ställen kein Stallknecht entgegengeeilt war.

Auf dem oberen Treppenabsatz blieb er stehen, um über das Geländer auf den Ozean der Nacht hinunterzuschauen, der die Eingangshalle durchflutete. Das Kerzenlicht konnte die Ebbe und Flut der Wogen aus Dunkelheit dort unten nicht annähernd durchdringen.

Matthias lief durch den finsteren Korridor zum ersten Zimmer links. Vor der Tür hielt er inne und drehte den alten Türknauf. Die Tür gab ein verzweifeltes Stöhnen von sich, als sie sich öffnete. Er hielt die Kerze hoch und sah sich in dem Schlafgemach um.

Es ähnelte stark dem Inneren eines Mausoleums. Mitten im Zimmer stand ein alter steinerner Sarkophag. Matthias warf einen Blick auf die Inschriften und die Steinmetzarbeiten, die ihn zierten. Römisch, dachte er. Nichts Besonderes.

Er durchquerte das Zimmer und ging auf den Sarg zu, über den hauchdünne schwarze Vorhänge fielen. Der Deckel war entfernt worden. Der Schein der Kerze fiel auf die schwarzen Samtpolster, mit denen der Sarkophag ausgelegt war.

Matthias stellte die Kerze auf einen Tisch. Er zog seine Reithandschuhe aus und warf sie neben den Kerzenhalter. Dann setzte er sich auf den Rand des Sargs und zog seine Stiefel aus.

Nachdem dies getan war, hüllte er sich in die Falten seines Mantels und ließ sich auf den schwarzen Polstern im Innern des Sarkophags nieder.

Der Morgen graute schon, aber Matthias wusste, dass die schweren Draperien vor den Fenstern das Eindringen der Strahlen der aufgehenden Sonne in das dunkle Gemach verhindern würden.

Vielleicht hätte es manch einem Schwierigkeiten bereitet, in einer so düsteren Grabesatmosphäre einzuschlafen. Matthias wusste jedoch, dass er keine Probleme damit haben würde. Er war es gewohnt, von Geistern umgeben zu sein.

Ehe er die Augen schloss, fragte er sich noch einmal, warum er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, der Aufforderung nachzukommen, die die mysteriöse Imogen Waterstone an ihn hatte ergehen lassen. Doch die Antwort auf diese Frage kannte er bereits. Vor langer Zeit hatte er einen Eid abgelegt. Jetzt musste er sein Wort halten.

Matthias brach niemals ein Versprechen. Nur so konnte er sicher sein, dass er nicht selbst zum Geist werden würde.

1

Der grauenhafte Schrei einer Frau ließ Matthias’ Blut gerinnen und riss ihn unsanft aus dem Schlaf.

Eine zweite Frauenstimme, so fest wie die grünen Äpfel des alten Zamar, fiel ein und bereitete dem Entsetzensschrei ein Ende.

»Um Himmels willen, Bess«, schalt die Apfelkuchenstimme. »Musst du denn beim Anblick jeder Spinnwebe gleich laut schreien? Das ist eine außerordentlich ärgerliche Angewohnheit. Ich habe mir für heute Morgen sehr viel vorgenommen, und ich tue wirklich mein Bestes, aber ich kann es kaum schaffen, wenn du ständig hysterische Schreie ausstößt.«

Matthias schlug die Augen auf, streckte sich und setzte sich langsam in dem Sarkophag auf. Er warf gerade noch rechtzeitig einen Blick auf die offene Tür des Schlafzimmers, um zu sehen, wie ein junges Hausmädchen in einer tiefen Ohnmacht zu Boden sank. Der schwache Sonnenschein, der hinter ihr in den Korridor sickerte, sagte Matthias, dass der Vormittag schon weit vorangerückt war. Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und prüfte dann seine Bartstoppeln. Es überraschte ihn nicht, dass er dem Mädchen einen Schrecken eingejagt hatte, der ausreichte, um es in Ohnmacht fallen zu lassen.

»Bess?« Wieder die knackig frischen Äpfel. Leichtfüßige Schritte im Korridor. »Bess, was um alles in der Welt ist bloß los mit dir?«

Matthias stützte einen Arm auf den Rand des steinernen Sarges und beobachtete interessiert das Auftauchen einer zweiten Gestalt in der offenen Tür. Im ersten Moment sah sie ihn nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Zimmermädchen, das auf dem Fußboden zusammengebrochen war.

Der Umstand, dass es sich bei der zweiten Frau um eine Dame handelte, war nicht zu übersehen. Die lange Schürze, die sie über ihrem zweckmäßigen Kleid aus grauem Wollstoff trug, konnte den wohlgeformten Schwung ihrer Wirbelsäule ebenso wenig verbergen wie die sanfte Rundung ihrer hoch angesetzten Brüste. Die entschlossene Haltung ihrer Schultern zeugte von unbeugsamem Stolz und einer angeborenen Zielstrebigkeit.

Matthias betrachtete die Dame mit wachsender Faszination, als sie, über ihr Dienstmädchen gebeugt, dastand. Er ließ einen kritischen Blick über sie schweifen und katalogisierte die diversen Attribute ihrer Gestalt auf die Art, wie er sich ein Bild von der handwerklichen Qualität einer zamaranischen Statue gemacht hätte.

Sie hatte den heldenhaften Versuch unternommen, eine enorme Masse goldbraunen Haars unter einem praktischen, kleinen weißen Häubchen einzuzwängen. Etliche Strähnen waren jedoch aus der Gefangenschaft entsprungen und tanzten um ihr zartknochiges Gesicht herum. Dieses Gesicht war teilweise von Matthias’ Blickrichtung abgewandt, doch er konnte hohe Wangenknochen, lange Wimpern und eine unverwechselbare, arrogante Nase erkennen.

Ein markantes und eindrucksvolles Gesicht, schloss er. Es vermittelte das Wesen der energischen Persönlichkeit, von der es offensichtlich beseelt wurde.

Die Dame war kein junges Ding, das gerade erst die Schulbank gedrückt hatte, aber andererseits war sie auch nicht annähernd so uralt wie er. Das wiederum konnten nur die wenigsten Menschen für sich in Anspruch nehmen. In Wahrheit war er vierunddreißig, doch er fühlte sich um Jahrhunderte älter. Imogen schätzte er auf fünfundzwanzig.

Er beobachtete, wie sie ein Notizbuch mit einem Ledereinband auf den Teppich fallen ließ und sich ungeduldig neben ihr Dienstmädchen kniete. Von einem Ehering war nichts an ihrer Hand zu sehen. Aus irgendwelchen Gründen erfreute ihn dieser Umstand. Er hatte den Verdacht, dass die Apfelkuchenstimme und das gebieterische Auftreten eine ganze Menge damit zu haben mussten, dass sie anscheinend den Status einer alten Jungfer hatte.

Natürlich war das Geschmackssache. Die meisten männlichen Bekannten von Matthias zogen Honig und Schokolade vor. Er dagegen hatte schon immer eine Vorliebe für Dinge mit einem gewissen Biss gehabt, wenn es um Delikatessen zum Nachtisch ging.

»Bess, jetzt reicht es aber. Mach sofort die Augen auf, hörst du?« Imogen zog ein Riechfläschchen heraus und schwenkte es unwirsch unter der Nase des Dienstmädchens. »Es geht wirklich nicht an, dass du jedes Mal schreist und in Ohnmacht fällst, wenn du in diesem Haus eine Tür öffnest. Schließlich habe ich dich im Voraus gewarnt, dass mein Onkel ein sehr seltsamer Kauz war und wir wahrscheinlich auf recht eigenartige Dinge stoßen werden, wenn wir eine Bestandsaufnahme seiner Friedhofsantiquitätensammlung vornehmen.«

Bess stöhnte und rollte den Kopf auf dem Teppich. Sie schlug die Augen nicht auf. »Ich habe es gesehen, Ma’am. Das schwöre ich beim Grabe meiner Mutter.«

»Was hast du gesehen, Bess?«

»Einen Geist. Oder vielleicht war es auch ein Vampir. Ich bin nicht sicher, welches von beiden.«

»Unsinn«, sagte Imogen.

»Was hat dieser ohrenbetäubende Krach zu bedeuten?«, rief eine weitere Frau vom oberen Treppenabsatz.

»Stimmt dort unten etwas nicht, Imogen?«

»Bess ist in Ohnmacht gefallen, Tante Horatia. Das geht wirklich zu weit.«

»Bess? Das sieht ihr aber gar nicht ähnlich.« Weitere Schritte im Korridor kündigten das Nahen der Frau an, die mit »Tante Horatia« angesprochen worden war.

»Bess ist ein robustes Mädchen. Sie neigt ganz und gar nicht zu Ohnmachtsanfällen.«

»Wenn sie nicht ohnmächtig ist, dann ist das eine ganz ausgezeichnete Imitation einer feinen Dame, die unter Schwindelanfällen leidet.«

Bess’ Lider flatterten. »Oh Miss Imogen, es war einfach grässlich. Eine Leiche in einem steinernen Sarg. Sie hat sich bewegt.«

»Sei nicht albern, Bess.«

»Aber ich habe es selbst gesehen.« Bess stöhnte noch einmal, hob den Kopf und warf einen besorgten Blick in die Schatten des Schlafzimmers hinter Imogen.

