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Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!
Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.
Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Alpengold 194: Ein Neuanfang für Marie
Bergkristall 275: Dein Lächeln schließt den Himmel auf
Der Bergdoktor 1745: Danke, dass du bei uns bist!
Der Bergdoktor 1746: Sprachlos in ihrem Schmerz
Das Berghotel 131: Die Tür zu einer verborgenen Wahrheit
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 628
Sissi Merz, Nora Stern, Andreas Kufsteiner, Verena Kufsteiner
Heimat-Roman Treueband 36
Cover
Impressum
Ein Neuanfang für Marie
Vorschau
Ein Neuanfang für Marie
Wie ein tapferes Madel sich das Glück erkämpfte
Von Sissi Merz
Für die junge Hallhuber-Marie ist der charmante Christian Leitner der Bursch, auf den sie immer gewartet hat – egal, was die Leute über ihn sagen! Auch wenn er bisher keinem hübschen Madel widerstehen konnte, so hat er ihr nun ewige Treue geschworen. Und so stimmt Marie überglücklich zu, als Christian sie bittet, seine Frau zu werden.
Doch am Abend vor der Verlobung werden Marie schmerzlich die Augen geöffnet: Sie überrascht Christian in flagranti mit einer anderen! Zutiefst gedemütigt und bis ins Mark verletzt, löst Marie die Verlobung. Aber sie hofft vergeblich auf den Beistand ihres Vaters – im Gegenteil: Als der alte Hallhuber trotz Christians Betrug auf einer Hochzeit der beiden besteht, erkennt Marie schweren Herzens, dass sie Abschied nehmen muss: vom Hallhuber-Hof, dem Tal ihrer Kindheit und allem, was ihr lieb und teuer ist.
Doch kann sie in der Fremde wirklich glücklich werden?
Bernd Hallhuber blickte schweigend aus dem Stallfenster.
Es war Abend geworden, der klare Maihimmel bezog sich allmählich mit dem matten Grau der Dämmerung, und die Schatten wurden länger. Drei Wildenten flogen über den Wirtschaftshof in Richtung Hintersee.
Der Bauer dachte daran, wie er als Bub im Sommer oft dort schwimmen war, meist zusammen mit seiner Schwester Marie. Ihr blondes Haar hatte im Sonnenlicht geschimmert wie Gold, und sie hatte fröhlich gelacht. Damals, als sie noch Kinder gewesen waren und die Welt ihnen groß und schön erschienen war …
»Bauer, schau, die Milch ist nimmer flockig.« Loisl, der Großknecht vom Hallhuber-Hof, trat neben den hochgewachsenen, kräftigen Burschen mit dem flachsblonden Haar und hielt ihm eine Edelstahlkanne unter die Nase. »Der Viehdoktor hat gesagt, wenn die Flocken weg sind, kann die Kuh normal gemolken werden.«
»Ist schon recht«, erwiderte der Bauer müde.
Loisl musterte Bernd Hallhuber fragend. Er war ein eher schmächtiger Kerl, der aber für zwei schaffen konnte. Wenn er den Bauern anschaute, musste er immer blinzeln, weil er den Kopf verdrehte und nach oben blickte. »Stimmt was net?«
Bernd lächelte schmal. »Alles wie immer. Kümmere dich um die Kuh, es ist bald Zeit fürs Abendbrot.«
Der Bauer verließ den Stall. Loisl schaute ihm kurz hinterher, dann ging er wieder an seine Arbeit. Es war schon ein rechtes Kreuz mit dem jungen Bauern. Ein Kerl wie ein Baum, fleißig und klug, und doch hatte er keinen frohen Tag auf dem Erbhof.
Das lag ganz sicher nicht an ihm, denn Loisl kannte keinen Menschen auf Gottes weiter Erde, der es geschafft hätte, mit Bernd Hallhuber Streit anzufangen. Der war nämlich der friedlichste und freundlichste Charakter, den man sich nur denken konnte. Das gute Gemüt hatte er von seiner Mutter selig geerbt. Vom Vater gewiss nicht.
Loisl grinste schief. Franz Hallhuber war ganz sicher keine freundliche Seele. Er war das genaue Gegenteil.
Der Großknecht vom Erbhof in Wolfenstein, einem Flecken, idyllisch im Berchtesgadener Land gelegen, musste es wissen. Schließlich arbeitete er schon an die zwanzig Jahre für den Hallhuber. Darin hielt er den Rekord, denn für gewöhnlich blieb keiner der Angestellten sehr lange auf dem Hof. Der Altbauer war ein Tyrann und Leuteschinder. Überall sah er Faulheit und Verschwendung. Er ging schon mal einen Knecht an, weil der zehn Minuten zu lange für seine Brotzeit gebraucht hatte.
Loisl hatte in den vergangenen beiden Jahrzehnten unzählige solcher Vorfälle miterlebt. Franz Hallhuber war eine imposante Erscheinung, groß und kräftig, mit einer tiefen, weit dröhnenden Stimme, die allein schon einschüchtern konnte.
Früher, als die Bäuerin noch gelebt hatte, da war er etwas »zahmer« gewesen, denn Ursula Hallhuber hatte es verstanden, seinen Feuerkopf abzukühlen. Sie war eine schöne, sanfte Frau gewesen, das genaue Gegenteil zu ihrem cholerischen Heißsporn. Vielleicht hatten die beiden sich deshalb seinerzeit ineinander verschaut.
Wirklich glücklich war die Ehe aber wohl nicht gewesen. Mit den Jahren war das auffahrende Temperament des Bauern immer stärker durchgebrochen. Und seit die Bäuerin nicht mehr da war, konnte ihn niemand mehr bremsen in seiner giftigen Knurrigkeit und seinem unerträglichen Grant.
Einzig Marie, Bernds Schwester, hatte noch einen gewissen Einfluss auf den Altbauern. Das mochte daran liegen, dass sie ihrer Mutter so ähnlich war, äußerlich wie auch im Wesen.
Bernd aber hatte sehr unter seinem Vater zu leiden. Franz nahm den Burschen nicht für voll, machte sich über ihn lustig und bedachte ihn regelmäßig mit Schimpfworten, von denen »Depp« und »Trottel« noch die harmlosesten waren. Dass sein Sohn mit Erfolg die Landwirtschaftsschule abgeschlossen hatte und ein sehr tüchtiger Jungbauer war, interessierte ihn nicht. Bernd durfte zwar auf dem Hof arbeiten, aber dass er irgendwann den Betrieb übernehmen würde, stand nicht zur Debatte.
Aus zahlreichen lautstarken Auseinandersetzungen wusste das gesamte Gesinde, dass der Altbauer ganz andere Pläne hatte.
»Eine Schande ist das«, sagte Loisl zu der Kuh, deren Milchfieber endlich abgeklungen war. Das Tier käute gelassen wieder und kümmerte sich nicht darum. »Es ist aber eine Schande«, beharrte der Großknecht. »Statt dem lieben Herrgott auf Knien zu danken für so einen gut geratenen Sohn, versündigt sich der Bauer jeden Tag aufs Neue. Dabei kann doch nix Gutes herauskommen, nie und nimmer.«
Er verließ den Stall und marschierte über den Wirtschaftshof Richtung Gesindehaus, um sich zu waschen. Drüben im Haupthaus hörte man schon wieder den Altbauern wütend brüllen.
***
»Du kannst gleich das Tablett ins Esszimmer tragen, Elke.« Marie Hallhuber stellte eine Kanne mit frischer Milch auf das Tablett, die Küchenmagd wollte nach den Tellern greifen, zuckte aber heftig zusammen, als die Stimme des Altbauern unvermittelt durch das Haus dröhnte.
Zwei Teller rutschten ihr aus der Hand und landeten auf dem Boden, wo sie zersplitterten. Elke wurde blass.
»Tut mir leid, das wollte ich net. Aber ich kann mich einfach nicht an die Brüllerei gewöhnen.« Sie machte ein bekümmertes Gesicht. »So ein Malheur.«
»Ist net weiter schlimm. Feg nur die Scherben weg, damit sich keiner verletzt«, bat das hübsche Madel mit dem hellblonden, schulterlangen Haar und den klaren blauen Augen. »Ich schau rasch nach, was wieder los ist.«
Marie schämte sich für das Benehmen ihres Vaters, dessen Unbeherrschtheit im ganzen Dorf für Gesprächsstoff sorgte. Vor allem die Tatsache, dass der Alte seinen Sohn ständig als Fußabstreifer benutzte, stieß dabei auf Ablehnung und Unverständnis.
