Heimat-Roman Treueband 70 - Sissi Merz - E-Book

Heimat-Roman Treueband 70 E-Book

Sissi Merz

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Beschreibung

Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!

Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.

Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Alpengold 228: Man nannte ihn den Witwenhof
Bergkristall 309: Ein Hochzeitskleid für Nikola
Der Bergdoktor 1813: Verlassen
Der Bergdoktor 1814: Aus dem Paradies vertrieben
Das Berghotel 165: Stelldichein am Kuckuckssee
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 609

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sissi Merz Carola Martin Andreas Kufsteiner Verena Kufsteiner
Heimat-Roman Treueband 70

BASTEI LÜBBE AG Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben Für die Originalausgaben: Copyright © 2016/2018 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller Verantwortlich für den Inhalt Für diese Ausgabe: Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln Covermotiv: © 0 ISBN: 978-3-7517-7678-3 https://www.bastei.de https://www.luebbe.de https://www.lesejury.de

Heimat-Roman Treueband 70

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Alpengold 228

Man nannte ihn den Witwenhof

Bergkristall - Folge 309

Ein Hochzeitskleid für Nikola

Der Bergdoktor 1813

Verlassen

Der Bergdoktor 1814

Aus dem Paradies vertrieben

Das Berghotel 165

Stelldichein am Kuckuckssee

Guide

Start Reading

Contents

Man nannte ihn den Witwenhof

Herrlicher Roman um ein ungewolltes Glück

Von Rosi Wallner

Als der fesche Amend-Michael als Lehrer in das kleine Bergdorf Wieskirchen versetzt wird und Quartier auf dem Witwenhof nimmt, kann er nicht ahnen, wohin es ihn da verschlagen hat. Seit Jahren schon herrscht auf dem Hof von Ruth und Daniela Buchwieser eine reine Weiberwirtschaft – und keiner ihrer Mieter hält es lange mit den beiden vom Leben enttäuschten und bitter gewordenen Witwen aus. Doch Michael gelingt ein kleines Wunder, denn er schleicht sich unbemerkt in das Herz der schönen Daniela. Aber gerade als er auf ein Glück mit Dani zu hoffen wagt, geraten die Dinge auf dem Witwenhof jäh außer Kontrolle: An einem kalten Winterabend belauscht Danielas kleiner Sohn Jakob ein Gespräch, das er niemals hätte hören dürfen, und steigt bei Eis und Schnee ins Gebirge auf – ein Todesurteil für ein Kind in seinem Alter und die härteste Bewährungsprobe für Michaels und Danielas junge Liebe …

»Noch ein Weißes?«, fragte die Kronenwirtin freundlich, als Michael Amend das Mittagessen beendet hatte und den Teller zurückschob.

»Nein, eins ist genug. Aber die Knödel mit dem Kraut waren ganz ausgezeichnet, so gut hat es mir noch nirgends geschmeckt. Sicher ist das Rezept ein sorgsam gehütetes Familiengeheimnis«, erwiderte Michael.

Die behäbige Wirtin, die zwar schon weiße Haare, aber ein glattes, rosiges Gesicht hatte, was sie sehr jugendlich wirken ließ, lachte auf. »Ganz so arg ist es net. Aber ich hab halt noch richtig kochen gelernt unter der strengen Aufsicht meiner Mutter.«

»Die war sicher Köchin von Beruf.«

»Aber nein. Früher war’s halt selbstverständlich, dass die Madeln bereits als Kind am Herd stehen mussten. Aber jetzt zu Ihnen, haben Sie sich schon das Schulhaus mit der Wohnung angesehen?«

»Ja, heut Morgen. Die Klassenzimmer sind ja einigermaßen in Ordnung, die Grundausstattung halt. Aber die Wohnung ist ein Graus. Dass da noch jemand drin gelebt hat, ist ja kaum zu glauben.«

»Ihr Vorgänger, der hier überall noch ›Schulmeister‹ genannt worden ist, war ein rechter Sonderling und hat sich im Schulhaus buchstäblich vergraben. Sie sind sicher etwas anderes gewohnt.«

»Nein, das ist es nicht. Die Wohnung ist vom Schimmelpilz befallen, und die Rohre sind auch nicht dicht. Im Grunde genommen sind die Räume bald völlig unbewohnbar, wenn die Gemeinde nichts dagegen unternimmt. Dort kann ich auf keinen Fall einziehen, das ganze Gebäude muss erst einmal grundsaniert werden.«

»Nun, hier können Sie weiter das Kammerl oben haben«, meinte die Kronenwirtin entgegenkommend.

»Das ist vorerst sehr hilfreich, aber auf die Dauer brauche ich meine eigenen vier Wände«, wandte Michael ein.

»Da hätt ich einen Vorschlag …«

Auf seine einladende Geste hin hatte die Wirtin ihm gegenüber Platz genommen. Der Gastraum hatte sich inzwischen geleert, und die Aushilfe war schon dabei, die Tische abzuräumen, sodass sie sich eine kurze Ruhepause gönnen konnte, bis die Vorbereitungen für das Abendessen anstanden.

»Oben auf dem Witwenhof ist grad mal wieder der Mieter ausgezogen. Es handelt sich um einen Anbau, ordentlich hergerichtet, der eigentlich als Austragshäusl gedacht war. Aber es ist halt alles anders gekommen. Wenn Ihnen zwei Zimmer mit Dusche reichen …«

»Ja, das wäre genau richtig. Es ist doch separat, oder?«, erkundigte er sich.

»Ja, natürlich. Sie sind dort völlig ungestört, und hinter der Scheune ist auch ein Stellplatz für Ihren Wagen.«

»Das klingt doch alles sehr gut.« Dann fiel Michael die eigenartige Miene der Wirtin auf. »Aber Sie wollen mir doch noch etwas sagen, oder?«

Die Frau wand sich etwas, ehe sie ihm eine Antwort gab. »Es ist halt so, dass es dort niemand lang aushält. Doch vorübergehend könnt es halt schon passen.«

»Heraus mit der Sprache! Was stimmt nicht auf dem Witwenhof?«

»Die Bäuerin ist eine rechte Giftnocken und ihre Schwiegertochter ebenso. Die Mieter haben bei denen nichts zu lachen, und das hält auf die Dauer kein Mannsbild aus. Dort herrschen strenge Sitten und ständige Aufsicht.«

Michael musste unwillkürlich lachen. »Dass es so etwas noch gibt! Zwei alte Frauenzimmer, die aus der Zeit gefallen sind.«

»Die sind gar net so alt, da werden Sie staunen. Aber das ist eine lange Geschichte.«

»Ich mag lange Geschichten. Ich nehm nun doch noch ein Weißes.«

Als das Bier vor ihm stand, und er einen tiefen Zug genommen hatte, begann die Kronenwirtin zu erzählen.

»Die waren net immer so, die Ruth Buchwieser und ihre Schwiegertochter, die Daniela. Aber das Schicksal hat es halt net gut mit ihnen gemeint. Ich erinnere mich noch, was für ein schönes und heiteres Madel die Ruth gewesen ist, bevor sie den Buchwieser-Luitpold geheiratet hat.«

Ein tiefer Seufzer kam von ihren Lippen, und für einen Augenblick wirkte sie geistesabwesend, so, als schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück. Doch gleich darauf fasste sie sich wieder und fuhr mit ihrer Erzählung fort.

»Der Luitpold war ein wirklich fesches Mannsbild, und die Madeln im Dorf waren fast alle verliebt in ihn. Jede hätt er haben können, denn keiner konnte sich so einschmeicheln wie er. Aber geheiratet hat er dann die Ruth, die zwar schön war, aber vom Wesen her so gar net zu ihm gepasst hat.« Wieder seufzte die Wirtin auf.

»Er hat es wohl mit der ehelichen Treue bald nicht mehr so genau genommen, oder?«, warf Michael ein.

»Nun, anfangs ging alles gut, die beiden waren sehr verliebt ineinander, und der Luitpold hatte nur Augen für seine Ruth. Er war sehr stolz, als sein Sohn geboren wurde, und alle dachten, dass der Buchwieser das Glück für sich gepachtet hätte. Aber das war der Höhepunkt, danach ging es nur noch bergab. Die Ruth war damals noch sehr jung, grad mal neunzehn, und kam mit allem net zurecht. Der Luitpold hat es immer verstanden, sich herauszuhalten, wenn ihm etwas net gepasst hat. Zuletzt saß die Ruth mit dem Kleinen immer zu Haus, und ihr Mann zog mit seinen Spezln herum, als ob er net verheiratet wär.«

»Das war sicher schwer für die junge Frau«, sagte Michael mitfühlend.

