5,99 €
Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!
Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.
Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Alpengold 192: Liebe, vom Frühlingswind verweht
Bergkristall 273: Komm heim, wenn’s wieder Weihnachten wird
Der Bergdoktor 1741: Ein Madel irrt durch die Nacht
Der Bergdoktor 1742: Die Menschen sprachen von einem Wunder
Das Berghotel 129: Der Stern der Liebe leuchtet uns
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
Jetzt herunterladen und sofort sparen und lesen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 598
Sissi Merz, Dunja Wild, Andreas Kufsteiner, Verena Kufsteiner
Heimat-Roman Treueband 34
Liebe, vom Frühlingswind verweht
Ein Moment der Unachtsamkeit zerstörte alles
Von Sissi Merz
Nach dem Tod ihrer kleinen Tochter zerbricht auch Annas Ehe mit Robert, der den tragischen Unfall aus Unachtsamkeit verschuldet hat. Als gebrochene Frau kehrt Anna auf den Berghof ihrer Eltern zurück. Hier, im Schatten hoher Berge und inmitten der frühlingshaften Natur, hofft sie, den Verlust ihres Kindes allmählich zu überwinden. Als sie darum gebeten wird, als Physiotherapeutin den jungen Baumgartner-Oliver zu behandeln, zögert sie nicht. Er ist Annas Jugendliebe, der noch an den Folgen eines schweren Autounfalls leidet. Wie Anna hat auch ihm das Schicksal übel mitgespielt. Und ihr gelingt das Wunder: Dank Anna ist Oliver bald auf dem Weg der Besserung – und schöpft wieder neuen Lebensmut. Unvermutet flammen die alten, leidenschaftlichen Gefühle wieder zwischen Anna und Oliver auf, und übers Jahr wagen sie, an eine gemeinsame Zukunft zu glauben. Doch da erscheint Annas Exmann Robert auf dem Hof ihrer Eltern, und Annas Liebe zu Oliver gerät in große Gefahr …
Anna Kramer schaute aus dem Küchenfenster nach draußen, wo es gerade wieder angefangen hatte zu schneien.
Der Winter war heuer lang und schneereich gewesen. Auch jetzt, Mitte März, mochte der grimmige Geselle sein Regiment noch nicht an den Frühling abtreten. In den vergangenen Tagen war es unter dem Einfluss von Föhnwinden in Mittenwald schon recht mild gewesen. Nun aber hatte der Himmel sich dunkelgrau bezogen, und die Welt schien hinter einem blassweißen Perlenvorhang zu verschwimmen.
Anna seufzte leise. Die hübsche junge Frau war Mitte zwanzig, schlank und fesch. Die blonden Locken umrahmten ein herzförmiges Gesicht, in dem die klaren, tiefblauen Augen bestachen. Anna hatte ein mitreißendes Lachen und war im Grunde ihres Herzens ein fröhlicher Mensch. Nun aber war ihr hübsches Gesicht blass, und die Augen schienen durch eine vereiste Scheibe ins Nichts zu schauen. Schweres lag hinter ihr und Schweres vor ihr.
Manchmal hatte Anna das Gefühl, dass vor einem Jahr die Welt über ihr zusammengebrochen war und sie noch immer blind und verwundet in den Trümmern nach einem Ausweg aus Schmerz und Verzweiflung suchte. Dabei hatte sie vor nur wenigen Jahren ihr Heimatdorf Hohenkirchen mit klaren Plänen und Zielen verlassen. Und es war ihr durchaus gelungen, diese in die Tat umzusetzen. Ja, sie könnte nun ein glückliches Leben führen, wenn das Schicksal es nicht anders gewollt hätte.
Die junge Frau wandte sich vom Fenster ab, vor dem der Schneefall immer dichter wurde. Sie griff nach einem Pappbecher mit Kaffee, den sie im nahen Imbiss geholt hatte, ging hinüber in die einst gute Stube, wobei sie den Blick durch die Fenstertür auf den dahinterliegenden Balkon tunlichst vermied, und hockte sich im Schneidersitz auf einen Umzugskarton.
Warum wirkten Zimmer nur so groß, wenn sie leer waren? Jedes Geräusch schien sich mit seinem eigenen Echo zu verweben und sie daran zu gemahnen, dass es Zeit wurde, zu gehen, diesen Ort zu verlassen und ein neues Kapitel in ihrem Lebensbuch aufzuschlagen.
Anna sehnte sich danach, die Wohnungstür zum letzten Mal ins Schloss zu ziehen und nie wieder zurückzukehren. Auch wenn sie ahnte, dass sie den Schmerz und die Trauer mit sich nehmen würde. Dabei war es einmal anders gewesen, ganz anders. Und das war noch gar nicht so lange her …
Anna war mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Christa auf dem elterlichen Berghof oberhalb von Hohenkirchen nahe Mittenwald aufgewachsen. Das sportliche Madel, das von klein auf im Winter über die Pisten gesaust war und im Sommer die höchsten Gipfel um Hohenkirchen bestiegen hatte, war das genaue Gegenteil seiner Schwester.
Christa war ebenfalls hübsch und klug, aber bedächtig und in allem stets abwägend. Niemals hätte sie sich absichtlich in eine gefährliche Situation begeben. Das, was Anna »ins Risiko gehen« genannt hatte, war ihr ein Gräuel gewesen.
Freilich hatte Anna mit ihrem unbekümmerten, sonnigen Gemüt die Burschen im Tal zum Schwärmen gebracht. Als die Schwestern heranwuchsen, hatte Anna stets an jedem Finger ein halbes Dutzend Verehrer gehabt, während Christa im Schatten der Schwester ein wenig verblasst war.
Dabei war es keineswegs Annas Absicht gewesen, die Ältere auszustechen, im Gegenteil. Anna hatte sich stets Mühe gegeben, mit der Schwester auszukommen, die sie von Herzen lieb hatte. Aber Christa war distanziert geblieben. Ein nie ausgesprochenes Gefühl von Eifersucht hatte von klein auf ihre Beziehung vergiftet.
Nach der mittleren Reife war es für Christa selbstverständlich gewesen, die Hauswirtschaftsschule in Mittenwald zu besuchen, um dort alles zu lernen, was für eine Jungbäuerin wichtig war.
Anna hingeben hatte andere Interessen. Sie wollte Krankengymnastin werden und vielleicht eine eigene Praxis eröffnen. In den Ferien jobbte sie bei verschiedenen Physiotherapeuten und fühlte sich danach in ihrer Berufswahl bestätigt. Sie ging mit Elan in die Ausbildung und hatte dabei eine Menge Spaß.
Christa beneidete Anna wieder einmal, weil diese einfach tat, wozu sie Lust hatte. Wenn sie sich wegen des Egoismus ihrer Schwester aber bei den Eltern beschwerte, stieß sie auf pures Unverständnis.
Die Hubers waren der Meinung, dass ihre beiden Töchter durchaus das tun konnten, was ihnen Freude bereitete. Christa hingegen hatte immer das Gefühl, dass Mutter und Vater Anna bevorzugten. Schließlich mochte jeder die Schwester. Nicht zuletzt die Burschen, die ihr nach wie vor nachgelaufen waren, bis sie sich endlich für einen entschieden und geheiratet hatte.
Robert Kramer war ein paar Jahre älter als Anna. Sie hatte sich auf den ersten Blick in den feschen jungen Mann verschaut. Seine unbekümmerte Art hatte sie mitgerissen, gemeinsam hatten sie Pläne gemacht und von der Zukunft geträumt.
Währenddessen hatte Christa sich mit Peter Faller verlobt. Der unscheinbare Jungbauer hatte lange gebraucht, bis er den Mut gefunden hatte, Christa den Hof zu machen. Verliebt war er schon eine Weile in das hübsche Madel gewesen. Weil er aber bescheiden und zurückhaltend war, meinte er, dass Christa ihn gewiss keines Blickes würdigen würde.
Als sie dann zugestimmt hatte, seine Frau zu werden, hatte sich für den Burschen ein Traum erfüllt. Er war stets bemüht gewesen, Christa zu verwöhnen und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
Als Bauer war er fleißig, Dominik Huber hatte bald durchblicken lassen, dass er Peter vertraute und in ihm seinen legitimen Nachfolger sah.
Anna erinnerte sich noch gut daran, mit welchem Triumph im Blick ihre Schwester davon gesprochen hatte. Sie hatte Christa ihr Glück gegönnt, denn sie selbst war damals ebenfalls glücklich gewesen.