Matthias zuckte zusammen, als ihr Blick auf ihn fiel und sie erneut laut aufschrie. Bess plumpste mit der Anmut eines Fisches auf dem Trockenen wieder auf den Teppich.

Die dritte Frau erschien im Korridor vor der Tür. Sie war ebenso praktisch gekleidet wie Imogen und trug ein schlichtes Kleid, eine Schürze und eine Haube. Sie war ein paar Zentimeter kleiner als ihre Gefährtin und in der Taille und um die Hüften herum beträchtlich breiter. Ihr Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, hatte sie unter der Haube aufgesteckt. Sie musterte Bess durch ihre Brillengläser. »Was um alles in der Welt hat das Mädchen derart aus der Fassung gebracht?«

»Ich habe keine Ahnung.« Imogen beschäftigte sich mit dem Riechfläschchen. »Bess hat eine Fantasie, die allzu leicht mit ihr durchgeht.«

»Ich habe dich vor den Gefahren gewarnt, als du ihr das Lesen beibringen wolltest.«

»Ich weiß, dass du mich davor gewarnt hast, Tante Horatia, aber es ist mir unerträglich mitanzusehen, wie ein wacher Verstand durch mangelnde Bildung verkümmert.«

»Du bist genau wie deine Eltern.« Horatia schüttelte den Kopf. »Wie dem auch sei, sie wird uns nicht von großem Nutzen sein, wenn sie sich von jedem ungewöhnlichen Anblick in diesem Haus aus dem Gleichgewicht bringen lässt. Die Sammlung von kuriosen Begräbnisgegenständen, die mein Bruder zusammengetragen hat, ist seltsam genug, um jedem normalen Menschen Schwindelgefühle zu verursachen.«

»Unsinn. Onkel Selwyns Sammlung ist zwar ein wenig morbid, das gebe ich gern zu, aber auf ihre Art ist sie faszinierend.«

»Dieses Haus ist ein Mausoleum, und das weißt du nur zu gut«, gab Horatia zurück. »Vielleicht sollten wir Bess wieder nach unten schicken. Das hier war Selwyns Schlafzimmer. Zweifellos hat sie der Anblick des Sarkophags so aufgeregt. Warum mein Bruder darauf beharrt hat, in diesem alten römischen Sarg zu schlafen, übersteigt mein Fassungsvermögen.«

»Es ist eine ziemlich ungewöhnliche Schlafgelegenheit.«

»Ungewöhnlich? In jedem Menschen, der normales Feingefühl besitzt, würde es Alpträume wachrufen.« Horatia drehte sich um und lugte in die Schatten des verdunkelten Schlafzimmers.

Matthias beschloss, dass es jetzt an der Zeit war, sich aus dem Sarg zu erheben. Er stieg über den Rand des Sarkophags und stieß die dünnen schwarzen Gardinen zur Seite. Sein weiter Mantel wehte um ihn herum und verbarg die Reithose und das zerknitterte Hemd, in dem er geschlafen hatte. Mit amüsierter Resignation beobachtete er, wie Horatias Augen vor Entsetzen groß wurden.

»Gütiger Gott im Himmel, Bess hat recht gehabt.« Horatias Stimme erhob sich zu einem schrillen Kreischen.

»Da ist etwas in Selwyns Sarg.« Sie wankte einen Schritt zurück. »Lauf, Imogen, lauf schnell davon!«

Imogen sprang auf. »Nicht auch noch du, Tante Horatia.« Sie drehte sich um und sah mit finsterer Miene in das verdunkelte Schlafzimmer. Als ihr Blick auf Matthias fiel, der vor dem Sarg stand, öffneten sich ihre Lippen vor Erstaunen einen Spalt weit.

»Gütiger Himmel. Da ist tatsächlich jemand.«

»Das habe ich Ihnen doch gleich gesagt, Ma’am«, flüsterte Bess heiser.

Matthias wartete mit gespannter Neugier ab, weil er sehen wollte, ob Imogen schreien oder eher ohnmächtig werden würde.

Sie tat keines von beidem. Stattdessen kniff sie die Augen zu einem unverkennbaren Zeichen ihrer Missbilligung zusammen. »Wer sind Sie, Sir, und was denken Sie sich dabei, meine Tante und meine Zofe auf diese gemeine Art und Weise zu erschrecken?«

»Ein Vampir«, murmelte Bess. »Ich habe Geschichten darüber gehört, Ma’am. Er wird Ihnen das Blut aussaugen, ganz bestimmt. Laufen Sie weg. Laufen Sie, solange Sie noch können. Bringen Sie sich in Sicherheit!«

»Vampire gibt es nicht«, verkündete Imogen, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die leidgeprüfte Zofe eines Blickes zu würdigen.

»Dann ist es eben ein Geist. Laufen Sie um Ihr Leben, Ma’am!«

»Sie hat recht.« Horatia zog an Imogens Ärmel. »Wir müssen von hier verschwinden.«

»Sei nicht albern.« Imogen straffte die Schultern und musterte Matthias mit strengem Blick. »Nun, Sir? Was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung vorzubringen? Reden Sie, oder ich werde den Richter herzitieren und Ihnen Handschellen anlegen lassen.«

Matthias ging langsam auf sie zu und sah ihr dabei fest ins Gesicht. Sie wich nicht vor ihm zurück. Stattdessen stemmte sie die Arme in die Hüften und begann, mit der Schuhspitze eines halbhohen Stiefels auf den Boden zu pochen.

Ein seltsames und doch unverkennbares Gefühl von Vertrautheit durchzuckte ihn, fast schon ein Schauer des Wiedererkennens. Das ist vollkommen unmöglich. Als er jedoch nahe genug gekommen war und die überwältigende Klarheit von Imogens großen blaugrünen Augen sehen konnte, Augen von der Farbe der Meere, die das untergegangene Inselkönigreich Zamar umspülten, verstand er plötzlich. Aus irgendeinem unsinnigen Grund, den er nicht erklären konnte, ließ sie ihn an Anizamara denken, die legendäre zamaranische Göttin des Tages. Um diese mythische Gestalt rankte sich ein Großteil der Sagen des alten Zamar, und auch in dessen Kunst spielte sie eine vorherrschende Rolle. Sie war ein Geschöpf der Wärme, des Lebens, der Wahrheit und der Energie. An ihrer Macht hatte sich lediglich Zamaris messen können, der Herr der Nacht. Nur Zamaris konnte ihren brillanten Geist erfassen.

»Guten Tag, Madam.« Matthias zügelte seine fantasievollen Überlegungen, riss sich zusammen und neigte den Kopf. »Ich bin Colchester.«

»Colchester.« Horatia wich verblüfft noch einen Schritt weiter zurück und stand jetzt mit dem Rücken an der Wand. Ihr Blick fiel auf sein Haar. Sie schluckte schwer.

»Der Kaltblütige Colchester?«

Matthias wusste, dass sie die schneeweiße Strähne anstarrte, die sich durch sein schwarzes Haar zog. Den meisten Menschen fiel sie sofort auf. Seit vier Generationen konnte man die Männer in seiner Familie daran erkennen.

»Wie ich bereits sagte, ich bin Colchester, Madam.«

Er war Viscount Colchester gewesen, als er sich den Beinamen der Kaltblütige erworben hatte. Der Umstand, dass beide Titel demselben Namen zugeordnet werden, nämlich Colchester, ist dem Klatsch der oberen Zehntausend entgegengekommen, dachte er verbittert. Es hatte sich also erübrigt, auf den klangvollen Beinamen zu verzichten.

Horatias Lippen gerieten in Bewegung. »Was haben Sie in Upper Stickleford zu suchen, Sir?«

»Er ist hier, weil ich ihn herbestellt habe.« Imogen schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das ihn nahezu erblinden ließ. »Ich muss schon sagen, dass Sie sich mit Ihrem Eintreffen reichlich Zeit gelassen haben, Mylord. Ich habe meine Nachricht vor mehr als einem Monat abgesandt. Was hat Sie so lange aufgehalten?«

»Mein Vater ist vor einigen Monaten gestorben, aber ich bin erst mit Verspätung nach England zurückgekehrt. Bei meiner Ankunft hat eine ganze Reihe von Angelegenheiten, die in Zusammenhang mit seinem Nachlass stehen, meine Aufmerksamkeit erfordert.«

»Ja, selbstverständlich.« Imogen war deutlich verlegen.

»Verzeihen Sie, Mylord. Ich möchte Ihnen mein Beileid zu dem Tod Ihres Vaters aussprechen.«

»Danke«, sagte Matthias. »Aber wir haben einander nicht besonders nahegestanden. Gibt es irgendetwas zu essen in der Küche? Ich bin restlos ausgehungert.«

Das Erste, was an dem Earl von Colchester auffiel, entschied Imogen, war der silberne Streifen in seinem mitternachtsschwarzen Haar. Wie eine kalte weiße Flamme brannte er sich durch die unmodern lange, dunkle Mähne.

Die zweite auffällige Eigenschaft war sein Blick. Seine Augen waren kälter als das eisige Silber in seinem Haar.

Der Vierte Earl von Colchester ist eine Wucht, dachte sie, als sie ihm in der Bibliothek einen Stuhl anbot. Er wäre absolut perfekt gewesen, wenn diese Augen nicht gewesen wären. Sie glitzerten in seinem harten, asketischen Gesicht mit dem frostigen, emotionslosen Licht eines intelligenten und höchst gefährlichen Geistes.

