5,99 €
Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!
Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.
Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Alpengold 196: Hab den Mut zur Wahrheit, Karin!
Bergkristall 277: Liebe ohne Hoffnung
Der Bergdoktor 1749: Der fremde Gast im Waldhäusl
Der Bergdoktor 1750: Die Rose, die keiner pflückte
Das Berghotel 133: Sag mir, was dein Herz bedrückt
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
Jetzt herunterladen und sofort sparen und lesen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 626
Sissi Merz, Rosi Wallner, Andreas Kufsteiner, Verena Kufsteiner
Heimat-Roman Treueband 38
Cover
Impressum
Hab den Mut zur Wahrheit, Karin!
Vorschau
Hab den Mut zur Wahrheit, Karin!
Wird ihr Mann sie nach ihrer Beichte verstoßen?
Von Sissi Merz
Hals über Kopf verliebt sich die hübsche Karin in den feschen Burgmüller-Michael, und nichts und niemand kann sie davon abhalten, den talbekannten Abenteurer und Extremsportler zu heiraten. Aber eine waghalsige Kraxeltour in einer abgelegenen Steilwand wird Michael zum Verhängnis: Vor den Augen seiner Spezln stürzt er in die Tiefe! Seine Leiche aber bleibt auch nach Monaten noch unauffindbar!
In dieser schweren Zeit steht Thomas, Michaels Bruder, Karin treu zur Seite. Und als es wieder Sommer wird im Werdenfelser Land, da hat sich ihre Freundschaft in eine tiefe, unverbrüchliche Liebe verwandelt. Die beiden wollen nun ihr Glück für immer festhalten …
Doch da taucht unvermutet der tot geglaubte Michael auf dem Berghof auf! Er erscheint wie ein Rächer und Richter, der aus seinem steinigen Grab aufgestiegen ist, um die untreue Frau zu bestrafen …
Es ging eben auf fünf Uhr am Morgen zu. Der erste, schwache Schein des neuen Tages lag im Osten am Firmament, als Thomas Burgmüller das Haus verließ und hinüber in den Stall ging.
Der junge Bauer wollte nach einer kranken Kuh sehen, deren Zustand sich am vergangenen Tag verschlechtert hatte. Sein Bruder Michael war sich mit dem Viehdoktor einig gewesen, dass der Schlachthof in diesem Fall die richtige Adresse sei, doch Thomas gab nie vorschnell ein Tier auf.
Der hochgewachsene Bauer mit dem dichten, hellbraunen Haar und den klugen grauen Augen warf einen missbilligenden Blick auf den Jeep seines Bruders, der voll beladen auf die Abreise wartete. Michael wollte mal wieder auf Klettertour gehen. Es genügte ihm aber nicht, die nahe Zugspitze oder den Waxenstein zu bezwingen, es musste ein Gipfel in den Pyrenäen sein.
Thomas betrat den Stall, wo ihn die Wärme und der wohlvertraute Geruch der Tiere empfingen, den er von klein auf gewöhnt war. Dabei dachte er an die Vergangenheit, vor allem an die Kindheit, die für ihn und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder auf den ersten Blick ganz ähnlich verlaufen war.
Beide Burschen waren auf dem Berghof im Werdenfelder Land geboren und aufgewachsen. Das Anwesen lag oberhalb des Ortes Wiesbach, etwa zwanzig Kilometer von Garmisch entfernt.
Die Eltern hatten sie ihren Neigungen entsprechend gefördert. Thomas hatte sich von klein auf für die Landwirtschaft interessiert. Er liebte alle Tiere und hatte ein besonderes Händchen im Umgang mit ihnen. Michael wollte da natürlich nicht zurückstehen. Auch wenn der fesche, sportliche Bursch aus allem eine Schau machte und allzu gern im Mittelpunkt stand.
Thomas nahm ihm das nie übel. Er gönnte dem Jüngeren die Aufmerksamkeit seiner Umgebung und sah ihm, ebenso wie die Eltern, seine kleinen »Marotten« geduldig nach.
Heute fragte Thomas sich, ob das nicht ein Fehler gewesen war. Vielleicht wäre aus Michael kein solcher Angeber und Egoist geworden, wenn er als Kind auch an Grenzen gestoßen wäre. Doch das war nie der Fall gewesen.
Die früh verstorbenen Eltern waren im Gegenteil stolz auf Michael gewesen, der seit seinem sechzehnten Lebensjahr seinem Hobby, dem Extrembergsteigen, frönte. Er hatte bereits an unzähligen Wettbewerben teilgenommen und sich in einschlägigen Kreisen einen Namen gemacht.
Thomas trat in die Einzelbox, in der die kranke Kuh stand, und untersuchte sie behutsam. Dass er Bauer geworden war für ihn nie eine Frage gewesen.
Michael hatte den gleichen Weg eingeschlagen, allerdings nur, weil der Bruder dies getan hatte. Er wollte alles erreichen, was Thomas schaffte, um diesen dann zu übertrumpfen.
Früher hatte Thomas großzügig darüber hinweggesehen. Heute fragte er sich, ob es nicht besser gewesen wäre, Michael auszubezahlen, damit der woanders sein eigenes Leben aufbauen konnte. Denn im Grunde gab es auf dem Berghof nur einen Bauern, und das war Thomas.
Michael tat sich gern groß, wenn es darum ging, ein gutes Geschäft mit dem Viehhändler abzuschließen oder neue Verkaufsmöglichkeiten für ihre Produkte aufzutun. Er war sehr charmant, gewandt und verfügte über einen unschlagbaren Wortwitz, der jeden gleich für ihn einnahm. Die Bauernarbeit lag ihm allerdings nicht. Zumal er die Hälfte des Jahres mit Kraxeltouren überall auf der Welt verbrachte.
Die Kuh war nicht mehr so heiß wie am Vorabend, das Fieber schien gesunken zu sein. Thomas maß es, um sicherzugehen, und empfand ein Gefühl der Zufriedenheit. Mit dem pflanzlichen Mittel, das er dem Tier verabreicht hatte, konnte er auch in diesem Fall einen Erfolg verzeichnen. Wenn nun die Antibiotika des Viehdoktors noch ihre Wirkung taten, würde die Kuh in ein paar Tagen wieder gesund sein.
Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf den markanten Zügen des jungen Bergbauern. Er gab dem Tier noch ein paar Rübenschnitze, die es besonders liebte, und verließ dann den Stall. Mittlerweile hatte der Himmel sich im Osten rot verfärbt. Über dem Waxenstein schimmerte bereits das matte Gold der aufgehenden Sonne und versprach einen schönen Sommertag.
Thomas sah, dass in der Küche Licht brannte. Seine Schwägerin Karin war auch schon auf den Beinen. Ein etwas wehmütiger Ausdruck trat in seine Augen, als er ihre schmale Silhouette kurz hinter dem Fenster gewahrte.
Drei Jahre war es nun her, dass Karin auf dem Berghof als Hauserin eingestanden war. Damals war die Altbäuerin gerade verstorben, Thomas trauerte sehr um die geliebte Mutter, während Michael pragmatisch reagiert und eine Hauserin eingestellt hatte.
Die bildschöne Karin mit den großen, himmelblauen Augen, dem herzförmigen Gesicht und dem glänzenden, kastanienbraunen Haar hatte Thomas auf den ersten Blick gefallen. Und zunächst hatte es auch so ausgesehen, als fühlte sie sich eher zu dem ruhigen, einfühlsamen der beiden Brüder hingezogen. Zwischen ihnen war eine Freundschaft entstanden, aus der durchaus mehr hätte werden können, wenn … ja, wenn Michael nicht da gewesen wäre.
Michael hatte Karin den Kopf verdreht und sie nach einem halben Jahr geheiratet. Dass das schöne Madel seinem Bruder auch gefallen könnte, daran hatte er keinen Gedanken verschwendet. Und die letzten beiden Jahre waren dann auch durchaus nicht so verlaufen, wie Karin sich das gewünscht hätte.
Nachdem die erste stürmische Verliebtheit vorbei war, kehrte Michael zu seinen alten Gewohnheiten zurück. Er verbrachte viel Zeit mit seinen Bergkameraden, und bald plante er auch wieder Klettertouren, die eine oder zwei Wochen dauerten.
Anfangs hatte Karin noch darauf gehofft, dass er sie mitnehmen würde. Aber dieser Gedanke war Michael nie gekommen. Und als sie ihn danach fragte, da lachte er nur und meinte, dies sei eine eingeschworene Männergemeinschaft, da hätten Frauen nix zu suchen. Also hatte Karin sich damit abgefunden, dass ihr Mann meist nicht da war, auch wenn sie darüber alles andere als glücklich war.