Nach der Heirat mit Robert hatten sie zusammen eine Praxis eröffnet, die sich dank Annas Fleiß und Kompetenz und Roberts Charme gut anließ. Und als ihre kleine Tochter Pia geboren wurde, da war für Anna das Leben perfekt.
Die Eltern hatten sie öfter besucht und waren stolz auf Tochter und Enkelkind gewesen.
Christa hingeben wollte nichts davon wissen. Sie nannte Robert einen Luftikus und prophezeite der Ehe ihrer Schwester ein baldiges Ende. Da konnte Peter so viel beschwichtigen, wie er wollte, Christa ließ sich nicht von ihrer Meinung abbringen. Dass diese wieder einmal auf Neid und Eifersucht und dem ewigen Gefühl der Unterlegenheit der Schwester gegenüber fußte, verdrängte sie.
Dann war jener schreckliche Montag im vergangenen Januar gekommen. Pia sollte ihren dritten Geburtstag feiern. Anna musste noch ein paar Sachen einkaufen und bat ihren Mann, auf die Tochter aufzupassen. Robert versprach es, doch sie hatte kein gutes Gefühl dabei, ihn mit Pia allein zu lassen.
Längst wusste sie, dass ihr Mann unzuverlässig und sprunghaft war. Anna hatte sich deshalb beeilt, war durch die Stadt gehetzt und hatte gegen eine ständig stärker werdende Panik angekämpft, die sie sich selbst nicht erklären konnte.
Als sie dann zu dem Mietshaus gekommen war, in dessen viertem Stock ihre Wohnung lag, hatten Notarzt und Polizei den Weg versperrt.
Das ungute Gefühl in ihrem Magen war zur Gewissheit geworden. Später erfuhr Anna, dass ihr Mann Besuch von ein paar Spezln bekommen hatte. Er hatte sich wieder einmal ablenken lassen, wie das in seiner Natur lag.
Niemand hatte gesehen, wie Pia munter und neugierig über den Balkon gelaufen und auf die Brüstung geklettert war. Erst durch eine Nachbarin, die Sturm läutete, hatte Robert überhaupt von dem Unfall erfahren. Dass seine kleine Tochter mit zerschmetterten Knochen auf dem Grillplatz hinter dem Haus lag, während er mit seinen Spezln munter gebechert hatte, das konnte er sich nicht verzeihen. Und Anna hatte es auch nicht geschafft.
Nach einem Jahr der gegenseitigen Schuldzuweisungen und der unerträglichen Selbstzerfleischung war schließlich die Trennung erfolgt. Anna entschied sich für einen sauberen Schnitt und reichte die Scheidung ein. Sie lösten die gemeinsame Praxis auf, Robert zog als Erster aus der Wohnung aus.
Anna würde an diesem wechselhaften Märztag nach Hohenkirchen zurückkehren. Die Eltern hatten ihr angeboten, fürs Erste heimzukommen, um ihr Leben neu zu ordnen. Und sie sehnte sich nach Ruhe, danach, die Vergangenheit ein Stück weit hinter sich zu lassen und vielleicht irgendwann Frieden zu finden.
Anna empfand trotz allem noch etwas für Robert. Ob es Liebe war, konnte sie nicht sagen. Ihre Gefühle waren unter einem Schuttberg aus Verzweiflung und Schmerz verloren gegangen. Dachte sie an ihren Mann, tat ihr das Herz weh. Und der Gedanke an die Scheidung schmerzte sie ebenfalls. Doch ein Zusammenleben war einfach nicht mehr möglich gewesen. Sie hatten einander ja nicht einmal mehr in die Augen schauen können.
Anna hatte damals einen schweren Schock erlitten und mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen müssen. Danach hatte sie noch lange Medikamente genommen, denn die Trauer brachte Depressionen und den Wunsch, alles wäre vorbei, mit sich. Auch heute ging sie noch regelmäßig zu einem Psychologen, doch die Termine lagen zeitlich ein wenig weiter auseinander. Irgendwann wollte Anna auch damit abschließen. Noch war sie aber auf dem Weg, und das Ziel erschien ihr weit weg.
Als an der Wohnungstür geklingelt wurde, schreckte die junge Frau aus ihren trüben Gedanken. Es waren ihr Vater und Peter, die sie abholen kamen.
Man begrüßte sich herzlich, Dominik Huber brummte: »Ein Wetter ist das! Eben hat’s geschneit wie net ganz gescheit, und jetzt scheint die Sonne. Fast schon wie im April.«
Die Mannsbilder hatten die letzten Umzugskartons rasch im großen Familienkombi verladen. Peter setzte sich hinters Steuer, während sein Schwiegervater noch einmal nach oben ging. Anna hatte eine letzte Runde durch die Wohnung gemacht.
Der Vater sah, dass sie weinte. Behutsam strich er ihr übers Haar, wie er es schon getan hatte, als sie noch ein kleines Madel gewesen war, und reichte ihr sein Taschentuch.
»Jetzt schnäuz dich, Tschapperl, und dann fahren wir heim«, meinte er schlicht. »Es wird Zeit.« Er merkte, dass sie zum Balkon blickte, und fügte noch eindringlich hinzu: »Und schau net zurück, das tut net gut.«
»Ist schon recht, Vater«, murmelte Anna und folgte ihm.
Zum letzten Mal zog sie die Wohnungstür ins Schloss, und dabei war ihr das Herz sehr, sehr schwer. Denn es war eben doch nicht so einfach, die Vergangenheit hinter sich zu lassen …
***
Auf der Fahrt nach Hohenkirchen schien tatsächlich die ganze Zeit die Sonne. Peter erzählte ausführlich, wie er zusammen mit dem Bauern einige Stuben für Anna hergerichtet hatte. Er war handwerklich geschickt, und es machte ihm besonderen Spaß, mit Holz zu arbeiten.
Anna hörte ihm zu und lächelte ein wenig. Je näher sie Hohenkirchen kamen, desto leichter wurde ihr ums Herz. Heimatgefühle erfüllten sie, das sichere und warme Empfinden, nach Hause zu kommen. Fast war es so, als wäre sie in den vergangenen Jahren nur unter Fremden gewesen.
Als nun der Geißenkopf mit seiner charakteristischen Spitze in der Ferne grüßte, weit im Norden die himmelhohe Kette des Wetterstein-Gebirges sichtbar wurde und im Osten das tiefblaue Wasser des Wildensees zwischen Bergkiefern und Föhren hervorblitzte, da atmete Anna wie erlöst auf. Sie wusste nun tief im Herzen, dass sie das Richtige tat. Wenn es ihr gelingen würde, ihren inneren Frieden wiederzufinden, dann hier, an dem Platz, an dem sie geboren und aufgewachsen war und wo die Menschen lebten, die zu ihr gehörten.
Dominik, der neben ihr saß, drückte sacht ihre Hand. Er verstand, was sie fühlte, und er war froh, sie bei sich zu haben. In den vergangenen Monaten hatten die Eltern manche Nacht schlaflos verbracht in der unaussprechlichen Angst, nach dem Enkelkind auch noch die Tochter zu verlieren. Sie wussten, wie schlimm es um Anna gestanden hatte. Und sie waren umso dankbarer, dass sie nun Anstalten machte, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen.
Der Berghof der Hubers lag gut hundert Höhenmeter oberhalb von Hohenkirchen. Man erreichte das Anwesen über eine schmale, serpentinenreiche Bergstraße. Einer der Vorfahren hatte einst einen Steig in den Berg gebaut, der lange die einzige Verbindung zum Tal gewesen war. Doch seit etwa zwanzig Jahren gab es die Straße.
Peter steuerte den Kombi sicher hinauf. Und als er in den Wirtschaftshof fuhr, wurde gleich die Haustür geöffnet, und Franziska Huber eilte nach draußen. Sie sah Anna sehr ähnlich; mit dem blonden Haar und der schlanken Figur hätte man die beiden glatt für Schwestern halten können.
Die Bäuerin schloss Anna fest in die Arme und murmelte erleichtert: »Ich bin ja so froh, dass du da bist, mein Kind! Jetzt wird alles gut, dafür sorgen wir. Du wirst sehen, bald bist du hier wieder ganz daheim.«
»Ich dank dir, Mama.« Anna war ganz gerührt von dem herzlichen Empfang. Als sie dann zusammen mit ihrer Mutter ins Haus ging, erschien auch Christa.
Sie reichte der Schwester die Hand und murmelte kühl: »Da bist du ja. Das Essen ist gleich fertig.«
»Kann ich was helfen?« Anna folgte der Schwester in die Küche und begrüßte die beiden Mägde, die Christa dort zur Hand gingen.