Abgesehen von diesen gespenstisch grauen Augen entsprach Colchester genau der Vorstellung, die sie sich von ihm gemacht hatte. Seine brillanten Artikel im Zamaranischen Boten hatten sowohl seinen Intellekt als auch einen Charakter widergespiegelt, den lange Jahre harter Reisen in fremden Ländern gestählt hatten.

Ein Mann, der sich zum Schlafen seelenruhig in einen Sarkophag legen konnte, musste eiserne Nerven besitzen. Genau das, was ich brauche, dachte Imogen überschwänglich.

»Gestatten Sie mir, dass ich mich und meine Tante ordnungsgemäß vorstelle, Mylord.« Imogen griff nach der Teekanne, um allen Tee einzuschenken. Sie war so aufgeregt darüber, Colchester hier zu haben, dass sie sich nur mit Mühe zusammenreißen konnte. Sehnsüchtig spielte sie mit dem Gedanken, die ganze Wahrheit herauszusprudeln, was ihre Identität anging. Aber die Vorsicht siegte. Schließlich konnte sie nicht hundertprozentig sicher sein, wie er darauf reagieren würde, und im Moment musste sie sich seine bereitwillige Mitarbeit sichern. »Wie Sie sich zweifellos schon denken können, bin ich Imogen Waterstone. Und das ist Mrs. Horatia Elibank, die Schwester meines verstorbenen Onkels. Sie ist kürzlich verwitwet und war so freundlich, in mein Angebot einzuwilligen und meine Gesellschafterin zu werden.«

»Mrs. Elibank.« Matthias nickte ihr zu, als sie ihm vorgestellt wurde.

»Eure Lordschaft.« Horatia hockte steif auf ihrer Stuhlkante und bedachte Imogen mit einem bedrückten und ganz entschieden missbilligenden Blick.

Imogen schaute finster. Nachdem der erste Schreck vorüber war und sie einander offiziell vorgestellt worden waren, bestand kein Anlass mehr für Horatia, derart besorgt zu wirken. Schließlich war Colchester ein Earl. Noch bedeutsamer war, zumindest was Imogen betraf, dass er der Colchester von Zamar war; der würdige Entdecker dieses uralten, lange verloren geglaubten Inselkönigreichs, der Begründer des Zamaranischen Instituts und der renommierten Zeitschrift Zamaranischer Bote, und zudem noch Sachwalter der Zamaranischen Gesellschaft. Selbst wenn man Horatias strenge Maßstäbe anlegte, musste er als außerordentlich akzeptabel gelten.

Imogen ihrerseits musste sich gewaltig zusammenreißen, um ihn nicht anzustarren. Sie konnte immer noch nicht ganz daran glauben, dass Colchester von Zamar wie ein ganz gewöhnlicher Mensch hier in der Bibliothek saß und Tee trank.

Aber ansonsten ist kaum etwas an ihm gewöhnlich, dachte sie.

Colchester war groß, schlank, kräftig gebaut und mit einer muskulösen männlichen Eleganz ausgestattet. Die Jahre mühseligen Reisens auf der Suche nach Zamar hatten seiner Statur zweifellos zu ihrer derzeitigen bewunderungswürdigen Perfektion verholfen, sagte sich Imogen.

Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, dass Colchesters beeindruckende physische Attribute keineswegs einzigartig waren. Sie hatte schon jede Menge muskulöser Männer gesehen. Schließlich lebte sie auf dem Lande. Die meisten ihrer Nachbarn waren Bauern, die auf ihren eigenen Feldern arbeiteten. Viele von ihnen hatten breite Schultern und kräftige Beine. Dazu kam noch, dass sie nicht gänzlich unerfahren war, was die männlichen Exemplare der Gattung Mensch anging. Da war zuerst einmal Philippe d’Artois gewesen, ihr Tanzlehrer. Philippe hatte die Anmut eines Vogels im Flug besessen. Und dann war da Alastair Drake gewesen. So sportlich und gut aussehend, wie er war, hatte er gewiss nicht der Hilfe seines Schneiders bedurft, um seinem Äußeren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Aber Colchester unterschied sich von diesen Männern wie Tag und Nacht. Die Kraft, die von ihm ausstrahlte, hatte nichts mit seinen muskulösen Schultern und Schenkeln zu tun. Sie entströmte einem inneren Kern aus unbeugsamem Stahl. Seine Willenskraft stand greifbar im Raum.

Außerdem ging eine große Ruhe von ihm aus, die den Schatten eher angemessen war als dem hellen Tageslicht. Es war die geduldige Ruhe des Raubtiers. Imogen versuchte, sich auszumalen, wie er an jenem schicksalhaften Tag ausgesehen haben musste, als er endlich das Labyrinth unter der Ruinenstadt von Zamar gemeistert und die verborgene Bibliothek entdeckt hatte. Sie hätte ihre Seele dafür verkauft, bei jenem denkwürdigen Anlass an seiner Seite gewesen zu sein.

In dem Moment drehte Colchester den Kopf und sah sie mit einem forschenden Blick an, in dem eine Spur von Belustigung mitzuschwingen schien. Es war, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Imogen fühlte, wie eine Woge von Verlegenheit warm über sie hinwegspülte. Die Teetasse, die sie in der Hand hielt, klapperte auf ihrer Untertasse.

Es war kühl in der Bibliothek, doch Colchester war so entgegenkommend gewesen, im Kamin ein Feuer aufzuschichten. Der Raum, der mit einer Vielzahl von bizarren Kunstgegenständen aus Mausoleen angefüllt war, würde schon bald wärmer werden.

Seit man ihr versichert hatte, dass es sich bei Colchester weder um einen Geist noch um einen Vampir handelte, hatte sich Bess wieder genügend erholt, um sich in den ausgestorbenen Küchentrakt zurückzuziehen. Dort hatte sie eine Kanne Tee und eine kalte Mahlzeit zubereitet. Die einfache Kost bestand aus nichts weiter als den Resten einer Lachspastete, etwas Brotpudding und ein wenig Schinken, aber Colchester schien zufrieden damit zu sein, und Imogen hoffte inbrünstig, dass dem wirklich so war.

Das Essen stammte nicht etwa aus den leeren Speisekammern des Herrenhauses. Am frühen Morgen war es in einen Weidenkorb gepackt und mitgenommen worden, damit die Frauen sich daran laben konnten, während sie sich an die Arbeit machten, Selwyn Waterstones Sammlung zu katalogisieren. Nach der Art zu urteilen, wie Colchester über die Speisen herfiel und sie vertilgte, bezweifelte Imogen, dass viel für Horatia, Bess oder sie selbst übrig bleiben würde.

»Ich bin natürlich hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Matthias.

Plötzlich stellte Imogen fest, dass seine Stimme eine außerordentlich seltsame Wirkung auf ihre Sinne ausübte. Sie besaß eine finstere, subtile Macht, die sie zu umschlingen drohte. Sie ließ sie an mysteriöse Ozeane und an ferne, unerforschte Länder denken.

»Noch eine Tasse Tee, Mylord?«, fragte Imogen eilig.

»Danke, gern.« Seine langen, wohlgeformten Finger streiften ihre, als er die Tasse entgegennahm.

Ein merkwürdiges Gefühl setzte an der Stelle ein, an der er sie berührt hatte. Von dort aus zog es sich durch Imogens Hand und ließ ihre Haut unerklärlich warm werden. Es war, als säße sie zu dicht am Feuer. Sie stellte hastig die Teekanne ab, um sie nicht fallen zu lassen.

»Es tut mir sehr leid, dass niemand hier war, um Sie zu empfangen, als Sie letzte Nacht hier eingetroffen sind«, sagte sie. »Ich habe den Dienstboten ein paar Tage freigegeben, solange meine Tante und ich das Inventar auflisten.« Sie zog die Stirn in Falten, als sei ihr plötzlich ein Gedanke gekommen. »Ich war ganz sicher, dass ich Ihnen geschrieben habe, Sie sollten ins Waterstone Cottage kommen und sich nicht nach Waterstone Manor begeben.«

»Das haben Sie zweifellos getan«, sagte Matthias freundlich. »Aber andererseits hat Ihr Brief eine ganze Menge Anordnungen enthalten. Es kann gut sein, dass ich unterwegs ein oder zwei davon vergessen habe.«

Horatia sah Imogen erbost an. »Dein Brief? Was für ein Brief? Also, wirklich, Imogen, ich muss mir eine Erklärung ausbitten.«

»Ich werde dir nachher alles erklären«, versicherte Imogen ihrer Tante. Sie musterte Matthias misstrauisch. Der kalte Spott in seinen Augen traf sie bis ins Mark. »Mylord, ich wüsste nicht, was an dem Inhalt meines Briefes so amüsant gewesen sein sollte.«

»Letzte Nacht fand ich ihn wirklich nicht besonders amüsant«, gestand Matthias. »Es war schon spät. Es hat in Strömen geregnet. Mein Pferd war erschöpft. Ich habe keinen Sinn darin gesehen, meine Zeit mit dem Versuch zu vergeuden, ein kleines Häuschen zu finden, wenn mir dieses riesige Haus ohnehin zur Verfügung steht.«