Jeder, der Bernd Hallhuber kannte, wunderte sich darüber, dass dieser nicht längst sein Bündel geschnürt hatte und gegangen war. Ein tüchtiger Jungbauer fand leicht eine Anstellung als Verwalter auf einem größeren Hof.
In der Umgebung gab es öfter vakante Stellen. Für Bernd hätte das nicht nur geregelte Arbeitszeiten und ein anständiges Salär bedeutet, sondern und vor allem, dass er respektiert und angemessen behandelt wurde. Viele seiner Spezln rieten ihm immer wieder, sich auf eigene Füße zu stellen.
Doch Bernd war treu. Er war nun mal der Jungbauer auf dem elterlichen Hof. Und was seinen Vater anging, da legte er eine geradezu aberwitzige Geduld und Nachsicht an den Tag.
Nie wehrte er sich gegen die ständigen ungerechtfertigten Angriffe, nahm jede Gemeinheit hin und schwieg, wenn der Alte ihn hemmungslos beschimpfte. Vielleicht hätte es geholfen, dem Vater einmal Paroli zu bieten, ihm Grenzen aufzuzeigen. Aber das konnte Bernd nicht. Er war keineswegs ein Feigling, er war einfach nur ein herzensguter Mensch, der sich selbst ständig zurücknahm.
»So was von deppert kannst auch nur du sein!«, polterte Franz Hallhuber gerade wieder. »Den Viehdoktor einfach wegfahren zu lassen, obwohl die Ferkel noch net geimpft sind. Ja, mei, ich sag’s halt immer wieder: Wenn du willst, dass was recht erledigt wird, dann tu es selbst. Auf keinen kann man sich verlassen. Und auf dich am allerwenigsten, du hirnloser Hornochs!«
»Ich ruf gleich morgen in der Früh an und sag Bescheid, dann wird der Dr. Brunner es gewiss noch schaffen, vorbeizukommen und …« Bernd verstummte, als der Alte ihm mit einer wütend-herrischen Geste das Wort abschnitt.
»Darum geht’s doch gar net, du Malefiz! Wenn er noch mal kommen muss, berechnet er auch eine Extraanfahrt. Die hätten wir uns heut sparen können, wenn du in der Lage wärst, wie ein vernünftiger Mensch deine Gedanken beisammenzuhalten. Aber wer darauf spekuliert, der kann lange warten.«
»Die Anfahrt ist ja net weit«, hielt Bernd dem Vater mit ruhiger Stimme entgegen. »Ich hab noch auf keiner Rechnung gesehen, dass er dafür was nimmt.«
Franz Hallhuber lachte schallend. »Als ob das so offen draufsteht, du Lackel! Das sind die berühmten versteckten Kosten, die kriegt man immer und überall untergejubelt, wenn man so deppert ist wie du und sich von einem jeden aufs Kreuz legen lässt. Mei, oh, mei, wie ist so was nur möglich!«
»Vater, bitte!« Marie hatte das Arbeitszimmer betreten und machte eine beschwichtigende Geste in Richtung ihres Vaters.
Wie ein kleiner Tyrann erschien er ihr hinter seinem protzigen Schreibtisch aus Wurzelholz. Sein roter Kopf ruckte herum, die eben noch zornsprühenden Augen wurden ein wenig ruhiger, und seine Stimme klang beinahe normal, als er fragte: »Was ist denn, Marie? Ist das Nachtmahl fertig? Ich komm gleich.«
Das hübsche Madel trat neben seinen Bruder, drückte ihm leicht den Arm und bat den Vater dann: »Schrei doch net so! Alle auf dem Hof können dich hören. Man muss sich ja vor dem Gesinde schämen.«
»Ich schrei, so viel ich will«, beharrte der Bauer unwirsch. »Wenn dein Bruder sich ständig wie ein Nichtsnutz und Trottel benimmt, dann muss ihm ja einer die Meinung geigen. Ich dulde auf meinem Hof keine Verschwendung und keine Faulheit!«
»Der Bernd ist der Fleißigste von allen. Und ein Verschwender ist er ganz gewiss net«, trat Marie entschieden für ihren Bruder ein. Der aber schüttelte leicht den Kopf und murmelte: »Lass doch gut sein, Marie.« Er ertrug es nicht, wenn sie seinetwegen auch noch Ärger mit dem Alten bekam.
»Ich hab jetzt keinen Nerv, mich darüber zu streiten«, knurrte der Bauer unfreundlich. »Lasst mich allein, ich muss noch was erledigen.«
»In fünf Minuten gibt’s Abendessen«, erinnerte Marie ihren Vater, der nicht auf ihre Worte reagierte. Dann folgte sie Bernd und schloss die Tür zum Arbeitszimmer vernehmlich.
»Was war denn wieder los?«, wollte sie wissen, aber ihr Bruder schüttelte nur leicht den Kopf zum Zeichen, dass er nicht darüber reden mochte. Sie zauste ihm die flachsblonden Locken, eine Geste, die sich noch aus Kindertagen erhalten hatte, sich nun aber ein wenig schwierig gestaltete, denn der Bursch überragte seine Schwester um gut einen Kopf. Er lächelte gutmütig.
»Denk dran, dass am Samstag Tanz beim Ochsenwirt ist«, erinnerte sie ihn auf dem Weg zur Küche. »Ich möchte, dass du mitkommst und dir einen lustigen Abend machst. Und ich wette, die Moni, die Gabi und die Sandra werden schon sehnsüchtig auf meinen feschen Bruder warten.«
Noch ehe Bernd etwas erwidern konnte, meinte Loisl, der eben die Diele betrat: »Von so einer Auswahl kann unsereiner freilich nur träumen. Mei, Bauer, du hast es schon besser …«
»So ein Schmarren«, wiegelte der Bursch verlegen ab. »Mich schaut eh keine an, ich bin den Madeln viel zu fad.«
»Das denkst auch nur du.« Marie lächelte ihrem Bruder aufmunternd zu. »Warte bis Samstag, dann wirst du es erleben!«
***
Am Samstag stand Marie etwas zeitiger auf, damit sie, ohne zu hetzen, all ihren Pflichten auf dem Hof nachkommen und sich noch in Ruhe fürs Tanzfest zurechtmachen konnte.
Das Madel freute sich schon sehr auf den Abend, denn Marie tanzte für ihr Leben gern. Im Grunde ihres Herzens war sie ein unbekümmerter und fröhlicher Mensch, doch die stets angespannte Atmosphäre auf dem Erbhof hatte dazu beigetragen, dass Marie ernst und auch zurückhaltend war.
Die Burschen im Tal interessierten sich sehr für sie. Ein bildsauberes Madel, noch dazu eine Hoferbin, war eine gute Partie. In Wolfenstein wusste ein jeder, dass Bernd Hallhuber, obwohl er älter war als seine Schwester, nicht der nächste Bauer auf dem Erbhof sein würde. Der Vater spekulierte auf einen Jungbauern, der einheiraten sollte.
Natürlich kannte Marie die Haltung des Vaters. Das war auch einer der Gründe, weshalb sie allzu offensichtlichen Annäherungsversuchen aus dem Weg ging. Auch wenn sie unerfahren war und im tiefsten Herzen von der großen Liebe träumte, war ihr doch klar, dass es den meisten Bewerbern um ihre Gunst nicht nur um sie, sondern vor allem um den Hof ging.
Auf Tanzfesten erschien sie deshalb stets in Begleitung ihres Bruders. Und wenn ihr ein Bursch nicht behagte, verscheuchte Bernd diesen meist schon durch seine Präsenz.
Am frühen Abend verschwand Marie dann in ihrer Kammer, um sich umzuziehen. Sie wählte ihr schönstes Dirndl, das tiefblau war, genau die Farbe ihrer Augen hatte, und dazu eine blütenweiße Bluse mit Spitzenbesatz. Ein fein gearbeitetes Silberkettchen mit einem Anhänger, der ein Edelweiß darstellte, schmiegte sich um ihren schlanken Hals.
Das blonde Haar frisierte Marie sehr geschickt zu allerlei Zöpfchen, die sie dann in einen zauberhaften Kranz aufsteckte. Helle Strümpfe und die traditionellen Haferlschuhe vervollständigten das Bild. Und weil es am Abend noch recht frisch wurde, zog das Madel eine mit Blumen bestickte Trachtenstrickjacke über.
Bevor Marie ihre Kammer verließ, warf sie noch einen Blick in den Spiegel und war zufrieden.
