Irrlicht 56 – Mystikroman - Viola Larsen - E-Book

Irrlicht 56 – Mystikroman E-Book

Viola Larsen

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Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. Die Nacht war eisig kalt. Es schneite nicht mehr. Der Mond stand am Himmel. Sein bleiches Licht fiel in den weißen Turmgarten und auf eine gespenstische Gestalt. Zwischen den Schneehauben der Kugelbäume tanzte die bretonische Brautpuppe ihren gespenstischen Hochzeitstanz. Diesmal trug sie das Rubingewand, das in dem weißen Garten so rot schimmerte wie Blut. Panik packte Graf Philippe. Die Geisterpuppe jagte ihn über einen schmalen Saumpfad am Rande des Abgrunds. Weiß schimmerten die Klippen im Mondlicht, und tief unten rauschte die See. Die Puppen von Schloß Samarcan hatten sich aus ihren gläsernen Vitrinen befreit und tanzten im Mondschatten der Dolmen einen bretonischen Hochzeitstanz nach den geisterhaften Klängen einer Harfe, die ein Wiegenlied spielte. Die Puppe trug ein weißes Hochzeitskleid und eine Brautkrone in ihrem blonden Lockenhaar. Ihr Lächeln war maskenhaft starr, und in ihren grünen Augen glitzerte der Wahnsinn. Sie streckte die Hände nach Graf Philippe aus und zog ihn an sich. Er wehrte sich verzweifelt gegen ihre Umarmung. Sie krallte sich an ihm fest. Vergebens versuchte er, sie abzuschütteln. Sie war stärker als er. Auf dem Gipfel der Klippe kämpften sie einen grausamen Kampf. Er keuchte, stöhnte, spürte, wie seine Kräfte erlahmten. Als er strauchelte und den Boden unter den Füßen verlor, riß er sie mit sich in die tödliche Tiefe.

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Irrlicht – 56 –

Das Wiegenlied von Samarcan

Wenn es ertönt, werden sich Grauen und Glück begegnen

Viola Larsen

Die Nacht war eisig kalt. Es schneite nicht mehr. Der Mond stand am Himmel. Sein bleiches Licht fiel in den weißen Turmgarten und auf eine gespenstische Gestalt. Zwischen den Schneehauben der Kugelbäume tanzte die bretonische Brautpuppe ihren gespenstischen Hochzeitstanz.

Diesmal trug sie das Rubingewand, das in dem weißen Garten so rot schimmerte wie Blut. Verzweifelt kämpfte Fleur gegen den Würgegriff der Furcht an, der ihr Herz umklammert hielt…

Panik packte Graf Philippe.

Die Geisterpuppe jagte ihn über einen schmalen Saumpfad am Rande des Abgrunds. Weiß schimmerten die Klippen im Mondlicht, und tief unten rauschte die See.

Die Puppen von Schloß Samarcan hatten sich aus ihren gläsernen Vitrinen befreit und tanzten im Mondschatten der Dolmen einen bretonischen Hochzeitstanz nach den geisterhaften Klängen einer Harfe, die ein Wiegenlied spielte.

Die Puppe trug ein weißes Hochzeitskleid und eine Brautkrone in ihrem blonden Lockenhaar. Ihr Lächeln war maskenhaft starr, und in ihren grünen Augen glitzerte der Wahnsinn. Sie streckte die Hände nach Graf Philippe aus und zog ihn an sich. Er wehrte sich verzweifelt gegen ihre Umarmung. Sie krallte sich an ihm fest.

Vergebens versuchte er, sie abzuschütteln. Sie war stärker als er. Auf dem Gipfel der Klippe kämpften sie einen grausamen Kampf. Er keuchte, stöhnte, spürte, wie seine Kräfte erlahmten. Als er strauchelte und den Boden unter den Füßen verlor, riß er sie mit sich in die tödliche Tiefe.

»Melora!« Sein Angstschrei gellte über die Klippen, und das Echo äffte ihn höhnisch nach. »Melora!«

Mit diesem Angstschrei wachte Graf Philippe auf. Er starrte in das Dunkel, das ihn umfing, tastete nach dem Lichtschalter und fand ihn nicht gleich. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, daß er sich nicht in seinem Schloß in der Bretagne, sondern in einem Hotelzimmer in Paris befand.