»Ich verstehe.« Imogen lächelte ihn beherzt an. »Ich muss schon sagen, es scheint Ihnen bemerkenswert wenig ausgemacht zu haben, eine Nacht in einem Sarkophag zu verbringen. Meine Tante und ich haben schon oft festgestellt, dass Onkel Selwyns Vorstellung von einem angemessenen Bett gewiss nicht jedermanns Geschmack entspricht.«

»Ich habe schon an schlimmeren Orten geschlafen.« Matthias nahm sich den letzten Rest Schinken und sah sich mit einem versonnenen Gesichtsausdruck um. »Ich hatte schon Geschichten über Selwyn Waterstones Sammlung gehört. Die Realität ist jedoch noch erstaunlicher als alles, was man aus den Gerüchten hätte schließen können.«

Horatia ließ sich für einen Moment ablenken und sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Ich nehme an, Ihnen ist bewusst, dass mein Bruder beständiges Interesse an Grabkunst und Friedhofsantiquitäten gezeigt hat, Sir.«

Matthias’ verblüffende Augen verweilten nachdenklich auf einem ägyptischen Mumienschrein, der aufrecht in der Ecke lehnte. »Ja.«

»Das gehört jetzt alles mir«, berichtete Imogen ihm stolz. »Onkel Selwyn hat mir gemeinsam mit dem Haus auch seine komplette Sammlung vermacht.«

Matthias sah sie forschend an. »Sie interessieren sich für Grabkunst?«

»Nur wenn es sich um zamaranische Objekte handelt«, sagte sie. »Onkel Selwyn hat behauptet, er besäße einige zamaranische Artefakte, und ich hoffe sehr, dass das wahr ist. Aber es wird einige Zeit dauern, die Gegenstände zu finden.« Sie beschrieb mit einer ausholenden Geste den Haufen von Antiquitäten und Bestattungskuriositäten, die in der Bibliothek verstreut waren. »Wie Sie sehen können, hat meinem Onkel jedes Gefühl für das Organisatorische gefehlt. Er hat sich nie die Mühe gemacht, eine Liste der Gegenstände zu erstellen und seine Sammlung zu katalogisieren. Es kann gut sein, dass beliebig viele seltene Kostbarkeiten nur darauf warten, in diesem Haus aufgestöbert zu werden.«

»Mit Sicherheit wird es einen Haufen Arbeit machen, sie zu finden«, sagte Matthias.

»Ja, das ist richtig. Wie ich schon sagte, habe ich vor, alle Antiquitäten zu behalten, deren zamaranischer Ursprung sich eindeutig nachweisen lässt. Den Rest werde ich anderen Sammlern anbieten oder vielleicht einem Museum überlassen.«

»Ich verstehe.« Matthias trank seinen Tee und sah sich genauer in der Bibliothek um.

Imogens Augen folgten seinen Blicken. Es ließ sich nicht bestreiten, dass ihr exzentrischer Onkel eine sehr makabre Neigung zu allen möglichen Gegenständen gehabt hatte, die mit dem Tod in Verbindung standen.

Alte Schwerter und Rüstungen aus römischen und etruskischen Grabkammern waren achtlos verstreut. Sphinxe, Chimären und Krokodilmotive, von ägyptischen Gräbern kopiert, zierten die Möbel. Vereinzelte kleine Statuen und trübe Glasflaschen, die in antiken Grabmonumenten entdeckt worden waren, füllten die Vitrinen. Grimmige Totenmasken starrten von den Wänden herab.

Die Bücherregale waren mit Dutzenden von abgegriffenen Bänden gefüllt, die sich mit frühen Bestattungspraktiken und der Kunst des Einbalsamierens befassten. Etliche große Kisten waren an der hinteren Wand des Raumes gestapelt. Imogen hatte sie bisher noch nicht geöffnet, deshalb hatte sie keine Ahnung, was sie enthielten.

In den oberen Stockwerken sah es kein bisschen besser aus. Auch dort waren sämtliche Gemächer mit den Grabantiquitäten angefüllt, die zusammenzutragen Selwyn Waterstone die Hälfte seines Lebens zugebracht hatte.

Nachdem er sich umgesehen hatte, wandte sich Matthias wieder an Imogen. »Was Sie mit den Waterstone-Kuriositäten anfangen, ist natürlich ganz allein Ihre Angelegenheit. Lassen Sie uns wieder auf die Dinge zu sprechen kommen, die im Moment akut sind. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, warum Sie mich herbestellt haben?«

Horatia entfuhr ein leises Keuchen. Sie wandte sich abrupt zu Imogen um und kam deren Antwort zuvor. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du das getan hast. Warum um Himmels willen hast du mir nichts davon gesagt?«

Imogen schenkte ihr ein versöhnliches Lächeln. »Die Sache ist ganz einfach die, dass ich Seine Lordschaft schon ein paar Tage vor deinem Eintreffen hier in Upper Stickleford gebeten hatte herzukommen. Ich war nicht ganz sicher, ob er meinem Wunsch Folge leisten und hier erscheinen würde, und daher habe ich keinen Grund dafür gesehen, dir gegenüber diesen Brief zu erwähnen.«

»Das ist die reinste Torheit«, fauchte Horatia. Nachdem sie jetzt den ersten Schock überwunden hatte, schien ihr gewohntes Temperament wieder Besitz von ihr zu ergreifen. »Ist dir überhaupt klar, mit wem du es hier zu tun hast, Imogen?«

»Ja, natürlich weiß ich, wer er ist.« Imogen senkte die Stimme zu einem ehrfürchtigen Flüstern. »Er ist Colchester von Zamar.«

Matthias zog die Augenbrauen hoch, äußerte sich jedoch nicht dazu.

»Wie Sie gerade schon sagten, Mylord«, fuhr Imogen fort, »ist es jetzt an der Zeit, zum Kern der Angelegenheit vorzudringen. Soweit ich weiß, waren Sie ein guter Freund von Onkel Selwyn.«

»Ach ja?«, fragte Matthias. »Das wäre mir allerdings neu. Mir war nicht bewusst, dass Selwyn Waterstone Freunde gehabt hat.«

Panik durchzuckte Imogen. »Aber ich war in dem Glauben, dass Sie ihm einen großen Gefallen schuldig sind. Mein Onkel hat behauptet, Sie hätten gelobt, sich bei ihm zu revanchieren, falls es Ihnen jemals möglich sein sollte.«

Matthias musterte sie eine Weile schweigend. »Ja, das stimmt.«

Imogen war gewaltig erleichtert. »Ausgezeichnet. Einen Moment lang habe ich doch tatsächlich befürchtet, mir könnte ein grässlicher Irrtum unterlaufen sein.«

»Unterlaufen Ihnen solche Irrtümer öfter, Miss Waterstone?«, erkundigte sich Matthias freundlich.

»So gut wie nie«, versicherte sie ihm. »Verstehen Sie, meine Eltern haben viel Wert auf eine gute Erziehung gelegt. Ich bin von der Wiege an unter anderem in Logik und Philosophie unterrichtet worden. Mein Vater hat immer gesagt, wenn man klar denkt, macht man selten Fehler.«

»Das ist in der Tat wahr«, murmelte Matthias. »Und was Ihren Onkel angeht, so ist es wahr, dass ich meiner Ansicht nach in seiner Schuld gestanden habe.«

»Es hatte etwas mit einem alten Text zu tun, nicht wahr?«

»Vor vielen Jahren ist er auf einer seiner Reisen auf ein sehr altes griechisches Buch gestoßen«, sagte Matthias. »In dem Text waren etliche versteckte Anspielungen auf ein untergegangenes Inselkönigreich enthalten. In Verbindung mit anderen Hinweisen, die ich bereits aufgespürt hatte, haben mir diese Andeutungen einen Teil der Hinweise geliefert, die ich brauchte, um die geografische Lage von Zamar zu bestimmen.«

»Genau das hat mir Onkel Selwyn auch erzählt.«

»Ich bedaure, dass er gestorben ist, ehe ich mich bei ihm revanchieren konnte«, sagte Matthias.

»Sie können sich glücklich schätzen, Sir.« Imogen lächelte. »Zufällig hat es sich so ergeben, dass sich Ihnen eine Gelegenheit bietet, Ihr Versprechen zu halten.«

Matthias musterte sie mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Miss Waterstone. Gerade eben haben Sie mir noch erzählt, Ihr Onkel sei tot.«

»Das ist er auch. Aber zusätzlich zu seiner Sammlung von Grabartefakten hat er mir auch noch eine beträchtliche Erbschaft und das Versprechen hinterlassen, das Sie ihm schuldig geblieben sind.«

Für die Dauer eines Herzschlages herrschte Stille. Horatia starrte Imogen an, als sei sie verrückt geworden.

Matthias beobachtete sie mit rätselhaften Augen. »Ich bitte um Verzeihung?«

Imogen räusperte sich taktvoll. »Onkel Selwyn hat mir das Versprechen vererbt, von dem er behauptet, Sie hätten es ihm gegeben. Aus seinem Testament geht das ganz deutlich hervor.«

»Ach, wirklich?«

Imogen stellte fest, dass diese ganze Geschichte nicht so reibungslos ablief, wie sie es sich erhofft hatte. Sie wappnete sich. »Ich wünsche, dass Sie dieses Versprechen jetzt einlösen.«

»Gütiger Himmel«, flüsterte Horatia. Es klang ganz so, als hätte sie sich mit einem grauenhaften Los abgefunden.