»Ich wüsste net, was. Magst du net deine neuen Stuben in Augenschein nehmen?«
»Sicher. Der Peter hat mir erzählt, was dort alles verändert worden ist. Ich freu mich natürlich darüber, aber ihr hättet euch net so viel Arbeit machen sollen.«
»Das sag mal dem Peter«, stichelte Christa spitz. »Er war ganz narrisch darauf, es dir hier so nett wie irgend möglich zu machen.« Sie hob die Schultern, und ihre rehbraunen Augen funkelten die Schwester biestig an. »So ist er nun mal, mein Mann. Allerweil will er es jedem recht machen.«
Anna sagte nichts, sie mochte nicht gleich mit ihrer Schwester streiten, auch wenn diese es offensichtlich sofort wieder darauf anlegte. Schließlich hatten sie ihre Kindheit streitend verbracht. Anna meinte, es sei an der Zeit, auch in dieser Beziehung erwachsen zu werden. Christa schien da allerdings anderer Meinung zu sein.
Die Eltern und Peter warteten bereits in den renovierten und neu eingerichteten Stuben auf Anna. Sie schaute sich mit großen Augen um und bewunderte aus ehrlichem Herzen das Ergebnis.
Peter hatte die Wände in ihrem ehemaligen Mädchenzimmer vertäfelt, die Einrichtung mit Kiefernmöbeln machte das Ganze noch gemütlicher und wohnlicher. Nebenan war ein kleines Bad eingebaut worden. Und Christas früheres Kinderzimmer sollte Anna nun als Schlafzimmer dienen. Sie war ganz überwältigt.
»Ich dank euch von Herzen«, murmelte sie bewegt. »Hier werde ich mich gewiss sehr wohlfühlen.«
»So soll es auch sein.« Franziska warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, der andeutete: »Wir haben ja im Gesindehaus auch noch freie Stuben. Wenn du dran denkst, dich vielleicht hier wieder selbstständig zu machen …«
Christa, die die ganze Zeit mit verkniffener Miene in der offenen Tür gestanden hatte, machte nun auf dem Absatz kehrt und eilte davon. Peter entschuldigte sich kurz und folgte ihr.
»Ich weiß noch net, wie es für mich beruflich weitergehen wird«, gab Anna ihren Eltern gegenüber offen zu. »Vielleicht werde ich fürs Erste einfach freiberuflich arbeiten. Ich kenn ja die Ärzte hier in der Gegend. Das ginge schon. Aber Pläne mach ich noch keine. Trotzdem dank schön für das Angebot, das ist lieb gemeint und freut mich.«
»Wir wollen halt, dass es dir bald wieder besser geht«, versicherte die Bäuerin. »Und dazu gehört auch ein sauberer Schnitt, was die Ehe angeht, net wahr?«
Die junge Frau nickte, sie wusste, was ihre Mutter meinte.
»Die Scheidung wird in absehbarer Zeit verhandelt. Wir müssen halt noch das Trennungsjahr abwarten. Aber mein Anwalt meint, es ist dann nur eine Formsache. Der Robert und ich sind uns einig und haben auch keine gegenseitigen Ansprüche.«
»Die hast du gewiss, Tschapperl. Aber die lassen sich net mit Geld bezahlen«, brummte ihr Vater bekümmert.
Anna lächelte ihm tapfer zu. Sie wusste das Mitgefühl zu schätzen, das die Eltern ihr so offen entgegenbrachten. Es zeigte ihr, dass sie verstanden, wie sie sich fühlte. Und in diesem Verständnis lag für Anna sehr viel Trost.
»Wir sollten jetzt essen, es gibt einen herzhaften Schweinsbraten mit Knödeln und Blaukraut«, ließ die Mutter sich vernehmen. »Und hernach ein Stück frisch gebackenen Strudel, wie du ihn gerne magst.«
»Mei, Mama, das ist ja ein richtiges Festessen«, wunderte Anna sich. »Ihr habt euch viel zu viel Mühe gegeben. Schließlich ist es kein fröhlicher Anlass, der mich heimführt.«
»Trotzdem sollst du wissen, wie froh wir sind, dich wieder bei uns zu haben«, betonte die Mutter. »Wir sind eine Familie und gehören zusammen. Und wir wollen uns alle bemühen, dir nach Kräften beizustehen. Du hast eine schwere Zeit hinter dir, die noch längst net vorbei ist. Aber hier bist du daheim, und das sollst du auch spüren.«
»Das hast du schön gesagt, Franzi«, lobte der Bauer seine Frau. »Ich hätt’s net besser ausdrücken können. Aber jetzt sollten wir wirklich essen, sonst wird die Christa bös.«
»Sie ist eine tüchtige Jungbäuerin, deine Schwester, hat alles im Griff. Nur ein bisserl zu verbissen ist sie, will allerweil perfekt sein.«
»Ja, so war sie immer schon.« Anna lächelte versöhnlich. »Wir werden uns wieder zusammenraufen, an mir soll’s net liegen.«
Als sie dann die Stube verließen, warf der Bauer seiner Frau einen vielsagenden Blick zu, der Anna entging.
Franziska hingegen wusste, was ihr Mann damit andeuten wollte. Freilich war den Bauersleuten das schwierige Verhältnis zwischen den Schwestern nicht fremd. Sie wussten um Christas Ehrgeiz und ihre Gefühle von Neid und Unterlegenheit Anna gegenüber. Auch wenn die Eltern sich stets bemüht hatten, die Schwestern gleich zu behandeln, hatten sie diese Entwicklung doch nicht unterbinden können. Ihr Wunsch, Anna in ihrer schweren Lebenskrise beizustehen, war stärker gewesen als die Bedenken wegen dieser alten Rivalität.
Franziska hoffte ebenso wie ihr Mann, dass Christa über ihren Schatten springen und Anna mit einer gewissen Großherzigkeit begegnen würde. Doch dass dies wirklich geschah, erschien der Mutter nach der kühlen Begrüßung eher unwahrscheinlich.
***
Peter hatte seine rechte Mühe, Christa zu beruhigen. Sie lief wütend in der Diele hin und her und murmelte dabei Verwünschungen vor sich hin. Was immer er sagte, sie ging nicht darauf ein. Schließlich bat er sie streng, sich ein wenig zusammenzunehmen.
Da blieb sie abrupt stehen, musterte ihn verständnislos und fauchte: »Was glaubst du, tue ich hier? Wenn ich mich net die ganze Zeit beherrschen tät, bekämst du was zu hören!«
»Christa, bitte …« Der Jungbauer machte eine versöhnliche Geste. »Die Anna ist deine Schwester und macht eine schwere Zeit durch. Kannst du denn deinen alten Groll net vergessen?«
»Und wie soll ich das, bitt schön, anstellen? Gerade eben hast du es doch wieder erlebt. Kaum ist die Anna hier, schon spielt sie die erste Geige. Der Vater will ihr gleich das Gesindehaus als Praxis umbauen, pah!« Sie stemmte die Hände in die Hüften und blitzte ihre bessere Hälfte kampflustig an. »Und was kommt dann als Nächstes? Wart es nur ab, bald sind wir nimmer Herr auf dem eigenen Hof. Dann hat mein liebes Schwesterlein zu bestimmen, und wir alle müssen nach ihrer Pfeife tanzen!«
»Du übertreibst. Außerdem hat dein Vater ihr ja nur was für den Übergang anbieten wollen, um ihr Mut zu machen.«
»Ja, freilich!« Christa lachte verächtlich auf. »Genauso für den Übergang wie die neu herausgeputzten Stuben dort droben, gelt? Willst du mir im Ernst erzählen, dass die Anna da nur für ein paar Wochen bleibt? Die residiert ab sofort wieder daheim. Und nix und niemand wird sie von hier vertreiben. Aber was aus uns wird, das steht in den Sternen.«
»Was redest du denn da? Ich versteh net, worauf du hinauswillst«, beschwerte Peter sich ungehalten. »Ist deine Schwester vielleicht eine Bäuerin?«
»Das zwar net, aber wenn es ihr in den Kopf kommt, dann heiratet sie einen Jungbauern. Und dann gucken wir in den Mond, dass du es nur weißt!«
»Also ich glaub net, dass deine Schwester in nächster Zeit ans Heiraten denkt. Sie ist ja noch net einmal vom Robert geschieden. Du siehst das alles falsch, Schatzerl, glaub mir. Die Anna braucht Ruhe und Unterstützung, deshalb ist sie heimgekommen. Sie führt gewiss nix Arges im Schilde.«
»Ja, ja, du Schaf. Wir werden sehen, wer am Ende recht behält!« Sie warf den Kopf in den Nacken und verschwand in der Küche, als sie die Eltern und ihre Schwester kommen hörte.