»Es war ein Graus zu sehen, wie sie alle Lebensfreude verloren hat. Nur noch geweint hat’s, das arme Hascherl. Und dann fing der Luitpold auch noch an, mit anderen Frauen anzubandeln, wahrscheinlich, weil die Ruth nichts mehr von ihm wissen wollt. Und bald war er nur noch in den Wirtshäusern zu Hause und nimmer auf dem Buchwieser-Hof. Bei uns hat er Hausverbot erhalten, weil er immer Händel gesucht hat, wenn er betrunken war. Und so wurde aus dem feschen Buchwieser ein haltloser Säufer, der nirgendwo mehr angesehen war.«

»Und wie ist seine Frau damit fertiggeworden?«

»Im Grund genommen gar net. Heutzutage lassen sich die Frauen ja scheiden, wenn sie es nimmer mit ihren Männern aushalten, aber die Ruth war noch vom alten Schlag. Damals haben die Frauen die Ehe als vorbestimmtes Schicksal gesehen, das ertragen werden musste. Außerdem wollte sie wohl auch das Erbe für ihren Sohn erhalten. Und obwohl es immer schlimmer wurde mit ihrem Mann, blieb sie halt bei ihm.«

»Ein elendes Leben. Kein Wunder, dass …

»Ja, kein Wunder, dass aus der Ruth so eine Giftnocken geworden ist«, fiel die Wirtin dem jungen Lehrer ins Wort. »Aber man vergisst halt leicht, was sie alles hat erleiden müssen. Es heißt sogar, dass ihr Mann sie misshandelt hätt. Aber das hätt sie nie zugegeben, nie im Leben, denn sie hat halt ihren Stolz. Jedenfalls hat sie eines Tages keine Tränen mehr gehabt, aber auch kein gutes Wort mehr für andere, am wenigsten für ihren Mann. Mit dem ist es immer ärger geworden, und er ist mit kaum fünfzig an einem Schlaganfall gestorben.«

»Eine traurige Geschichte, wahrhaftig. Und was ist aus ihrem Sohn geworden?«

»Der Leo war seinem Vater sehr ähnlich, ein schmucker Bursch, der die Madeln um den kleinen Finger gewickelt hat. Er hat aber nie über die Stränge geschlagen und nur mäßig getrunken. Schon früh hat er die Daniela geheiratet, das schönste Madel im Tal. Aber es hat sich gezeigt, dass er in einer Hinsicht genauso wie sein Vater war, nur, dass sich bei ihm alles in großer Heimlichkeit abgespielt hat …«

»Ach? Und wie ist das herausgekommen?«

»Kurz bevor die Daniela ihr Kind bekommen hat, ist der Leo tödlich mit dem Auto verunglückt. Doch er war net allein, sondern eine junge Frau war mit dabei, die schwer verletzt wurde, aber wieder aufkam. Sie war seit Jahren die Geliebte vom Leo, auch noch, als er verheiratet war. Und sie war net die Einzige; der Leo hat sogar zwei uneheliche Kinder mit verschiedenen Frauen gehabt, von denen niemand etwas gewusst hat. In München nämlich, wohin er regelmäßig gefahren ist.«

»Das muss ja ein furchtbares Erwachen für die junge Frau gewesen sein, und das auch noch kurz vor der Niederkunft.«

»Die Daniela ist zusammengebrochen, und das Kindl kam zu früh auf die Welt, was der Mutter beinah das Leben gekostet hätt. Und danach war die Daniela eine andere, trotz ihrer Jugend schon eine verbitterte Frau. Sie hasst die Mannsbilder genauso wie ihre Schwiegermutter, darin sind sich die beiden einig. Sie bewirtschaften den Hof seitdem ganz allein und kommen auch ganz gut zurecht. Die Ruth fährt den Mähdrescher und den Traktor wie ein Mannsbild, und die Daniela schwingt die Sense auf den abschüssigen Streuwiesen. Eine Zeit lang haben sie ja auch einen Hofladen betrieben, aber bald hat sich niemand mehr zu der grimmigen Ruth hingetraut.«

»Und deswegen heißt der Buchwieser-Hof jetzt ›Witwenhof‹.«

»Ja. Und da die beiden sich so feindselig verhalten und sogar mit den Nachbarn im Streit liegen, gab es auch allerhand üble Nachrede.«

»So ist es ja leider oft, besonders wenn es sich um Frauen handelt«; meinte Michael kopfschüttelnd.

»Die Ruth hätt ihren Mann ins Wirtshaus und die Daniela den ihren anderen Frauen in die Arme getrieben, so wurde bald sehr gehässig über die beiden geredet. Aber kein Wort mehr darüber, was der Luitpold und der Leo alles verbrochen hatten. Seitdem lassen sich die Buchwieser-Frauen kaum noch blicken und gehen net mal mehr sonntags in die Kirche.«

Beide schwiegen einen Augenblick, dann sagte Michael plötzlich: »Aber wenn die Witwen die Mannsleut so hassen, dann wollen sie doch ganz bestimmt keinen männlichen Mieter haben.«

Die Kronenwirtin sah ihn lange an. Vor ihr saß ein ausnehmend gut aussehender junger Mann mit dunklen Locken und klaren blauen Augen. Sein Mund verriet Empfindsamkeit, wirkte aber nicht weichlich. Seine Kleidung war eher städtisch zu nennen, auch wenn er einen Janker mit Hirschhornknöpfen trug. Ein schmuckes Mannsbild mit freundlichem Wesen und guten Manieren, das sie gleich in ihr mütterliches Herz geschlossen hatte.

»Die Buchwiesers können net auf den Mietzins verzichten und dürfen daher net so wählerisch sein. Es war ja schon schlimm genug, dass der Hofladen net gegangen ist. Außerdem könnt ich mir ganz gut vorstellen, dass Sie mit ihnen auskommen. Denn Sie sind net so wie die meisten Mannsleut.«

Michael richtete sich auf. »Heißt das, ich bin kein richtiger Mann?«

Die Wirtin lachte so, dass ihre üppige Gestalt bebte. »Sie wissen schon, wie ich das mein. Sie brauchen also gar net erst den Gekränkten zu spielen.«

Nun lachte auch Michael. Als von der Küche her ein lautes Klirren und Scheppern erklang, erhob sich die Kronenwirtin mit einem Seufzer. »Ich muss in der Küche nach dem Rechten sehen, dort scheint es eine Katastrophe gegeben zu haben.«

Sie eilte davon, und Michael lehnte sich zurück und ließ den Blick durch die leere Gaststube schweifen. Es war ein anheimelnder Raum, in dem er sich von Anfang an wohlgefühlt hatte. Die Wände waren holzvertäfelt, dunkle Balken durchzogen die Decke. Natürlich gab es die üblichen Geweihe, die drohend über den Köpfen der Gäste schwebten, eine Seite war jedoch der Dorfchronik gewidmet.

Michael hatte die Bilder, die teilweise altertümlich sepiabraun waren, mit großem Interesse betrachtet. Vor allem Vereinsfeiern, Jubiläen und Neugründungen, wie beispielsweise die Errichtung eines Sägewerks, waren die Motive, teilweise gingen die Ereignisse bis ins neunzehnte Jahrhundert zurück. Auch die feierliche Eröffnung der sogenannten »Volksschule« war abgebildet, die sich heute noch in demselben Gebäude befand.

Mehrfach gab es Fotografien von der alljährlichen Dorfkirmes, vor allem nach schweren Zeiten, als die Lebensfreude der Dörfler wieder erstarkte. Damals diente sie gleichzeitig als Verkaufsmesse und Viehmarkt. Die Bäuerinnen konnten erstehen, was in ihrem Haushalt fehlte, und noch Kleidungsstücke und Kurzwaren dazu, während ihre Männer um den Kauf oder Verkauf eines Nutztiers feilschten.

Nicht zuletzt war die Kirmes eine Art Heiratsmarkt, und das war sie noch bis in die heutige Zeit, auch wenn das nicht mehr so offen zutage trat. Jedenfalls kam man sich beim anschließenden Kirmestanz dann näher, und schon manches Paar, das Goldene Hochzeit feierte, hatte sich auf dem Tanzboden kennengelernt.

Jedoch auch tragische Vorkommnisse waren festgehalten, wie die Denkmäler für diejenigen, die nicht mehr aus den beiden Weltkriegen zurückgekehrt waren, was ihre Familien, die oft den einzigen Sohn und Hoferben verloren hatten, in tiefstes Unglück gestürzt hatte.

Michaels Aufmerksamkeit hatte sich auch ganz besonders auf eine Naturkatastrophe gerichtet, die sich vor einigen Jahrzehnten ereignet hatte. Ein Lawinenabgang hatte einen der großen Höfe bis auf die Grundmauern zerstört und das Leben einer ganzen Familie ausgelöscht, wie dem Beerdigungsfoto zu entnehmen war.

Michael, der in der Großstadt aufgewachsen war, hatte sich noch nie auf diese Weise Teil einer Gemeinschaft gefühlt, wie es ihm diese historischen Bilder vermittelten. Aber inzwischen war in ihm die Sehnsucht erwacht, in diese enge Dorfgemeinschaft hineinzuwachsen und ein Teil von ihr zu werden.

Umso mehr bedauerte er die beiden Frauen vom Witwenhof, deren Leben so unglücklich verlaufen war, dass sie an den Rand des Dorflebens gedrängt worden waren. Da sie in diesem Umfeld aufgewachsen waren, musste diese Ausgrenzung für sie besonders schmerzlich sein, selbst wenn sie zuletzt durch eigenes Verschulden entstanden war. Und es war besonders bedrückend, dass sie von den Dörflern keinen Funken Mitgefühl zu erwarten hatten.

***

Michael erhob sich und verließ die Gaststube. Als er auf die Dorfstraße trat, blendete ihn die helle Julisonne, ein Schwall von Wärme hüllte ihn ein. Langsam schritt er durch das stille Dorf, hin und wieder blieb er stehen, um eines der idyllischen Häuser, die üppig mit Geranien geschmückt waren, zu bewundern.

Die Zeit schien in diesem Ort stehen geblieben zu sein. Nirgends erhoben sich Betonbauten, um die Bedürfnisse von Touristen zu befriedigen. Der Mittelpunkt des Ortes mit Marktplatz, auf dem sich das Rathaus, die Apotheke und ein paar Geschäfte befanden, sah noch genauso aus wie vor einem halben Jahrhundert.