Thomas gab sich Mühe, ihr ein guter Freund zu sein. Er war stets für sie da, wenn sie Kummer hatte, und manchmal war es fast so, als würden sie beide gemeinsam den Hof bewirtschaften und ihr Leben teilen.
Freilich behielt Thomas solche Gedanken für sich. Auch wenn er Karin sehr gern hatte, sie war nun die Frau seines Bruders, und er respektierte den goldenen Ring, den sie trug. Leicht war es für ihn allerdings nicht, mit anzusehen, wie Michael Karin vernachlässigte und keinen Gedanken daran verschwendete, was sie dabei empfand.
Die Kraxeltour in den Pyrenäen, zu der er an diesem Tag aufbrechen wollte, war da ein Paradebeispiel. Sie sollte bis zum Wochenende dauern. Michael hatte Karin aber versprochen, einen Tag früher heimzukommen, denn sie feierten ihren zweiten Hochzeitstag.
Thomas war überzeugt, dass sein Bruder nicht daran dachte, pünktlich zurück zu sein. Er wollte seine Frau nur beruhigen, um einmal mehr seinen Willen durchzusetzen.
Dachte der junge Bergbauer darüber nach, dann schwoll ihm die Zornesader. Er beschloss, Michael vor seiner Abreise streng ins Gewissen zu reden. Auch wenn er ahnte, dass dies wenig, bis nichts nutzen würde, wollte er es doch wenigstens versuchen. Der Bruder sollte sich nicht einbilden, dass er seine Extratouren billigte.
Als Thomas gleich darauf die Küche betrat, wünschte Karin ihm einen guten Morgen und reichte ihm ein Haferl Kaffee.
»Wie geht es der Milli?«, fragte sie interessiert. »Schon besser?«
»Ja, wirklich. Das pflanzliche Mittel hat angeschlagen.« Er ließ sich an der Eckbank nieder und schaute zu, wie Karin mit geschickten Händen das Frühstück für Bauersleute und Gesinde richtete. Im ersten Licht des Tages erschien sie ihm so schön wie eine Bergfee.
»Das freut mich«, versicherte sie ehrlich. Karin hatte auch einen besonderen Draht zu den Tieren auf dem Hof. »Es wäre schade gewesen, wenn du sie nicht hättest retten können. Sie ist eine wirklich gute Milchkuh und ein treues Tier.«
Thomas lächelte verhalten, als er zugab: »Ja, ich hab sie auch gern. Seltsam, das eine Tier wächst einem mehr ans Herz als die anderen. Wie das wohl kommt?«
Karin erwiderte sein Lächeln, als sie feststellte: »Du hast doch alle Viecherln gern, du Assisi.«
»War das jetzt ein Kompliment oder ein Scherz?«, wunderte er sich und trank seinen Kaffee.
»Ein Kompliment. Mir ist noch nie jemand begegnet, der so gut mit Tieren umgehen kann wie du, Thomas. Bist der geborene Bergbauer.« Kurz beschattete sich ihr ebenmäßiges Gesicht, als sie noch hinzufügte: »Gut, dass es so ist. Ohne dich wäre der Hof verloren. Ein Bauer, der nie daheim ist, ist keiner.«
In diesem Moment erschien Michael in der Küche. Er war bester Laune, drückte seiner Frau ein stürmisches Busserl auf die weichen Lippen, rieb sich die Hände und meinte leichthin: »Ich hab einen rechten Hunger. Jetzt ein anständiges Frühstück, dann kann es endlich losgehen! Mei, ich freu mich. Diese Wand, die da auf mich wartet, ist eine echte Herausforderung. Aber ich werde sie bezwingen. Alles, was ich will, das schaffe ich auch!«
Thomas erhob sich und bat seinen Bruder: »Komm doch mal kurz mit, bevor wir essen. Ich wollte noch was mit dir bereden.«
»Was hast du denn wieder auf dem Herzen, alter Bärbeiß?« Michael legte seinem Bruder eine Hand auf den Rücken. »Dann los, aber net zu lang, ich will zeitig abfahren.«
Karin schaute den beiden mit einem Blick hinterher, der Bände sprach. Und es war bezeichnend, dass nur Thomas ihn bemerkte.
***
Die Brüder Burgmüller waren gleich groß und sahen einander recht ähnlich. Auch Michael war hochgewachsen, hatte dichtes, braunes Haar und ein gut geschnittenes Gesicht. Seine Augen aber waren tiefblau. Und man hatte den Eindruck, dass stets ein kleiner Schalk in diesem Blick spukte. Der junge Mann schien nichts im Leben wirklich ernst zu nehmen. Und war er gezwungen, dies zu tun, so wie jetzt, reagierte er mit Spott und Ironie.
Thomas betrat das Arbeitszimmer und blieb neben dem Fenster stehen. Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust, musterte seinen Bruder mit ruhiger Miene und fragte: »Musst du unbedingt verreisen? Kannst du net einmal auf eine solche Tour verzichten? Es ist ja net so, als wäre das eine einmalige Angelegenheit oder als hinge irgendwas davon ab.«
»Was geht denn dich das an? Ich mische mich ja auch net in deine Entscheidungen«, hielt der Jüngere ihm schnippisch vor. »Was den Hof betrifft, das ist unser beider Sache. Alles andere überlasse bitt schön mir. Und jetzt hab ich Hunger.«
»Nun warte mal einen Moment. Es geht ja schließlich um den Hof. Hast du vielleicht mal daran gedacht, dass ich auch irgendwann einen Urlaub brauchen könnte? Du verlässt dich darauf, dass hier alles weiterläuft, ohne danach zu fragen.«
Michael stutzte. Er schien sich darüber, tatsächlich noch nie Gedanken gemacht zu haben.
Widerwillig fragte er: »Hast du auch Pläne? Das hättest du mir aber früher sagen können. Nun ist alles schon abgemacht und …«
Thomas verdrehte die Augen und schüttelte leicht den Kopf. »Ich hab manchmal das Gefühl, du verstehst mich mit Absicht falsch. Freilich denk ich im Juni net dran zu verreisen. Das ist schließlich die arbeitsreichste Zeit auf dem Hof.«
»Na also!« Michael lachte unbekümmert auf. »Dann ist doch alles in Butter. Manchmal bist wirklich komisch, Thomas.«
»Mag sein, dass dir das so vorkommt. Ich versuche aber nur, dir klarzumachen, dass du net allein auf der Welt bist.«
»Wem schade ich denn, wenn ich kraxeln geh?«
»Der Karin, zum Beispiel. Findest du net, dass sie einen besonderen Hochzeitstag verdient hätte, wo sie schon die meiste Zeit auf dich verzichten muss?«
»Schmarren. So oft bin ich net unterwegs. Außerdem werde ich am Hochzeitstag daheim sein, das hab ich der Karin versprochen, und das halte ich auch.«
»Wer’s glaubt …«
Michael winkte ab. »Du wirst es erleben. Und jetzt hab ich keine Lust mehr, mir deine Miesmacherei noch länger anzuhören.«
Er wandte sich zum Gehen, da packte Thomas ihn am Arm und drückte ihn gegen die Wand. Er starrte seinen jüngeren Bruder aufgewühlt an, während er diesen mit unterdrückter Wut wissen ließ: »Was du da abziehst, ist der pure Egoismus. Wenn’s nur mich betreffen tät, würde ich schweigen, denn das bin ich ja gewöhnt. Aber du machst die Karin unglücklich. Und dabei schau ich net tatenlos zu, hörst? Dafür, ist sie viel zu schad!«
Michael lächelte spöttisch. »Mei, Bruderherz, reg dich ab. Die Welt ist voller hübscher Madeln. Wenn du unbedingt den Kavalier spielen willst, such dir eine andere. Die Karin ist meine Frau. Und die behandle ich, wie ich es für richtig halte.« Kurz wurde sein Blick unangenehm kalt und drohend. Thomas wünschte sich, dass Karin ihren Mann einmal so erleben würde. Vielleicht gingen ihr dann die Augen auf. Doch bei ihr gab er stets den aalglatten Charmeur, der nicht zu fassen war.
Der Bergbauer gab seinen Bruder frei und wandte sich ab. Ein Gefühl von Sinn- und Hilflosigkeit erfüllte sein Herz und machte es ihm schwer, rein äußerlich ruhig und gelassen zu scheinen.
Michael schlug ihm auf die Schulter und lachte, dann verließ er das Arbeitszimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Gleich nach dem Frühstück machte der Kraxler sich dann auf den Weg. Seine beiden Bergkameraden aus Wiesbach waren in der Zwischenzeit mit einem zweiten Jeep eingetroffen. Als Karin nach draußen in den Wirtschaftshof trat, um ihrem Mann noch eine Wegzehrung mitzugeben, hatten die drei Spezln eine Karte auf der Motorhaube ausgebreitet und sprachen den Weg ab.