»Und in welcher Form gedenken Sie, die Schuld einzufordern, in der ich bei Ihrem Onkel gestanden habe, Miss Waterstone?«, fragte Matthias schließlich.

»Nun, was das angeht«, sagte Imogen, »so handelt es sich gewissermaßen um eine komplizierte Angelegenheit.«

»Seltsamerweise überrascht mich das gar nicht.«

Imogen tat so, als hätte sie diese Bemerkung, die keineswegs ermutigend war, überhört. »Sind Sie mit Lord Vanneck bekannt, Sir?«

Matthias zögerte. In seinen Augen flackerte für einen Sekundenbruchteil kalte Geringschätzung auf. »Er ist ein Sammler von zamaranischen Antiquitäten.«

»Er war außerdem der Ehemann meiner engen Freundin Lucy Haconby.«

»Ist Lady Vanneck nicht vor einer Weile gestorben?«

»Doch, Mylord. Vor drei Jahren, um genau zu sein. Und ich bin der festen Überzeugung, dass sie ermordet worden ist.«

»Ermordet?« Zum ersten Mal ließ sich Matthias tatsächlich eine Spur von Erstaunen anmerken.

»O Imogen, du hast doch gewiss nicht etwa die Absicht …« Horatia ließ ihren Satz abreißen und schloss voller Entsetzen die Augen.

»Ich glaube fest daran, dass sie von ihrem Ehemann ermordet worden ist, von Lord Vanneck«, sagte Imogen nachdrücklich. »Aber es ist völlig unmöglich, das zu beweisen. Ich habe die Absicht, Sir, mit Ihrer Hilfe dafür zu sorgen, dass er seine gerechte Strafe bekommt.«

Matthias sagte kein Wort und starrte Imogen nur ausdruckslos an.

Horatia fasste sich wieder. »Mylord, Sie werden ihr diesen aberwitzigen Plan doch sicher ausreden.«

Imogen sah Horatia finster an. »Ich wage es nicht, noch länger zu warten. Eine Bekannte hat mir geschrieben, dass Vanneck die Absicht hat, wieder zu heiraten. Anscheinend hat er ernstliche finanzielle Verluste erlitten.«

Matthias zuckte die Achseln. »Das ist wohl wahr. Vor ein paar Monaten war Vanneck gezwungen, sein großes Stadthaus zu verkaufen und in ein wesentlich kleineres Quartier zu übersiedeln. Aber es gelingt ihm immer noch, den äußeren Schein zu wahren.«

»Ich habe den Verdacht, dass er sich jetzt schon auf der Suche nach einer wohlhabenden jungen Erbin in den Ballsälen und Salons von London herumtreibt«, sagte Imogen. »Es kann sehr gut sein, dass er auch sie ermorden wird, sowie er ihr Vermögen an sich gebracht hat.«

»Also, wirklich, Imogen«, sagte Horatia matt. »Du darfst keine derartigen Anschuldigungen vorbringen. Du hast absolut keinen Beweis dafür.«

»Ich weiß, dass Lucy Vanneck sich gefürchtet hat«, beharrte Imogen. »Und ich weiß auch, dass Vanneck sie oft grausam behandelt hat. Als ich Lucy kurz vor ihrem Tod in London besucht habe, hat sie mir anvertraut, sie hätte Angst davor, dass er sie eines Tages ermorden könnte. Sie hat gesagt, er sei rasend eifersüchtig.«

Matthias stellte seine Tasse ab und stützte die Ellbogen auf seine Oberschenkel. Er faltete die Hände locker zwischen den Knien und musterte Imogen mit einem Ausdruck unwilligen Interesses. »Und wie gedenken Sie Ihren Plan auszuführen, Miss Waterstone?«

Horatia war außer sich vor Entsetzen. »Gütiger Himmel, Sie dürfen sie nicht auch noch dazu ermutigen, Mylord.«

»Ich muss feststellen, dass meine Neugier erwacht ist«, sagte Matthias trocken. »Ich würde mir diesen Plan gern bis in alle Einzelheiten anhören.«

»Dann ist also alles verloren«, murmelte Horatia. »Imogen hat eine Art, andere gegen ihren Willen mitzureißen und sie in ihre Pläne hineinzuziehen.«

»Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich so schnell in nichts hineinziehen lasse«, gelobte Matthias, »es sei denn, ich lasse mich willentlich mitreißen.«

»Ich kann nur beten, dass Sie sich später noch an diese kühnen Worte erinnern werden, Mylord«, murmelte Horatia.

»Meine Tante neigt manchmal zu übertriebener Ängstlichkeit, Mylord«, sagte Imogen. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe alles sehr gründlich durchdacht. Ich weiß genau, was ich tue. Also, wie Sie gerade selbst bemerkt haben, ist Lord Vanneck ein außerordentlich leidenschaftlicher Sammler von allem, was mit Zamar zu tun hat.«

»Na und?« Matthias’ Mundwinkel verzogen sich humorlos. »Vanneck mag sich zwar für einen Experten halten, aber in Wahrheit könnte er einen echten zamaranischen Kunstgegenstand nicht von dem Hinterteil eines Pferdes unterscheiden. Sogar I. A. Stone hat einen besseren Blick dafür.«

Horatia stellte klirrend ihre Tasse ab. Ihre Blicke wanderten von Matthias zu Imogen und kehrten dann wieder zu Matthias zurück.

Imogen holte ganz tief Atem und schickte sich an weiterzureden. »Auf den Seiten des Zamaranischen Boten haben Sie häufig I. A. Stones Schlussfolgerungen angegriffen, glaube ich mich zu erinnern.«

Matthias bekundete höfliche Belustigung. »Sie haben unsere kleinen Wortgefechte verfolgt?«

»Oh, ja. Ich habe die Zeitung schon seit Jahren abonniert, Mylord. Ihre Artikel empfinde ich immer als ganz außerordentlich aufschlussreich.«

»Danke.«

»Aber ich finde auch, dass I. A. Stones Texte zum Nachdenken anregen«, fügte sie hinzu und bemühte sich, ihn nichtssagend anzulächeln.

Horatia zog warnend die Stirn in Falten. »Imogen, mir scheint es ganz so, als kämen wir vom Thema ab. Das soll nicht etwa heißen, dass ich versessen darauf wäre, zu dem anderen Thema zurückzukehren, aber trotzdem …«

»I. A. Stone ist nie auch nur in Zamar gewesen«, stieß Matthias zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Zum ersten Mal an jenem Morgen ließ das Auflodern einer echten Empfindung seine gespenstischen Augen leuchten. »Er hat keinerlei Wissen aus erster Hand zu diesem Thema, und doch nimmt er sich die Freiheit heraus, Beobachtungen anzustellen und zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die sich auf meine Arbeiten begründen.«

»Und auf die Arbeiten von Mr. Rutledge«, hob Imogen hastig hervor.

Die Flamme in Matthias’ Augen erlosch so schnell, wie sie aufgelodert war. »Rutledge ist vor vier Jahren auf seiner letzten Reise nach Zamar gestorben. Das ist allgemein bekannt. Seine früheren Texte sind beklagenswert überholt. I. A. Stone sollte wissen, dass es keinen Sinn hat, sie für seine Nachforschungen zu verwenden.«

»Ich habe bisher den Eindruck gehabt, dass I. A. Stones Arbeiten von den Mitgliedern der Zamaranischen Gesellschaft recht gut aufgenommen worden sind«, sagte Imogen zaghaft.

»Ich gebe zu, dass sich Stone eine gewisse oberflächliche Vertrautheit mit Zamar angeeignet hat«, räumte Matthias mit huldvoller Arroganz ein. »Aber es handelt sich dabei um die Form von Kenntnissen, die man sich dadurch erschleicht, dass man die Werke eines informierten Experten gründlich studiert.«

»Die Werke eines Experten wie Sie?«, fragte Imogen höflich.

»Genau. Man kann deutlich erkennen, dass Stone praktisch alles gelesen hat, was ich je über Zamar geschrieben habe. Und dann besitzt er die unglaubliche Dreistigkeit, mir in vielen Punkten zu widersprechen.«

Horatia hüstelte diskret. »Äh, Imogen?«

Imogen widerstand dem Drang, das Thema weiterzuverfolgen. Horatia hatte recht. Im Moment hatten andere Dinge Vorrang. »Ja, also, vielleicht sollten wir doch zu Vanneck zurückkommen. Ungeachtet seiner intellektuellen Beschränktheit müssen Sie doch zugeben, dass er in dem Ruf steht, von einer glühenden Leidenschaft für zamaranische Artefakte verzehrt zu werden.«

Matthias erweckte den Eindruck, als hätte er es vorgezogen, die hitzige Diskussion über I. A. Stones mangelnde Fachkenntnisse fortzusetzen. Er widersetzte sich jedoch nicht, als Imogen das ursprüngliche Thema erneut anschnitt. »Er schwärmt für alles, wovon behauptet wird, es stamme aus dem alten Zamar.«

Imogen stählte sich. »Lassen Sie mich ganz offen sein, Sir. Es wird gemunkelt, in dem Punkt seien Sie ihm ähnlich. Der Unterschied zwischen Ihnen und ihm besteht nur darin, dass Sie die unbestrittene Kapazität sind, wenn es um zamaranische Antiquitäten geht. Ich bin sicher, dass Sie Ihre Sammlung mit erlesenem Geschmack und größter Umsicht zusammengetragen haben.«