Allerdings hatte der umtriebige Bürgermeister für die Erbauung eines luxuriösen Sporthotels samt Golfplatz gesorgt. Doch das lag in einiger Entfernung von Wieskirchen.

Die Dorfstraße ging nun in die Landstraße über, und Michael trat an den Ortsplan heran, der sich am Eingang des Dorfes in einem verglasten Kasten befand. Auch die umliegenden Gehöfte waren namentlich verzeichnet, sodass Michael keine Schwierigkeiten hatte zu erkennen, wo der Hof der Buchwiesers lag.

Er hatte jedoch nicht vor, bei den beiden Frauen vorzusprechen, denn zu sehr stand er noch unter dem Eindruck des Gehörten. Aber er wollte sich den Witwenhof wenigstens einmal ansehen, denn schon das würde ihm die Entscheidung erleichtern, ob er in Zukunft überhaupt dort leben wollte.

Nachdem er einige Zeit die Landstraße entlanggegangen war, wobei ihm kaum ein Auto entgegenkam, bog er in einen unbefestigten Seitenweg ab. Er führte gemäß der Landkarte zum Buchwieser-Hof, glich aber Michaels Meinung nach eher einem holprigen Wirtschaftsweg.

Außerdem musste er eine Steigung bewältigen, und es kam ihm vor, als flirrte die Luft vor Hitze. Er zog den Janker aus und hängte ihn über die Schultern, aber auch das verschaffte ihm wenig Erleichterung. Und die leichten Lederschuhe mit den dünnen Sohlen waren für den steinigen Pfad auch nicht gerade geeignet. Wie leichtsinnig von ihm, sich derart mangelhaft ausgerüstet auf eine Wanderung zu begeben! Genau genommen war es ja eher ein Spaziergang, doch immerhin.

Nun wurde der Weg wieder ebener und mündete in eine Mulde, in deren Mitte der Hof stand, umgeben von Feldern und Almwiesen. Michael beschleunigte seine Schritte und stand bald darauf am Hoftor, von wo aus er das ganze Anwesen überblicken konnte.

Wenn er sich vorgestellt hatte, dass der Witwenhof vernachlässigt war, so sah er sich angenehm enttäuscht. Das Mauerwerk des stattlichen Wohnhauses leuchtete weiß, die Balustraden und die Fensterläden waren dunkel gefirnisst. Die massive Eingangstür wies kunstvolle Schnitzereien auf, was auf den einstigen Reichtum der Familie hinwies. Hängegeranien flammten von dem Balkon und den Fensterbänken herab und ließen den Hof sehr malerisch wirken.

Der Hofplatz war gründlich gekehrt, rechts und links von der Haustür waren in Terrakottakübeln Blumen gepflanzt, eine Hausbank lud zum Niedersitzen ein. Etwas zurückgesetzt fiel ihm ein Anbau mit separatem Eingang ins Auge, der durchaus einen einladenden Eindruck machte. Dahinter befand sich wohl der Garten, ein mächtiger Hausbaum erhob sich wie ein Wächter, um den Hof zu beschützen.

Rechter Hand gab es eine hohe Scheune und die Stallungen, gegenüber verschiedene Wirtschaftsgebäude. Hecken und üppiges Buschwerk umgaben das Anwesen, hinter der Scheune erstreckte sich eine ausgedehnte Streuobstwiese, deren Blütenpracht im Frühjahr überwältigend sein musste.

Die Almwiesen gingen in der Ferne in einen dunklen Bergwald über, dahinter stiegen die grauen Felswände des Gebirgsmassivs, das das Hochtal begrenzte, schroff auf. Die Sonne ließ die Gletscher in kaltem Licht auffunkeln.

Michael stand wie gebannt da und nahm das Bild in seinem Herzen auf. Noch nie hatte es ihm irgendwo so gut gefallen. Er kam sich vor wie ein ruheloser Wanderer, der endlich sein Ziel erreicht hatte. Michael Amend hatte seinen Sehnsuchtsort gefunden.

Eine seltsame Freude und Leichtigkeit erfüllte ihn, und er umrundete das Anwesen, um von allen Seiten Einblick nehmen zu können. Der Bauerngarten war allein schon eine Sehenswürdigkeit mit seinen sorgsam angelegten Beeten, den blühenden Blumenrabatten und den wuchernden Rosensträuchern. Der Duft von Lavendel und Kräutern hing in der Luft und vermischte sich mit dem der Rosen.

Michael verweilte auch dort und sog die Düfte beglückt in sich ein.

Als er wieder am Eingangstor anlangte, trottete ihm der gewaltige Hofhund entgegen. Doch er bellte nur einmal kurz auf und ließ sich dann von Michael, der leise auf ihn einsprach, das struppige Fell streicheln und den Hals kraulen, ehe er umdrehte und wieder verschwand.

Man sagte dem jungen Lehrer nach, dass er sich auf Tiere und vor allem Hunde verstand und selbst die bissigsten und übellaunigsten in seiner Nähe plötzlich handzahm wurden. Michael lachte immer darüber, aber es war doch etwas Wahres daran.

Widerwillig trennte er sich von dem bereits lieb gewordenen Anblick und folgte dem Weg ein Stück weiter, bis er an ein Kreuz mit einer großen Votivtafel anlangte. Ein Bauer hatte sie aus Dank darüber errichten lassen, dass sein einziger Sohn von einer schweren Krankheit genesen war. Nachdem Michael die Inschrift gelesen und dabei eine tiefe Rührung empfunden hatte, ließ er sich auf der Bank daneben nieder, von wo aus sich ihm eine weite Aussicht über das Gebirgstal eröffnete.

Der Zwiebelturm der Kirche, der einem italienischen Baumeister zu verdanken war, war das Wahrzeichen von Wieskirchen und ragte zwischen den roten Dächern der Häuser empor, die sich um die Kirche scharten. Die Landstraße, die mit Obstbäumen gesäumt war, verlor sich in den Wäldern und wurde, wie er inzwischen aus der Dorfchronik erfahren hatte, früher von den Grenzgängern benutzt. Denn sobald Gefahr drohte, konnten sie sich in den Wäldern oder den unwegsamen Felsenschluchten verbergen.

Und in Michael reifte noch mehr der Entschluss, für immer an diesem Ort zu bleiben und ihn zu seinem Zuhause zu machen. Er würde seine ganze Kraft in das Unterrichten der Dorfkinder setzen und erhoffte sich, dadurch die Anerkennung der Dörfler zu finden, damit er in ihre Gemeinschaft aufgenommen wurde.

Doch zunächst wollte er unbedingt auf dem Witwenhof einziehen.

Michael saß da und träumte vor sich hin, bis die Schatten länger wurden. Dann erhob er sich und machte sich auf den Rückweg, der weitaus schneller und angenehmer vonstattenging als der Hinweg. Als er das Gasthaus Zur Krone betrat, herrschte dort bereits rege Betriebsamkeit. Der Stammtisch war schon besetzt, und es wurde lebhaft über den gesunkenen Milchpreis diskutiert, unterbrochen von Rufen nach der Bedienung.

Auch die Honoratioren hatten sich schon eingefunden. Hochwürden trank gemessen sein Weißes, während ein massiger Mann, den Michael für den Bürgermeister hielt, sich erhitzt mit seinem Gegenüber, einem hochgewachsenen Jäger, über die immer größeren Baumschäden durch das Rotwild auseinandersetzte.

Michael hatte sich weder bei dem Bürgermeister noch bei Hochwürden vorgestellt, denn er war weit vor Beginn seines Dienstantritts hierhergereist. Denn er wollte sich nicht nur ein Bild von seinem zukünftigen Wirkungskreis machen, sondern auch in aller Ruhe nach einer passenden Unterkunft suchen, sodass er, unbelastet von Alltagssorgen, am ersten Schultag vor den Kindern stehen konnte.

Glücklicherweise hatte die Kronenwirtin ihm seinen Stammplatz frei gehalten, sodass er sich hinsetzen und die Gäste der Krone beobachten konnte. Er bestellte das Tagesgericht, das er mit gutem Appetit aß, und beschloss dann, früh zu Bett zu gehen, denn sein Ausflug zum Witwenhof hatte ihn nicht nur hungrig, sondern auch müde gemacht.

Doch als er schließlich in der bäuerlich eingerichteten Kammer im Bett lag, fand er lange keine Ruhe. Die Schrecken der Vergangenheit, die er am Tag wirkungsvoll abwehren konnte, gewannen nun wieder die Oberhand.

Michael Amend hatte an einer Großstadtschule unterrichtet, an der sich die Schwierigkeiten immer mehr aufzutürmen schienen. Schlägereien unter den Schülern und übelstes Mobbing waren an der Tagesordnung, und die Lehrer standen diesem Chaos in manchen Fällen geradezu hilflos gegenüber.

Eine von Michaels begabtesten Schülerinnen, ein empfindsames, zartes Mädchen, war niederträchtigsten Internetangriffen ausgesetzt gewesen. Zutiefst verletzt hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen, konnte jedoch in letzter Minute gerettet werden. Dieser Vorfall hatte Michael zutiefst getroffen, er konnte sich nicht verzeihen, dass es ihm nicht gelungen war, das Mädchen zu beschützen und ihm zur Seite zu stehen.

Obwohl nichts gegen ihn sprach, wurde er danach von einem Gefühl persönlichen Versagens gequält. Vielleicht wäre er achtsamer mit der Situation umgegangen, wenn nicht all seine Gedanken davon gefangen genommen gewesen wären, dass er kurz zuvor seiner großen Liebe begegnet war.