Auf dem Frisiertisch stand auch ein Foto ihrer verstorbenen Mutter. Schwer wurde Marie das Herz, als sie dieses anschaute. Wie sehr die Mama ihr doch fehlte! Sie erinnerte sich gut daran, wenn diese den Vater mit einem Blick oder einer stillen Geste zum Schweigen gebracht hatte, nachdem sein sinnloser Zorn sich wieder einmal in ungeahnte Höhen geschraubt hatte.
Warum nur hatte die Mutter so früh sterben müssen? Seither war das Leben auf dem Erbhof für sie alle sauer geworden. Am ärgsten aber erging es ihrem Bruder. Obwohl Marie immer wieder versuchte, ihm beizustehen, verging doch kein Tag, an dem der Vater ihn nicht niedermachte.
Mit einem Seufzer erhob Marie sich. Sie schaute aus dem Fenster, das einen Blick auf die Westseite des Untersbergs und in der Ferne auf Bischofswiesen freigab. Bernd hatte sein Auto schon vorgefahren, es ging also gleich los!
Das Madel bemühte sich um ein freundliches Gesicht. Die trüben Gedanken wollte Marie daheim lassen. An diesem Abend würden sie sich ein bisserl amüsieren und für ein paar Stunden all den Kummer vergessen, der ihr Leben bestimmte.
Leichtfüßig lief Marie die Stiege hinunter. In der Diele wartete schon Bernd. Fesch schaute er aus im besten Festtagsloden. Das blonde Haar war zu widerspenstig, um es in eine Frisur zu zwingen. Doch die Locken, die das markante, gut geschnittene Gesicht des Burschen einrahmten, gaben ihm etwas Jungenhaftes, das den Madeln gefiel. Auch wenn Bernd das nicht glauben wollte, hätte doch so manche Wolfensteiner Dorfschönheit nur zu gerne mit ihm angebandelt. Aber er war viel zu schüchtern und zurückhaltend, um darauf einzugehen.
»Na, kann’s losgehen?«, fragte Marie betont munter.
»Von mir aus«, gab er gutmütig zurück.
In diesem Moment erschien Franz Hallhuber. Er musterte seine Kinder mit verschlossener Miene und brummte: »Bleibt net zu lang aus. Ich leid es net, dass ihr euch morgen vor dem Kirchgang drückt. Und du!« Er deutete mit dem Finger auf seinen Sohn. »Nimm dich zusammen. Schnapsleichen haben da nix zu suchen!«
»Der Bernd trinkt nie mehr, als ihm guttut«, stellte Marie, schon wieder leicht verstimmt und ärgerlich, klar.
Doch der Alte lachte nur geringschätzig und meinte: »Als ob der wüsste, wann’s genug ist. Wie ein Gackerl fressen tät er, bis er platzt … Füat euch!«
Bernd senkte den Blick, er war eine Spur blasser geworden, denn diese neuerliche Beleidigung hatten nicht nur er und Marie gehört, sondern auch Elke, die gerade aus der Küche kam.
»Los jetzt, lass uns fahren«, drängte Marie, sie spürte, dass ihr Bruder schon wieder die Lust an dem Tanzfest verlor. Aber weil sie darauf bestand, fuhr er mit.
Beim Ochsenwirt herrschte bereits eine ausgelassene Stimmung. Fröhlich drehten sich die jungen Paare auf dem Tanzboden, eine Band spielte schmissige Musik, die in die Beine ging.
Marie entdeckte gleich einige ihrer Freundinnen und gesellte sich zu ihnen. Bernd fand seinen Platz bei ein paar Spezln am Bierstand.
Seine Schwester schaute ihm besorgt hinterher und hoffte, dass er seinen Kummer nicht wirklich im Alkohol ertränken würde. Die Versuchung war gewiss groß. Doch sie konnte sich nun nicht mehr um Bernd kümmern, denn sie wurde sogleich aufgefordert.
***
Den halben Abend hatte Marie nun das Tanzbein geschwungen. Es ging bereits auf Mitternacht zu, und das Madel hielt nach seinem Bruder Ausschau. Bernd hockte ein paar Tische weiter bei seinen Spezln und unterhielt sich. Soweit sie aus der Ferne feststellen konnte, war er nicht betrunken. Besonders gut zu amüsieren schien er sich aber auch nicht, sah man seine ernste Miene.
Marie sprach kurz mit ihren Freundinnen und verabschiedete sich, denn sie wollte heim. Gewiss hockte der Vater mit der Uhr in der guten Stube und wartete nur darauf, ihnen einen Vortrag zu halten. Da war es das Beste, ihm keinen Stoff zu liefern.
Als das Madel eben seine Strickjacke anziehen wollte, stand plötzlich ein fescher Bursch vor ihr und bat sie um einen Tanz.
»Ich wollte eigentlich gerade gehen«, wandte sie ein, doch die klaren, rehbraunen Augen in dem attraktiven Männergesicht baten sie, dies nicht zu tun. Der Bursch lächelte ihr charmant zu.
»Auf einen Tanz mehr oder weniger kommt es doch net an«, lockte er und hielt ihr die Hand hin. »Sei kein Frosch!«
»Na schön, aber nur ein Tanz«, gestand sie ihm zu.
Gleich darauf lag Marie in den starken Armen ihres Partners, der sie sicher über den Tanzboden führte und dabei keinen Blick von ihr lassen konnte. Sie spürte ein leises Kribbeln im Bauch und eine Unruhe, die ihren Ursprung im Herzen zu haben schien. Dieser Bursch konnte ihr gefährlich werden, das ahnte Marie.
»Ich bin der Christian Leitner. Und du bist die schöne Marie Hallhuber, gelt? Dein Bruder und ich, wir kennen uns aus dem Fußballteam, damals in der Schule.«
»Dann bist du der Sohn vom Bürgermeister«, stellte Marie betont gelassen fest, obwohl seine Nähe sie ganz kribbelig machte. »Eigentlich sollte ich net mit dir tanzen. Es heißt, dass du der größte Schürzenjäger im Tal bist.«
Er lachte geschmeichelt. »Schön wär’s. Leider ist das Gerede der Leut meistens übertrieben. In meinem Fall auch. Ich geb zu, dass ich einem schönen Madel nur schwer widerstehen kann. Aber eine wie du ist mir noch nie begegnet.«
»Wie meinst du das denn?«, fragte sie verunsichert.
»Das ist net schwer zu verstehen. Du bist das schönste Blümerl, das hier in Wolfenstein blüht.«
Marie wurde rot. Sie war nicht an solche Komplimente gewöhnt und forschte in Christians Augen, ob er es wohl ernst meinte. Was sie dort sah, das war offensichtliche Zuneigung. Dass sie den aalglatten Charmeur nicht durchschaute, lag an ihrer Unerfahrenheit. Sie blieb aber trotzdem ein wenig auf Distanz.
»Das sagst du gewiss einer jeden«, unterstellte sie ihm.
»Mag sein. Aber bei dir meine ich es ehrlich. Ich würde dich gern wiedersehen. Wie wär’s, wenn wir morgen zusammen spazieren gehen? Ich hole dich ab und …«
»Ich weiß net, ob das eine so gute Idee ist.«
Er lachte. »Ach ja, dein Vater ist sehr streng, gelt? Aber gegen mich wird er nix einzuwenden haben. Ich komme nämlich nur mit den besten Absichten. Und ich fürchte mich net, ihm das auch direkt ins Gesicht zu sagen.«
Damit hatte er den richtigen Ton getroffen und Marie beeindruckt. Als der Tanz vorbei war, spürte sie plötzlich Enttäuschung in sich aufsteigen. Am liebsten hätte sie noch mehr Zeit mit dem charmanten Burschen verbracht. Sie verließen den Tanzboden, und gleich stand Bernd vor ihnen. Christian gab sich jovial. Er schlug dem Burschen herzhaft auf die Schulter und rief: »Grüß dich, altes Haus. Unser bester Libero!«
»Die Zeiten sind vorbei«, erwiderte der Jungbauer ruhig und sagte dann zu seiner Schwester: »Wir sollten jetzt heimfahren.«
Marie hatte nichts dagegen einzuwenden. Sie verabschiedete sich für Bernds Geschmack etwas zu vertraut von Christian. Und als er hörte, dass sie bereits für den nächsten Tag verabredet waren, sah er sich genötigt einzugreifen.
»Du willst dich mit dem Christian treffen?«, fragte er seine Schwester auf der Heimfahrt.
Marie nickte nur und schaute versonnen aus dem Seitenfenster in den klaren Nachthimmel. Ungezählte Sterne flimmerten vor der samtenen Schwärze, die Mondsichel hing über dem Ettenberg, dem Hausberg von Wolfenstein. Es war eine überaus romantische Frühlingsnacht, wie gemacht für verliebte Herzen. Und Maries unbedarftes Herz klopfte sehnsüchtig nach der Begegnung mit Christian Leitner.
