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Eine brillante Erzählung vom Aufstieg eines skrupellosen Opportunisten – "schön gallig, zielsicher, schamlos und gemein." Frankfurter Rundschau Ost-Berlin in den achtziger Jahren: Erich Aurich ist Parteifunktionär und sieht sich zu Höherem bestimmt. Zugleich ignoriert er seinen äußerst schlechten Gesundheitszustand und erleidet schließlich einen Herzinfarkt. Als er zur Reha in eine Klinik kommt, liest er auch dort alles als Hinweis auf seine vermeintliche Bestimmung. Mit machtbesessener Kaltblütigkeit setzt er alles daran, aufzusteigen. Stilistisch brillant und mit scharfer Ironie erzählt Monika Maron die Geschichte von einem, der auszog, um unbedingt nach oben zu kommen.
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Seitenzahl: 41
Monika Maron
Herr Aurich
Erzählung
Hoffmann und Campe
Der Kraftfahrer öffnete Herrn Aurich, der aus bekannten Gründen nur die hintere Sitzbank benutzte, die Wagentür, nahm Herrn Aurichs Aktentasche, überholte Herrn Aurich auf dem Weg zum Gartentor und öffnete es mit einem geübten Griff durch die Gitterstäbe, ehe Herr Aurich das Tor erreicht hatte. Inzwischen öffnete Frau Aurich, alarmiert durch das Klappen der Autotüren, die Haustür, durch die mit einem unartikulierten Brummen, das von Frau Aurich ohne Zögern als Gruß verstanden wurde, Herr Aurich trat und nach ihm der Kraftfahrer mit der Aktentasche. Na, morgen wie immer, Friedrich, sagte Herr Aurich zu dem Kraftfahrer, und der Kraftfahrer sagte, ist in Ordnung, Chef. Und Frau Aurich sagte, denkst du an die Wäsche, Friedrich, die muss morgen abgeholt werden, und der Kraftfahrer sagte, geht klar, Chefin. Frau Aurich schloss hinter ihrem Mann die Tür. Der Kraftfahrer hatte Feierabend und durfte mit dem Auto, das nun ihm gehörte, nach Hause fahren.
Herr Aurich fühlte sich nicht wohl. Ihm seien die Arme schwer und auch das Herz, sagte er, während er von der Hühnerbrühe schlürfte, die seine Frau ihm gekocht hatte.
Das ist das Wetter, sagte Frau Aurich, sie haben ein neues atlantisches Tief angesagt, das bekommt dir nie, du solltest früh schlafen gehen.
Herr Aurich widersprach nicht, schlürfte noch einmal von der Hühnerbrühe, ließ den Löffel missmutig in den noch halb vollen Teller fallen, sodass die Brühe über den Rand spritzte.
Frau Aurich dachte, dass sie gut daran getan hatte, die kochfeste Decke aufzulegen, verzichtete aber darauf, ihren Mann zurechtzuweisen. Er sah ihr auffällig farblos aus, und erst vor zwei Wochen hatte der Arzt mit ihr über die bedenklichen Herzrhythmusstörungen ihres Gatten gesprochen. Sie befreite sich von dem Anblick der hässlichen Fettflecken, indem sie wortlos eine Serviette darüberdeckte. Willst du noch ein Bier, Erich?, fragte sie. Aber Herr Aurich mochte kein Bier, und auch die Zigarette drückte er aus, ehe er sie bis zur Hälfte geraucht hatte. Geh schlafen, Erich, sagte Frau Aurich, auch angetan von dem Gedanken, unter diesen Umständen doch noch den Film mit Heinz Rühmann sehen zu können statt des langweiligen Fußballspiels.
Nachts erwachte Herr Aurich von einem brennenden Schmerz auf den Bronchien und würgender Übelkeit. Er richtete sich auf, fiel sofort wieder auf den Rücken, bleischwer war sein Körper, insbesondere die Arme, dazu die Übelkeit. Hilde, stöhnte Herr Aurich. Frau Aurich hatte einen leichten Schlaf und erwachte schnell. Erich, was ist?
Hilde, stöhnte Herr Aurich noch einmal. Der brennende Druck auf seiner Brust presste ihm die Augen aus den Höhlen und ließ ihm keine Luft zum Atmen. Herr Aurich fühlte den Tod.
Frau Aurich hatte sofort den kleinen roten Plasteeimer neben Herrn Aurichs Bett gestellt, aber Herr Aurich, selbst in Todesangst schamhaft, bestand darauf, ins Bad geführt zu werden, denn neben dem Brechreiz fühlte er inzwischen einen zwanghaften Drang, seinen Darm zu entleeren. Auch der Wunsch, seinem entsetzlichen Zustand davonzulaufen, trieb ihn aus dem Bett. Frau Aurich stützte ihren schweren Mann, so gut ihre Kräfte es zuließen, setzte ihn behutsam auf die Toilettenbrille, holte schnell den kleinen roten Plasteeimer aus dem Schlafzimmer, stellte ihn Herrn Aurich zwischen die zitternden Beine und lief zum Telefon.
Der Rettungswagen kam nach zehn Minuten, nach weiteren zehn Minuten steckte in Herrn Aurichs Arm eine dicke Kanüle, durch die lebenserhaltende Flüssigkeit aus einem Tropf in Herrn Aurichs Adern floss.
Nachdem für Herrn Aurich sechs Tage lang alles getan worden war, was die medizinische Wissenschaft gegen den Einbruch eines Herzinfarkts in den menschlichen Organismus derzeit tun kann, war Herr Aurich wieder transportfähig und wurde in einer mehrstündigen Autofahrt nach Berlin überführt, wo er in dem einzigen Krankenhaus für verdiente Personen aufgenommen wurde.
Erst als Herr Aurich zu glauben begann, dass er überlebt hatte, wagte er darüber nachzudenken, wie nah der Tod ihm gekommen war. Er lag in dem kühlen weißen Bett seines Einzelzimmers und grübelte, warum das Schicksal gerade an diesem Tag, und nicht an einem beliebigen anderen, über ihn gekommen war. Stück für Stück setzte er den Tag aus der Erinnerung zusammen, ohne eine aufregende Besonderheit an ihm zu entdecken. Er war um acht ins Büro gefahren wie immer, hatte die Frühbesprechung geleitet, war am Nachmittag in das wichtigste Werk des Bezirks gefahren, um dort vor den Gewerkschaftsfunktionären zu sprechen. Während der Rede überkam ihn ein leichtes Schwindelgefühl, das aber schnell wieder verging und von ihm nicht sonderlich beachtet wurde. Auf der Heimfahrt fühlte er sich erschöpft und müde, aber das kam in der letzten Zeit öfter vor und war, dachte Herr Aurich, kein Wunder, wenn man an seine große Verantwortung dachte und an sein fortgeschrittenes Alter. Vor zwei Monaten war er siebenundfünfzig geworden,