Er atmete tief durch. Noch dröhnte das Rauschen der Brandung in seinen Ohren, und er glaubte, wie in dem furchtbaren Alptraum das Wiegenlied der Geisterharfe zu hören.

Nirgendwo ließ dieser Traum den Grafen Philippe von Samarcan zur Ruhe kommen. Er träumte ihn immer wieder und überall, wohin sein Weg ihn auch führte.

Vor einer Woche war er nach Paris gekommen, um wichtige Geschäfte abzuschließen, und er wollte am nächsten Morgen ihn die Bretagne zurückkehren. Ein anstrengender Tag lag vor ihm, weil noch einige Punkte abgeklärt werden mußten, bevor die Verträge unterzeichnet werden konnten. Er brauchte einen klaren Kopf.

Aber der Alptraum verflüchtigte sich nicht im Morgengrauen wie andere Träume, sondern die Ängste, die Graf Philippe ausgestanden hatte, verfolgten ihn unterschwellig durch den ganzen Tag.

Deshalb war er während der wichtigen Abschlußverhandlung auffallend zerstreut, es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu konzentrieren, und es war erstaunlich, daß die Abschlüsse trotzdem zustande kamen.

Bis sämtliche Verträge unterzeichnet waren, fing es schon zu dämmern an.

Es war Anfang November, und die Tage waren kurzlebig, auch in der Lichterstadt an der Seine.

Graf Philippes Geschäftspartner schlugen vor, den Abend auf angenehme Weise zu beschließen. »Wie wäre es mit einem exzellenten Diner in einem Feinschmecker-Tempel?«

»Wie wäre es mit einem Bummel über den Flohmarkt?« hielt Graf Philippe dagegen. Die Idee kam ihm ganz plötzlich, beinahe wie eine Eingebung.

Entzücken löste sein Vorschlag bei den Geschäftspartnern nicht gerade aus. »Sie werden nichts Brauchbares finden, Philippe!« versuchten sie, ihn von dieser absurden Idee abzubringen. »Seit der Flohmarkt von Paris eine Touristenattraktion geworden ist, sind Raritäten rar.«

Er finde einen Flohmarktbummel trotzdem immer amüsant, widersprach der Graf von Samarcan. »Mag sein, daß Sie recht haben, meine Freunde. Aber wir sind ja nicht auf der Suche nach Raritäten. Ein wenig frische Luft wird uns allen guttun. Bummeln wir also! Essen können wir später immer noch.«

Widerstrebend stimmte man zu, weil es unklug gewesen wäre, einem wichtigen Geschäftspartner eine Bitte abzuschlagen. Der Graf gab sich zwar modern und aufgeschlossen, trug als Unternehmer nicht einmal den Adelstitel, doch im Grunde seines Wesens war und blieb er ein bretonischer Feudalherr.

Wenn er nach Paris kam, um seine Geschäftspartner persönlich aufzusuchen, ging es stets um größere Beträge, und man tat gut daran, den Feudalherrn in Monsieur Samarcan nicht zu verstimmen.

Für den Geschmack seiner Pariser Partner hatte der Graf stets ausgefallene Wünsche, sobald die Geschäfte erst einmal abgeschlossen waren. An den üblichen Vergnügungen lag ihm nichts. Revuen, Bars, Casinos oder dergleichen Amüsierbetriebe beehrte er nie. Manchmal schlug er vor, ein Konzert zu besuchen, eine Vorstellung in der Oper, ein klassisches Ballett oder ein Cabaret. Diesmal mußte es nun gar der Flohmarkt sein!

Die Herren riefen ein Taxi und hofften, daß sie den Bummel rasch hinter sich brachten, um danach bei einem gepflegten Diner zum gemütlichen Teil des Abends überzugehen.

Gemütlich war es auf dem Flohmarkt jedenfalls nicht.

Nieselregen und dichter Nebel verwandelten das riesige Areal in eine gespenstische, leere Jahrmarktskulisse. Bei diesem abscheulichen Wetter verirrten sich kaum Touristen hierher, auch wenn Paris zu jeder Jahreszeit Saison hatte. Da keine Umsätze mehr zu erwarten waren, hatten viele Stände schon geschlossen.