»Mach dir keine Sorgen, Herzerl, am Samstag bin ich wieder da«, versprach er und schenkte ihr ein langes Busserl. Karin schmiegte sich an seine breite Brust. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, nicht zu weinen, konnte sie nun die Tränen doch nicht unterdrücken. Sie wusste, dass Michael das nicht mochte. Und er reagierte auch prompt ungehalten. »Was soll denn die Heulerei? Willst mir den Tag versauen?«, murrte er.
»Freilich net.« Sie schnäuzte sich verlegen und war dann bemüht, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. »Ich wünsch dir alles Gute. Übertreib es net, gib gut acht. Und vergiss mich nicht. Ich warte am Samstag auf dich.«
»Ich werde da sein«, versprach er halbherzig, dann schwang er sich in seinen Jeep und brauste mit einem Kavalierstart vom Hof. Karin stand noch eine Weile da, folgte mit dem Blick den beiden Wagen, die durch die zahlreichen Serpentinen der Bergstraße talwärts fuhren, und hatte dabei ein ganz schlechtes Gefühl.
Als Thomas neben sie trat, gab sie zu: »Ich hab Angst. Diese Kraxeltour ist gefährlich. Der Michi hat mir den Weg auf der Karte gezeigt. Das ist ein Gebiet nahe der spanischen Grenze, wo kaum Menschen leben. Wenn nun was schiefgeht …«
»Mach dir keine Sorgen, Karin, es wird gewiss nix passieren«, versicherte der junge Bergbauer seiner Schwägerin mit ruhiger Stimme. »Der Michael ist ein Ass, der klettert wie eine Gams. Keine Angst, er wird wohlbehalten heimkommen.«
Mit dieser Einschätzung sollte Thomas jedoch falsch liegen …
***
Am Abend saßen Karin und Thomas in der guten Stube bei einem Glas Wein zusammen. Der Bergbauer hatte seine Schwägerin dazu überreden müssen, denn sie war sehr nervös und wartete voller Ungeduld darauf, dass Michael sich telefonisch meldete. Das Glas Wein half ihr, sich zu entspannen. Und während sie über das sprachen, was der Tag auf dem Berghof ihnen gebracht hatte, vergaß die junge Bäuerin für eine Weile ihre Sorgen.
Als ihr Handy dann gegen zehn Uhr klingelte, schrak sie sogar leicht zusammen, denn sie hatte gar nicht mehr an den zuvor so heiß ersehnten Anruf gedacht.
»Hallo, Schatzerl, ich bin’s!«, rief Michael. Seine Stimme war seltsam verzerrt und nur schlecht zu verstehen. Als Karin dies anmerkte, erklärte er: »Wir hocken auf einem Campingplatz bei Lyon, das scheint so eine Art Funkloch zu sein. Keine Ahnung, wie lang die Verbindung hält. Mir geht’s jedenfalls gut!«
»Das freut mich. Wann werdet ihr denn in den Pyrenäen sein?« Karin lauschte, doch sie erhielt keine Antwort mehr. Offenbar war die Verbindung schon unterbrochen. Sie legte das Handy weg und meinte: »Es geht ihm gut.«
»Hab ich mir fast gedacht«, spöttelte Thomas.
»Dann sollte ich jetzt ins Bett gehen, bin recht müd.« Sie lächelte dem jungen Mann zu. »Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast. Allein wäre das Warten gewiss unangenehm gewesen. Magst net auch schlafen gehen?«
»Freilich. Ich bleib nur noch einen Moment sitzen.«
»Gute Nacht.« Sie schenkte ihm einen warmen Blick voller Zuneigung, der sein Herz berührte.
Wie gern hätte Thomas Karin gesagt, was er empfand! Dass er sie lieb hatte, seit sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Doch es war und blieb unmöglich. Sie war die Frau seines Bruders, das musste er akzeptieren, auch wenn es schwerfiel.
Mit einem Seufzer erhob er sich, um ebenfalls schlafen zu gehen. Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die sich nicht mehr ändern ließen. Doch die Sehnsucht blieb …
Die kommenden Tage waren ausgefüllt mit Arbeit vom ersten Hahnenschrei bis zur abendlichen Ruhe. Das Wetter war schön, sonnig und klar und im Tal schon sehr warm. Auf der Höhe über Wiesbach blieb es kühler, was die Arbeit auf dem Berghof angenehmer machte. Thomas war mit dem ersten Grünschnitt der Saison beschäftigt. Er schaffte kräftig was weg und machte den Knechten vor, wie es ging. Seine Energie schien unerschöpflich, sein Durchhaltevermögen erstaunlich. Dass der unglücklich Verliebte in der harten Arbeit Vergessen suchte, ahnte keiner.
Karin am allerwenigsten. Sie führte nicht nur den Haushalt, sie kümmerte sich auch darum, dass die Stallarbeit pünktlich getan wurde und alles, wie am Schnürchen lief. So arbeiteten die beiden Hand in Hand und machten sich kaum Gedanken darüber, wie wenig Michael ihnen dabei fehlte.
Dann kam der Samstag, Karins zweiter Hochzeitstag. Die junge Berghofbäuerin hatte bereits seit Tagen Vorbereitungen für dieses besondere Jubiläum getroffen. Im Kühlschrank standen neben einer Schwarzwälder Kirschtorte, dem Lieblingskuchen Michaels, alle Zutaten für ein festliches Menü. Karin hatte den Tafelspitz schon so weit vorbereitet, dass alles rasch fertig war, wenn ihr Mann ankam.
In der Zwischenzeit hatte Michael sich noch einmal aus den Pyrenäen gemeldet. Wieder war das Telefonat zu kurz gewesen, um Genaueres zu erfahren. Doch seine Stimme hatte entspannt und heiter geklungen, offenbar war er ganz zufrieden und auch ohne seine Frau glücklich.
Karin wollte nicht so denken, doch diese Gedanken drängten sich ihr einfach auf, während sie im Esszimmer für zwei deckte. Die ganze Zeit, seit Michael fort war, hatte sie es sich verboten, nun aber musste sie zumindest vor sich selbst einmal offen und ehrlich sein.
Da stand sie nun, im besten Dirndl, das schöne Haar kunstvoll aufgesteckt, und trug die kostbaren Granatohrringe, die der Bäuerin selig gehört hatten. Sie waren ihr Brautschmuck gewesen, Michael hatte sie ihr am Hochzeitsmorgen geschenkt. Wie selig war sie da gewesen, felsenfest davon überzeugt, das große Glück gefunden zu haben!
Und wie sah es nun, zwei Jahre später, aus? Sie wartete auf die Heimkehr ihres Mannes und war keineswegs sicher, dass er tatsächlich kommen würde. War ihr zweiter Hochzeitstag ihm überhaupt diese Anstrengung wert? Blieb er nicht lieber bei seinen Spezln und genoss die vermeintliche Freiheit, den »Urlaub« von der Ehe?
Nein, das stimmte nicht. Karin wollte Michael nicht unrecht tun. Gewiss war er leichtsinnig und ein wenig oberflächlich. Und man konnte ohne Übertreibung behaupten, dass er das genaue Gegenteil von feinfühlig war. Doch sie hatte ihn lieb, und sie war überzeugt, dass er sie auch liebte.
Die junge Berghofbäuerin trat ans Fenster und warf einen Blick hinaus. Nichts. Kein Wagen näherte sich über die Straße, keiner stand im Wirtschaftshof. Dabei ging es schon auf halb zwei zu. Michael wusste, dass sie ihn zum Essen erwartete.
Das Gesinde hatte bereits das Mittagsmahl eingenommen und war wieder an die Arbeit gegangen. Samstags hatten es alle eilig, am frühen Nachmittag mit der Arbeit fertig zu werden, um dem freien Wochenende noch ein wenig mehr Zeit abzugewinnen.
Karin seufzte leise. Sie wandte sich vom Fenster ab, schaute sich die festlich geschmückte Tafel an und musste plötzlich dem Drang widerstehen, einfach alles vom Tisch zu fegen. Sie wurde wütend. Was bildete Michael sich eigentlich ein? Dies war schließlich nicht nur ihr Hochzeitstag, sondern ihr gemeinsamer! Und er schien sich nicht im Geringsten darum zu scheren.
Das heulende Elend überkam sie. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn, und nur Michael trug daran die Schuld.
War es ein Fehler gewesen, seinem Werben nachzugeben und ihn zu heiraten? Befragte sie ihr Herz, so fiel die Antwort eindeutig aus. Sie hatte ihren Mann nach wie vor lieb, auch wenn ihre Ehe nicht perfekt war.