»Ich dulde nur die edelsten, die seltensten und die interessantesten zamaranischen Artefakte unter meinem Dach.« Matthias beobachtete Imogen, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken. »Mit anderen Worten, ich sammle nur Gegenstände, die ich persönlich ausfindig gemacht habe. Wie sind wir darauf gekommen?«

Imogen war erstaunt über den winzigen Schauer, der ihr über den Rücken lief. Es gab nur sehr wenige Dinge, die sie nervlich belasten konnten, aber Matthias’ Stimme hatte irgendetwas an sich, was gelegentlich genau diese Wirkung auf sie ausübte. Sie holte tief Atem. »Wie ich bereits sagte, habe ich keine Beweise, die ich gegen Vanneck vorbringen kann, um ihn des Mordes anzuklagen. Aber ich stehe zu tief in Lucys Schuld, um zuzulassen, dass ihr Mörder gänzlich straffrei ausgeht. Drei Jahre lang habe ich mich bemüht, einen Plan zu ersinnen, um mein Ziel zu erreichen, aber erst durch Onkel Selwyns Tod habe ich endlich eine Möglichkeit gesehen, Lucy zu rächen.«

»Was führen Sie gegen Vanneck im Schilde?«

»Ich bin auf eine Möglichkeit gestoßen, sein gesellschaftliches Ansehen zu ruinieren. Wenn ich mit ihm fertig bin, wird Vanneck nicht mehr in der Lage sein, Jagd auf unschuldige Frauen wie Lucy zu machen und sie zu quälen.«

»Es scheint Ihnen vollkommen ernst damit zu sein, stimmt das?«

»Ja, Mylord.« Imogen hob das Kinn und sah ihm in die Augen, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken. »Es ist mir außerordentlich ernst. Ich habe die Absicht, Vanneck in eine Falle zu locken und ihn finanziell und gesellschaftlich zu ruinieren.«

»Für eine Falle braucht man einen Köder«, hob Matthias behutsam hervor.

»Stimmt genau, Mylord. Bei dem Köder, den ich zu benutzen gedenke, handelt es sich um das Große Siegel der Königin von Zamar.«

Matthias starrte sie an. »Wollen Sie etwa behaupten, Sie seien im Besitz des Siegels der Königin?«

Imogen sah ihn finster an. »Nein, natürlich nicht. Sie sollten besser wissen als jeder andere, dass das Siegel nie gefunden wurde. Aber kurz vor seinem Verschwinden hat Rutledge einen Brief an den Zamaranischen Boten geschickt, in dem er den Herausgebern mitteilt, er glaube fest daran, dem Siegel auf der Spur zu sein. Die Gerüchte, er sei auf der Suche danach in dem unterirdischen Labyrinth gestorben, haben den Mythos des Rutledge-Fluchs ins Leben gerufen.«

»Was natürlich Blödsinn ist.« Matthias zog eine Schulter zu einem eleganten Achselzucken hoch. »Diese verdammte Vorstellung von einem Fluch hält sich nur deshalb so beharrlich, weil es heißt, das Siegel sei außerordentlich wertvoll. Um Gegenstände von großem Wert ranken sich immer zahllose Legenden.«

»Ihre eigenen Nachforschungen bestätigen, dass das Siegel aus sehr reinem, hochkarätigem Gold angefertigt und mit wertvollen Edelsteinen verziert ist«, rief ihm Imogen ins Gedächtnis zurück. »Sie schreiben, Sie hätten Inschriften gelesen, die dieses Siegel schildern.«

Matthias’ Lippen wurden schmal. »Der wahre Wert des Siegels besteht darin, dass es sich dabei um einen Gegenstand handelt, der von den besten Kunsthandwerkern eines untergegangenen Volkes angefertigt worden ist. Falls das Siegel noch existiert, ist es von unschätzbarem Wert, aber nicht etwa, weil es aus Edelsteinen und Gold gefertigt ist, sondern aufgrund der Geschichten, die es uns über das alte Zamar erzählen kann.«

Imogen lächelte. »Ich kann Ihre Gefühle nachvollziehen, Sir. Ich hätte von Ihnen nichts anderes als ebendiese wissenschaftliche Wertschätzung des Siegels erwartet. Aber ich kann Ihnen versichern, dass auf einen Mann von Vannecks niederer Veranlagung der materielle Wert dieses Gegenstandes eine weitaus größere Faszination ausübt. Insbesondere, wenn man bedenkt, wie beschränkt seine finanziellen Mittel derzeit sind.«

Ein unangenehmes Lächeln spielte auf Matthias’ Gesicht. »Sie haben zweifellos recht. Was hat das mit Ihrem Vorhaben zu tun?«

»Mein Plan ist ganz einfach. Ich werde mit Tante Horatia nach London reisen und mich in Vannecks gesellschaftliche Kreise einführen lassen. Dank Onkel Selwyn habe ich das Geld dafür, und dank Tante Horatia habe ich obendrein die entsprechenden Beziehungen.«

Horatia rutschte voller Unbehagen auf ihrem Stuhl herum. Sie sah Matthias zaghaft an. »Ich bin mütterlicherseits entfernt mit dem Marquis von Blanchford verwandt.«

Matthias zog die Stirn in Falten. »Blanchford befindet sich doch auf Auslandsreisen, oder nicht?«

»Ich glaube schon«, gestand Horatia. »Er hält sich die meiste Zeit im Ausland auf. Es ist kein Geheimnis, dass er die Londoner Gesellschaft nicht ausstehen kann.«

»In dem Punkt haben wir beide etwas gemeinsam«, sagte Matthias.

Imogen ignorierte diese Bemerkung. »Blanchford lässt sich während der Ballsaison nur selten in der Öffentlichkeit blicken. Aber das ist noch lange kein Grund dafür, dass Tante Horatia und ich ebenfalls zurückgezogen leben müssten.«

»Mit anderen Worten«, sagte Matthias, »Sie werden also die Beziehungen Ihrer Tante dafür nutzen, dieses wahnsinnige Vorhaben auszuführen.«

Horatia verdrehte die Augen zum Himmel und schnalzte mit der Zunge.

Imogen sah Matthias finster an. »Es ist kein wahnsinniges Vorhaben. Es ist sogar ein ziemlich schlauer Plan. Ich habe Wochen dafür gebraucht, ihn auszuarbeiten. Wenn ich erst einmal Zugang zu den entsprechenden gesellschaftlichen Kreisen gefunden habe, werde ich kleine Andeutungen fallenlassen, die sich auf das Siegel der Königin beziehen.«

Matthias zog lakonisch die Augenbrauen hoch. »Was für Andeutungen?«

»Ich werde in Umlauf setzen, dass ich, während wir eine gründliche Bestandsaufnahme der Sammlung meines Onkels vorgenommen haben, zufällig auf eine Landkarte gestoßen bin, die Hinweise auf den Aufbewahrungsort des Siegels gibt.«

»Heiliger Strohsack«, murmelte Matthias. »Sie haben vor, Vanneck davon zu überzeugen, dass diese nicht existierende Landkarte ihn zu einem grandiosen Kunstgegenstand führen kann?«

»Ganz genau.«

»Ich glaub’s einfach nicht.« Endlich sah Matthias hilfesuchend Horatia an.

»Ich habe mein Bestes versucht, um Sie zu warnen, Mylord«, murmelte sie.

Imogen sprang eifrig auf. »Ich werde Vanneck davon überzeugen, dass ich die Absicht habe, denjenigen, der mir dabei hilft, eine Expedition zu finanzieren, um das Siegel zu bergen, in die Hinweise einweihen werde.«

Matthias sah sie spöttisch an. »Und wozu soll das gut sein?«

»Liegt das denn nicht auf der Hand? Vanneck wird der Vorstellung nicht widerstehen können, das Siegel an sich zu bringen. Aber da es im Moment schlecht um seine Finanzen steht und er noch keine reiche Erbin gefunden hat, fehlt es ihm an den nötigen Mitteln, die Expedition selbst zu finanzieren. Ich werde ihn dazu ermutigen, ein Konsortium von Investoren zu gründen.«

Matthias musterte sie nachdenklich. »Gestatten Sie mir, eine kühne Vermutung zu äußern. Sie haben die Absicht, Vanneck finanziell in eine äußerst riskante Lage zu bringen und dann den Ast abzusägen, auf dem er sitzt, stimmt’s?«

»Ich wusste gleich, dass Sie es verstehen würden.« Imogen freute sich darüber, dass er endlich begann, die wahre Genialität ihres Planes zu würdigen. »Genau das habe ich vor. Es sollte keine große Mühe kosten, Vanneck dazu zu überreden, dass er ein Konsortium ins Leben ruft, um die Expedition zu finanzieren.«

»Und wenn er das Geld des Konsortiums dafür ausgegeben hat, ein Schiff und eine Mannschaft anzuheuern und die kostspielige Ausrüstung zu erwerben, die für diese Expedition erforderlich ist, dann werden Sie ihm eine unbrauchbare Landkarte vorlegen.«