»Halt dich lieber fern von dem Hallodri«, hörte sie da ihren Bruder mit ernster Stimme sagen. »Der meint es nie ernst und ist keiner treu.«
Marie drehte den Kopf und bedachte Bernd mit einem forschenden Blick. »Woher weißt du das denn? Ich dachte, ihr habt seit der Schulzeit nix mehr miteinander zu schaffen.«
»Der Christian hat sich einen Namen als Schürzenjäger gemacht. All meine Spezln sagen auch …«
»Ach, Bernd, das ist doch nur Gerede. Ich dank dir, dass du dich um mich sorgst. Aber ich glaube, ich bin durchaus in der Lage, mir selbst eine Meinung über diesen Burschen zu bilden. Er ist nett und offen, hat nix zu verbergen. Und ein Gutes hat die Sache außerdem: Beim Christian kann ich sicher sein, dass er net auf unseren Hof aus ist. Die Leitners haben ebenso viel wie wir. Wenn er mich wiedersehen will, dann nur, weil er mich mag.«
»Du willst dich also tatsächlich mit ihm treffen?«
»Freilich, warum denn net?« Sie knuffte ihn in die Seite. »Schau net so grimmig, alter Knurrbär! Das mag ich net, denn dann erinnerst du mich fast ein bisserl an den Vater.«
»Ist schon recht«, murmelte der Bursch einsilbig. Wie es schien, hatte Marie sich entschieden, da konnte er wohl kaum noch etwas erreichen. Bernd hoffte aber, dass sie trotzdem vor einer Enttäuschung bewahrt werden würde. Wenn der Vater nämlich erfuhr, mit wem sie sich verabredet hatte, würde er ganz gewiss einschreiten.
In dem Punkt sollte Bernd sich allerdings gründlich getäuscht haben …
***
Nach dem Mittagessen am Sonntag kehrte auf dem Hallhuber-Hof Ruhe ein. Der Bauer hielt viel auf sein »Verschnaufpauserl«, wie er den Mittagsschlaf in seinem Lieblingssessel nannte. Das Gesinde genoss die freie Zeit, bevor am Abend wieder das Vieh gefüttert werden musste.
Bernd bastelte in der Remise an einem alten Traktor herum, den er wieder auf Vordermann bringen wollte. Das war eine Art Hobby von ihm. Und diese Beschäftigung hatte den Vorteil, dass er den Wirtschaftshof im Auge behalten konnte.
Während Marie mit ungeduldig pochendem Herzen aus dem Küchenfenster spähte und heimlich Christian Leitners versprochenem Besuch entgegenfieberte, hatte der Jungbauer nicht vor, den Besucher ungeschoren davonkommen zu lassen. Sollte der es tatsächlich wagen und auftauchen, dann würde der Bursch ihm einmal deutlich die Meinung sagen.
Dass Christian Marie schon nach einem Abend eingewickelt hatte, gefiel dem Jungbauern nämlich gar nicht. Er war nicht gewillt, einfach tatenlos zuzusehen, wie seine Schwester in ihr Unglück rannte. Und er musste nicht lange warten.
Christian Leitner parkte seinen schnittigen Sportwagen in einem kühnen Winkel mitten im Wirtschaftshof. Im schicken Lederjanker und bester Laune strebte er auf die Haustür zu. Auch einen Strauß Blumen hatte er nicht vergessen. Bernd vertrat ihm den Weg, bevor er sein Ziel erreicht hatte.
»Bernd, grüß dich«, sagte der Bursch aufgeräumt. »Ist deine Schwester daheim?«
»Was geht das dich an?«, antwortete der Jungbauer mit einer Gegenfrage. Er musterte den Besucher grimmig. »Du hast hier nix zu suchen. Ich rate dir im Guten, wieder heimzufahren. Wenn die Marie etwas net brauchen kann, dann ist das ein untreuer Verehrer, der es nicht ehrlich mit ihr meint.«
»Du kennst dich wohl ganz genau aus, was?« Christian lachte. »Jetzt sei friedlich, Bernd. Ich will der Marie nix Böses, im Gegenteil. Ich finde sie sehr sympathisch und möchte gern einen netten, harmlosen Nachmittag mit ihr verbringen. Daran ist doch wirklich nix auszusetzen.«
»Ich glaub dir kein Wort. Ein jeder hier in Wolfenstein weiß, dass du es nur darauf anlegst, ein Madel zu verführen. Und wenn du Erfolg hattest, dann wird die Sache dir langweilig.«
»Was du net alles weißt. Und wer sagt so was?«
»Jeder halt. Jetzt spiel net den Harmlosen, das nimmt dir eh keiner ab. Ich durchschau dich. Und ich sag dir, dass du bei meiner Schwester net landen kannst. Das werde ich zu verhindern wissen. Die Marie ist viel zu schad für einen Hundling wie dich, der die Madeln gleich reihenweise unglücklich macht.«
Christians Miene verschloss sich. Eine steile Unmutsfalte prägte sich zwischen seinen Brauen ein und er monierte: »Jetzt reicht es langsam. Du hast dich hier lang genug als Zerberus aufgespielt. Ganz davon abgesehen geht es dich nix an, was zwischen mir und deiner Schwester ist. Die Marie ist erwachsen.«
Wie aufs Stichwort erschien das Madel nun an der Haustür und begrüßte den Burschen freundlich. Der überreichte brav seine Blumen, bewunderte Maries hübsches Dirndl und schlug vor, ein wenig spazieren zu gehen.
»So war es doch abgemacht«, erinnerte er sie freundlich. »Oder soll ich mich erst noch bei deinem Vater vorstellen?«
Marie wollte abwehren, aber Bernd, der noch daneben stand, sah seine Chance einzugreifen. Der Vater würde diese falsche Entwicklung ganz gewiss im Keim ersticken.
»Ich sag dem Vater Bescheid, dass wir Besuch haben«, schlug er vor und eilte, ohne auf eine Reaktion zu warten, ins Haus.
Marie verzog den Mund. »Das ist mir gar net recht.«
»Wieso denn? Ich hab kein Problem damit«, versicherte der Bursch ihr und suchte ihren Blick. »Schließlich komme ich mit den besten Absichten und habe nix zu verbergen.«
Das gefiel Marie. Sie verlor sich für eine kleine, süße Ewigkeit in Christians charmantem Lächeln und seinen warmen, klaren Augen. Fast schmerzhaft stieg da eine Sehnsucht in ihr auf, die sie bislang so nicht gekannt hatte. Errötend senkte sie schließlich die Lider.
Franz Hallhuber war ungnädig, denn er konnte es nicht leiden, wenn ihn einer beim Mittagsschlaf störte. »Was soll denn der Schmarren? Es ist mir ganz einerlei, wer zur Marie zu Besuch kommt. Ich warne dich, du Saubartl, wenn das wieder so eine nutzlose und überflüssige Sache ist, wie sie ständig auf deinem Mist wächst, dann kannst du mich aber mal kennenlernen!«
Bernd verkniff sich eine Erwiderung und stellte nur klar: »Sie will mit dem Christian Leitner anbandeln, diesem Schürzenjäger. Das musst du sofort unterbinden, Vater. Der wird sie bloß unglücklich machen.«
Bei der Erwähnung dieses Namens wurde der Altbauer hellhörig.
»Der Bub vom Leitner-Sepp? Na, so was …« Er folgte seinem Sohn zur Haustür, wo das junge Paar stand und sich unterhielt.
Bernd ahnte noch nicht, was nun folgen sollte. Mit einem vielsagenden Grinsen riet er Christian: »Jetzt kannst du dich vorstellen mit deinen besten Absichten. Ich bin schon gespannt, wie weit du damit kommen wirst …«
»Grüß dich, Bauer«, schlug der Bursch sogleich vertrauliche Töne an. Ein herzhafter Händedruck folgte, dann fragte Franz Hallhuber jovial: »Wie geht es daheim? Alles gesund?«
»Der Vater lässt dich grüßen. Ich denk mir, ihr werdet euch eh unter der Woch im Rat sehen, net wahr?«
»Freilich. Es ist von jeher Tradition, dass die Hallhubers einen Sitz im Gemeinderat haben.«
»Und dass die Leitners den Ortsvorstand stellen«, ergänzte Christian geschmeidig, woraufhin der Bauer amüsiert lächelte.