Der Verstand aber zählte ihr all die Dinge auf, die falsch liefen zwischen ihnen. Und all die unerfüllten Sehnsüchte, um die ihr Mann sich einfach nicht scherte.
Karin fühlte sich ganz erbärmlich und am Boden zerstört. Sie wusste nicht mehr, was falsch oder richtig war. Und sie wünschte sich, Thomas wäre bei ihr. Denn in seiner Nähe wurde sie immer ruhig. Er vermittelte ihr Sicherheit, er war wie der Fels in der Brandung, der unverwüstlich gegen alle Stürme stand. Doch er war noch auf dem Feld und würde wohl erst mit dem Abendläuten heimkommen, wie an jedem Tag.
Karin verließ das Esszimmer und widmete sich wieder der Hausarbeit. Vorher zog sie aber ihr gutes Dirndl aus und legte auch die Ohrringe zurück in das Schmuckkästchen.
Sie wollte sich nicht unterkriegen lassen. Wenn Michael etwas später heimkam, war das nicht zu ändern. Schließlich hatte er eine weite Strecke zurückzulegen. Und sie nahm sich fest vor, ihm keine Vorwürfe zu machen. Die Enttäuschung in ihrem Herzen aber wuchs mit jeder Minute, die verging …
***
Thomas kehrte am späten Nachmittag von der Feldarbeit auf den Berghof zurück. Er übersah den Wirtschaftshof mit einem Blick und stellte sofort fest, dass der Jeep seines Bruders nicht hier stand. Wütend verzog er den Mund und schlug mit der flachen Hand auf das Steuer des Traktors. Er hatte es ja gewusst!
Als Michael ihn halbherzig abgefertigt und wieder einmal den Überlegenen gespielt hatte, da war Thomas sicher gewesen, dass sein Bruder nicht daran dachte, sein Versprechen Karin gegenüber zu halten.
Was musste sie leiden! Bei diesem Gedanken presste es Thomas das Herzblut ab. In solchen Momenten fiel es dem ernsten und tiefsinnigen Mann schwer, nicht die Beherrschung zu verlieren und sich einmal nur von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Doch welchen Sinn hätte das gehabt? Er musste Karin nun beistehen, sie über die neuerliche Enttäuschung hinwegtrösten. Seine eigenen Empfindungen waren da nur zweitrangig.
Thomas stellte den Traktor ab und ging hinüber ins Haus, um sich zu waschen und umzuziehen. Das Gesinde hatte bereits Feierabend gemacht und war ins Tal zum Tanzfest gegangen, das an jedem zweiten Samstag beim Ochsenwirt stattfand. Still war es im Haus, es wirkte beinahe verlassen.
Als der junge Bauer die Küche betrat, saß Karin an der Eckbank, las Zeitung und trank Kaffee. Sie wirkte recht gefasst, doch er sah, wie ihre Hände zitterten, und wusste Bescheid.
»Er wird aufgehalten worden sein«, sagte er, nahm sich auch ein Haferl Kaffee und setzte sich zu seiner Schwägerin. »Keine Sorge, er kommt gewiss bald.«
»Glaubst du das wirklich? Ich mein eher, es ist ihm ganz einerlei. Er denkt gar net an den Hochzeitstag. Und ich bin ihm wohl auch einerlei.« Sie senkte den Blick und biss sich auf die Lippen, ihre Stimme zitterte und war dunkel von den Tränen, die fließen wollten.
»Karin, net.« Thomas legte behutsam einen Arm um ihre Schultern, und da war es um ihre Fassung geschehen. Sie sank weinend in seine Arme. Thomas biss die Zähne zusammen, denn es fiel ihm nicht leicht, jetzt zu schweigen. Es gab viel, was er in diesem Moment über Michael zu sagen hatte. Und es war gewiss nichts Freundliches dabei. Doch damit hätte er Karin nicht geholfen, sondern nur ihre Verzweiflung vergrößert. Und das war das Letzte, was er wollte. Also hielt er sie stumm in seinen starken Armen und wartete geduldig darauf, dass sie sich beruhigte.
Schließlich setzte sie sich auf, schnäuzte sich und bat: »Sei mir net bös. Es gibt wirklich keinen Grund, dass ich mich so aufführe. Magst du denn net zum Tanzfest gehen? Ich finde es nicht recht, dass du allerweil nur bei mir hier hockst und dir mein Gejammer anhörst.«
»Du jammerst ganz bestimmt nicht«, stellte er entschieden richtig. »Ich find, du bist viel zu tapfer, Karin. Eine Frau wie dich hat der Michael freilich net verdient.«
»Ach, Schmarren. Ich kann mich einfach nicht damit abfinden, dass auf meinen Mann kein Verlass ist.«
»Das ist ja auch net recht.« Thomas lächelte ihr ein wenig zu. »Wie wär’s, wenn wir zwei zusammen zum Tanzfest gehen und deinen Hochzeitstag feiern? Ich finde, du hast wirklich genug Trübsal geblasen. Das ist der Michael gar nicht wert.«
Karin lachte unfroh auf. »Du hast sicher recht. Aber ich kann net. Ich würde doch nur herumhocken und mir Gedanken machen.«
Der Bauer hatte nichts anderes erwartet. Er nickte und schwieg. Eine Weile saßen sie beisammen, ohne zu reden, und hingen beide ihren Gedanken nach, die gar nicht so verschieden waren. Nur das Ticken der Wanduhr unterbrach die Stille.
Plötzlich meinte Karin: »Jetzt ist aber Schluss mit dem Schmarren! Wenn der Michael net heimkommt, kann ich das auch nicht ändern. Aber das ist noch lange kein Grund, das gute Essen verkommen zu lassen. Ich wärme es jetzt auf, und dann essen wir zwei es, einverstanden?«
Thomas lächelte angedeutet. »Ich hab nix dagegen.«
Wenig später saßen Karin und ihr Schwager dann am festlich gedeckten Tisch im Esszimmer. Doch so recht munden wollte ihnen das feine Menü nicht. Karin hatte ein schlechtes Gewissen und dachte die ganze Zeit nur an Michael. Und Thomas fühlte sich wie ein Platzhalter, ein Stellvertreter ohne Eigenwert. Dieser Zustand wollte ihm so ganz und gar nicht schmecken. Und so kam es, dass von dem mit Liebe und Sorgfalt zubereiteten Festmahl kaum etwas gegessen wurde.
Karin lächelte Thomas unglücklich zu. »Die Idee war wohl doch net so gut, oder? Ich räume am besten den Tisch ab, dann geh ich schlafen. Vielleicht kommt der Michi ja morgen heim. Und wenn net, wird er sich hoffentlich wenigstens melden …«
»Warte mal, Karin! Wir sollten den Abend net so abrupt beenden, sondern lieber gemütlich ausklingen lassen. Auch wenn es schwerfällt. Aber ich finde es einfach falsch, dass du dir diesen besonderen Tag so vermiesen lässt. Setzen wir uns noch ein bisserl vors Haus auf die Baumbank und genießen den lauen Sommerabend.«
Die junge Berghofbäuerin seufzte leise. Noch ehe sie ihrem Schwager aber eine Antwort geben konnte, wurde draußen am Klingelstrang gezogen.
»Der Michi!« Karins Augen begannen sofort zu leuchten, und im nächsten Moment war sie schon aus der Stube geeilt. Thomas fragte sich allerdings, wieso sein Bruder klingelte. Er hatte doch einen Haustürschlüssel …
***
Karin öffnete die Haustür mit Schwung, doch im nächsten Moment erlosch ihr strahlendes Lächeln, und es schien, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Vor ihr stand nicht Michael, sondern der Dorfgendarm von Wiesbach, Sepp Hofer. Und der machte ein dermaßen ernstes Gesicht, dass sich der jungen Berghofbäuerin sofort ein Gedanke aufdrängte: Etwas war geschehen!
Karin schluckte und war bemüht, nicht die Nerven zu verlieren. Das lange Warten, die Enttäuschung über Michaels Ausbleiben, hatten ihr schließlich schon den ganzen Tag zugesetzt. Sie schaffte es sogar, halbwegs freundlich nach dem Grund von Sepp Hofers Auftauchen zu fragen.
»Ich muss mit dir reden, Bäuerin. Es ist privat«, ließ er sie knapp wissen. »Und den Thomas würde ich gerne dabei haben, falls er daheim ist.«
»Ja, er ist da. Aber worum geht es denn?«, erkundigte sie sich noch einmal unruhig. »Ist was passiert?«
»Drinnen«, war alles, was der Gendarm sagte, dann betrat er die Diele und sprach Thomas an, der eben das Esszimmer verlassen hatte. »Gut, dass du da bist, du wirst gebraucht werden.«
Auf seine typisch gravitätische Art ging Sepp Hofer in die gute Stube und wartete, bis Karin und Thomas ihm gefolgt waren.