Mara Roth war neu an die Schule gekommen, eine engagierte, umgängliche Kollegin, wie sich bald herausstellte. Dazu war sie noch bildhübsch und sportlich, sodass sie von den unverheirateten Kollegen umschwärmt wurde. Doch Michael war es gelungen, sie für sich zu gewinnen, und er träumte von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr.

Umso tiefer war seine Enttäuschung gewesen, als er erkennen musste, dass Mara dem Mädchen, dem das Verhalten seiner Mitschüler beinahe das Leben gekostet hätte, keinerlei Mitgefühl entgegenbrachte. Sie bezeichnete es stattdessen als überspannt und hysterisch und schlug sogar vor, dass die Eltern es an einer anderen Schule unterbringen sollten.

Immer mehr kristallisierte sich heraus, dass Mara keinerlei Bezug zu den Kindern hatte, sondern ihr Engagement nur dazu diente, sich einen Posten bei der vorgesetzten Behörde zu verschaffen. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen, und es zeigte sich ebenfalls, dass Mara ihrer Beziehung nie die gleiche Bedeutung zugemessen hatte wie er. »Eine nette kleine Affäre«, so hatte Mara sie spöttisch genannt, und für Michael war eine Welt zusammengebrochen.

Er hatte sich umgehend von ihr getrennt, was sie sehr übel nahm. Denn für gewöhnlich war sie es, die eine Beziehung beendete. Plötzlich waren nun seltsame Gerüchte über ihn im Umlauf, hauptsächlich, dass er es an der nötigen Distanz zu seinen Schülern, besonders aber zu den Schülerinnen, fehlen ließe.

Kollegen, mit denen er einen freundschaftlichen Umgang unterhalten hatte, wandten sich von ihm ab, Schüler, die ihm immer mit Respekt begegnet waren, machten plötzlich freche und anzügliche Bemerkungen auf den Gängen oder sogar im Unterricht.

Eine tiefe Niedergeschlagenheit befiel ihn. Der seelenlose Betrieb der Großschule, dazu die Verleumdungen hatten ihm den Beruf, den er so liebte, verleidet. Auch das hektische städtische Leben begann, ihm zunehmend zu missfallen, und er fing an, sich wegzusehnen.

Seine Eltern waren schon lange gestorben, es gab nichts mehr, was ihn hier hielt. Er wollte zu seinen Wurzeln zurückkehren, denn seine Mutter stammte ursprünglich aus der Gegend. Vor allem aber hoffte er, an einer kleinen Schule den Schülern mehr Zuwendung schenken zu können.

Noch einmal kehrten seine Gedanken zu Mara zurück, und wie immer fühlte er dann einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Wie sehr er sie geliebt hatte! Doch das gehörte der Vergangenheit an, und nun traten ihm wieder die Bilder des heutigen Mittags vor Augen. Die herrliche Gebirgslandschaft, der Witwenhof …

Alles schien sich zu vermischen, Vergangenes und neu Erlebtes, und Michael Amend sank in einen so tiefen Schlaf wie schon lange nicht mehr.

***

Am nächsten Morgen brach er schon früh zum Witwenhof auf. Er trug einfache sommerliche Kleidung und hatte auch daran gedacht, festere Schuhe anzuziehen.

Dieses Mal ging er sofort durch das Tor und überquerte den Hofplatz. Der riesige Hund, der anscheinend frei herumlaufen durfte, lugte kurz um die Scheunenecke, schien ihn aber wiederzuerkennen und zog sich nach einem kurzen Bellen wieder zurück. Die Haustür stand halb offen, denn in dieser Gegend war es nicht üblich, alles hinter sich zu verschließen. Er klopfte an und machte sich durch Rufen bemerkbar, doch nichts rührte sich im Haus.

Schließlich trat er in den halbdunklen Flur und blieb dort zögernd stehen. Eine Fülle von Gerüchen umgab ihn – nach gebratenem Fleisch, Kraut, Gewürzen und Kräutern, aber auch Lavendel- und Rosenduft. Dazwischen glaubte er, die säuerlichen Ausdünstungen von Apfelmost wahrzunehmen.

Wie gut es sein musste, in ein solches Haus heimzukehren mit all seinen vertrauten Gerüchen, die es ganz zu durchdringen schienen!

»Was suchst du denn hier?« Eine scharfe Stimme riss ihn aus seinen Träumereien, und eine Frauengestalt, fast so hochgewachsen wie er, stand ihm unvermittelt gegenüber.

»Ich hab geklopft und gerufen, aber es schien niemand da zu sein …«, stammelte Michael ziemlich verwirrt.

»Und was willst?«

Wahrhaftig, hier wurden nicht viele Worte gemacht!

»Ich suche eine Wohnung, und die Kronenwirtin hat gesagt, dass hier etwas frei sei«, gab er zur Antwort.

»Ja, wenn sie das sagt, wird es wohl stimmen. Komm in die Stube!«

Michael folgte ihr wortlos, und hier konnte er sie zum ersten Mal genauer betrachten. Vom Alter her musste es sich um Ruth Buchwieser handeln, aber sie entsprach nicht im Geringsten der Vorstellung, die er sich von ihr gemacht hatte. Er hatte angenommen, sie sei eine reizlose, matronenhafte Frau, verbittert und vor der Zeit gealtert.

Stattdessen sah er sich einer Frau in der Blüte ihrer Jahre gegenüber, schlank, aber kraftvoll, das weizenblonde Haar, in das sich nicht das geringste Grau mischte, war im Nacken zu einer Art Dutt zusammengesteckt. Um die hellblauen Augen hatte sie ein paar Fältchen, und um den Mund hatten sich beidseitig Linien eingekerbt, doch sonst hatte ihr Gesicht nichts von seiner Schönheit eingebüßt.

Aber hinter dieser Schönheit verbarg sich eine Härte, die sie nicht zu verschleiern suchte. In ihrem Blick lag keine Freundlichkeit, sie schätzte Michael lediglich kühl ab, und vermutlich würde sie an ihrem Urteil unverrückbar festhalten. Er spürte, dass ihn in ihrer Nähe ein gewisses Unbehagen überkam.

»Und was suchst du hier? Du bist ja kein Hiesiger«, wollte sie dann auf ihre knappe Art wissen, als sie mit ihrer Musterung fertig war.

»Ich bin der neue Lehrer. In der Wohnung im Schulhaus ist Schimmel, und daher suche ich auf Dauer eine Unterkunft«, gab Michael Auskunft und kam sich plötzlich selbst wie ein Schüler vor, der einer gestrengen Lehrerin Rede und Antwort stehen musste.

»Ach so.« Sie eröffnete ihm die Höhe der monatlichen Miete, klärte ihn über seine Verpflichtungen als Mieter auf und fügte hinzu: »Frühstück gibt es keines, das ist ja schließlich keine Pension. Wenn du herumlärmst oder Flitscherln hier hochbringst, setz ich dich vor die Tür. Unter meinem Dach herrscht Ordnung, und ich hab reinweg nichts übrig für diese neumodische Selbstverwirklichung, was immer das auch sein soll. Hast dazu was zu sagen?«

»Nein. Damit bin ich einverstanden.«

»Gut so. Ich zeig dir jetzt die Wohnung.«

Es gab keinen Durchgang zwischen Haus und Anbau, sodass sie über den Hof gehen mussten. Die Wohnung war teilmöbliert, es gab eine winzige Einbauküche, eine Dusche und ein Schlafzimmer, in dem ein altertümliches, aber einladendes Bett und ein schmaler Schrank samt Kommode standen. Das war Michael sehr recht, denn in seiner mehr als bescheidenen Ein-Zimmer-Wohnung hatte er immer auf dem ausziehbaren Sofa geschlafen.

Das Wohnzimmer war völlig leer, aber es war groß genug, dass er sich noch eine Arbeitsecke einrichten konnte. Der Blick aus dem Fenster ging auf die Streuobstwiese hinaus, was Michael sehr zusagte.

»Wann willst einziehen?«

»So schnell wie möglich. Ich hab meine Möbel eingelagert, die müssen halt hier hochgebracht werden.«

»Das geht schon. Du wirst ja net grad einen Laster brauchen.«

»Gewiss nicht.«

Allerdings würde er sich ein neues Sofa, Bücherregale und einen neuen kleinen Schreibtisch kaufen, was er schon lange vorgehabt hatte. Ruth Buchwieser gab ihm keine Gelegenheit, die Aussicht aus dem Fenster noch länger zu genießen, sondern sie kehrten in die Stube zurück, damit er dort den Mietvertrag unterschreiben konnte.

Während Ruth die Unterlagen aus einer Schublade heraussuchte, sah sich Michael verstohlen um. Alles in dem behaglich eingerichteten Raum war blitzblank. Die Fensterscheiben waren offensichtlich frisch geputzt, die Vorhänge bauschten sich weiß davor. Die Holzdielen schimmerten honigbraun, und der Kachelofen glänzte in sattem Dunkelgrün. Nirgends gab es ein Staubkörnchen, es sah sogar aus, als würde die kunstvolle Bauernmalerei, mit der die große Truhe und die Kredenz verziert waren, häufig erneuert.

Es fiel Michael auf, dass kein einziges Familienbild auf der Kredenz stand und es auch sonst keinerlei Zeugnisse von Luitpold und Leo Wieshuber gab. Als wären sie nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus dem Gedächtnis der beiden Frauen verschwunden.

Vielleicht hat die Bäuerin wenigstens ein Bild von ihrem Sohn im Schlafzimmer, dachte Michael, aber sicher war er sich dessen nicht.