Bernd hatte das Gefühl, mitten in einem schlechten Traum zu stecken. Er wollte etwas sagen, bekam aber keine Gelegenheit mehr. Kaum zwei Minuten später hatte der Vater Marie und Christian viel Vergnügen bei ihrem Spaziergang gewünscht und war wieder ins Haus gegangen, ohne seinen Sohn auch nur eines Blickes zu würdigen.
Bernd war diese Behandlung gewöhnt. Aber hier ging es nicht um ihn, sondern um Marie. Deshalb nahm er die unvermeidliche Auseinandersetzung in Kauf und hakte nach.
Als er dem Altbauern in die gute Stube folgte, musterte der ihn unfreundlich und schnauzte: »Was willst du denn jetzt noch?«
»Ich wüsste gern, wieso du zu diesem Hallodri so nett gewesen bist. Und aus welchem Grund es dir einerlei ist, dass er der Marie den Kopf verdrehen und sie unglücklich machen will.«
Franz Hallhuber lachte verächtlich auf. »Das geht dich einen Schmarren an, du Depp. Lass dir eins gesagt sein: Ich dulde es net, dass du dich hier aufspielst und mir Vorschriften machst. Und was ich tue, ist einzig und allein meine Angelegenheit. Also schleich dich jetzt, aber flott. Und verschon mich für den Rest des Tages mit deiner depperten Goschen!«
Bernd starrte den Vater einen Moment lang an, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ die gute Stube. Er wusste nicht, was er denken sollte. Eines aber schien klar: Der Alte führte wieder einmal etwas im Schilde. Es ging ihm weder um das Wohl seiner Tochter, noch um das gute Einvernehmen mit den Leitners. Er kochte sein eigenes Süppchen, wie immer. Und dabei war noch nie etwas Gutes herausgekommen.
***
Marie machte sich keine solchen Gedanken, ihr ging es einfach nur gut. Sie genoss die Zeit mit Christian, der ebenso charmant und witzig war wie am Vorabend.
Das junge Paar hatte den Erbhof und Wolfenstein hinter sich gelassen und war einem Wanderweg gefolgt, der in östliche Richtung zum Zauberwald und dem darin gelegenen Hintersee führte. Sie waren nicht die Einzigen, die auf diese Idee gekommen waren, es herrschte reger Betrieb. Viele Wanderer, Gruppen und Einzelpersonen, nutzten das herrliche Frühlingswetter für einen Ausflug in die Natur.
Marie wäre lieber mit Christian allein gewesen, denn immer wieder begegneten ihr Bekannte, die ihren Begleiter neugierig musterten. Christian schien das einerlei zu sein, er merkte aber, dass Marie sich dabei nicht ganz wohlfühlte.
»Du fürchtest wohl den Klatsch, der jetzt aufkommen wird«, vermutete er und zwinkerte ihr zu. »Ein sittsames Madel wie du sollte sich net mit einem ausgewiesenen Hallodri sehen lassen.«
»Sittsam? Wie klingt das denn? Ich bin ja net von gestern.«
»Das gewiss nicht. Weißt du eigentlich, dass ich schon seit einer Weile darauf gewartet habe, dich näher kennenzulernen?«
»Tatsächlich? Und warum?«, neckte sie ihn.
»Du bist eben die Schönste hier im Tal. Und ein jeder sagt, dass du auch so etwas wie eine unerreichbare Prinzessin der Berge bist.«
»So ein Schmarren.« Marie bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick. »Ich bin ein ganz normales Madel. Auf den Kopf bin ich allerdings net gefallen, falls du das glaubst.«
Er lachte. »Du hast mich falsch verstanden. Unsere Väter sind doch Spezln. Deshalb weiß ich auch ein bisserl darüber Bescheid, wie es bei euch auf dem Hof zugeht. Kein Wunder, dass du jeden Burschen abweist, bei dem abschreckenden Vorbild daheim.«
»Das hat damit nix zu tun. Ich weiß schon, dass net ein jeder so wie der Vater ist«, stellte sie richtig.
»Dann bist du wohl sehr wählerisch.«
Marie lächelte schmal. »Mag sein. Vor allem brauch ich aber keinen Freund, der nur auf unseren Hof ausgeht. Das ist für mich eben die Schwierigkeit. Deshalb bleibe ich lieber zurückhaltend, wenn einer mir schöntun will.«
»Verstehe. Was läuft da eigentlich zwischen deinem Vater und deinem Bruder? Wieso will der Alte den Bernd net zu seinem Nachfolger machen? Der ist doch tüchtig und klug.«
»Das nützt ihm beim Vater aber leider nix. Die zwei kommen einfach net miteinander aus. Am Bernd liegt’s gewiss nicht. Er ist im Gegenteil viel zu gutmütig.«
»Davon hab ich eben nix gemerkt.« Christian seufzte leise. »Dein Bruder scheint was dagegen zu haben, dass wir zwei uns besser kennenlernen.«
»Er will halt nur mein Bestes.« Sie lächelte verschmitzt. »Und er scheint net zu glauben, dass du das bist.«
»Ich werde ihm das Gegenteil beweisen«, beschloss er. »Und dir auch.« Er nahm ihre Hand und lächelte ihr jungenhaft zu. »Du hast mir auf den ersten Blick ausnehmend gut gefallen, Marie.«
»Mich musst du net überzeugen, ich hab’s schon gemerkt. Beweise mir lieber, dass du es wirklich ehrlich meinst und net nur auf einen Flirt aus bist.«
»Das werde ich.« Er schaute sie ernst und offen an. »Du wirst es erleben …«
So spazierten sie noch eine Weile durch den Sonnenschein, bis sie schließlich den Hintersee erreichten. Christian führte Marie zu einem verschwiegenen Plätzchen.
Eine Bank stand in der Nähe des Wassers, aber so verborgen unter den Ästen einer alten Trauerweide, dass man hier ganz ungestört war. Das Madel setzte sich und betrachtete das klare Wasser des Hintersees, auf das die tief stehende Sonne Goldtaler streute und über dem schon die ersten Mücken ihre Flugbahnen zogen.
»Schön ist es hier«, stellte sie versonnen fest. Als der Bursch einen Arm um ihre Schultern legen wollte, bedachte sie ihn aber mit einem forschenden Blick. »Du warst da wohl schon oft mit einem Madel. Ich kenn die Umgebung ebenso lang wie du, aber von diesem Platzerl hatte ich keine Ahnung.«
»Ich fürchte, du hast mich erwischt«, erwiderte er mit entwaffnender Ehrlichkeit. »Doch keine, die bisher mit mir auf diesem Bankerl gesessen hat, war so wie du.« Er schaute ihr tief in die Augen und gewahrte jenes verhaltene Strahlen, das dem erfahrenen Charmeur verriet, er hatte bereits halbwegs gewonnen.
Da wagte er es und stahl Marie ein zartes Busserl. Er nahm sich sehr zurück, denn er spürte ihre Unerfahrenheit und Unsicherheit. Marie hielt ganz still, sie genoss diesen süßen Moment in vollen Zügen. Fast wünschte sie sich, dass er niemals enden sollte, denn es war ihr so, als schwebte sie auf einer weichen Wolke mitten in den Himmel hinein.
Als Christian sie freigab, senkte sie den Blick, er sollte nicht allzu deutlich darin lesen können.
Behutsam nahm er ihre Rechte, hauchte noch ein Busserl darauf und versicherte ihr aufrichtig: »Du bist etwas ganz Besonderes für mich, Marie. Was ich dir gestern gesagt hab, das gilt. Mir ist noch nie ein Madel wie du begegnet. Ich glaub, es hat mich auf den ersten Blick erwischt. Und du bist auch die Erste, bei der ich an was Festes denke.«
»Aber wir kennen uns ja kaum«, hielt sie ihm ebenso verwirrt wie beglückt entgegen.
»Das ist doch ganz einerlei, wenn man sich lieb hat. Ich hab’s vom ersten Moment an gespürt, dass du das Madel bist, mit dem ich durchs Leben gehen will. Freilich brauchst du noch ein bisserl Zeit, um dich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Die lasse ich dir gern. Aber ich weiß, was ich will: dich!«
Er schaute sie so liebevoll und innig an, dass sie nicht anders konnte, als ihm zu glauben. Erst später am Tag, als Marie wieder daheim war und Christian sich verabschiedet hatte, da fragte sie sich, ob das alles denn tatsächlich passiert war. Hatte sie nicht bloß geträumt? War es möglich, dass Christian sie wirklich liebte, dass er es ernst meinte?