»Ist noch jemand im Haus außer euch beiden?«, fragte er. Und als Thomas verneinte, meinte er: »Schön, dann kannst die Tür offen lassen. Was ich euch zu sagen hab, geht zunächst einmal nur euch beide an.« Er räusperte sich und fragte Karin: »Dein Mann ist in Frankreich zum Kraxeln?«
»Ja, er war die ganze Woche in den Pyrenäen, wollte aber heut zurück sein, weil unser Hochzeitstag ist.«
Diese Bemerkung schien dem Gendarmen gar nicht zu gefallen, denn er seufzte leise und man sah ihm an, dass es ihm nicht leichtfiel, seine Aufgabe zu erfüllen. »Er ist mit dem Markus Schmiedinger und dem Florian Wagner aus Wiesbach unterwegs?«
»Ja, aber warum fragen Sie das alles? Ist etwas passiert, hatten sie einen Unfall? So reden Sie doch!«, drängte Karin.
»Ob es einen Unfall gab, muss erst noch festgestellt werden. Zunächst mal gilt dein Mann als vermisst.«
»Was ist denn geschehen?«, wollte nun auch Thomas wissen.
Karin war blass geworden, er legte behutsam seine Hand auf ihre und drückte sie leicht. Ganz kalt war sie und zitterte.
»Vorgestern sind die Bergkameraden an einem schwierigen Abschnitt in Bergnot geraten. Es kam ein starkes Gewitter auf, ein Seil ist gerissen, und der Florian Wagner sowie dein Mann, Karin, sind ein Stück abgestürzt. Der Florian hat sich was gebrochen und eine Gehirnerschütterung. Er liegt im Spital in Lourdes und ist momentan net transportfähig. Der Markus wird morgen heimkommen. Er kann dir genau schildern, was geschehen ist. Ich kenne von den Kollegen vor Ort nur die Fakten.«
»Aber wie kann es denn sein, dass der Florian im Spital liegt, während der Michael vermisst wird? Ich verstehe nix!«, beschwerte Karin sich aufgebracht.
»Das ist net ganz einfach zu beantworten. Der Markus hat bei den französischen Kollegen seine Aussage gemacht. Danach ging Michael als Letzter in die Wand, in der es passiert ist. Das Seil riss oberhalb von ihm. Der Markus hat ihn fallen gesehen. Es wird vermutet, dass er in eine Felsspalte gestürzt ist. Noch gibt es dafür aber keine Beweise. Und es wird wohl eine Weile dauern, genau festzustellen, was geschehen ist. Das Gebiet ist nämlich auch für versierte Kraxler schwer zugänglich. Es tut mir leid, Karin, aber mehr kann ich dir momentan net sagen.«
»Ich muss sofort dorthin! Ich muss Michael suchen!«, rief sie.
»Das hätte wenig Sinn. Du kannst ja net einmal kraxeln. Außerdem kommt Markus Schmiedinger morgen heim. Er kann dir alles sagen, was du wissen willst.«
»Nur eins net: wo mein Mann ist«, murmelte Karin wie betäubt.
Der Dorfgendarm verabschiedete sich bald, denn mehr konnte er momentan nicht tun. Als er zurück ins Tal fuhr, fühlte er sich alles andere als wohl. Die Gegend, in der Michael Burgmüller vermisst wurde, war so abgelegen, dass man den Kraxler vielleicht nie finden würde.
Kein schöner Gedanke. Karin musste dann mit der Ungewissheit leben, die noch schlimmer war als Trauer und Schmerz. Sepp Hofer hoffte, dass der sympathischen jungen Frau dieses Schicksal erspart blieb.
Nachdem der Besucher fort war, verlor Karin die Beherrschung. Sie weinte und schrie und beschwerte sich bitter darüber, dass Michael ihr so etwas hatte antun können.
»Warum ist er net daheimgeblieben? So eine Sinnlosigkeit! Wie konnte er nur dermaßen rücksichtslos sein?«, schluchzte sie völlig verzweifelt.
Thomas nahm sie in den Arm und hielt sie lange fest, während die Tränen reichlich flossen. Er hätte ihr dazu einiges sagen können, zum Beispiel, dass sein Bruder ein gedankenloser Egoist war, der immer nur sich selbst kannte. Doch welchen Sinn sollte das haben? Und er wollte selbst nicht einmal mehr so denken, denn immerhin war es ja möglich, dass Michael in den Pyrenäen tot in einer Felsspalte lag.
Ein kaltes Gefühl schlich sich auch in das Herz des Bergbauern, und er wünschte sich ebenso wie Karin, dass sein Bruder ein klein wenig vernünftiger gewesen wäre. Doch auch diese Gedanken konnten nichts ändern. Was ihnen nun blieb, war ein quälendes Warten auf Gewissheit. Und die leise Hoffnung, dass Markus Schmiedinger zumindest ein klein wenig Licht ins Dunkel bringen konnte.
Als Karin sich halbwegs beruhigt hatte, ging sie zu Bett.
Thomas wachte eine Weile über ihren Schlaf. Zunächst war sie überzeugt gewesen, keine Ruhe zu finden. Doch die emotionalen Belastungen forderten schließlich ihren Tribut.
Erschöpft fiel Karin in einen unruhigen Schlaf voller wirrer, Angst einflößender Traumbilder. Sie stand auf einem hohen Berg, umhüllt von dichtem Nebel. Sie wusste, dass sie sich nicht rühren durfte, weil jeder Schritt in den Abgrund führen konnte. Doch sie hörte Michaels Stimme, der um Hilfe rief. Verzweifelt versuchte sie, zu ihm zu gelangen, ohne etwas zu erreichen. Und dann war es, als stürzte sie ins Bodenlose …
Der Bergbauer hielt die Hand seiner Schwägerin, während sie im Schlaf gequält aufstöhnte. Sein Herz war voller Mitgefühl, und zugleich machte er sich große Sorgen.
Was, wenn Michael in der unzugänglichen Bergregion niemals gefunden wurde? Wie sollte seine Frau mit der steten Ungewissheit leben?
Er fühlte sich hilflos, denn er ahnte, dass er Karin zwar nach Kräften beistehen, ihr aber nicht helfen konnte. Wenn sie nicht trauern durfte, würde sie auch nicht abschließen können mit der Vergangenheit. Und das war wohl eines der quälendsten Gefühle, die es geben konnte.
Lange betrachtete Thomas Karins vom Schlaf rosig überhauchtes Gesicht. Wie lieb er sie hatte! Im Grunde seines Herzens war nur ein Wunsch: sie glücklich zu machen und alles Schlechte von ihr fernzuhalten.
Aber beides war ihm wohl nicht vergönnt …
***
Markus Schmiedinger war ein Jungbauer aus Wiesbach und ein alter Schulfreund von Michael. Er erschien gleich nach seiner Rückkehr aus Frankreich auf dem Berghof, um mit Karin und Thomas zu reden. Der Bursch hatte einen offenen, freundlichen Charakter. Er verheimlichte nichts, sprach über die Reise, die ersten Kraxeltouren und auch jenen verhängnisvollen Tag, an dem alles schiefgegangen war.
»Ich wollte an dem Tag net aufsteigen, weil ein Unwetter gemeldet war. Aber der Flori und der Michi haben mich überredet. Ihr wisst ja, wie das so ist unter Spezln. Heut wünschte ich, dass ich hart geblieben wär. Ohne mich hätten sie gewiss auch auf die Steilwand verzichtet. Aber der Flori war ganz heiß auf den Aufstieg. Und der Michi, ja mei, der hat sich schließlich nie vor einer Gefahr gedrückt.
Zuerst ging es auch gut, aber dann kam das Wetter rasch gezogen. Innerhalb von wenigen Minuten gab’s einen richtigen Wettersturz. Es wurde kalt, und in den Gewitterregen hat sich sogar Schnee gemischt. Die Wand war nach ganz kurzer Zeit total glatt, ebenso das Seil. Wir hätten noch absteigen können, wenn der Blitz net ins Seil eingeschlagen wäre. Es hat gezischt und geknallt wie wahnsinnig. Das Seil wurde richtig heiß. Und dann hab ich den Michi und den Flori unter mir schreien gehört.«
»Hast du gesehen, wie der Michael gefallen ist? Und vor allem, wohin?«, fragte Thomas sofort nach.