»Schön habt ihr’s hier«, sagte Michael schließlich, der beschloss, die Bäuerin, wie auf dem Land üblich, ebenfalls zu duzen.

»Eh ich’s vergess, jede Woche wird gründlich geputzt, also auch der Anbau. Da musst halt die Ärmel hochkrempeln, denn Dienstboten gibt es keine hier«, sagte Ruth und schob ihm die Papiere zu.

Michael nickte.

Nachdem er den Vertrag durchgelesen und unterzeichnet hatte, fragte Ruth unvermittelt: »Was hast du eigentlich mit dem Franz Josef angestellt?«

»Franz Josef?«, echote Michael verständnislos.

»Das ist der Hund«, erwiderte sie ungeduldig. »Ich hab ja gesehen, wie du gestern hier herumgeschlichen bist. Normalerweise traut sich keiner, auch nur ans Hoftor zu kommen, wenn der Franz Josef frei herumläuft.«

»Aber er ist so ein sanftes Tier. Ich hab mit ihm gesprochen …«

Ruth Buchwieser schnaubte. »Wir haben schon einige Anzeigen seinetwegen bekommen«, erwiderte sie, aber in ihrer Stimme schwang unverkennbar Stolz mit.

»Und er lässt sich sogar streicheln«, beendete Michael seinen Satz.

»Lass den Franz Josef in Frieden. Wir brauchen kein Schoßhündchen, sondern einen Wachhund«, befand Ruth.

Sie überreichte ihm den Wohnungsschlüssel, und für sie war damit die ganze Angelegenheit abgeschlossen. Michael stand einen Augenblick ratlos da, erwartete wohl, dass sie ihm etwas anbieten würde, um der Gastfreundschaft Genüge zu tun.

»Ich hab in der Küche zu tun. Du weißt ja, wo’s hinausgeht«, war alles, was sie noch zu sagen hatte, und Michael blieb gar nichts anderes übrig, als das Haus zu verlassen.

Er spähte in alle Richtungen aus, ob er nicht auch noch Daniela, die Schwiegertochter, zu Gesicht bekäme. Und da gab es ja auch noch den kleinen Jungen, von dem ebenfalls kein Kinderbild auf der Kredenz stand. Aber alle blieben unsichtbar, selbst Franz Josef schien in irgendeinem versteckten Hinterhalt auf unerwünschte Besucher zu lauern.

»Seltsam, sehr seltsam«, murmelte Michael vor sich hin, dann beeilte er sich, hinunter ins Dorf zu kommen, denn er war sehr hungrig und durstig.

Erhitzt strebte er in der Krone seinem Stammplatz zu und ließ sich auf den Stuhl fallen.

»Jesses! Wie schaust denn du aus?«, rief die Kronenwirtin erschrocken aus, als sie seiner ansichtig wurde. Dann wollte sie sich hastig verbessern, weil ihr das allseits vertraute Du über die Lippen gekommen war.

Doch Michael winkte ab. »Das ist schon in Ordnung so.«

Die Wirtin lächelte. »Ich hab auch etwas von dem Eintopf für dich aufgehoben. Den muss ich grad noch ein bisserl aufwärmen.«

»Danke. Du denkst an die Deinen, dass sie nicht vom Fleisch fallen«, sagte er mit einem Lächeln, das sein Gesicht erstrahlen ließ.

Charmant kann er also auch sein, dachte die Wirtin, während sie der Küche zueilte, dann ist er vielleicht genau der Richtige für den Witwenhof.

Als Michael gleich zwei Portionen von dem wirklich köstlichen Gemüseeintopf mit Brot dazu gegessen hatte, setzte sich die Wirtin zu ihm, wie es ja inzwischen fast schon zur Gewohnheit geworden war.

»Und? Ziehst jetzt dort oben ein?«, fragte sie gespannt.

»Ja. Ich brauch noch ein paar Möbelstücke, dann ist es so weit. Aber mich wirst nicht los, Kronenwirtin, denn dein gutes Essen lass ich mir nicht entgehen. Und unsere Unterhaltungen auch nicht.«

Die Wirtin lächelte erfreut. »Bist ja ein richtiger Schmeichler! Das hätt ich net von dir gedacht. Aber sag, wie bist denn mit den zwei Weiberleut vom Witwenhof zurechtgekommen? Hast ja richtig mitgenommen ausgeschaut bei deiner Rückkehr.«

»Die Hitze hat mir zugesetzt. Und die Ältere, die Ruth, auch, wenn ich es mir überleg. Die Schwiegertochter und das Kind hab ich noch nicht kennengelernt. Ich muss sagen, dort oben gibt es strenge Regeln, und die Bäuerin lässt einem gewiss nichts durchgehen.«

»Das kannst laut sagen! Bis jetzt hat es noch niemand mit den beiden ausgehalten. Da könnt ich dir Geschichten erzählen! Einer hat sich in die Daniela verliebt, das hat vielleicht einen Aufruhr gegeben! Sie haben seine Sachen kurzerhand vor das Hoftor gestellt, und der Hund, diese Bestie, hat ihn nimmer ins Haus gelassen.«

»Ja, der Franz Josef«, sagte Michael gedankenvoll.

»Hoffentlich hat die Ruth den net auf dich gehetzt, als du am Hoftor aufgetaucht bist, das tät ihr ähnlich sehen.«

»Der Franz Josef ist doch ein liebes Tier«, meinte Michael.

Die Kronenwirtin starrte ihn fassungslos an.

»Wenn der berüchtigte Franz Josef für dich ein liebes Tier ist, dann kommst du auch gewiss mit den beiden Witwen aus«, meinte sie dann.

»Warten wir es ab!«

»Der letzte Mieter ist jedenfalls auch fluchtartig ausgezogen, nachdem ihn Ruth mit einem Madel erwischt hat. Dabei soll alles ganz harmlos gewesen sein. Ein Besuch bei Kaffee und Erdbeerkuchen, behaupten jedenfalls die beiden Übeltäter.«

Michael konnte ein Lachen nicht unterdrücken.

»Ja, darüber wurde ich auch aufgeklärt von Ruth, der Sittenwächterin.«

Die Wirtin kicherte. »Sittenwächterin! Das ist gut! Das muss ich unbedingt meinem Mandl erzählen.«

Der Kronenwirt, ihr »Mandl«, war ein Mann wie ein Schrank, mit dem sich keiner anzulegen wagte. Er stand zumeist mit unerschütterlicher Miene hinter dem Tresen und beobachtete die Gäste mit düsterem Blick, während die freundliche Wirtin die Bedienung übernommen hatte. Obwohl der Kronenwirt selten Gefühlsregungen zeigte, hing seine Frau mit zärtlicher Zuneigung an ihm.

»Meinst du, er lacht darüber?«, konnte sich Michael nicht enthalten zu fragen.

»Du kennst mein Mandl net. Er ist ganz anders, als die Leute denken«, erwiderte sie heftig und errötete dann verlegen.

»Wollte dich nicht kränken …«

»Weiß ich. Aber jetzt muss ich wieder an die Arbeit.«

Sie stand auf, und auch Michael machte sich daran, die Vorbereitungen für seinen Umzug zu treffen. Und so verging der Tag wie im Flug.

***

»Was ist das für einer, unser neuer Mieter?«, fragte Daniela ihre Schwiegermutter, als sie am Abendbrottisch beieinandersaßen.

Sie hatte fast den ganzen Tag in der Kreisstadt verbracht. Die Zahnarztbehandlung ihres kleinen Sohnes und die vielen Besorgungen, die zu erledigen waren, hatten sich sehr in die Länge gezogen. Ruth hatte zu ihrer Erleichterung schon das Abendessen gekocht, sodass sie sich nur noch an den gedeckten Tisch setzen musste.

Ruth ging zunächst nicht auf ihre Frage ein, sondern wies mit einer Kopfbewegung auf den kleinen Jakob. »Darf er eigentlich schon essen?«

»Ja sicher, die Behandlung liegt ja schon Stunden zurück.«

Mehr gab es dazu nicht zu sagen, die Großmutter erkundigte sich noch nicht einmal, wie es Jakob beim Zahnarzt ergangen war, doch der Junge schien es gewohnt zu sein, so behandelt zu werden. Er saß still und widerspruchslos am Tisch und löffelte die Suppe, die ihm die Großmutter hingestellt hatte.

»Ja, unser neuer Mieter«, begann Ruth nun zu berichten. »So richtig klug werde ich net aus ihm.«

»Was ist er denn von Beruf? Net, dass er so einer ist, der erst die Miete schuldig bleibt und dann über Nacht verschwindet.«

»Da brauchen wir wohl keine Angst zu haben. Er ist der neue Lehrer …«

»Der neue Lehrer?«, fiel Jakob ihr ins Wort. Der Kleine sollte nach den Ferien in die Schule kommen, und so hatte er unwillkürlich aufgehorcht.

»Du hast nur zu reden, wenn du gefragt wirst«, wies Ruth ihn barsch zurecht, und das Kind senkte den Kopf schnell wieder über den Suppenteller.

»Aber wieso wirst du net klug aus ihm? Ist er einer dieser überspannten Weltverbesserer, die alles besser wissen?«

»Eigentlich kommt er mir ganz vernünftig vor. Allerdings weiß ich net, was ein Mannsbild wie er in einem Gebirgsdorf zu suchen hat, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Denn er ist nämlich ein Städter, das merkt man sofort.«

»Vielleicht hat er sich an seiner früheren Schule etwas zuschulden kommen lassen.«

Ruth sah ihre Schwiegertochter erschrocken an. »Jesses, daran hab ich ja noch gar net gedacht.«

»Lehrer können nämlich auch strafversetzt werden und dann meistens in irgendein Nest, wo niemand freiwillig hinwill«, meinte Daniela.