Peter seufzte leise. Ihm war klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, schließlich kannte er seine Frau ganz genau. Er wusste um ihren lebenslangen Neid und ihre Eifersucht auf die vermeintliche Vorrangstellung ihrer Schwester.
Peter war bewusst, dass das meiste davon Christas Fantasie entsprang. Sie wollte gern im Mittelpunkt stehen, traute sich aber nicht. Dass Anna so ganz anders war, machte sie ihr heimlich zum Vorwurf.
Im Grunde hätten die Schwestern stets gut miteinander auskommen können, wenn Christa die Jüngere einmal objektiv betrachteten würde. Anna hatte sich immer bemüht, mit ihr auszukommen, es ihr recht zu machen. Aber das wollte Christa nicht sehen!
Jedenfalls war es früher so gewesen. Nun, da die zwei erwachsen waren, hatten sie vielleicht die Chance, dies zu ändern. Peter hoffte es zumindest, um des lieben Friedens willen …
Beim gemeinsamen Mittagsmahl gab Christa sich zurückhaltend. Sie verkniff sich ihre üblichen Spitzen Anna gegenüber und beschränkte sich lieber auf vielsagende Blicke.
Als die Schwester dann aber in der Küche erschien und helfen wollte, wurde Christa deutlich.
»Du bist doch hier net als Küchenmagd eingestanden. Ich komm schon zurecht, danke. Wir wollen schließlich net vergessen, wer für den Haushalt zuständig ist.«
»Ich hab ja nur helfen wollen«, stellte Anna leicht gereizt klar. »Keine Sorge, ich will dir deinen Haushalt net durcheinanderbringen.«
»Sehr gütig von dir.« Christa bedachte die Schwester mit einem spöttischen Blick und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit.
»Kann ich mich wenigstens hierher setzen? Oder störe ich?«
»Was willst du denn? Du hast schließlich neu hergerichtete Stuben, ganz für dich allein.«
»Christa, wollen wir net einmal offen miteinander reden?«, bot Anna da müde an. »Ich bin net heimgekommen, um mich mit dir zu streiten. Ich dachte, das haben wir endlich hinter uns. Es geht mir schlecht. Ich will mich net bei dir beklagen, du kennst meine Lage. Ich such hier Frieden. Magst du mir den lassen?«
»Ich hab dir nie den Frieden gestohlen. Und von mir aus kannst du bis zur Rente hier wohnen, was geht’s mich an? Aber merk dir eins: Der Peter wird hier der Bauer, und ich werde die Bäuerin, wenn die Eltern in den Austrag gehen. So ist es abgemacht, und dabei bleibt es. Wenn du das beherzigst, dann kommen wir zwei wunderbar miteinander aus.«
»Wieso klingt eigentlich alles, was du zu mir sagst, wie eine Drohung oder ein Vorwurf?« Anna erhob sich und seufzte leise. »Ich geh wohl besser in meine neuen Stuben, will dich net belästigen.«
Auf der Stiege begegnete Peter ihr, er lächelte Anna ein wenig zu und bat sie: »Sei der Christa net bös, sie meint es net so. Sie muss sich nur erst wieder daran gewöhnen, dass ihr zwei unter einem Dach lebt so wie früher.«
»Ist schon recht, Peter, du musst mich net trösten. Ich weiß es leider besser, denn ich kenne deine Frau schon eine ganze Weile länger als du.« Sie erwiderte sein Lächeln bekümmert. »Sie meint jedes Wort genau so, wie sie es sagt.«
***
Am Abend ging Anna noch ein wenig an die frische Luft. Christa hatte sie beim gemeinsamen Nachtmahl geschickt übergangen und es verstanden, das Gespräch ständig an ihr vorbeizulenken. Offenbar genügte es der Schwester nicht, sich als Herrin auf dem elterlichen Hof aufzuspielen, sie hatte nach wie vor ihre Freude daran, ständig Streit und Unfrieden zu provozieren.
Peter konnte ihr leidtun. Er war sehr geduldig, doch Anna war überzeugt, dass Christas ständiges Gezänke auch ihm irgendwann zu viel werden würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Eheleute anfingen zu streiten. Und obwohl dies gewiss nicht Annas Schuld war, hatte sie doch das unangenehme Gefühl, zumindest der Grund für diese Entwicklung zu sein. Sie seufzte leise, blieb stehen und schaute sich mit offenen Augen um.
Der schmale Steig, der hinter dem Haus bergan führte, endete an einem Aussichtspunkt. Von hier aus hatte man einen herrlichen Rundblick über das Tal von Hohenkirchen. Im Westen hinter dem Geißenkopf war eben die Sonne untergegangen, hatte nur einen goldenen Widerschein am Himmel hinterlassen, der nun allmählich zu einem rauchigen, bläulichen Grau verblasste. Die Luft war frisch, und auf dem Gipfel des Geißenkopfs lag noch Schnee. Im Osten zog ein Bergadler seine weite Bahn. Die Lichter von Hohenkirchen schimmerten durch die steigende Dämmerung zu Anna hinauf. Anheimelnd und friedlich war dies.
Wie oft hatte sie schon hier oben auf der Bank gesessen und ins Tal geblickt. Ein Gefühl der Ruhe und Gelassenheit überkam sie bei diesem Anblick. Es war Heimat, und es war gut.
Doch schon auf dem Rückweg zum Hof überfielen sie wieder die schweren Gedanken. Am nächsten Tag hatte sie einen Termin bei ihrem Anwalt. Einige Dinge waren vor der Scheidung noch zu besprechen. Und Ende der Woche würde sie ihren Psychologen besuchen. Sie hatte ihm versprochen, sich bald nach ihrem Umzug zu melden. Er wollte sichergehen, dass dieser Schritt ihr tatsächlich half, nicht schadete.
Als der Berghof nun in Sichtweite kam, fragte Anna sich offen, ob sie tatsächlich das Richtige getan hatte. Dachte sie dabei nur an sich, dann konnte sie diese Frage ohne Zögern bejahen. Sie spürte bereits am ersten Tag, wie wohl es ihr tat, daheim zu sein, in der Geborgenheit ihrer Familie. Doch ihre Rückkehr war nicht unproblematisch. Sie durfte Christas missgünstige Haltung unter keinen Umständen unterschätzen. Die Schwester hatte schon in ihrer Kindheit immer wieder versucht, ihr aus Neid zu schaden.
Freilich war das jetzt etwas anderes. Anna hatte ihr Kind verloren, ihre Ehe war zerbrochen, ihr Leben ein Trümmerhaufen. Gewiss würde Christa nicht absichtlich versuchen, ihr etwas anzutun. Doch das lebenslange Gefühl der Unterlegenheit konnte stärker sein als Sinn und Verstand.
Was würde Anna also ihrem Psychologen antworten, wenn er sie fragte, ob ihr die Heimkehr guttat? Eine eindeutige Antwort darauf konnte sie nicht finden, jedenfalls nicht an diesem ersten Abend daheim …
Die Eltern saßen beisammen in der guten Stube, als Anna das Haus betrat. Franziska bat ihre Jüngere, sich noch eine Weile zu ihnen zu gesellen, und Anna sagte nicht Nein. Als der Vater ihr ein Glas Wein anbot, lehnte sie aber ab.
»Ich hab es mir ganz abgewöhnt, Alkohol zu trinken«, erklärte sie. »Als ich die Antidepressiva hab einnehmen müssen, war das verboten. Und jetzt mag ich es nimmer.«
»Die Pillen brauchst du aber auch net, oder?«, forschte der Bauer, dem das ein wenig unheimlich war. Er hatte gelesen, dass solche Medikamente abhängig machen konnten, und sich seither um die Gesundheit seiner Tochter gesorgt.