»Er muss gefallen sein, denn das Seil ist ja gerissen. Ich hab ihn schreien gehört. Er war über dieser Felsspalte.« Markus senkte den Blick. »Er muss dort hineingestürzt sein. Das waren an die dreißig Meter. So einen Sturz überlebt keiner. Tut mir leid, Karin, aber das ist leider die Wahrheit.«
»Solange net einwandfrei bewiesen ist, dass der Michael wirklich in dieser Spalte liegt, glaub ich net dran«, erwiderte sie entschlossen. »Vielleicht ist er woanders gelandet, auf weichem Boden oder in einer Baumkrone. Es gibt viele Möglichkeiten. Ich weigere mich, an die schlimmste zu glauben.«
»Das versteh ich. Aber du musst leider damit rechnen. In diesem Teil der Pyrenäen wächst kaum etwas. Wir waren oberhalb der Baumgrenze. Da ist nur glatter Fels, sonst nix.« Er lächelte ihr ein wenig zu. »Du weißt doch, wie der Michi war. Für ihn konnte die Gefahr nie groß genug sein, er hat den Nervenkitzel geliebt. Für den Adrenalinkick hat er gelebt.«
»Ich möchte dich bitten, net in der Vergangenheit von meinem Mann zu reden. Der Michael lebt für mich. Und zwar so lange, bis ich weiß, dass er tot ist.«
Markus Schmiedinger nickte. »Recht hast. Es sind schon größere Wunder geschehen. Die Bergwacht dort drunten kennt sich aus. Wenn der Michi irgendwo verletzt liegt, werden die ihn ganz gewiss finden und retten.«
»Darauf zähle ich.« Karin reichte dem Burschen die Hand. »Ich dank dir für deinen Besuch.«
»Keine Ursache. In ein paar Tagen fahr ich mit den Wagners noch mal runter nach Lourdes, wir holen den Flori ab. Bis dahin wird sich hoffentlich was ergeben haben …«
Thomas brachte den Burschen noch zur Tür und fragte ihn leise: »Denkst du wirklich, dass noch Hoffnung besteht? Oder hast du das nur gesagt, um die Karin zu beruhigen?«
Markus seufzte bekümmert auf. Das zeigte eigentlich schon, wie er wirklich dachte, noch ehe er zugab: »Ich kann mir net vorstellen, dass man einen solchen Sturz überlebt. Und selbst wenn, dann würde der Michi jetzt schon drei Tage in dieser Felsspalte liegen. Du kannst dir denken, was das bedeutet.«
Thomas nickte bedrückt. Nachdem Markus gegangen war, kehrte der Bergbauer zu seiner Schwägerin zurück.
Karin hatte angefangen, das Nachtmahl zu richten. Seit dem Vortag hatte sie das Gefühl, eine Schlafwandlerin zu sein. Sie verrichtete automatisch ihre Pflichten im Haushalt, ohne darüber nachzudenken, in welch schrecklicher Ausnahmesituation sie sich befand. Nur nachts, wenn sie durch nichts abgelenkt wurde und keinen Schlaf fand, dann kamen die quälenden Gedanken. Angst, Verzweiflung und Schmerz überrollten sie wie eine schwarze Woge. Und Karin hatte das Gefühl, darin zu ertrinken.
»Ich geh in den Stall«, sagte Thomas knapp.
»Das Essen ist in einer halben Stunde fertig.« Karin hob den Blick und schaute Thomas wie ein waidwundes Reh an. Es fiel ihm schwer, dies zu ertragen. »Was denkst du? Mach ich mir nur was vor? Kann der Michael überhaupt noch leben?«
»Wir müssen abwarten und Geduld haben. Die Bergwacht wird ihn gewiss finden. So oder so.« Er senkte die Lider und verließ rasch die Küche.
Beim Nachtmahl herrschte bedrücktes Schweigen. Keiner blieb länger sitzen als unbedingt nötig. So schnell hatte sich die Tafel noch nie geleert wie an diesem lauen Sommerabend. Es dauerte nicht lange, dann saßen nur noch Karin und Thomas am Tisch. Die Bäuerin hatte kaum etwas gegessen. Blass und unglücklich saß sie da und starrte vor sich hin.
Thomas suchte nach einem Wort des Trostes, denn es fiel ihm schwer, zuzusehen, wie Karin litt. Doch er musste akzeptieren, dass es dies nicht geben konnte. Das Einzige, was sie aus ihrer Verzweiflung erlösen würde, war Michaels Heimkehr. Und damit war wohl kaum zu rechnen …
***
Eine Woche verging ohne ein Lebenszeichen von Michael Burgmüller. Auch Markus Schmiedinger, der Michaels Jeep überführte, brachte keine Neuigkeiten, als er aus Lourdes zurückkam. Sein Spezl Florian litt noch unter den Nachwirkungen der Gehirnerschütterung und konnte sich an nichts erinnern, was an jenem verhängnisvollen Tag im Gebirge geschehen war. Die Bergwacht hatte gründlich alles abgesucht, allerdings ohne Ergebnis.
Thomas machte sich große Sorgen um Karin. Die Vorstellung, dass er vielleicht seinen Bruder verloren hatte, schob er dabei von sich. Für ihn zählte nur das Leid seiner Schwägerin. Und dies schien grenzenlos zu sein, denn Karin klammerte sich an jeden Strohhalm und glaubte jeder noch so fadenscheinigen Erklärung für die lange Funkstille. Nur eines wollte sie unter keinen Umständen glauben: dass Michael tot war.
Am Ende dieser belastenden Zeitspanne erschien Sepp Hofer noch einmal auf dem Berghof. Als Thomas den Streifenwagen im Wirtschaftshof gewahrte, ahnte er gleich, dass dies nichts Gutes bedeuten konnte. Und er sollte sich nicht getäuscht haben.
Der Gendarm redete ein wenig um den heißen Brei herum, ehe er schließlich zugab: »Die Kollegen vor Ort haben einige Ausrüstungsgegenstände in der Nähe der Felsspalte gefunden, wo Michael abgestürzt ist. Es handelt sich eindeutig um seine Sachen. Damit ist erwiesen, dass dein Mann tot ist, Bäuerin.«
»Aber sie haben ihn net gefunden. Die Sachen beweisen gar nix«, widersprach Karin vehement.
»Die Felsspalte ist an die hundert Meter tief und so gut wie unzugänglich. Es ist nur möglich, die ersten zwanzig Meter weit abzusteigen. Deshalb kann der Leichnam net geborgen werden. Es tut mir leid. Mein herzliches Beileid.«
»Ich glaub es net«, murmelte Karin. »Ich glaub’s einfach net.«
»Danke, dass Sie extra hergekommen sind«, sagte Thomas und drückte dem Hofer-Sepp die Hand.
»Auch dir mein Beileid, Thomas. Ich weiß, ihr Burschen habt euch gut vertragen. Es wird schwer für dich werden, ohne den Michael auszukommen, gelt?«
Thomas nickte nur, verkniff sich aber einen Kommentar. Wozu das richtigstellen? Michael war tot. Und über Tote sagte man nur Gutes, das gebot allein schon der Anstand.
Karin mochte sich allerdings nicht mit den offensichtlichen Tatsachen abfinden. Immer wieder brachte sie neue Thesen und Möglichkeiten auf, wo Michael sein könnte und warum er noch lebte.
Thomas ließ sie gewähren. Er ahnte, dass dies nur ihr Versuch war, der schrecklichen Gewissheit noch eine Weile auszuweichen. Schließlich sprach sie nicht mehr darüber, und nach ein paar Tagen erschien sie am Morgen im schwarzen Kleid.
Thomas wollte sie trösten, aber sie wehrte ihn ab und bat ihn, nicht mehr an diesem schmerzlichen Thema zu rühren.
Also ließ Thomas ihr Zeit. Er war für sie da, drängte sich allerdings nie auf. Das Gefühl, einen Rückhalt zu haben, empfand Karin trotz Trauer und Verzweiflung mit leiser Dankbarkeit.
Und je mehr Zeit verging, desto ruhiger wurde sie wieder. Der bohrende Schmerz des Verlustes schwächte sich zu einer stillen Trauer ab, mit der Karin zu leben lernte. Sie vermisste ihren Mann an jedem Tag, der verging, doch sie versuchte zu akzeptieren, was das Schicksal ihr aufgeladen hatte.
Ende Juni las Hochwürden in Wiesbach eine Messe für den Verunglückten, Karin hatte um diesen Gedenkgottesdienst gebeten. Danach schien sie sich erleichtert zu fühlen und auch ein wenig besser. Es war wie ein Abschiednehmen, auch wenn es kein Grab gab und nur die vage Vorstellung, was wirklich geschehen war.
Bei alldem stand Thomas ihr treu zur Seite, war stets präsent, aber niemals aufdringlich. Er sorgte dafür, dass das Leben auf dem Berghof im gewohnten Rhythmus ablief, und er stellte noch zwei Küchenmägde ein, um Karin in dieser für sie sehr schweren Zeit ein wenig zu entlasten.