»Ich weiß. Doch so richtig vorstellen kann ich es mir trotzdem net. Aber die Sache mit dem Franz Josef hat mir auch zu denken gegeben.«

»Der Hund war doch hoffentlich an der Kette?«, fragte Daniela beunruhigt.

»Du weißt doch, dass ich ihn immer frei herumlaufen lass, wenn ich allein auf dem Hof bin. Jedenfalls hab ich meinen Augen net getraut, als ich den Lehrer plötzlich im Flur hab stehen sehen.«

»Und der Franz Josef hat ihm nichts getan?«

»Nein. Er hat sogar gesagt, dass der Franz Josef so ein sanftes Tier wär. Hast schon einmal so etwas gehört?«

Daniela lachte unwillkürlich auf, nur kurz, aber es war erstaunlich, wie dieses Lachen ihr Gesicht zum Leuchten brachte und wieder an die junge Frau erinnerte, die alle »die schöne Daniela« genannt hatten.

»Wenn das so ist, dann hält er sogar uns für Lichtgestalten«, meinte Daniela trocken.

»So einfältig ist er net.«

»Wie schaut er denn aus? Ist er schon ein alter Krauterer, der hier in Ruh und Frieden bis zur Rente unterrichten will?«

»Nein, er ist ein junger Mann. Und er schaut net schlecht aus …«

Danielas Züge verfinsterten sich sofort. »So ein Schönling, der von einem Gspusi in das andere …«

»Nein, das glaub ich ausnahmsweise eher net«, schnitt Ruth Daniela das Wort ab, ehe diese wieder in eine Tirade über die Treulosigkeit der Männer im Allgemeinen und ganz im Besonderen ausbrechen konnte.

Sie wird wohl niemals über die Untreue ihres Mannes hinwegkommen, selbst über den Tod hinaus nicht, dachte Ruth und unterdrückte einen Seufzer. Dabei war der Leo längst nicht so schlimm gewesen wie sein Vater.

»Es ist Zeit fürs Bett, Jakob«, sagte Daniela streng, und der Junge glitt, ohne zu quengeln, von seinem Stuhl.

Seine Mutter überwachte, dass er sich ordentlich wusch und sich die Zähne putzte, ehe er sich in sein Bett in der kleinen Kammer im Obergeschoss legte. Sie zog noch die Bettdecke zurecht und sagte dann lediglich, ehe sie die Tür hinter sich schloss: »Schlaf jetzt!«

Jakob schloss gehorsam die Augen und schlief tatsächlich bald ein, denn er war es nicht anders gewohnt. Es gab kein Abendgebet, und seine Mutter hatte ihm auch noch nie vorgelesen oder mit ihm ein Lied gesungen. Genauso wenig wie sie ihn mit Zärtlichkeiten bedachte oder ihm einen Gutenachtkuss gab.

Sein Zimmer war auch recht karg eingerichtet, es gab ein paar Spielzeugautos und einige Malbücher mit Stiften, von beidem machte er regen Gebrauch. Schmusetiere oder Ähnliches lehnte seine Mutter grundsätzlich ab, er sollte nicht verweichlicht werden.

Daniela half ihrer Schwiegermutter noch in der Küche, dann gingen beide wie üblich früh zu Bett. Daniela las meistens noch vor dem Einschlafen, doch der Aufenthalt in der Kreisstadt hatte sie so angestrengt, dass sie zu müde dafür war.

»Du bist halt ein Dorfganserl.«

Sie zuckte zusammen, denn manchmal glaubte sie, Leos einschmeichelnde Stimme so deutlich zu hören, als stünde er leibhaftig neben ihr. »Dorfganserl« hatte er sie immer zärtlich genannt, jedenfalls zu Anfang. Schnell verdrängte sie die Erinnerung wieder, aber eine andere erwachte wieder in ihr.

Nach der Geburt des Kindes hatte eine schlimme Zeit für Daniela begonnen. Nicht nur der Tod ihres Mannes, dem die Aufdeckung seines Doppellebens folgte, hatte sie völlig aus der Bahn geworfen, sondern sie litt auch unter dem Verhalten ihrer Schwiegermutter.

Ruth war ihr nie wohlgesonnen gewesen, denn sie hatte zu den Müttern gehört, die ihre Söhne nicht hergeben wollen. So quälte sie die junge Frau, wann immer sie die Möglichkeit dazu hatte, und Leo stand nie auf Danielas Seite. Der Tod ihres Sohnes stürzte sie in tiefe Verzweiflung, nicht zuletzt, weil er Schande über die Familie gebracht hatte. Dennoch begann sie, Daniela die Schuld daran zu geben. Ihrer Meinung nach war ihre Schwiegertochter zu schwach gewesen, um Leo auf dem rechten Weg zu halten.

Außerdem begann sich nach Leos Tod eine neue Katastrophe abzuzeichnen. Erst allmählich stellte sich heraus, dass Danielas Mann heimlich beträchtliche Schulden angehäuft hatte, nicht bei einer Bank, sondern zu Wucherzinsen bei illegalen Geldverleihern und Buchmachern. Die Gläubiger bedrängten die beiden Frauen oft sehr rüde, und wenn sie alle Verbindlichkeiten hätten bezahlen wollen, hätten sie vor dem Nichts gestanden. Auch noch den Hof zu verlieren, musste unerträglich für Ruth gewesen sein.

An einem eisig kalten Winterabend verschwand Ruth aus dem Haus, und es dauerte eine Weile, bis Daniela ihre Abwesenheit bemerkte. Dann aber begann sie, von bösen Vorahnungen erfüllt, nach ihr zu suchen. Da es eine mondhelle Nacht war, konnte sie Ruths Spuren folgen, anscheinend wollte sie hinauf zu dem Marterl, einem ihrer Lieblingsplätze. Doch auf dem Weg dorthin war sie zusammengebrochen und lag halb bewusstlos im Schnee. Daniela gelang es, mit ihr zum Hof zurückzukehren, wobei sie Ruth mehr trug als stützte.

Kurz vor dem Hoftor wurde Ruth ohnmächtig, und Daniela, von der Niederkunft noch geschwächt, schleifte sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte ins schützende Haus. Ihre Schwiegermutter erkrankte im Anschluss an einer Lungenentzündung, weigerte sich aber, ins Krankenhaus zu gehen.

Daniela pflegte sie aufopfernd, und dennoch wollte sie nicht gesunden. Inzwischen hatte Daniela ihre recht wohlhabenden Eltern dazu bewegt, ihr den Rest ihres Erbteils auszuzahlen, sodass der Buchwieser-Hof für den Enkel erhalten blieb. Erst als Ruth erfuhr, dass niemand sie mehr aus ihrem Zuhause vertreiben konnte, erholte sie sich allmählich.

Von da an änderte sich das Verhältnis zwischen den beiden Frauen grundlegend. Ruth respektierte ihre Schwiegertochter nun, von der auch der Gedanke stammte, den Anbau zu vermieten. Nie hatte Ruth sich bei Daniela bedankt, doch sie hatte erkannt, dass sie einander stützen konnten. Seitdem lebten sie in größtem Einvernehmen miteinander, und da sie sich in ihrem Verhalten bald immer ähnlicher geworden waren, hätte man sie für Mutter und Tochter halten können.

Jahre unermüdlicher Arbeit lagen hinter ihnen. Ein harter Kampf war es gewesen, bis sie wieder dorthin gelangt waren, wo sie jetzt standen. Noch immer schauderte es Daniela, wenn sie daran zurückdachte. Ihre schönsten Jugendjahre, während andere sich unbeschwert ihres Lebens freuten, waren darüber vergangen und hatten aus ihr eine verbitterte Frau gemacht.

Sie zwang sich, die düsteren Erinnerungen abzustreifen, denn sonst würde sie heute Nacht keine Ruhe finden. Stattdessen dachte sie an den neuen Mieter, von dem sie hoffte, dass er ihnen einige Zeit erhalten bleiben und nicht so überstürzt ausziehen würde wie seine Vorgänger.

Lehrer war er also, ging es ihr noch durch den Sinn, gewiss ein verknöcherter, todlangweiliger Mensch.

Dann schlief sie ein.

***

Und so erwies sich Daniela Buchwiesers erste Begegnung mit Michael Amend für beide als eine große Überraschung.

Wenige Tage später fuhr ein großer Kastenwagen auf dem Hofplatz vor, was Franz Josef zu wildem Gebell und ungezügelter Angriffslust anstachelte. Er beruhigte sich erst, als der Fahrer ausstieg, und reckte ihm dann den Kopf entgegen, weil er von ihm am Hals gekrault werden wollte.

»Unglaublich«, murmelte Daniela vor sich hin, die das Schauspiel vom Stubenfenster aus beobachtet hatte.

Es hatte sehr lange gedauert, bis sie sich an Franz Josef gewöhnt hatte, und selbst jetzt verspürte sie noch leichtes Unbehagen, wenn der Hund ihr zu nahe kam. Und dieser Fremde wurde von Franz Josef begrüßt, als wäre er sein lang vermisstes Herrchen.

Nun öffnete der neue Mieter die Hecktür des Wagens und trug einen umfangreichen Umzugskarton ins Haus.

Franz Josef folgte ihm schweifwedelnd.