Ein leiser Zweifel kam in Marie auf. Sie dachte an Bernds Warnungen, an all die Geschichten, die über den jungen Leitner in Wolfenstein kursierten. Aber all das hatte er ja gar nicht bestritten, im Gegenteil. Christian war von Anfang an aufrichtig und ehrlich zu ihr gewesen. Er stand zu seiner Vergangenheit, warum sollte er sie dann beschwindeln?
Bei diesem Gedanken erfüllte Marie ein jubelndes Glücksgefühl. Sie meinte, der wahren Liebe begegnet zu sein. Und die machte ihr Leben so licht und schön, dass alles andere daneben verblasste und unwichtig wurde.
***
Von nun an trafen Marie und Christian sich täglich. Der Bursch fand nach Feierabend stets Zeit für seine Liebste. Und das Madel sehnte den ganzen Tag über nur die Stunde herbei, wenn ihr Schatz endlich auftauchte.
Bernd betrachtete diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Noch immer war er dem jungen Leitner gegenüber skeptisch. Er hörte, wie seine Spezln Wetten darüber abschlossen, wann es Christian mit Marie fad wurde und er nach einer Neuen Ausschau hielt. Der Vater äußerte sich dazu nicht. Er ließ seiner Tochter scheinbar freie Hand und mischte sich nicht ein, was absolut untypisch war und Bernd immer misstrauischer machte. Zu gern hätte er herausgefunden, was der Alte sich von dieser Liebelei versprach. Doch außer Beschimpfungen bekam er wieder einmal nichts zu hören.
Als Christian am Freitagabend heimkam, erwartete sein Vater ihn bereits. Der Leitner-Sepp war noch immer ein fesches Mannsbild und bei der Damenwelt ebenso beliebt wie sein Spross. Seine Frau hatte in dieser Ehe wenig zu lachen. Doch weil der Leitner nicht nur ein Weiberheld, sondern auch ein gewiefter Geschäftsmann war, konnte er ihr allen Luxus bieten, weshalb sie stets großzügig über seine Extratouren hinwegsah.
Dass Christian ganz nach dem Vater kam, erfüllte diesen mit einem gewissen Wohlwollen. Zugleich verlangte er aber auch, dass sein einziger Sohn und Erbe in geordneten Verhältnissen lebte. Es ging nicht an, dass einer, der auf die dreißig zuging, von einem Madel zum anderen zog wie die Biene von Blüte zu Blüte. Deshalb war Sepp Leitner mit der jetzigen Wahl seines Sohnes recht zufrieden, freilich unter der Bedingung, dass Christian auf etwas Dauerhaftes ausging.
»Gestern war Sitzung«, sagte der Leitner als Erstes. »Ich hab mich mal ein bisserl ausführlicher mit dem Franz unterhalten. Von dir hört man ja schöne Sachen, Bub. Du gehst also jetzt auf die Marie aus. Stimmt das?«
»Ich hab sie lieb und will sie heiraten«, erklärte der Bursch ganz selbstverständlich. Dabei genoss er es, wie seinem Vater für einen Moment der Mund offen stehen blieb.
»Tatsächlich?«, dehnte der schließlich. »Du denkst im Ernst daran, dem Madel einen Ring an den Finger zu stecken?«
»Spricht was dagegen?« Christian gab sich entspannt. »Wir zwei passen doch wunderbar zusammen, und das in jeder Beziehung.« Er betonte das so, dass der Vater ihn nicht missverstehen konnte.
Und es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte der Leitner Feuer gefangen. Er lächelte vielsagend. »Das Land vom Hallhuber, der Hof und unser Viehhandel, ich muss sagen, das klingt nach einer sehr schönen Kombination. Und der Franz hat bereits anklingen lassen, dass er damit ebenfalls einverstanden ist. Allerdings sollte dir eines klar sein, Bub: Die Marie ist keine, mit der du nach Belieben umspringen kannst. Sie hat bis jetzt jeden Burschen abblitzen lassen.«
»Doch nur, weil keiner aufrichtig und ehrlich war. Sie will um ihrer selbst willen geliebt werden, net als reiche Hoferbin.«
»Und das tust du?«
»Freilich. Sie ist das zauberhafteste Madel, das ich kenne.«
So schnell ließ der Vater sich nicht überzeugen. »Im Moment vielleicht. Aber reden wir doch mal offen: Du wirst ihr net lange treu sein können. Das liegt bei uns Leitners einfach nicht im Naturell. Ich sprech aus Erfahrung.«
Christian grinste anzüglich. »Was du net sagst, Vater …«
Der räusperte sich unwillig und tadelte dabei eher halbherzig: »Ein bisserl mehr Respekt bitt ich mir aus. Es geht jetzt net um mich, sondern einzig und allein um dich. Ist es dir also wirklich ernst mit dem Madel?«
»Das hab ich doch gesagt. Die Marie ist die Rechte für mich.«
Sepp Leitners Miene entspannte sich. »Schön, das höre ich gern. Dann muss dir aber auch klar sein, dass in nächster Zeit keine Extratouren drin sind. Du musst der Marie treu sein, zumindest bis du sie zum Taualtar führst. Denkst du, dass du das schaffen wirst?«
Der Bursch tat entrüstet. »Vater, du scheinst mir net zugehört zu haben. Ich liebe die Marie, ich denke net einmal mehr an eine andere. Alle Madeln in Wolfenstein sind mir einerlei, seit ich die Marie kenne. Deshalb ist es keine Frage für mich, dass ich ab sofort völlig monogam lebe.« Er grinste selbstbewusst. »Ich hab mich ja vor der Ehe genügend ausgetobt, net wahr?«
»So, so.« Der Viehhändler und Bürgermeister von Wolfenstein wirkte noch immer skeptisch. Dass aus seinem Sohn von einem Tag zum anderen plötzlich ein ganz anderer geworden war, dass Christian sich sozusagen vom Saulus zum Paulus gewandelt hatte, das erschien ihm doch ein wenig suspekt. Aber er wollte es gern glauben, denn es passte ihm äußerst gut ins Konzept.
Der Bursch war nach diesem Gespräch mit sich und der Welt zufrieden. Den Rest des Abends verbrachte er übrigens in der Kammer der schönen Magd Gabi, die einfach nicht genug von ihm bekommen konnte.
Christian Leitner hatte nämlich keineswegs vor, Marie treu zu sein. Er hatte sie ebenso wie seinen Vater kalt lächelnd angelogen, denn in Wirklichkeit hatte er ganz andere Pläne.
Der skrupellose Bursch war es einfach leid, die vorwurfsvollen Blicke der Mutter und die versteckten Andeutungen des Vaters noch länger zu ertragen. Dass er keinem Madel treu sein konnte, stimmte nicht ganz. Es war eher so, dass er keiner treu sein wollte. Die Liebe war für ihn ein Spiel mit ungezählten Varianten. Nie und nimmer wäre es ihm in den Sinn gekommen, sich lebenslang an eine Frau zu ketten.
Aus diesem Grund hatte Christian schon länger Ausschau nach einem Madel gehalten, das für seine Zwecke infrage kam. Und in Marie Hallhuber, da war er sicher, hatte er das ideale Opfer gefunden. Er hatte sie eingeseift und würde ihr von nun an den treuen, liebevollen Mann vorspielen, während er heimlich tat, wozu er Lust hatte. Wenn es nach ihm ging, konnte das ein Leben lang so funktionieren.
Er schätzte Marie als naiv und gutgläubig ein und traute sich zu, sie immer wieder von seinen ehrlichen Gefühlen und seiner Treue überzeugen zu können. So würde er mit bestem Gewissen in eine Ehe gehen, in der ganz nach seinen Regeln gespielt wurde. Und das Beste daran war, dass Marie von alldem keine Ahnung haben würde.
Christian hielt sich für überaus gerissen. Er spielte aller Welt etwas vor, war für Marie, die Eltern und den strengen Schwiegervater der treu sorgende Ehemann und bald auch Vater. Hatte Marie erst Kinder, dann würde sie ganz in ihrer Rolle aufgehen und glücklich sein. Und sie würde niemals hinter die Wahrheit kommen, dafür wollte er schon sorgen.
***
Einige Wochen vergingen für Marie in scheinbarer Harmonie. Die erste Verliebtheit verflog allmählich, aber das Madel spürte noch immer die berühmten Schmetterlinge im Bauch, wenn Christian in ihrer Nähe war. Die Vorbereitungen für ihre Verlobungsfeier nahmen langsam Formen an.
Der Einzige, der sich dazu skeptisch äußerte, war Bernd. Des Öfteren fragte er seine Schwester, ob das denn nicht zu schnell gehe, sie sich nicht mehr Zeit lassen wolle. Doch sie beruhigte ihn mit der Beteuerung, dass sie sich ihres Liebsten ganz sicher sei.