Als Thomas dann Mitte Juli, an einem sonnigen Samstagmorgen, die Küche betrat, wartete dort ein Geburtstagskuchen auf ihn. Er war einen Moment lang perplex, denn er hatte gar nicht mehr an seinen Ehrentag gedacht. Karin aber schon. Sie gratulierte ihm und dankte ihm von Herzen für alles, was er in den vergangenen Wochen getan hatte.
»Ohne dich hätte ich das net überstanden«, war sie sicher. »Ich weiß, dass ich mich immer auf dich verlassen kann, Thomas. Das rechne ich dir hoch an, zumal du ja auch deinen Bruder verloren hast.« Sie lächelte tapfer. »Und jetzt wollen wir den Kuchen anschneiden, bevor ich noch in mein Kaffeehaferl weine.«
»Es ist lieb von dir, dass du an meinen Geburtstag gedacht hast. Ich dank dir. Aber ich glaub, nach Feiern ist uns beiden wohl eher net zumute, gelt?« Er setzte sich an die Eckbank und nahm ein Stück des frischen Kirschstrudels, den er besonders gerne aß. »Ehrlich gesagt, ich hab net dran gedacht, dass ich heut Geburtstag habe.«
»Ich weiß. Du machst dir ja auch allerweil nur noch Gedanken um mich. Aber das muss aufhören, Thomas. Ich hab schon ein ganz schlechtes Gewissen dir gegenüber.«
»Warum denn? Ich tu es gern.«
»Ich weiß.« Sie lächelte ihm warm zu, und da ging ihm das Herz auf.
Es war nicht nur die Nähe und Zuneigung, die aus diesem Lächeln sprach, es war vor allem die Tatsache, dass Karin wieder lächeln konnte. Seit Michaels Tod schien sie dies nämlich verlernt zu haben.
»Trotzdem ist es net recht. Du sollst dein Leben nicht so völlig auf mich abstimmen. Ich muss mich damit abfinden, dass ich jetzt Witwe bin. Mei, wie das klingt! Ich glaub net, dass mir dieses Wort je leicht über die Lippen gehen wird. Aber man gewöhnt sich wohl an alles im Leben, gelt?«
Thomas umfing sie mit einem liebevollen Blick, als er feststellte: »Du bist sehr tapfer, Karin. Ich kann dich nur dafür bewundern, wie du deinen Weg gehst.«
Sie winkte ab. »Ach was. Daran ist nix bewundernswert. Ich muss mich halt mit den Tatsachen abfinden.« Sie seufzte leise und machte ein betrübtes Gesicht. »Ich hätte den Michael net heiraten dürfen. Im Grunde genommen war er wie ein erwachsenes Kind. Er hat nie Verantwortung übernehmen wollen. Net mir gegenüber und auch nicht für den Hof. Da warst du zuständig.«
»Vielleicht sind wir alle ein bisserl daran schuld, dass der Michael so geworden ist«, sinnierte Thomas. »Die Eltern waren allerweil nachsichtig. Und ich hab mich auch net beschwert, wenn er nur immer das getan hat, was ihm in den Kopf kam.«
»Du meinst, ich wäre auch ein bisserl schuld daran?«
»Das hab ich damit gewiss net sagen wollen …«
»Aber es stimmt. Ich hab mich nie beschwert, obwohl ich oft Grund gehabt habe. All die vielen Extratouren, die Reisen und Kraxelpartien. Der Michael hat wirklich nur an sich gedacht.« Sie machte ein trauriges Gesicht. »Ich hab mir Kinder gewünscht, aber er wollte noch keine. Hätte er gewusst, wie wenig Zeit ihm noch bleibt, gewiss …«
Sie verstummte und biss sich auf die Lippen, dann aber zwang sie sich zu einem Lächeln. »Jetzt ist es aber gut. Wir feiern deinen Geburtstag und reden nur über den Michael und mich. Das ist nun wirklich net recht.« Sie holte ein verpacktes Geschenk hervor und überreichte es ihm.
Er lachte. »Ich krieg noch mehr als einen Kuchen?«
»Freilich. Mach es halt auf! Und wenn es dir gefällt, dann probieren wir es nachher gleich aus.«
Thomas machte große Augen. »Was das wohl sein mag?« Er entfernte das Geschenkpapier und förderte ein hochwertiges Fernglas zutage. »Mei, Karin, ist das schön! Ich dank dir von Herzen.«
»Damit lassen sich wunderbar Vögel beobachten. Ich kenn doch dein Hobby. Und nachher, wenn die Arbeit geschafft ist und es nimmer so heiß draußen ist, steigen wir zur Walchenalm auf und weihen es ein, was sagst du?«
Er drückte ihr ein zartes Busserl auf die Wange und murmelte ergriffen: »Ich dank dir von Herzen. Den Geburtstag werde ich gewiss nie vergessen.«
***
Am frühen Abend machten Karin und Thomas sich dann auf den Weg zu der Hochalm, die ein ganzes Stück oberhalb des Berghofes lag und noch zum Besitz, der Burgmüllers gehörte.
Es war ein heißer Julitag gewesen, nun aber wehte auf der Höhe ein frisches Lüftchen, und der Aufstieg wurde den beiden nicht zu anstrengend. Als sie ihr Ziel erreichten, wurden sie mit einem atemberaubenden Rundblick belohnt.
Weit im Norden erhoben sich die charakteristischen Gipfel von Zugspitze und Waxenstein in den klaren Sommerhimmel. Südlich lag Garmisch, ein scheinbar unendliches Häusermeer, fein eingebunden in die Bergwelt des Werdenfelser Landes.
Der Eibsee mit seinem grünen Gebirgswasser und Griesen, der Nachbarort von Wiesbach, schlossen sich im Osten an. Und schließlich westlich fanden sich Walchensee und Wallgau, ebenfalls eine Nachbargemeinde. Es war so klar, dass man meinte, alles mit Händen greifen zu können, waren es nun die himmelhohen Berggipfel oder die Höfe und Häuser in der näheren und weiteren Umgebung.
Die tief stehende Sonne streute Goldtaler auf die Gebirgsseen, deren kristallenes Wasser geheimnisvoll in der Ferne schimmerte.
Ein Bergadler zog hoch oben im Himmelsblau seine Bahn. Weit trug sein schriller Ruf. Thomas beobachtete ihn eine ganze Weile durch sein Glas und dachte auch daran, Karin einen Blick auf den majestätischen Vogel werfen zu lassen. Er steuerte einen Horst weit oben in den schroffen Karen des Waxensteins an. Doch der war zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können.
»Schad. Ich hätte gern einen Blick auf die kleinen Adler geworfen«, meinte Karin und gab Thomas das Glas zurück. »Aber mein Geschenk ist wirklich gut. Ich bin froh, dass ich das Rechte ausgesucht hab.«
»Ich wusste gar nicht, dass du dich auch für Vogelkunde interessierst.«
»Doch, schon. Ich mag alle Viecherln. Weißt nimmer, als ich ganz am Anfang bei euch auf dem Berghof gewesen bin, da hast du mich einmal mit hierhergenommen. Wir haben Bergfinken beim Nestbau beobachtet. Daran erinnere ich mich heut noch gern. Es war ein schöner Nachmittag.« Sie schaute Thomas an, der sie die ganze Zeit versunken betrachtet hatte, und gewahrte einen Ausdruck tiefer Zuneigung in seinen ehrlichen Augen. Erschrocken wich sie seinem Blick aus.
»Wollen wir was essen? Ich hab uns eine Brotzeit mitgebracht.«
»Gern. Und weil ich heut Geburtstag gab, lasse ich mich mal von dir bedienen«, meinte Thomas launig. Er war bemüht, den richtigen Ton zu treffen, hatte aber plötzlich so seine Schwierigkeiten damit. Der junge Bergbauer war befangen. Er fragte sich, ob er eben nicht zu nachlässig gewesen war. Hatte Karin vielleicht gemerkt, wie er empfand, hatte sie einen kurzen Blick hinter die Maske des Freundes geworfen und dahinter ein ganz anderes, viel tieferes Gefühl erahnt?
Obwohl Thomas sich nichts mehr wünschte, als der geliebten Frau endlich zu zeigen, wie er empfand, wollte er doch gerade dies vermeiden. Seine eigenen Gefühle sollten aus dem Spiel bleiben, zumindest fürs Erste.
Noch war Karin verwundbar und unsicher. Die Trauer um Michael ließ sie unbewusst nach einem Ersatz suchen, damit ihr Leben wieder licht und schön wurde. Aber er wollte ganz gewiss nicht dieser Ersatz sein. Wenn sie ihn lieb hatte, dann um seiner selbst willen. Und das bedeutete auch, dass er geduldig sein musste. Noch war er nur ihr Schwager, der Mann, der zwar zu ihrem Leben dazugehörte, aber nicht mehr als ein Freund und guter Kamerad sein durfte.