»Ich hab sie nur am Anfang einnehmen müssen, als es mir so schlecht ging. Der Dr. Bauer setzt mehr auf Gespräche als auf Pillen.« Anna lächelte verloren. »Das ist sehr viel schmerzhafter, aber es hilft auf die Dauer.«
Die Bäuerin drückte ihrer Tochter liebevoll die Hand und lächelte ihr mitfühlend zu. »Du kannst auch mit uns über alles reden, was dich bedrückt. Dafür sind wir schließlich da.«
»Ich dank dir, Mama.« Die junge Frau seufzte. »Morgen muss ich zum Anwalt, da sind vor der Scheidung noch ein paar Dinge zu besprechen. Nix Unangenehmes. Aber es erinnert mich halt wieder an das, was ich noch vor mir hab. Die Trennung war eines, die Scheidung ist aber ganz was anderes. Sie ist endgültig.«
Franziska wechselte einen beredten Blick mit ihrem Mann und fragte ihre Tochter dann: »Bist du denn net sicher? Ich mein, hast du deine Meinung geändert? Als du die Scheidung eingereicht hast, da wolltest du doch einen Schlussstrich ziehen. War das vielleicht eine übereilte Entscheidung?«
Anna musste nicht lange überlegen. »Gewiss net. Schließlich haben wir ein Jahr lang versucht, unser gemeinsames Leben fortzusetzen. Aber es ging net. Die Schuld stand zwischen uns.« Sie senkte den Blick und wischte sich flüchtig über die Augen. Ihre Stimme war nicht fest, als sie bekannte: »Ich hab es dem Robert nicht verzeihen können, dass das passiert ist. Seine Unbesonnenheit, seine sprunghafte Art, das hab ich ja alles gekannt. Aber es ist doch was anderes, ob man zu einem Termin zu spät kommt und mal ein Treffen vergisst oder ob es einem wichtiger ist, mit irgendwelchen dahergelaufenen Kerlen zu saufen, statt sich um die eigene Tochter zu kümmern.«
Die Eltern schauten sich betroffen an, Dominik war sicher: »Du machst es schon recht, Madel. Wenn man sich auf den Menschen, der einem am nächsten steht, net verlassen kann, das ist das Ärgste. Das geht auf die Dauer einfach nicht.«
»Ich dank dir für dein Verständnis, Vater.« Anna schaute die Eltern aufmerksam an. »Aber vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn ich net heimgekommen wäre. Ich hab das Gefühl, dass die Christa mich nimmer gern hier sieht. Und ich muss mein Leben schließlich selbst wieder in den Griff kriegen.«
»Die Christa ist manchmal ein bisserl launisch und übereifrig, das darfst du net ernst nehmen«, versicherte der Vater ihr mit Nachdruck. »Aber auf eines kannst du dich trotzdem fest verlassen: Hier auf dem Hof sind alle für dich da. Du bist bei uns daheim, und wir sind froh, dich bei uns zu haben.«
»Und wenn du magst, begleite ich dich morgen zum Anwalt«, bot die Mutter gleich noch an.
»Nein, das musst du net. Trotzdem danke. Es ist schön, wieder bei euch zu sein. Dann gute Nacht.«
Nachdem Anna die gute Stube verlassen hatte, seufzte die Bäuerin vernehmlich auf. »Das Madel hat noch einen weiten Weg vor sich. Was geschehen ist, kann man net so einfach abhaken und zur Tagesordnung übergehen. Ich hoffe, die Anna ist stark genug, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre in ihrer Lage, mei, ich weiß nicht, ob ich den Mut und die Kraft hätte, es anzupacken.«
»Wir stehen hinter ihr, das weiß sie. Gewiss wird das helfen. Aber rede auch noch einmal mit der Christa. Ich dulde es nicht, dass sie ihre Schwester ärgert. Der Anna geht es schlecht genug. Sie muss hier bei uns zur Ruhe kommen und einen Frieden finden.«
»Die Christa tut versöhnlich«, sinnierte Franziska. »Aber wie es ihr wirklich ums Herz ist, das kann ich net sagen. Bei dem Madel war ich da nie so recht sicher. Ich hoff, der Peter wird einen guten Einfluss auf sie ausüben. Er hat ein Herz aus Gold.«
»Aber leider ist er seiner Frau gegenüber die Nachsicht in Person …«, seufzte der Bauer.
***
In den nun folgenden Wochen lebte Anna Kramer sich wieder ganz auf dem elterlichen Hof ein. Sie fühlte sich wohl, auch wenn ihre Schwester das Stänkern nicht sein lassen konnte.
Christas Attacken erschienen Anna jedoch lächerlich im Vergleich zu ihren anderen Sorgen. Die Therapie bei Dr. Bauer war in eine Phase getreten, die der jungen Frau Albträume bescherte. Fast jede Nacht träumte Anna nun wieder von dem Tag, an dem ihre kleine Tochter in den Tod gestürzt war. Sie schlief unruhig, schreckte oft auf und fühlte sich am Morgen ganz zerschlagen.
Die Erinnerungen an das letzte, quälende Jahr ihrer Ehe drehten sich wie ein schweres Mühlrad in ihrem Kopf, und nichts schien dieses stoppen zu können.
Die Bäuerin nahm sich Zeit, suchte immer wieder das Gespräch mit ihrer Tochter. Doch Anna spürte irgendwann, dass sie alles, was sie belastete, schon viel zu oft ausgesprochen hatte. Es brachte keine Erleichterung mehr, es vergrößerte nur ihre innere Qual.
Noch immer war kein Scheidungstermin festgesetzt worden. Robert schien auf eine Verzögerungstaktik zu setzen, obwohl Anna darin keinen Sinn erkennen konnte. Bei der Trennung waren sie sich schließlich einig gewesen, dass es für sie keine gemeinsame Zukunft mehr geben konnte. Als ihr Anwalt ihr zu einem Gespräch mit ihrem Mann riet, lehnte sie aber ab. Sie wollte Robert nicht mehr sehen, es ging ihr schlecht genug.
Beruflich fasste Anna allmählich wieder Fuß. Sie arbeitete frei für die Ärzte der Region, und weil sie einen guten Ruf als Physiotherapeutin hatte, wurde sie auch oft beschäftigt. Der Beruf machte ihr nach wie vor Spaß und gab ihr zumindest ein klein wenig Lebensfreude zurück.
Als Anna an diesem sonnigen Nachmittag im April von einem Termin in Mittenwald zurückkam, hörte sie Christa und Peter im Arbeitszimmer streiten. Die Tür war nur angelehnt, so verstand sie jedes Wort, das drinnen gesprochen wurde.
»Dir scheint dieser Zustand ja sehr zu gefallen!«, warf Christa ihrem Mann gerade erbost vor. »Bei jeder Mahlzeit schäkerst du mit meiner Schwester herum, als existierte ich überhaupt net. Du brauchst es gar nicht abzustreiten, ich hab schließlich Augen im Kopf. Gib es halt zu, dass die Anna dir besser gefällt. Es ist keine Schande.« Sie lachte bitter auf. »Sie gefällt allen besser. Das war schon immer so.«
»Du redest einen ausgemachten Schmarren daher«, erwiderte Peter ärgerlich. »Ich hab dich geheiratet, weil ich dich lieb hab. Deine Schwester ist meine Schwägerin. Und ich bin nett zu ihr, weil es ihr schlecht geht. Würdest du sie dir mal genauer anschauen, dann wäre dir das schon lange aufgefallen. Aber du bist ja wie besessen von diesem depperten Neid!«
»Ich weiß, was ich weiß«, beharrte Christa verbissen. »Seit die Anna hier ist, hast du nur Augen für sie. Und mit mir streitest du.« Ihre Stimme bekam einen weinerlichen Ton. »Gib es wenigstens zu, sei so ehrlich, es mir ins Gesicht zu sagen. Ich weiß selbst, dass die Anna schöner ist als ich.«
Peter stöhnte entnervt. »Darum geht es doch net! Wir zwei gehören zusammen. Was muss ich eigentlich noch tun, um dir das zu beweisen? Oder willst du es nicht glauben? Magst du dich immer weiter in deinem Selbstmitleid und deinen überflüssigen Minderwertigkeitskomplexen suhlen?«
Anna senkte den Blick und ging hinüber in die Küche. Die Mutter war damit beschäftigt, das Abendessen zu richten, und lächelte ihr herzlich zu.