»Und er wird eine vergebliche Reise antreten«, schloss Imogen mit einer Selbstzufriedenheit, die sie gar nicht erst zu verbergen versuchte. »Vanneck wird das Königliche Siegel niemals finden. Die Expedition wird abgebrochen werden, wenn das Geld ausgeht. Die Mitglieder des Konsortiums werden wütend sein. Es wird gemunkelt werden, dass das Ganze von vornherein ein einziger großer Schwindel war, ein Betrug, der an unschuldigen Investoren begangen wurde. Ein zweiter Südseeskandal. Vanneck wird es nicht wagen, nach London zurückzukehren. Seine Gläubiger werden ihm jahrelang auf den Fersen sein. Und falls er irgendwann doch zurückkehren sollte, dann wird er nicht in der Lage sein, seinen bisherigen Platz unter den oberen Zehntausend wieder einzunehmen. Seine Chancen, sich an einer Erbin schadlos zu halten und es wieder zu Geld zu bringen, werden dann äußerst dünn gesät sein.«

Matthias wirkte versonnen. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Miss Waterstone. Sie haben mir den Atem verschlagen.«

Es ließ sich eine gewisse Genugtuung daraus schöpfen, eine derart elektrisierende Wirkung auf Colchester von Zamar ausgeübt zu haben, wie Imogen fand. »Es ist ein kluger Plan, finden Sie nicht auch? Und Sie sind der perfekte Partner für mich, Sir.«

Horatia wandte sich flehentlich an Matthias. »Mylord, ich bitte Sie inständig, ihr zu sagen, dass das ein dummer, leichtsinniger, gefährlicher und irrsinniger Plan ist.«

Matthias warf einen kurzen Blick auf Horatia und richtete seine kalten Augen dann wieder auf Imogen. »Ihre Tante hat recht. Ihr Plan ist all das und noch mehr.«

Imogen war bestürzt. »Unsinn. Es wird klappen. Ich bin mir ganz sicher.«

»Ich weiß, dass ich es bereuen werde, Sie gefragt zu haben, Miss Waterstone, aber eine morbide Neugier treibt mich dazu. Welche Rolle haben Sie mir in dieser grandiosen Intrige zugedacht?«

»Ist das nicht offensichtlich, Mylord? Sie sind die anerkannte Kapazität, wenn es um Dinge geht, die mit Zamar zu tun haben. Mit der möglichen Ausnahme von I. A. Stone gibt es keinen fachkundigeren Experten auf diesem Gebiet als Sie.«

»Es gibt keine Ausnahme«, korrigierte Matthias sie grimmig. »Und I. A. Stone ist erst recht keine Ausnahme.«

»Wenn Sie darauf beharren, Mylord«, murmelte Imogen. »Sämtliche Mitglieder der Zamaranischen Gesellschaft sind sich über Ihre herausragenden Qualifikationen einig.«

Matthias ging gar nicht erst auf diesen unbestreitbaren Tatbestand ein. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich hätte geglaubt, das wäre offenkundig, Sir. Die einfachste und wirksamste Art, Vanneck davon zu überzeugen, dass ich im Besitz einer echten Landkarte bin, die zum Siegel der Königin führt, besteht darin, dass Sie andeuten, Ihrer Meinung nach besäße ich eine solche Karte.«

Eine kurze, durchdringende Stille bemächtigte sich der Bibliothek.

»Ich will verdammt sein.« Matthias’ Stimme klang nahezu ehrfürchtig. »Sie wollen, dass ich Vanneck und dem Rest der oberen Zehntausend einrede, ich sei überzeugt davon, dass Ihr Onkel Ihnen eine Landkarte des alten Zamar vermacht hat, auf der der Aufbewahrungsort des Siegels eingezeichnet ist?«

»Ja, Mylord.« Es erleichterte Imogen, dass er endlich die Grundzüge ihres Planes erfasst hatte. »Ihr Interesse an der Landkarte wird meiner Geschichte die erforderliche Glaubwürdigkeit verleihen.«

»Und wie haben Sie sich das vorgestellt? In welcher Form soll ich mein Interesse bekunden?«

»Das ist ganz einfach, Mylord. Sie werden so tun, als wollten Sie mich verführen.«

Matthias sagte kein Wort.

»Ach, du meine Güte«, flüsterte Horatia. »Ich glaube, mir wird schwindlig.«

Matthias sah Imogen mit ausdruckslosen Augen an.

»Ich soll Sie verführen?«

»Sie werden natürlich nur so tun«, versicherte sie ihm. »Der gesamten Londoner Gesellschaft wird auffallen, dass Sie mir nachstellen. Vanneck wird daraus schließen, dass es nur einen Grund für Ihre Bemühungen um mich geben kann.«

»Er wird glauben, ich sei hinter dem Königlichen Siegel her«, sagte Matthias.

»Ganz genau.«

Horatia seufzte aus tiefstem Herzen. »Das ist unser aller Untergang.«

Matthias pochte mit einem Finger äußerst behutsam gegen den Rand seiner Teetasse. »Weshalb sollte Vanneck oder irgendjemand sonst zu der Schlussfolgerung gelangen, dass ich es nur darauf abgesehen habe, Sie zu verführen? Es ist allgemein bekannt, dass ich erst kürzlich nach England zurückgekehrt bin, um die Pflichten zu übernehmen, die mein Titel mit sich bringt. Die bessere Gesellschaft wird von mir erwarten, dass ich in der kommenden Ballsaison nach einer Ehefrau Ausschau halte, nicht nach einer Mätresse.«

Imogen verschluckte sich fast an ihrem Tee. »Machen Sie sich darüber nur keine Sorgen, Mylord. Sie laufen keinerlei Gefahr, eines Tages festzustellen, dass Sie versehentlich als verlobt mit mir gelten. Niemand wird erwarten, dass Sie mir einen Heiratsantrag machen.«

Matthias sah ihr forschend ins Gesicht. »Und was ist mit Ihrem Ruf?«

Imogen stellte ihre Tasse mit allergrößter Bedachtsamkeit ab. »Sie wissen offensichtlich nicht, wer ich bin. Ich nehme an, das ist nicht weiter erstaunlich. Während der letzten Jahre haben Sie einen Großteil Ihrer Zeit außer Landes verbracht.«

»Vielleicht wären Sie so nett, mich über Ihre wahre Identität aufzuklären?«, knurrte Matthias.

»Vor drei Jahren, als ich meine Freundin Lucy in London besucht habe, habe ich mir den Spitznamen die Unkeusche Imogen erworben.« Sie zögerte. »Mein Ruf ist in einem Maße kompromittiert worden, dass sich der Schaden nicht mehr beheben ließ.«

Matthias zog die Augenbrauen zu einem dunklen Strich zusammen, als sein Blick zu Horatia schweifte.

»Das ist leider wahr, Mylord«, sagte sie unbeirrt.

Matthias sah Imogen wieder an. »Wer war der Mann?«

»Lord Vanneck«, sagte Imogen.

»Himmel noch mal«, sagte er leise. »Kein Wunder, dass Sie auf Rache aus sind.«

Imogen straffte die Schultern. »Dieser Vorfall hat nichts damit zu tun. Mein eigener Ruf interessiert mich nicht im Geringsten. Was gerächt werden muss, ist der Mord an Lucy. Ich habe Ihnen diese Geschichte nur erzählt, weil ich Ihnen verständlich machen wollte, dass die gute Gesellschaft mich nicht als eine geeignete Ehekandidatin ansehen würde. Niemand würde von einem Mann in Ihrer Position, wenn er mir nachläuft, erwarten, dass er es auf etwas anderes als eine flüchtige Affäre oder die Gelegenheit abgesehen hat, über mich an etwas Wertvolles heranzukommen.«

»Wie zum Beispiel das Königliche Siegel.« Matthias schüttelte den Kopf. »Großer Gott.«

Imogen erhob sich forsch und bedachte ihn mit einem ermutigenden Lächeln. »Ich glaube, jetzt haben Sie begriffen, worum es geht, Mylord. Heute Abend können wir die Einzelheiten meines Planes beim Abendessen besprechen. In der Zwischenzeit werden wir uns wieder an die Arbeit machen, das Inventar aufzulisten. Da Sie nun schon einmal hier sind und sonst nichts weiter zu tun haben, hätten Sie vielleicht Lust, uns dabei behilflich zu sein?«

2

Horatia rückte näher zu Matthias, sowie sie allein in der Bibliothek waren. »Mylord, Sie müssen etwas unternehmen.«

»Ach ja?«

Horatias besorgte Miene erstarrte zu einem Ausdruck finsterer Missbilligung. »Sir, mir ist durchaus bewusst, wer und was Sie wirklich sind. Zufällig habe ich vor zehn Jahren in London gelebt.«

»Tatsächlich?«

»Ich habe nicht in Ihren Kreisen verkehrt, Mylord. Aber schließlich haben das die wenigsten ehrbaren Leute getan. Trotzdem weiß ich, wie und warum Sie sich den Namen der Kaltblütige Colchester erworben haben. Meine Nichte kennt Sie nur als Colchester von Zamar. Sie bewundert Sie schon seit Jahren. Sie ist nicht über die Aktivitäten informiert, für die Sie berüchtigt sind.«

»Warum öffnen Sie ihr dann nicht die Augen, Mrs. Elibank?«, fragte Matthias scheinheilig.