Nun konnte es Daniela nicht mehr aushalten, sie musste sich diesen seltsamen Menschen aus der Nähe besehen. Sie verließ das Haus, wie sie war, angetan mit einem alten Arbeitskittel, denn sie war gerade mit Putzen beschäftigt gewesen.

Als Michael wieder herauskam, um den Wagen weiter abzuladen, stand ihm plötzlich eine Frau gegenüber, die ihn völlig aus der Fassung brachte. Dass die Daniela schön sei, hatte er ja schon von der Kronenwirtin erfahren, aber er war nicht auf jemanden wie sie vorbereitet. Trotz des Kittels, den sie trug, und der derben Schuhe gingen ein Liebreiz und eine Anziehungskraft von ihr aus, wie er es noch nie bei einer Frau erlebt hatte.

Wie nur hatte ihr Mann sie jemals betrügen können!

Ihre Züge waren von geradezu klassischer Schönheit, vor allem die hellgrünen Augen fesselten ihn, die einen reizvollen Gegensatz zu dem üppigen dunklen, gelockten Haar bildeten. Unter dem formlosen Hausgewand ließ sich ein ebenmäßiger, geschmeidiger Körper erahnen. Selbst dass sich ein langer Kratzer über ihre Wange zog und ihre Hände rot und verarbeitet waren, konnte dem strahlenden Glanz ihrer äußeren Erscheinung keinen Abbruch tun.

»Daniela?«, brachte Michael schließlich stockend hervor und konnte den Blick kaum von ihr lassen.

Sie gab keine Antwort, denn auch sie war damit beschäftigt, ihn eingehend zu mustern, allerdings mit kritisch zusammengezogenen Brauen. Denn dieser neue Mieter missfiel ihr außerordentlich. Er war hochgewachsen und auffallend gut aussehend, was sie auf fatale Weise an ihren verstorbenen Mann erinnerte. Auch er hatte diese selbstsichere Ausstrahlung gehabt, denn Leo war sich seiner Attraktivität immer sehr bewusst gewesen. Und er hatte sie auch immer voller Berechnung eingesetzt, um an sein Ziel zu gelangen.

Sie hielt sich erst gar nicht mit einer Begrüßung auf, sondern fragte nur schroff: »Was hast du mit dem Hund gemacht?«

Michael lachte auf. »Das hat mich deine Schwiegermutter auch schon gefragt.«

»Und? Was ist dein Geheimnis?«

»Vielleicht bin ich in meinem früheren Leben …«

»Schmarren!«, fiel sie ihm unsanft ins Wort.

Über Humor verfügte Daniela jedenfalls nicht, und sie schien auch sehr zu Übellaunigkeit zu neigen.

»Nun, ich rede halt mit ihm. Auch Tiere brauchen Zuwendung und Freundlichkeit, nicht nur die Menschen.«

Daniela errötete, und in ihren Augen glomm es auf, denn sie war klug genug, um den Seitenhieb zu verstehen. »Dann verplaudre dich net mit dem Franz Josef, damit dein Geraffel bald vom Hofplatz verschwindet«, erwiderte sie giftig.

»Kannst mir ja helfen«, entgegnete er frech und grinste sie an.

»So weit kommt’s noch.«

Sie drehte sich abrupt um, dass ihre Röcke um die schlanken Beine schwangen, und kehrte ins Haus zurück. Michael sah ihr nach, bis sie verschwunden war, und er hatte das Gefühl, als erzitterte er innerlich.

Wie kann eine Frau so schön und gleichzeitig so unleidlich sein?, ging es ihm durch den Sinn, und irgendwie fiel es ihm schwer, seine Arbeit fortzusetzen. Aber schließlich fasste er sich wieder, entlud den Wagen und räumte die Umzugskisten aus. Franz Josef leistete ihm Gesellschaft, und Michael warf ihm hin und wieder eine Bemerkung zu.

Am Abend fuhr er mit dem Wagen ins Dorf hinunter und stellte ihn fürs Erste außerhalb ab. Morgen wollte er noch das neue Sofa und den Schreibtisch, die bereits für ihn bereitstanden, abholen.

Danach kehrte er im Gasthaus Zur Krone ein, denn er war hungrig und lechzte nach einem Weißen. Heute war die Gaststube sehr bevölkert, denn die Honoratioren trafen sich an ihrem ausladenden Stammtisch, und in den hinteren Räumen fand eine Vereinsfeier statt, sodass deren Gesänge bis in den Gastraum schallten.

Die Kronenwirtin hatte mehr als genug zu tun, sie eilte geschäftig hin und her, und ihr Gesicht war gerötet vor Anstrengung. Er hätte sich gerne ein wenig mit ihr unterhalten, aber heute würde sich wohl keine Gelegenheit mehr dazu bieten.

Dennoch blieb sie, als er bestellte, einen Augenblick bei ihm stehen.

An diesem Abend machte er auch die Bekanntschaft des Bürgermeisters und anderer Honoratioren. Inzwischen hatte sich nämlich herumgesprochen, dass er der neue Lehrer war, und so wurde er aufgefordert, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Auch Hochwürden war anwesend und ließ sich das vorzügliche Gulasch der Wirtin schmecken, was ihn aber nicht davon abhielt, Michael Fragen nach seiner Vergangenheit zu stellen.

Michael beantwortete sie anscheinend zufriedenstellend, denn Hochwürden nickte mehrmals beifällig, als der junge Lehrer erwähnte, dass er sich an der Großschule nicht mehr wohlgefühlt habe und ihm auch das Stadtleben immer weniger zusagte.

»Wir haben um unsere Zwergenschule richtig kämpfen müssen. Aber wenigstens haben wir erreicht, dass die Kinder bis zur vierten Klasse hier unterrichtet werden, dann müssen sie auf eine Schule in der Kreisstadt. Immer mehr gehen dort sowieso aufs Gymnasium«, schaltete sich der Bürgermeister in das Gespräch ein.

Er war ein massiger Mann, der verlässliche Tatkraft, aber auch Gewitztheit ausstrahlte. Michael konnte sich vorstellen, dass er mit großer Entschiedenheit die Schließung der Dorfschule verhindert hatte und es sich als Erfolg auf seine Fahne schrieb. Er war ein loyaler Verbündeter, aber man wollte ihn nicht zum Feind haben.

»Warum bist denn net in die Lehrerwohnung eingezogen, so wie der Schulmeister vor dir?«, wollte der Sägewerksbesitzer wissen.

Michael nahm an, dass es dem Bürgermeister bestimmt nicht recht war, wenn er sich in aller Öffentlichkeit über den Zustand der Wohnung äußerte. Nicht zuletzt konnte man es als Versäumnis der Gemeindeverwaltung auffassen, dass sie derartig verkommen war. Und so sagte er nur obenhin: »Ich finde es ganz gut, wenn man privat etwas Abstand von seinem Beruf hat. Und dort oben kann ich in aller Ruhe arbeiten.«

»Bei den Buchwieser-Witwen«, sagte einer der Männer, den Michael für einen Großbauern hielt, bedeutungsschwer.

»Ja, zwei bodenständige Frauen, die hart arbeiten und gemeinsam das Kind großziehen. Sicher haben sie viel Unterstützung von der Gemeinde und geistlichen Beistand erhalten, als sie die schweren Schicksalsschläge erlitten haben«, erwiderte Michael.

Hochwürden verschluckte sich und murmelte etwas Unverständliches, der Bürgermeister rief nach der Kronenwirtin.

»Einen grausigen Hund haben die zwei Weiberleut«, fuhr der Großbauer fort, der es nicht gut sein lassen konnte, »und der läuft meistens auch noch frei herum. Der Briefbote hat sich geweigert, die Post abzuliefern, er ist erst wieder zu den Buchwiesers hochgekommen, als sie den Kasten im Außenbereich aufgestellt haben.«

»Ja, der Franz Josef ist schon grimmig«, lachte Michael und nahm einen Schluck von seinem Weißen. »Aber einen Wachhund brauchen die Frauen halt, weil sie schließlich ganz allein dort oben wohnen.«

»Bei uns ist es net wie in der Großstadt«, beeilte sich der Bürgermeister zu versichern, »hier passt man aufeinander auf.«

»Und hier weiß man auch alles voneinander«, fügte der Sägewerksbesitzer hinzu, und es klang wie eine leise Drohung.

»Wie beruhigend«, stellte Michael mit leichtem Spott fest, ließ sich aber nicht darüber aus, was er davon hielt.

Bürgermeister Thalhofer beobachtete Michael Amend verstohlen und versuchte, den jungen Mann einzuschätzen. So harmlos ist der net, unser neuer Lehrer, auch wenn er so tut, dachte Thalhofer. Aber wenn er net grad so überspannt ist, bringt er frischen Wind in die Gemeinde. Wir werden ja sehen. Vielleicht hält er es hier auch net lang aus, die Bergwinter sind lang und kalt, ging es ihm durch den Kopf.

Dann aber hob er sein Seidl und rief: »Dem neuen Lehrer alles Gute! Auf dass es ihm hier gut gefällt und er unsere Kinder net allzu sehr plagt!«

Die anderen stimmten lachend ein, der Sägewerksbesitzer bestellte für alle noch eine Runde – für Hochwürden nur ein Preußen-Halbes –, und schon wurde die Unterhaltung, in die auch Michael miteinbezogen wurde, noch lebhafter.

An diesem Abend erfuhr Michael recht viel über die Dorfbewohner, denn der Alkohol hatte die Zungen gelöst, und die Männer machten aus ihren Herzen keine Mördergrube mehr. Selbst Hochwürden verstieg sich dazu, eine ziemlich pikante Anekdote aus seiner Studentenzeit zu erzählen, was zu anzüglichen Anspielungen verleitete.