»Da bist du ja wieder, Tschapperl. Alles in Ordnung?«
»Bei mir schon. Aber drüben ist dicke Luft.« Anna setzte sich an die Eckbank und dankte einer Magd, die ihr ein Haferl Kaffee einschenkte. »Ich fürchte, das ist meine Schuld.«
»Unsinn. Die Christa und der Peter streiten öfter. Du weißt doch, dass deine Schwester kein einfacher Mensch ist. Auch wenn ihr Mann eine wahre Engelsgeduld hat, manchmal platzt selbst ihm der Kragen. Und dann kracht es halt.«
»Ich weiß net, Mama. Ich möchte einfach nicht, dass die zwei sich ständig meinetwegen in den Haaren liegen. Der Dr. Schubert aus Mittenwald hat mir heut erzählt, dass eine Kollegin noch jemanden für ihre Praxis sucht. Vielleicht sollte ich …«
»Ist es dazu nicht viel zu früh? Oder traust du dir das tatsächlich schon wieder zu? Anna, ich will dir nix einreden, aber ich glaub net, dass du schon wieder auf eigenen Füßen stehen kannst. Mit all den Altlasten ist das zu schwer. Bleib halt noch hier, lass dir Zeit. Und wenn ich es mal deutlich sagen soll: Kümmere dich net um die Christa und den Peter. Deren Ehe geht dich nix an, die zwei müssen selbst zurechtkommen. Du hast schließlich mit deinen eigenen Problemen mehr als genug zu tun. Oder ist es net so?«
Die junge Frau seufzte leise und nickte. »Ja, Mama, das stimmt schon. Ich möchte nur keinem zur Last fallen.«
»Das tust du net«, versicherte die Mutter und dachte dabei: Ich werde doch noch mal ein ernstes Wort mit Christa reden müssen. Das sollte allerdings nicht mehr nötig werden, denn schon am nächsten Tag geschah etwas, das die Lage auf dem Berghof grundlegend änderte …
***
Anna hatte am nächsten Vormittag einen Termin in Mittenwald und später noch eine Behandlung bei einem Bauern in Hohenkirchen, der sich von einer Bandscheiben-OP erholte.
Um die Mittagszeit war sie fertig, fuhr aber noch nicht heim, sondern steuerte vorher den Kramladen an. Ihre Mutter hatte sie am Morgen gebeten, ein paar Dinge, die fehlten, mitzubringen. Die Bäuerin wollte einen Mohnkuchen backen, hatte aber nicht alle Zutaten beisammen.
Als Anna das kleine Geschäft am Marktplatz betrat, musste sie wieder an Christas unwilligen Blick denken. Die Schwester gab sich Mühe, sie von allem fernzuhalten, was den Haushalt betraf. Dass Anna nun etwas für die Mutter einholte, ging ihr gegen den Strich. Anna war darüber hinweggegangen, darin hatte sie mittlerweile Übung.
Hildegard Semmler führte den Kramladen in Hohenkirchen schon, solange Anna denken konnte. Die stabile, stets gut gelaunte Frau mit den roten Bäckchen und dem strohblonden, welligen Haar hatte es sich nie nehmen lassen, ihr als Schulmadel hin und wieder einen Lutscher oder ein paar Guterln zuzustecken, wenn sie etwas einholen musste.
Mittlerweile war Hildegards strohblondes Haar eisgrau geworden, aber immer noch ebenso widerspenstig wie früher. Sie lächelte Anna herzlich zu, drückte ihr die Hand und versicherte: »Ich freu mich, dich zu sehen, Madel. Mein Beileid zu deinem Verlust.« Sie wurde ernst. »Es ist das Ärgste, ein Kindl zu verlieren. Ich selbst hab ja nie welche gehabt, aber ich kann’s dir nachfühlen.«
»Ich dank dir, Hildegard. Gibst du mir bitt schön die Sachen, die auf dem Zettel stehen? Die Mama wartet darauf.«
»Ja, gewiss, wie in alten Zeiten.« Die Krämerin lächelte schon wieder. »Aber einen Lutscher wirst nimmer wollen, oder?«
Anna musste schmunzeln. In diesem Moment betrat eine weitere Kundin den Laden.
Hildegard Semmler rief freundlich: »Bin gleich bei dir, Baumgartnerin. Da, schau, wer wieder in Hohenkirchen ist!« Sie drehte sich zu ihren Regalen, um Annas Artikel herauszusuchen, während diese Veronika Baumgartner begrüßte.
»Anna, ich hab schon gehört, dass du wieder hier bist. Es tut mir sehr leid, was geschehen ist. Aber gut schaust du aus. Hast dich gewiss schon wieder daheim eingelebt, gelt?« Die Bäuerin hielt Annas Hände fest und musterte sie aufmerksam.
Die junge Frau lächelte ein wenig. »Ja, es ist schön, wieder daheim zu sein«, bekräftigte sie. »Und wie geht es bei euch? Ist alles gesund und munter?« Sie wunderte sich, als ein Schatten über das mütterlich freundliche Gesicht der Bäuerin fiel und diese ihr nur eine ausweichende Antwort gab.
»Es geht. Sag, Anna, arbeitest du denn noch in deinem Beruf? Oder hilfst du daheim auf dem Hof?«
»Da gibt es net viel zu helfen, die Christa hat alles im Griff. Ich hab zwar keine eigene Praxis im Moment, aber ich mache Hausbesuche. Die Ärzte hier im Kreis kennen mich ja. Es ist mal was Neues, der Beruf macht mir nach wie vor Spaß, trotz allem. Eine Bäuerin bin ich nie gewesen.«
»Das ist gut.« Veronika deutete auf die Krämerin, die Anna eine Tüte hinhielt. Sie reichte Hildegard ihre Einkaufsliste und fragte dann spontan: »Magst du mich nachher begleiten? Ich würde gerne etwas mit dir bereden, Anna. Das wäre mir sehr wichtig.«
Die junge Frau wunderte sich darüber, dass die Bäuerin, die sie schon ihr Leben lang kannte, so unsicher und bekümmert auf sie wirkte. Veronika und ihr Mann Sepp bewirtschafteten den schönsten und größten Hof im Tal. Ihr Sohn Oliver war einst Annas bester Freund gewesen. Sie waren zusammen zur Schule gegangen und als Teenager eine Weile sehr verliebt gewesen. Dann hatten sich ihre Wege aber getrennt, denn Oliver sollte den Hof übernehmen und besuchte deshalb die Landwirtschaftsschule.
Anna hatte nur positive Erinnerungen an die Baumgartners. Der Bauer war ein lustiger Vogel, der für sein Leben gern sang und Späße machte. Seine Frau war eine heitere, gelassene Person, nichts auf der Welt schien sie umhauen zu können. Und Oliver war das genaue Ebenbild seiner Eltern, ein lustiger Lausbub, der Anna immer zum Lachen gebracht hatte und mit dem die Zeit nie lang wurde. Dachte sie nun an ihn, dann erschienen ihr die gemeinsamen Jahre wie ein verlorenes Paradies.
Etwas musste geschehen sein, das die Bäuerin so verändert hatte. Als Anna sie nun genauer betrachtete, fiel ihr auch der Leidenszug um ihren Mund auf. Und in ihren früher stets lachenden Augen brütete eine Traurigkeit, die beängstigend war.
»Ich komm gern ein Stückerl mit, Bäuerin, wenn du magst«, stimmte die junge Frau zu und bemerkte, wie ihr Gegenüber erleichtert aufatmete.
Wenig später verließen die beiden unterschiedlichen Frauen dann gemeinsam den Kramladen im Herzen von Hohenkirchen.
Es war ein herrlicher Frühlingstag. Der Himmel spannte sich in reinem, makellosem Blau über das Tal, nur hier und da segelte ein kleines, weißes Schönwetterwölkchen vorbei. Die Sonne hatte schon Kraft. Sie brachte die ersten Frühlingsblumen in Kübeln und Kästen zum Leuchten. Wie frisch geputzt wirkten die schönen Häuser am Marktplatz, und über allem schien eine stille Heiterkeit zu liegen.
Anna schwieg, denn sie wollte Veronika die Gelegenheit geben, in Ruhe über das zu reden, was ihr offensichtlich auf der Seele brannte. Die Bäuerin atmete schwer. Es schien sie sehr mitzunehmen, das, was sie sagen wollte, zu formulieren.
Plötzlich hatte Anna Angst. War es so schlimm, was Veronika bedrückte? Was mochte da nur vorgefallen sein?
»Vor einem Jahr hat der Oliver sich verlobt«, erzählte sie schließlich stockend und mit dumpfer Stimme. »Die Marion war net von hier, sie kam aus Mittenwald. Ein nettes Madel, Arzthelferin war sie, aber praktisch veranlagt. Ich hätte es ihr durchaus zugetraut, eines Tages als Jungbäuerin unseren Haushalt zu führen. Die zwei waren glücklich miteinander, alles schien perfekt zu sein. Dann, ein paar Wochen vor der Hochzeit, hatten sie einen Unfall. Die Straße war glatt, du weißt ja, im letzten Winter hat es noch lange geschneit, bis weit in den Frühling hinein …«
Sie verstummte kurz und räusperte sich, während Annas Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Heißes Mitleid erfüllte sie.