Horatia wich eilig einen Schritt zurück, als rechnete sie damit, dass er sich mit entblößten Lefzen auf sie stürzen würde. »Das würde nichts nutzen. Sie würde diese Geschichten als gehässiges Geschwätz abtun. Ich kenne sie. Sie würde davon ausgehen, dass Ihr Ruf ungerechtfertigterweise ruiniert worden ist, genau wie der ihre. Sie würde zweifellos zu einer Ihrer stärksten Verbündeten und treuesten Anhängerinnen werden.«

»Glauben Sie das wirklich?« Matthias sah nachdenklich die Tür an. »Von der Sorte habe ich nie allzu viele gehabt.«

Horatia sah ihn finster an. »Von welcher Sorte?«

»Starke Verbündete und treue Anhänger.«

»Ich glaube, wir wissen beide, dass es dafür etliche gute Gründe gibt, Mylord«, fauchte Horatia.

»Wenn Sie meinen.«

»Colchester, mir ist klar, dass ich keine Ansprüche an Ihre Rücksichtnahme stellen kann, aber ich bin ziemlich verzweifelt. Meine Nichte ist wild entschlossen, diesen unausgegorenen Plan in die Tat umzusetzen. Sie sind meine einzige Hoffnung.«

»Was zum Teufel erwarten Sie von mir?« Matthias warf einen Blick über seine Schulter, weil er sichergehen wollte, dass Imogen nicht zurückgekommen war und in der Tür stand. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Madam, aber ich bin noch nie einer Frau wie Miss Waterstone begegnet. Sie gibt einem Mann das Gefühl, er sei gerade von einer Jagdgesellschaft niedergeritten worden.«

»Ich weiß, was Sie meinen, Sir, aber Sie müssen etwas unternehmen, oder wir werden schon bald feststellen, dass wir alle im Netzwerk dieses grandiosen Racheplanes gefangen sind, den sie ausgeheckt hat.«

»Wir?« Matthias zog ein Buch mit einem Ledereinband von dem Regal, das ihm am nächsten war.

»Ich versichere Ihnen, dass Imogen ihren Plan nicht aufgeben wird, falls Sie sich weigern sollten mitzuspielen. Sie wird lediglich andere Mittel und Wege ersinnen, um ihn in die Tat umzusetzen.«

»Grob gesagt, das ist nicht mein Problem.«

»Wie können Sie das bloß sagen?« Horatia schien verzweifelt zu sein. »Schließlich haben Sie meinem Bruder dieses Versprechen gegeben, Sir. Das geht aus Selwyns Letztem Willen deutlich hervor. Es heißt, Sie hätten bisher noch jedes Versprechen gehalten. Selbst Ihre ärgsten Feinde, und meines Wissens gibt es davon reichlich viele, stellen das nicht in Abrede.«

»Es entspricht eben der Wahrheit, Madam. Ich halte immer, was ich verspreche. Aber ich tue es auf meine ganz eigene Art. Wie dem auch sei, ich habe in Selwyn Waterstones Schuld gestanden, und seiner Nichte bin ich gar nichts schuldig.«

»Sir, wenn Sie sich bei meinem geliebten verschiedenen Bruder revanchieren wollten, dann müssten Sie dafür sorgen, dass Imogen keinen Schaden erleidet.«

»Imogen erwartet Beistand in einer ganz anderen Form von mir, Madam. Sie scheint teuflisch darauf versessen zu sein, sich in ihr Unglück zu stürzen, und in Anbetracht ihrer Entschlossenheit und Seelenstärke rechne ich damit, dass sie ihr Ziel erreichen wird.«

»Sie besitzt eine ganz erstaunliche Willenskraft«, gab Horatia zu.

»Und damit beschämt sie nicht nur Napoleon, sondern auch Wellington.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf die vollen Bücherregale. »Denken Sie zum Beispiel nur an meine derzeitige Beschäftigung. Ich habe keine klare Vorstellung davon, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass ich Miss Waterstone plötzlich dabei helfe, die Sammlung ihres Onkels zu katalogisieren.«

»Solche Dinge passieren ständig, wenn meine Nichte in der Nähe ist«, sagte Horatia kläglich. »Sie hat die Neigung, jede Situation an sich zu reißen.«

»Ich verstehe.« Matthias warf einen Blick auf den Titel des Buches, das er in der Hand hielt. Ein Bericht über die seltsamen und ungewöhnlichen Objekte, die auf gewissen Südseeinseln in Gräbern entdeckt wurden. »Ich glaube, das gehört auf Ihre Liste.«

»Sie meinen, Bücher über Grabkunst?« Horatia lief geschäftig zum Schreibtisch und sah finster auf eine Seite des aufgeschlagenen Notizbuchs. Sie tauchte eine Feder in die Tinte und vermerkte das Buch auf der Liste. »Sie können es jetzt zu den anderen legen.«

Matthias legte den Band auf einen wachsenden Stapel vergleichbarer Titel. Geistesabwesend musterte er die übrigen Bücher, in Gedanken mit Imogen Waterstone beschäftigt, dem weitaus größeren Problem. Er sagte sich, er bräuchte genauere Informationen, ehe er entscheiden konnte, wie er weiter vorgehen würde.

»Wie hat Vanneck Ihre Nichte kompromittiert, Madam?«

Horatias Lippen kniffen sich zusammen. »Das ist eine äußerst unerfreuliche Geschichte.«

»Um Schritte zu unternehmen, muss ich genauestens über die Tatsachen informiert sein.«

Horatia beäugte ihn nicht ohne Hoffnung. »Im Grunde genommen kann ich Ihnen die Einzelheiten auch gleich selbst erzählen, ehe Sie sie von einer der Klatschbasen in London hören. Und schließlich verhält es sich ja so, dass Sie selbst ebenfalls mit einem relativ üblen Ruf belastet sind, nicht wahr, Mylord?«

Matthias sah ihr in die Augen. »Das ist durchaus wahr, Mrs. Elibank. So viel habe ich zumindest mit Ihrer Nichte gemeinsam.«

Horatia bekundete plötzlich ein glühendes Interesse an einer alten etruskischen Totenmaske. »Nun gut, vor drei Jahren hatte Lucy Imogen gebeten, sie in London zu besuchen. Zu dem Zeitpunkt war Lady Vanneck schon seit mehr als einem Jahr verheiratet, doch es war das erste Mal seitdem, dass sie auf den Gedanken kam, Imogen einzuladen.«

»Hat Imogen bei Lord und Lady Vanneck gewohnt?«

»Nein. Lucy behauptete, sie könnte leider nicht bei ihnen im Haus wohnen, da Lord Vanneck keine Gäste im Haushalt duldete. Daher schlug sie vor, Imogen solle sich für ein paar Wochen ein kleines Häuschen mieten. Lucy hatte alles für sie arrangiert.«

Matthias zog die Stirn in Falten. »Imogen ist ganz allein nach London gefahren?«

»Ja. Ich konnte sie beim besten Willen nicht begleiten, da mein Mann schon krank war und es ihm damals äußerst schlecht ging. Das soll natürlich nicht heißen, dass Imogen der Meinung gewesen wäre, sie bräuchte eine Gesellschafterin. Von ihrer ganzen Wesensart her ist sie sehr unabhängig.«

»Das ist mir bereits aufgefallen.«

»Ich schiebe ihren Eltern, mögen sie in Frieden ruhen, die volle Schuld in die Schuhe.« Horatia seufzte. »Die beiden haben sie heiß und innig geliebt und nur ihr Bestes gewollt, aber ich fürchte, sie hat eine extrem unkonventionelle Erziehung genossen.«

»Wie das?«, fragte Matthias.

»Mein Bruder und seine Frau waren schon in fortgeschrittenem Alter, als Imogen geboren wurde. Tatsächlich hatten sogar beide jede Hoffnung darauf, eines Tages Kinder zu haben, längst aufgegeben. Als Imogen dann unterwegs war, waren sie außer sich vor Begeisterung.«

»Sie hat keine Geschwister?«

»Nein. Ihr Vater, mein ältester Bruder John, war Philosoph und hat als solcher radikale Thesen zur Erziehung junger Menschen aufgestellt. In Imogen sah er die unschätzbare Chance, seine Theorien in der Praxis zu überprüfen.«

»Und was ist mit ihrer Mutter?«

Horatia schnitt eine Grimasse. »Aletha war eine äußerst ungewöhnliche Frau. In jungen Jahren hatte sie beträchtlichen Wirbel verursacht. Sie hatte ein Buch geschrieben, in dem sie ernsthaft den Wert der Ehe für Frauen infrage stellte. Mein Bruder verliebte sich während der Lektüre dieses Buchs sofort in sie. Die beiden heirateten auf der Stelle.«

»Und das trotz der Ansichten, die diese Dame zum Thema Ehe hatte?«

»Aletha hat immer gesagt, John sei der einzige Mann auf Erden, der einen brauchbaren Ehemann für sie hätte abgeben können.« Horatia zögerte. »Sie hat recht gehabt. Jedenfalls hat auch Aletha eine Menge äußerst seltsamer Vorstellungen davon gehabt, wie Mädchen erzogen werden sollten. Sie hat dann auch tatsächlich noch ein weiteres Buch geschrieben, in dem sie ihre Vorstellungen von Erziehungsmethoden für Mädchen schildert.«

Matthias war einen Moment lang belustigt. »Mit anderen Worten, Imogen ist das Produkt eines radikalen philosophischen Experiments?«

»Ich fürchte, genau das ist der Fall.«

»Was ist aus Ihrem Bruder und seiner Frau geworden?«