Tief im Herzen regten sich allerdings auch bei Marie leise Zweifel, meist wenn sie allein war und Zeit zum Nachdenken hatte. Manchmal, wenn Christian zu spät zu einer Verabredung kam oder geistig abwesend war, dann fragte sie sich, ob er nicht doch etwas vor ihr verheimlichte. Waren all die Gerüchte über ihn tatsächlich nur erfunden? Oder war vielleicht doch etwas dran?
Sie wollte es nicht glauben, denn das Glück, das er ihr schenkte, wenn sie zusammen waren, konnte und wollte sie nicht durch Misstrauen aufs Spiel setzen. Und wenn er bei ihr war, dann hing der Himmel sowieso voller Geigen. So bemühte Marie sich, jeglichen Zweifel und jeden Anflug von Unsicherheit sogleich im Keim zu ersticken. Mit Christian hatte sie die große, die wahre Liebe gefunden. Daran wollte sie glauben.
Dann kam der Tag der Verlobung. Der Hallhuber-Hof war festlich geschmückt, groß war die Zahl der geladenen Gäste und Gratulanten, Glückwunschkarten und Geschenke häuften sich wie die Vorboten eines wunderbaren Traums, der Wirklichkeit geworden war. Am Abend vor dem Fest ging Marie durch alle Räume, um sicherzustellen, dass nichts vergessen worden war und die Verlobungsfeier gelingen würde.
Sie fühlte sich plötzlich allein und sehnte Christian an ihre Seite. Er hatte sie am frühen Abend angerufen und sich bei ihr entschuldigt, weil er angeblich noch im Büro zu tun hatte. Marie beschloss, ihn zu überraschen.
Wenig später verließ das Madel den Hof und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Viehhandlung. Es war nicht sehr weit, Marie genoss den Gang durch die milde Abendluft, in der allerlei Blütendüfte an den kommenden Sommer erinnerten. Der Himmel war klar und rauchblau, über dem Ettenberg lag ein letzter Widerschein von Licht. Leises Vogelgezwitscher und die Abendglocken machten das Idyll perfekt.
Es war ein so schöner Abend, viel zu schade, um ihn drinnen zu verbringen. Vielleicht konnte Marie Christian ja noch zu einem Spaziergang überreden. Sie dachte an ihre Bank am Hintersee, wo sie schon viele romantische Stunden zusammen verbracht hatten.
Mit einem Lächeln betrat Marie gleich darauf die Viehhandlung. Sie wusste, wo Christians Büro war, und steuerte es ohne Zögern an. Seine Sekretärin schien bereits heimgegangen zu sein, ihr Platz im Vorzimmer war leer. Marie bemerkte, dass die Tür zum angrenzenden Büro nur angelehnt war. Sie wollte sie öffnen, als ihr Blick durch den Spalt in den Raum dahinter fiel. Und sie hatte plötzlich das schreckliche Gefühl, in einem Albtraum zu stecken. Was sie dort sah, das konnte doch unmöglich wahr sein!
Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongelaufen. Doch was für einen Sinn sollte das haben? Das Bild, das sich ihr hier bot, hatte sich bereits in ihr Fühlen und Denken eingebrannt. Verletzend, vernichtend und zudem unauslöschlich!
Christian hielt seine Sekretärin im Arm, während sie einen leidenschaftlichen Kuss tauschten. Seine Hände wanderten über ihre Rundungen, und die beiden waren so miteinander beschäftigt, dass sie nichts anderes wahrzunehmen schienen.
Marie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Kurz dachte sie daran, einfach ins Zimmer zu platzen und Christian bloßzustellen. Aber dann schämte sie sich doch zu sehr. Sie war wie gelähmt, unfähig, etwas anderes zu tun, als hier zu stehen und ungläubig zu starren. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, löste sich die Starre, und das Madel taumelte tränenblind aus dem Büro.
Für Marie war an diesem Abend eine Welt zusammengebrochen. Während sie verzweifelt und völlig am Boden zerstört nach Hause rannte, wünschte sie sich, auf ihren Bruder gehört und Christian niemals vertraut zu haben. All seine Liebesschwüre, all seine Küsse und Zärtlichkeiten waren nichts als Lüge gewesen! Es war vorbei, ihr Traum von der großen Liebe war an diesem Abend für immer zerstört worden …
Als Marie über den Wirtschaftshof zum Haus eilte, trat Bernd gerade aus dem Stall. Er musste nur einen Blick auf seine Schwester werfen, um zu wissen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Rasch folgte er ihr, rief ihren Namen, erhielt aber keine Antwort.
Bernd warf einen Blick in alle Stuben, ohne seine Schwester aufzuspüren. Also lief er die Stiege hinauf und klopfte an ihre Kammertür. Drinnen war leises Weinen zu hören. Er klopfte noch einmal, aber Marie reagierte nicht. Da trat er einfach ein, ging zu ihr und fragte: »Was ist denn passiert? Was hast du?«
Das Madel lag auf dem Bett, hatte das Gesicht in den Händen vergraben und schluchzte so verzweifelt, dass es Bernd angst und bang wurde. Er setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, legte seine große Hand unendlich behutsam auf ihr Haar und wiederholte seine Frage noch einmal.
»Geh weg, Bernd«, nuschelte Marie elend. »Ich will niemanden sehen, ich will mit keinem reden. Nie wieder!«
»Das wird aber ein langweiliges und stilles Leben«, scherzte er unbeholfen. »Mariele, bitt schön, sag mir, was dich quält! Du kannst doch am Tag vor deiner Verlobung net so unglücklich sein. So was gibt es einfach net.«
»Verlobung?« Sie spie das Wort richtiggehend aus. »Es wird keine Verlobung geben. Ich will den Christian nie wiedersehen!«
»Hat er dir was angetan?« Bernd ballte die Hände zu Fäusten. »Das soll er wagen, dann …«
»Ach, Bernd …« Sie schmiegte sich an seine breite Brust. Ein paar erstickte Schluchzer kamen noch, dann wurde sie allmählich ruhiger. Der Bruder wischte ihr vorsichtig die Tränen ab und schaute sie dann aufmerksam an. All die Liebe und all das Verständnis, das schon immer in seinem Blick gewesen waren, hätte Marie sich von Christian gewünscht. Aber da war nichts als Lüge und Betrug. Sie stöhnte gequält auf.
»Also, was war los? Was hat der Hundling dir angetan?«
Sie senkte den Blick, ganz klein war ihre Stimme, als sie bekannte: »Ich schäme mich, es zu sagen. Ich wollte ihn in seinem Büro überraschen. Und das ist mir leider gelungen.« Die Tränen wollten schon wieder fließen, aber Marie schluckte sie energisch hinunter und fuhr bitter fort: »Er hat mit seiner Sekretärin rumgemacht.«
»So ein Hundling!«, entfuhr es Bernd. Dem grundehrlichen Burschen war ein solches Verhalten völlig fremd. »Ich sollte ihm eine Abreibung verpassen, die er so schnell net vergisst. Damit er statt am Verlobungstisch auf dem OP-Tisch im Spital landet!«
»Net, Bernd, das hätte doch keinen Sinn«, widersprach sie ihm traurig. »Es ist vorbei. Ich hab mich völlig geirrt, du hattest recht. Ich hätte dem Christian nie vertrauen dürfen. Er kann eben keiner treu sein, auch mir net.« Sie straffte sich. »Nur gut, dass das heut passiert ist. Wenigstens weiß ich jetzt über ihn Bescheid. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte die Wahrheit vielleicht erst nach der Hochzeit erfahren …«
»Wir müssen das Fest morgen absagen. Vor allem müssen wir zuerst mit dem Vater reden. Es ist seine Sache, dem Leitner die Meinung zu geigen. Auch wenn ich das liebend gern übernehmen würde. Und net nur mit Worten!«
Marie schnäuzte sich und schaute ihren Bruder zutiefst unglücklich an. »Kommst du mit, wenn ich mit dem Vater rede? Ich könnte deinen Beistand brauchen.«
»Freilich. Sagen wir es ihm gleich, dann kann er seinem Spezl noch heut Abend Bescheid stoßen.«
***
Franz Hallhuber musterte seine Kinder schweigend.
Nachdem Marie ihm erzählt hatte, was geschehen war, entstand eine längere Pause, die für das Madel immer unangenehmer wurde, während sein Bruder den Vater mit wachsendem Unverständnis ansah. Das nahm der sogleich zum Anlass, ausfallend zu werden.