»Der Bub hatte keine Schuld, es war einfach Pech. Die Straße war spiegelglatt, und er hat nix machen können.« Sie schluckte. »Oliver ist schwer verletzt worden bei dem Unfall. Aber für Marion kam jede Hilfe zu spät.«
»Mein Gott, Veronika, wie schrecklich!«
»Ja, es war ein herber Schlag für uns. Aber den Buben hat es zerstört. Ich kann es net anders sagen. Er hat noch mit allerlei Beschwerden zu kämpfen. Er hatte den rechten Arm gebrochen und das linke Bein. Und er hat auch eine Verletzung am Rückgrat. Eine Weile war er gelähmt. Zum Glück hat sich das wieder gegeben. Er hat noch Schmerzen und muss Medikamente nehmen. Und er braucht eine regelmäßige Physiotherapie. Am Anfang hat er das ernst genommen, ist immer nach Mittenwald gefahren, um sich behandeln zu lassen. Aber in letzter Zeit will er davon nix mehr wissen.«
Sie seufzte schwer. »Es ist ja net nur das Körperliche. Er leidet seelisch noch viel mehr. Der Doktor sagt, er fühlt sich schuldig, das hat Depressionen ausgelöst. Dagegen muss er auch Medikamente nehmen. Mei, Anna, es ist arg. Wir haben net nur den Jungbauern auf unbestimmte Zeit verloren, ich mein manchmal, auch den Sohn. Der Oliver ist ein seelisches Wrack. Du würdest ihn kaum wiedererkennen. Er braucht Hilfe. Wir tun alles, was wir können. Aber ich hab allerweil das Gefühl, dass es zu wenig ist.«
Sie blieb stehen und schaute Anna offen an. »Ich weiß, du hast selbst genug Kummer. Es ist vielleicht unverschämt von mir, dich das zu fragen, aber ich würde dich gern als Krankengymnastin anstellen. Net nur für einen Termin hin und wieder. Wenn du Ja sagst, dann musst du zu uns auf den Hof ziehen. Der Bub braucht wirkliche Hilfe, jemanden, der immer greifbar ist. Bis jetzt haben wir keinen finden können, der für diese Aufgabe geeignet gewesen wäre. Aber als du im Kramladen vor mir gestanden hast, da war es mir, als hätte der Himmel dich geschickt.«
Die junge Frau lächelte ein wenig, drückte der Bäuerin die Hand und versicherte: »Der Himmel hat mich gewiss net geschickt, ich hab eher das Gefühl, als hätte ich die Hölle hinter mir. Aber gerade deshalb kann ich nachempfinden, wie es dem Olli ums Herz sein muss.«
»Dann würdest du darüber nachdenken?« Verhaltene Hoffnung sprach aus Veronikas Worten, und zum ersten Mal, seit Anna sie wiedergesehen hatte, leuchteten ihre Augen fast so wie früher. Das gab für die junge Frau den Ausschlag.
»Ich muss net nachdenken, ich würde diese Aufgabe gern übernehmen. Aber vielleicht sollte ich vorher noch mit dem Olli reden. Ich weiß net, ob es ihm überhaupt recht sein wird, wenn ich das mache.«
»Ganz bestimmt ist es ihm recht. Ich sag ihm gleich Bescheid. Komm halt später bei uns vorbei, dann regeln wir alles, ja? Mei, Anna, du weißt gar net, was mir gerade eben für ein Stein vom Herzen gepurzelt ist. Jetzt, da du hier bist, wird gewiss alles wieder gut …«
***
Franziska Huber war da allerdings ganz anderer Meinung.
Als Anna den Eltern von ihrer Begegnung mit Veronika Baumgartner berichtete, schüttelte sie sofort den Kopf und riet ihrer Tochter bestimmt: »Tu das net, Anna, du wirst es bereuen!«
»Aber warum denn, Mama? Der Olli und ich, wir haben uns immer gut verstanden. Und wir haben beide einen schlimmen Schicksalsschlag hinter uns«, hielt sie der Mutter entgegen.
Dominik wiegte den Kopf leicht hin und her, auch seine Miene war skeptisch. »Die Baumgartners haben eine schwere Zeit hinter sich. Der Oliver hat den Unfall net verkraftet. Da ist so allerlei vorgefallen, worüber man nicht gerne spricht. Ich weiß auch nicht so genau, ob es gut ist, wenn du dich da engagierst.«
»Und was spricht dagegen, Vater?«, wollte sie wissen.
»Dieses Madel war ein bisserl leichtlebig. Ein hübsches Ding, aber halt aus der Stadt und net ans Landleben gewöhnt. Die zwei hatten oft Streit, weil sie auch anderen schöne Augen gemacht hat.« Er hob die Schultern, als seine Frau abwehrte. »Aber das stimmt doch. Und die Wahrheit kann man immer sagen. Jedenfalls hat der Oliver in der ersten Zeit nach dem Unfall, als er wieder daheim war, zu viel getrunken. Im Rausch hat er dann erzählt, dass er sich mit seiner Verlobten gestritten hat, als der Unfall passiert ist. Er war abgelenkt, nur deshalb hat er die Kontrolle über das Auto verloren. Und hernach meinte er, das Madel auf dem Gewissen zu haben.«
»Schmarren, es war ein Unfall«, widersprach seine Frau. »Ich mag diesen Klatsch aus dem Wirtshaus net hören. Aber es hat den Oliver innerlich zerrissen. Er ist nimmer der Alte. Grantig ist er, abweisend und zu allen nur gemein, richtig bösartig. Anna, ich weiß, du willst ihm helfen. Aber dir geht es doch selbst nicht gut. Du bist einfach net in der Verfassung, dich so einer Aufgabe zu stellen. Wenn ihr mich fragt, müsste der Bub in eine Anstalt. Irgendwohin, wo man ihm wirklich helfen kann, wo er auch unter ständiger Aufsicht steht.«
Die Bäuerin senkte den Blick. »Er hat mehrere Male versucht, sich das Leben zu nehmen. Ich versteh die Vroni und den Sepp, sie wollen ihren Sohn bei sich haben. Aber sie schaden ihm damit nur. Und du kannst ihm gewiss auch net helfen, Anna.«
Die junge Frau lächelte ironisch. »Wenn ich das so höre, kommt es mir sehr bekannt vor. Nein, Mama, ich kann da net einfach wegsehen. Jetzt, da ich weiß, dass es einem alten Freund dermaßen schlecht geht, will ich versuchen, ihm beizustehen. Wer könnte besser wissen, wie es ihm zumute ist, als ich?«
Anna konnte ihre Eltern nicht überzeugen, die waren nach wie vor der Meinung, dass sie einen Fehler beging. Christa hingegen redete der Schwester sogleich zu, als sie erfuhr, worum es ging. Sie sah endlich eine Möglichkeit, Anna loszuwerden. Und die Schwester begriff recht schnell. Diese Erkenntnis trug mit dazu bei, dass Anna am Abend nach Hohenkirchen fuhr, um den Baumgartners einen Besuch abzustatten …
***
Veronika hatte sie bereits erwartet. Kaum war Anna aus ihrem Auto gestiegen, erschien die Bäuerin bereits in der offenen Haustür und lächelte ihr erleichtert zu.
Sie drückte Anna die Hand und gestand ihr: »Ich hatte Angst, dass du net kommen würdest. Es ist ja schließlich keine leichte Aufgabe, die hier auf dich wartet. Und ich kann mir denken, dass deine Eltern dir abgeraten haben.«
»Wie kommst du denn auf den Gedanken, Bäuerin?«
Sie seufzte. »In Hohenkirchen weiß ein jeder, wie schwer unser Bub diesen Schicksalsschlag nimmt. Und es gibt immer Menschen, die aus einem Unglück auch noch eine Sensation machen müssen. Es wird leider viel geredet …«
Anna musste an das denken, was ihre Mutter »Tratsch aus dem Wirtshaus« genannt hatte. »Ich geb nix auf dummes Gerede«, versicherte sie Veronika deshalb. »Ich möchte schon selbst sehen, woran ich bin. Deshalb bin ich ja auch hier.«
Die Bäuerin warf ihr einen anerkennenden Blick zu und bat: »Komm nur herein, mein Mann und der Oliver sind in der guten Stube, sie wissen Bescheid.«
Anna folgte der Bäuerin ins Haus, wo ihr alles vertraut war. Fast schien es ihr wie ein zweites Heimkommen, als sie durch die breite Diele ging, die Stiege mit dem gewachsten Holzgeländer sah, die hinauf in den ersten Stock führte, die Schusterpalme auf dem ersten Treppenabsatz und das Bild vom heiligen Florian daneben. Es war, als wäre sie zurückgekehrt in eine heilere Vergangenheit.