Erst wenn die Trauer um Michael für Karin nicht mehr an erster Stelle stand, wenn sie wieder an eine neue Liebe denken konnte, dann gab es vielleicht für sie beide eine Chance. Doch das war noch Zukunftsmusik.
So saßen sie beisammen in der sommerlichen Natur der Hochalm, mitten auf einer Wildwiese, die mit würzigen Kräutern, kleinen Margeriten und allerlei süß duftenden winzigen Blüten bestickt war, genossen eine deftige Brotzeit und beobachteten manchen Vogel, der im weiten Blau über ihnen seine Bahn zog.
Einmal schwirrte eine ganze Versammlung Bergdohlen heran. Die klugen Vögel witterten wohl ein paar Brosamen, wie sie bei Wanderern immer wieder abfielen. Sie landeten ganz in der Nähe und spazierten krächzend und schwatzend umher, bis Thomas ihnen Brotstückchen zuwarf. Die Vögel mit dem glänzend schwarzen Gefieder, den langen, gelben Schnäbeln und den blauen Augen stürzten sich begeistert auf diese Gabe und ließen keinen Krümel übrig. Dann stoben sie munter krächzend davon.
Karin lachte, als ihr eine Feder mitten auf die Stirn segelte.
»Die nehme ich mit als Erinnerung an diesen Tag«, beschloss sie. »Schön ist es hier. Ich könnte noch stundenlang da sitzen. Aber ich glaub, wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen.«
Thomas nickte. Die Sonne war längst untergegangen, im Tal breitete die Dämmerung bereits ihr graues Tuch aus, und zwischen den etwas tiefer wachsenden Bergkiefern tanzten die Nebelfeen.
»Ich dank dir für den schönen Geburtstag«, sagte er und lächelte ihr warm zu. »Besser hätte es net sein können.«
»Das freut mich.« Sie erwiderte sein Lächeln und streckte ihm die Hand hin. »Nun komm, bevor es dunkel wird und wir hier heroben übernachten müssen.«
»Das wäre ja mal was«, scherzte der Bergbauer. »Im feuchten Gras liegen und Fledermäuse beobachten …«
Karin musste lachen und schüttelte den Kopf. »Du hast manchmal aber auch Ideen!«
Sie stiegen zügig ab, und schon wenig später kam der Berghof in Sicht. Der vertraute Anblick berührte Thomas an diesem Tag besonders. Das Haus im Gebirgsstil mit dem tief gezogenen Schindeldach, den umlaufenden Holzbalkonen und der weißen Fassade war immer der Stolz der Burgmüllers gewesen.
Thomas hatte das ebenfalls stets so empfunden. Die Nebengebäude, die mit dem Haupthaus ein U bildeten, der kunstvoll gepflasterte Wirtschaftshof, in dessen Mitte ein mächtiger Bergahorn wuchs, all das war für Thomas der Inbegriff von Heimat.
An diesem Sommerabend aber empfand er noch etwas anderes. Es war wie ein stilles Glücksgefühl, die Ahnung, dass der Berghof irgendwann nicht mehr nur sein Daheim sein würde, sondern auch das Zuhause seiner Frau und seiner Kinder. Wenn erst die Zeit gekommen war, wenn Karin nicht mehr um Michael trauerte, wenn die Liebe ihre Herzen zusammenführte …
So romantisch waren die Gedanken des Bergbauern, während er neben seiner Schwägerin heimging. Er vermied es, Karin dabei anzuschauen, denn er wollte sich nicht noch einmal durch einen Blick verraten. Worauf er nun zählen musste, das war die Zeit. Sie heilte ja bekanntlich alle Wunden. Und in diesem Fall, das hoffte Thomas von Herzen, würde sie für ihn und Karin auch das Glück bringen.
***
In den nun folgenden Wochen verlief das Leben auf dem Berghof im altbekannten Rhythmus. Der Sommer erreichte seinen Höhepunkt und die große Ernte stand an. Es war die arbeitsreichste Zeit im Jahr. Erst als die Hitze allmählich nachließ, die Abende kühl und frisch wurden und die Bergwälder sich langsam bunt färbten, wurde es ein wenig ruhiger. Die zusätzlich eingestellten Saisonarbeiter standen wieder aus, einige blieben, um sich im Herbst beim Holzeinschlag zu verdingen.
Karin hatte nun alle Hände voll zu tun. Der Garten quoll über, die Ernte fiel in diesem Jahr sehr reichlich aus. Jeden Tag wurde Gemüse eingefroren oder eingeweckt, Obst zu Marmelade gekocht und in Gläsern haltbar gemacht, um im Winter den Nachtisch zu verbessern. Kartoffeln wurden geerntet und eingekellert. Karin hatte im letzten Jahr einen Erdkeller anlegen lassen, in dem Äpfel, Kohl und Rüben frisch blieben.
Als die Abende zu kühl wurden, um sie draußen zu verbringen, saßen Karin und Thomas in der guten Stube am warmen Kachelofen, sahen fern oder unterhielten sich bei einem Glas Wein.
Sie genossen diese entspannten Stunden zu zweit, ohne sie als selbstverständlich zu betrachten. Der Bergbauer wusste es zu schätzen, dass Karin ihm vertraute und gern in seiner Nähe war. Und die junge Frau spürte, wie ganz allmählich ein Wandel in ihrem Herzen vor sich ging.
Es begann beinahe unmerklich mit kleinen Dingen. Einmal ertappte sie sich dabei, dass sie einen ganzen Tag lang keinen Gedanken mehr an Michael verschwendet hatte. Dann verspürte sie den Wunsch, sich vor dem Fernseher an Thomas zu kuscheln. Und wieder ein anderes Mal erfüllte unvermittelt ein warmes Gefühl von Zuneigung und Glück ihr Herz, als sie Thomas mit dem frisch geschlagenen Holz heimkehren sah.
Es waren nur Kleinigkeiten, doch sie zeigten deutlich, dass sich in Karins Denken und Fühlen etwas verändert hatte. Sie empfand sich nicht mehr als junge, einsame Witwe. Es war vielmehr so, als liefe ihr Leben erst jetzt in den rechten Bahnen, als hätte es von Anfang an so sein müssen.
Als Karin dies bewusst wurde, begriff sie, dass sie Thomas lieb hatte. Er hatte ihrem Herzen von Anfang an viel näher gestanden als Michael. Sie erinnerte sich nun öfter an ihre erste Zeit auf dem Berghof. Damals hatte sie Thomas sehr gemocht. Seine ruhige, besonnene Art hatte ihr gefallen. Und sie hatte sich in seiner Nähe ebenso wohlgefühlt wie jetzt.
Verwundert fragte die junge Bäuerin sich, wieso sie sich dann in Michael verliebt hatte. Er war in allem das genaue Gegenteil seines Bruders.
Auf Anhieb hatte seine aufgeblasene, selbstsichere Art sie abgestoßen. Sie hatte ihn für einen eingebildeten Weiberhelden gehalten, dem man besser aus dem Weg ging, wollte man nicht unglücklich werden. Michael schien ihre Ablehnung gespürt zu haben. Und sie hatte ihn offenbar gereizt.
Dachte Karin nun ehrlich über die beiden Jahre ihrer Ehe nach, dann wurde ihr klar, dass Michael kein guter Ehemann gewesen war. Er taugte gar nicht für eine Partnerschaft, denn er dachte immer nur an sich selbst. Und wirklich glücklich war sie mit ihm nicht gewesen. Noch hatte sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie so dachte. Aber ihr war auch klar, dass dies die Wahrheit war. Und dass sie dieser Wahrheit nicht ewig würde ausweichen können.
Irgendwann musste Karin Farbe bekennen, den Mut zur Wahrheit finden. Aber sie schob diesen Schritt noch vor sich her, denn sie hatte einfach Angst davor, ihr Leben neu anzupacken. So wie es nun war, war es gut. Auch wenn sie ahnte, dass ihr Herz sich längst nach Thomas sehnte …
Das Weihnachtsfest wurde auf dem Berghof ganz traditionell begangen. Thomas schlug eine schöne Tanne, Karin schmückte sie mit Äpfeln, Nüssen, bunten Lichtern und jenen zauberhaften Holzfiguren, die den Bauern durch seine Kindheit begleitet hatten. Am Heiligen Abend wurde zuerst das Gesinde beschert, dann gab es fürs Vieh eine Extraportion Futter. Am Abend stiegen Karin und Thomas ins Tal ab und besuchten die Weihnachtsmesse.