»Was glotzt du mich denn an wie die Geiß, wenn’s blitzt, du damischer Hirsch? Schleich di, aber schnell. Ich hab was mit deiner Schwester zu bereden, das geht dich nix an.«
»Bitte, Vater, lass den Bernd hier. Ich möchte es so«, bat Marie irritiert. Auch sie konnte sich auf das Verhalten des Bauern keinen rechten Reim machen.
»Von mir aus, wenn’s sein muss«, knurrte der. »Obwohl ich net seh, was der Lackel dabei soll. Aber bitte. Und was erwartest jetzt von mir?«
»Aber, Vater, du musst doch einsehen, dass ich den Christian unter den Umständen nimmer heiraten kann. Ich mein, wenn er mich schon am Abend vor der Verlobung betrügt.«
»Er hat dich betrogen? Ich dachte, er hat nur ein bisserl an seiner Sekretärin herumgefummelt.« Der Bauer grinste anzüglich. »Da ist nix dabei, so sind die Leitners nun mal. Wirst dich umgewöhnen müssen, Madel, bei denen sieht man so was net so eng wie hier. Die sind eben ganz locker.«
»Was?« Marie meinte, sich verhört zu haben. »Seit wann findest du so ein Verhalten denn richtig?«
»Es geht hier net darum, was ich richtig finde. Im Grunde geht mich das alles gar nix an. Ihr seid beide erwachsen. Wenn dir was net passt, wende ich an den Christian. Klärt die Sache, damit wir morgen bei der Verlobung nur lustige Gesichter sehen, verstanden? Mehr hab ich dazu net zu sagen.«
Das Madel starrt den Alten an, als hielte es ihn für übergeschnappt. Bernd zog scharf die Luft ein und fragte: »Ist das dein Ernst, Vater? Soll die Marie einen heiraten, der schon vorher hemmungslos fremdgeht? Ist dir eine gute Partie so viel wert? So eine Einstellung trau ich net einmal dir zu.«
Franz Hallhuber wurde eine Spur blasser. Seine Lippen zogen sich so fest zusammen, dass sie nur noch einen Strich bildeten, gleichzeitig schwoll seine Zornesader fingerdick an. Das waren die untrüglichen Zeichen eines bevorstehenden Tobsuchtsanfalls. Bernd ging diesem sonst lieber aus dem Weg, wenn es möglich war. Aber in diesem Fall blieb er ruhig und wartete ab. Marie sank in einen Sessel und vergrub das Gesicht mit einem erstickten Seufzer in den Händen.
Dann brach das Unwetter los. »Du vermaledeiter Hammel! Was bildest du dir ein, hier solche Reden zu schwingen!«, brüllte er. Seine Stimme brachte sogar die Fensterscheiben zum Vibrieren, jedenfalls hatte Marie den Eindruck.
Sie presste die Hände auf die Ohren, denn sie meinte, dieses Gebrüll keine Sekunde länger aushalten zu können. Wie konnte der Vater ihr das nur antun, nach allem, was sie an diesem Tag schon durchgemacht hatte? Es war nicht zu fassen.
»So eine unglaubliche Frechheit! Von einem Saubartl wie dir lass ich mir gewiss nix anschaffen! Schleich di auf der Stell, oder aber ich vergesse mich und …«
»Was tust denn schon die ganze Zeit?«, hielt Bernd ihm entgegen. »Mich zu beschimpfen macht nix besser. Nimm dich zusammen, Vater, es geht hier um die Marie! Sie braucht jetzt unseren Beistand, net deine Brüllerei!«
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist, in dem Ton mit mir zu reden? Himmelhund, elendiger! Das hast net umsonst getan. Ich werde dich Mores lehren, du missratener, verdammiger …«
»Hört endlich auf zu streiten!«, rief Marie da verzweifelt.
Bernd legte einen Arm um ihre zuckenden Schultern und schwieg.
Der Bauer stand mit hängenden Armen mitten in der Stube. Er atmete flach, dann drohte er: »Ihr zwei werdet mich kennenlernen, wenn ihr euch erdreisten solltet, das Fest morgen abzusagen. Die Verlobung findet statt!«
»Das kann doch net dein Ernst sein.« Bernd trat seinem Vater entgegen und schaute ihn ruhig an. Nur in seinen Augen brannte das Feuer der Empörung. »Die Marie wird den Christian net heiraten!«
»Ach ja? Und wer bestimmt das, du Glezn? Hier hab noch immer ich das Sagen. Und ich befehle …«
»Du hast uns nix zu befehlen. Wir sind beide erwachsen. Wenn die Marie den Christian nimmer will, dann ist das ihre Entscheidung. Und ich werde ihr beistehen!«
Franz Hallhuber lachte höhnisch. Dann holte er aus und versetzte seinem Sohn eine schallende Watschen. Marie sprang auf und wollte dazwischengehen. Das mochte der Bursch nicht zulassen. Er versetzte dem Vater einen Stoß vor die Brust, der diesen nach hinten taumeln ließ.
Franz Hallhuber war so überrascht von dieser Gegenwehr, dass er ein ziemlich dummes Gesicht machte. Doch das hielt nicht lange an. Gleich stieg wieder der Zorn in seinen Blick, und er brüllte: »Du wagst es, die Hand gegen mich zu erheben? Das wirst du noch bereuen, du … du …«
»Sind dir die Schimpfworte vielleicht ausgegangen?«, fragte der Bursch müde und wandte sich ab. »Komm, Marie, gehen wir! Es hat doch keinen Sinn. Mit dem Vater ist einfach net vernünftig zu reden. Wir müssen das Fest absagen und …«
»Warte, Bernd. Da stimmt doch was net.« Das Madel trat zu dem Alten, der in einen Sessel gesunken war. Sein eben noch zornrotes Gesicht war bleich, fast wächsern. Er atmete nur mühsam, sein Blick irrte wie suchend durch die Stube. Dabei war seine Rechte zum Herzen gewandert und krampfte sich dort fest.
»Vater, was ist dir? Hast du Schmerzen?«, fragte Marie bang.
»Ich …« Er schien etwas sagen zu wollen, aber nur ein leises Röcheln kam über seine Lippen. Und dann verlor er das Bewusstsein.
Bernd packte seinen Vater und brachte ihn in eine entlastende Lage, zugleich wies er seine Schwester an, den Notarzt zu rufen. »Das schaut nach einem Herzanfall aus«, stellte er unbehaglich fest. »So hat es ja kommen müssen bei alldem sinnlosen Zorn.«
Marie eilte zum Telefon. Sie rief den Dorfarzt an und dann die Rettung, um auf Nummer sicher zu gehen. Und dieses Verhalten erwies sich als richtig, denn als der Doktor gleich darauf eintraf, stellte er rasch fest, dass Franz ins Spital musste.
Er spritzte dem Bewusstlosen ein entkrampfendes Mittel und wartete, bis sich dessen Zustand ein wenig stabilisierte. Dann verließ er zusammen mit den Geschwistern die gute Stube und erklärte: »Es könnte ein Infarkt sein. Aber das müssen die Kollegen im Spital genauer abklären.« Er hob die Augenbrauen. »Und das am Abend vor deiner Verlobung, Marie.«
»Wir sagen das Fest ab«, erklärte das Madel automatisch.
Wenig später kam der Notarzt und nahm den Bauern gleich mit ins Spital nach Berchtesgaden. Marie wollte ebenfalls in die Stadt fahren, aber der erfahrene Mediziner meinte: »Warte bis morgen, dann wird die Diagnose feststehen.«
Das Madel gab sich schließlich damit zufrieden. Nachdem der Krankenwagen abgefahren war, schauten die Geschwister sich bekümmert an. Was soll nun werden? Diese Frage stand im Raum, ohne dass sich darauf eine gescheite Antwort finden ließ.
***
Sehr zeitig am nächsten Morgen erschien Christian auf dem Erbhof. Marie lehnte es ab, mit ihm zu reden, weshalb er mit ihrem Bruder vorliebnehmen musste. Noch ahnte er nicht, warum das Verlobungsfest wirklich abgesagt worden war. Bernd zögerte aber nicht, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Das muss ja ein schlimmer Schock für die Marie gewesen sein«, meinte der junge Viehhändler scheinbar mitfühlend. »Dass euer Vater es mit dem Herzen hat, wusste ich gar net. Und das ausgerechnet am Abend vor der Verlobung!«
»Dass der Vater zusammengebrochen ist, war die Folge eines seiner typischen Wutanfälle. Er hat wie ein Narrischer herumgebrüllt, bis es ihn umgehauen hat«, berichtete Bernd.
»Ein Wutanfall? Wieso denn das?«