Dieser Eindruck verflüchtigte sich allerdings rasch, als Anna die gute Stube betrat. Zwar hatte sich auch hier auf den ersten Blick nichts geändert. Die wuchtigen Wohnzimmermöbel aus Hirschleder und Wurzelholz waren noch dieselben, und auch die lange Reihe blühender Primeln und Veilchen auf der Fensterbank – ein Hobby der Bäuerin – verbreitete einen süßen Duft.
Sepp Baumgartner aber schien ein anderer geworden zu sein. Es lag nicht nur daran, dass er älter war. Der lustige Mann mit dem Schalk im Nacken war blass, ein bitterer Zug lag um seinen Mund, der nicht mehr lachte, sondern fest zusammengekniffen war. Seine hellen Augen hatten jede Strahlkraft verloren. Resignation und Kraftlosigkeit lag in diesem Blick, der ihr einst stets lustig zugezwinkert hatte. Betroffen schüttelte Anna dem Bauern die Hand. Er begrüßte sie nur knapp und sackte dann gleich wieder in seinen Sessel zurück. Seine großen Hände, die zupacken und etwas wegschaffen konnten, lagen schlaff im Schoß.
Oliver stand auf, als Anna sich ihm zuwandte. Oberflächlich betrachtet, schien er noch der Alte zu sein. Sein gut geschnittenes Gesicht erinnerte sie an den Lausbuben, mit dem sie als kleines Madel durch dick und dünn gegangen war. Er war reifer geworden, doch das Jungenhafte hatte er nicht ganz verloren, was eine durchaus reizvolle Kombination darstellte. Doch in seinen Augen lag ein Ausdruck, der Anna zutiefst erschreckte. Umso mehr, als er ihr sehr vertraut war.
»Grüß dich, Anna«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Gut schaust du aus. Bist immer noch das fescheste Madel im Tal.«
»Ein Madel bin ich leider nimmer«, erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln. »Aber ich dank dir trotzdem für das nette Kompliment.«
»Die Mama hat dich also überreden können, mich hoffnungslosen Fall zu übernehmen. Ich muss sagen, das wundert mich.«
Sie setzten sich, die junge Frau hob die Schultern. »Ich krieg dich wieder hin, keine Sorge. Ob du es glaubst oder net, in meinem Beruf kann ich nämlich was.«
»Das nehme ich dir unbesehen ab. Allerdings wird es dir trotzdem nicht gelingen, aus mir wieder einen Menschen zu machen. Ich bin nur der Rest, den der Gevatter Hein übersehen hat. Sozusagen ein Fehler der Geschichte.«
Veronika hielt den Atem an. Als sie mit ihrem Sohn darüber gesprochen hatte, Anna zu engagieren, war er nicht unbedingt begeistert gewesen, hatte aber auch nicht gleich abgelehnt. Offenbar versuchte er nun, seine alte Freundin abzuschrecken, um sie zu vergraulen. Dass er keine Hilfe wollte, wusste seine Mutter. Aber sie war nicht gewillt, ihn aufzugeben.
»Die Geschichte … oder sagen wir besser: der liebe Gott macht aber keine Fehler«, hielt Anna ihm ruhig entgegen. Dabei schaute sie in seine Augen, in denen nun der Selbsthass und die Lebensmüdigkeit wie eine helle Flamme brannten.
Es fiel Anna unendlich schwer, diesem Blick standzuhalten. Sie kannte die schrecklichen Gefühle, die Oliver beherrschten, aus ungezählten durchwachten Nächten. Und in diesem Moment spürte sie, dass sie diese Aufgabe unbedingt übernehmen wollte. Nicht nur, weil der Jugendfreund ihr auch heute noch etwas bedeutete, sondern vor allem, weil sie ahnte, dass dadurch auch die Wunden in ihrem Herzen vielleicht endlich anfangen würden zu heilen.
Oliver senkte schließlich den Blick und schwieg. Als Anna seine Mutter ansah, bemerkte sie die Tränen in ihren Augen. Sie lächelte der Bäuerin ein wenig zu und fragte: »Kann ich mir jetzt meine Kammer ansehen? Ich denke, ich sollte mich bald bei euch einrichten. Wir haben offensichtlich keine Zeit zu verlieren, net wahr?«
Veronika erwiderte ihr Lächeln und bat: »Komm mit, Anna, wir wollen überlegen, wo wir dich am besten unterbringen.«
Sie folgte der Bäuerin, nickte dem Bauern zum Abschied zu und suchte auch Olivers Blick. Doch der hielt den Kopf gesenkt und wich ihr aus. Fast hatte sie es so erwartet.
***
»Bist du wirklich sicher, dass du das tun willst?« Franziska Huber musterte ihre Tochter besorgt. »Musst du denn gleich ins Tal ziehen? Bleib doch zuerst noch hier und sieh zu, ob dir diese Aufgabe überhaupt zusagt. Bitte, Anna, denk noch mal drüber nach. Ich sag dir, du machst einen Fehler!«
»Mache ich net, Mama. Es ist besser so. Besser für alle.«
»Gehst du zu den Baumgartners, weil du dem Oliver helfen willst oder weil du der Christa lieber aus dem Weg gehst?«
»Mama, bitte …«
»Jetzt sei ehrlich. Ich mach mir Sorgen um dich. Du weißt doch selbst am besten, was hinter dir liegt. Und ich kann einfach net glauben, dass du dieser Sache gewachsen bist.«
Anna setzte sich aufs Bett neben die gepackte Reisetasche und machte ein ernstes Gesicht. »Mama, schau, ich geh da net blind hin. Ich hab mir schon auch meine Gedanken gemacht. Freilich möchte ich dem Olli helfen. Aber ich glaube, ich helfe damit auch mir selbst. Es wird mir guttun, für jemanden ganz da zu sein. Mein eigener Kummer ist dann nimmer das Wichtigste.«
Franziska seufzte leise und bekümmert auf. »Wenn du dich da nur net täuschst. Was du tust, das nennt man Verdrängen.«
»Vielleicht. Aber im Moment fühlt sich das richtig an. Ich möchte es zumindest versuchen. Und wenn es net klappt, dann muss ich das wohl auch hinnehmen.«
Wenig später verließ Anna den Berghof. Christa stand in der Küche hinter dem Fenster und schaute ihr mit einem zufriedenen Lächeln hinterher. Sie schrak leicht zusammen, als ihr Mann den Raum betrat und fragte: »Bist du jetzt glücklich?«
Die Jungbäuerin wandte sich nur langsam vom Fenster ab und murrte: »Was willst du hören? Dass ich die Anna vermissen werde? Das gewiss net!«
»Freilich nicht, du hast schließlich alles darangesetzt, sie von hier zu vertreiben.«
Christa blitzte Peter ärgerlich an. »Was unterstellst du mir da eigentlich? Du scheinst sie bereits zu vermissen.«
Er schüttelte unwirsch den Kopf. »Wenn man mit dir nur einmal im Leben ein vernünftiges Worte reden könnte …« Damit verließ er das Haus und schlug die Haustür ärgerlich hinter sich zu. Christas bohrender Blick folgte ihm über den Wirtschaftshof. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Peter sich ständig auf Annas Seite stellte. War er vielleicht heimlich in sie verliebt? Nur gut, dass sie den Hof endlich verlassen hatte!
»Ich nehme dir das übel, Christa«, ließ sich da die Mutter vernehmen. Sie betrat die Küche, ging zum Herd und kümmerte sich um das Mittagessen.
»Was denn, Mama? Ist was angebrannt?«, fragte sie harmlos.
»Du weißt genau, wovon ich red. Du hast alles darangesetzt, deine Schwester von hier zu vertreiben. Bloß deshalb stürzt sie sich jetzt in diese unsinnige Sache, die nur schlecht ausgehen kann.«
»Aber es war doch ihre Entscheidung …« Christa wurde blass und fuhr mit unterdrücktem Zorn fort: »Schließlich habt ihr alles dazu getan, es ihr hier schön zu machen. So was hätte ich mal erleben wollen …«
Franziska musterte ihre Ältere streng. »Ich kann nur hoffen, dass du net meinst, was du sagst. Denn dann müsste ich annehmen, dass du kein Herz hast, Madel.«