Als der Kronenwirt sich hinter der Theke unruhig zu bewegen begann, nahm man das als Zeichen zum Aufbruch und die Männer gingen in bester Stimmung auseinander. Bevor Bürgermeister Thalhofer sich zum Gehen wandte, ließ er Michael wissen, dass er an ihrem Stammtisch jederzeit willkommen sei.

»Natürlich nur, wenn dir der Sinn danach steht«, fügte er hinzu.

»Doch, doch, ich freu mich. Sehr sogar«, erwiderte Michael sofort, und das war keineswegs geheuchelt.

Er konnte mit dem Erfolg dieses Abends durchaus zufrieden sein.

***

Doch nicht überall fand Michael uneingeschränkte Zustimmung.

»Ich kann den neuen Lehrer net leiden. Müssen wir wirklich an den vermieten?«, sagte Daniela missmutig zu ihrer Schwiegermutter, als sie nach dem Abendbrot noch in der Stube zusammensaßen.

Ruth legte ihre Näharbeit nieder und sah Daniela mit schief geneigtem Kopf an.

»Es hat sich halt kein anderer eingefunden, und wir brauchen das Geld schon. Als Lehrer hat er ja ein festes Einkommen und kann es sich net leisten, uns den Mietzins schuldig zu bleiben. Und er scheint ja auch ganz manierlich zu sein, keine Widerworte. Was hast du denn an ihm auszusetzen, Daniela?«

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Es ist halt nur so ein Gefühl. Mir kommt er irgendwie hintersinnig vor. Und die Sach mit dem Franz Josef gibt mir auch zu denken. Net, dass er dem Jakob seltsame Sachen beibringt«, erwiderte sie.

Ruth nahm den Rock, an dem sie den ausgerissenen Saum ausbesserte, wieder auf und schien nachzudenken.

»Das mit dem Hund hab ich auch eigenartig gefunden. Aber warten wir erst mal ab. Wenn er sich eingerichtet hat und sein Dienst anfängt, werden wir weitersehen. Wenn es irgendetwas gibt, das uns net passt, dann kündigen wir ihm sofort. Net, dass er einen schlechten Einfluss auf den Buben hat.«

Daniela schien erleichtert zu sein und machte auch keinen Hehl daraus. »Gut, dann sind wir uns ja einig. Ich hätt ja lieber ein vernünftiges Weiberleut heroben, aber es findet sich ja keine.«

»Glaub mir, keine Einzige tät sich zu uns auf den Hof trauen.«

»Da hast leider recht. Im Mittelalter wären wir sicher als Dorfhexen verbrannt worden«, erwiderte Daniela bitter.

Ruth lachte freudlos auf. »Das täten die bestimmt auch heut noch am liebsten.«

Daniela blätterte noch eine Weile im Landboten , und als Ruth ihre Näharbeit beiseitegelegt hatte, stieg jede von ihnen nach einem knappen Gutenachtgruß zu den Schlafkammern hoch. Vor Jakobs Tür zögerte Daniela einen Augenblick, doch dann verhärtete sich ihre Miene, und sie ging schnell weiter.

Die Begegnung mit Michael Amend hatte sie auf seltsame Weise aufgewühlt. Er glich in manchem ihrem verstorbenen Mann, war aber doch wieder ganz anders. Auch Leo war so gut aussehend gewesen und hatte so unwiderstehlich charmant sein können, dass er alle für sich eingenommen hatte.

Leo, den sie so leidenschaftlich geliebt hatte, dass sie vor Glück beinahe die Besinnung verloren hätte, als sie endlich neben vor dem Traualtar gestanden hatten. Aber als er dann verunglückte und die Wahrheit ans Licht kam, war Daniela nicht mehr dieselbe.

Sie hatte auch keine Freude empfunden, als sein Kind in ihren Armen lag. Jakob war kein Trost für sie gewesen, sondern eine unwillkommene Last. Denn er würde sie ständig an seinen treulosen Vater erinnern, sodass sie niemals mit dem, was ihr widerfahren war, abschließen konnte.

Und sie war auch außerstande, sich selbst zu vergeben. Dass sie so blind gegenüber den gewissenlosen Machenschaften ihres Mannes gewesen war, hatte ihr Selbstwertgefühl nachhaltig beeinträchtigt.

Anstatt sich hinzulegen, öffnete sie das Fenster und sog tief die kalte Nachtluft ein. Das beruhigte sie sonst immer. Und auch dieses Mal verfehlte es nicht seine Wirkung, sodass sie sofort einschlief, als sie zu Bett gegangen war.

***

Michael Amend hatte ein altes Hemd und ausgeleierte Sporthosen an, als er die Möbel in seiner neuen Bleibe an Ort und Stelle rückte. Der Schreibtisch stand nun im richtigen Winkel, ein Regal diente als Raumteiler zwischen Wohnzimmer und Arbeitsecke.

Voller Stolz betrachtete er dann das Prunkstück der Einrichtung – ein gemütliches Ledersofa in warmem Braunton samt dazu passendem Sessel, dazwischen ein schlichter Glastisch. Gegenüber befand sich ein halbhoher Seitenschrank, auf dem er die zahlreichen Familienbilder anordnen wollte, die sich in seinem Besitz befanden. Darüber und über dem Sofa wollte er kunstvolle Aufnahmen von der Münchner Innenstadt aufhängen, denn die Stadt, in der er aufgewachsen war und in der er auch gute Zeiten verbracht hatte, sollte nicht vollständig aus seiner Erinnerung schwinden.

Auch eine große Zimmerpflanze aus seiner alten Wohnung, die er in der Zwischenzeit bei einem hilfsbereiten Kollegen untergestellt hatte, fand nun eine neue Heimat in einer Ecke. Dort hatte sie genug Licht, ohne der grellen Sonne ausgeliefert zu sein. Zufrieden betrachtete er sie, sie verlieh dem Raum mehr Atmosphäre.

Natürlich fehlte noch einiges. Passende Sofakissen zum Beispiel, ein paar Gläser und die notwendigsten Küchenutensilien, aber er hatte noch Zeit genug, das alles zu besorgen. Langsam begann er, die Bücher, die noch auf dem Boden aufgestapelt waren, zu sortieren und in die Regale einzuräumen.

Er war so vertieft darin, dass er seine Umgebung nicht mehr wahrnahm. Und so schrak er zusammen, als er einen leichten Stoß in die Kniekehle erhielt.

»Franz Josef, kommst nach mir schauen?«

Michael hatte die Angewohnheit der Gebirgler angenommen, die Tür halb offen stehen zu lassen, und so hatte der Hund leicht den Weg zu ihm gefunden. Franz Josef ließ sich schwer atmend auf den Boden fallen, wobei ein Bücherstapel ins Wanken geriet, und sah sich um.

»Na, gefällt’s dir?«, sagte Michael, wandte sich wieder seinen Büchern zu und vergaß erneut alles um ihn herum.

Als er sich nach einer Weile nach dem Hund umwandte, lag er nicht mehr an seinem Platz, sondern hatte sich still und leise zum Sofa geschlichen und sich dort niedergelassen. Er nahm fast die ganze Sitzfläche ein.

»Nein, Franz Josef, das geht nicht! Das ist mein Sofa, ein für alle Mal«, rief Michael und war mit ein paar Schritten am Sofa.

Franz Josef wollte diesen herrlichen Platz nicht verlassen und leistete erbitterten Widerstand, als Michael versuchte, ihn vom Sofa zu wuchten. Schließlich gab der Hund aber doch auf und legte sich schmollend unter die Zimmerpflanze.

Doch Franz Josef sollte nicht der einzige unerwartete Besucher bleiben.

»Darf ich hereinkommen?«, hörte Michael plötzlich die schüchterne Stimme eines Kindes, und überrascht drehte er sich um.

Vor ihm stand ein bildhübscher Junge mit dunklen Locken und honigbraunen Augen. Michael sah auf den ersten Blick, dass der Kleine kein besonders glückliches Kind war, denn auf seinem Gesichtchen lag ein bedrückter Ausdruck.

»Du bist der Jakob, nicht wahr?«

Der Junge nickte, sein flinker Blick überflog den Raum.

»Du kannst ruhig weiter hereinkommen, wenn du willst«, bot Michael ihm freundlich an, und der Kleine trat zögernd ein paar Schritte näher.

Jakob wahrte geflissentlich Abstand zu dem riesigen Hofhund, wahrscheinlich hatte ihm das seine Mutter eingeschärft.

»Der Franz Josef tut dir nichts, schau einmal her.«

Er führte den Jungen zu dem Hund, der erwartungsvoll den Kopf hob. Michael kraulte ihn sanft, nahm dann die Hand des Kindes und legte sie auf den dichten Pelz des Hundes. Jakob streichelte ihn behutsam, was Franz Josef mit wohligem Schnaufen geschehen ließ.

»Du brauchst also keine Angst zu haben«, sagte Michael, und ein scheues Lächeln erhellte das Gesicht des Jungen.

Dann wandte sich der junge Lehrer wieder dem Regal zu, in der Annahme, dass Jakob bald wieder nach draußen gehen würde, um auf dem Hof oder der Wiese herumzutollen. Doch Jakob blieb.

»Du hast aber viele Bücher. Kann ich dir helfen?«, sagte er und bestaunte die hohen Bücherberge.

»Das hat sich halt so angesammelt. Du kannst mir die einzelnen Bücher hochreichen, wenn du willst.«