»Also, für meine Begriffe ist das kein Amüsement, Philippe!« meinte einer der Herren kopfschüttelnd. »Ich entdecke auch beim besten Willen keine Attraktionen.«

Graf Philippe, der abrupt stehenblieb, deutete lebhaft auf einen originell als Puppenhaus herausgeputzten Stand, über dessen Dach ein Laternenmond baumelte, der sein sanftes Silberlicht in den Nebel hauchte. »Und was ist das hier?«

»Das sind alte Puppen!« meinten seine Begleiter verdrossen.

Das Mädchen in dem Puppenhaus sah Graf Philippe erwartungsvoll entgegen, als er, hochgewachsen, dunkelhaarig, wie ein kühner Korsar aus dem Nebel in das magische Silberlicht des Laternenmondes tauchte.

»Guten Abend, Mademoiselle.«

»Bon soir, Monsieur. Wie gefallen Ihnen meine Kinderchen?«

Graf Philippes Mundwinkel zuckten ein wenig. Richtig zu lächeln hatte er verlernt. Er war ein ernster, verschlossener Mann, umgeben von einer Aura der Düsternis und Einsamkeit.

»Mein Kompliment!« Er verbeugte sich leicht. »Sie haben eine stattliche Familie, Mademoiselle.«

Sie lachte. »Das war ein hübscher Scherz, Monsieur.«

Er wußte nicht, wann er zum letzten Mal gescherzt hatte. Merkwürdigerweise glaubte er, das Mädchen zu kennen, obwohl er andererseits sicher war, sie noch nie zuvor gesehen zu haben.

Amüsiert betrachtete er den kuriosen Stand, dessen Bretterwände als nostalgische Puppenstube bunt und lustig herausgeputzt waren.

»Einige Ihrer Kinderchen habe Köpfe aus Bisquitporzellan«, stellte er sachkundig fest. »Wo stöbert man solche Puppen heutzutage noch auf?«

»Im Staub des Vergessens, Monsieur. Auf Dachböden, in alten Koffern, Kellern, bei Trödlern und im Sperrmüll.« Sie lachte wieder.

Ein Mund, rot wie Mohn, dachte Graf Philippe. Ihre schwarzen Augen blieben freilich ernst. Sie war zierlich, ihre Bewegungen waren so leicht und anmutig wie die eines kleinen Harlekins. Die leise Melancholie in ihren Augen paßte genau dazu.

»Was für Geschichten die Puppen uns wohl erzählen würden, wenn sie nur reden könnten, Monsieur!«

Graf Philippe dachte an die kostbare Sammlung alter Puppen in seinem bretonischen Schloß und daran, daß ihn jedesmal ein heimliches Grauen beschlich, wenn er durch die Vitrinen-Galerie ging, weil das starre Lächeln der Puppen ihn beunruhigte und er sich von ihren glänzenden Augen auf geheimnisvolle Weise verfolgt fühlte.

Auch die Puppen auf dem Flohmarkt lächelten ein starres Porzellanlächeln, blickten allwissend und töricht zugleich aus runden Glasaugen, waren stumme Zeugen vergangener Geschehnisse, Überbleibsel gelebter Vergangenheit. Sie hatten Blessuren, waren ein bißchen lädiert, aber liebevoll zurechtgeflickt, und sie trugen alle feine, neue Kleider.

»Die Garderobe Ihrer Kinderchen ist jedenfalls stilecht!« lobte Graf Phillippe.

»Ich habe die Kleider auch nach Vorbildern in den Museen selbst geschneidert«, verkündete der kleine Harlekin stolz.

»Dann sind Sie eine Künstlerin!«

»O nein!« wehrte sie ab. »Das bin ich nicht. Ich habe nur ein wenig schneidern gelernt. Aber es freut mich, wenn Ihnen die Kleider gefallen. Wollen Sie eine der Puppen kaufen, Monsieur?«

»Sie sind auch eine tüchtige Geschäftsfrau, nicht wahr?«

»Man muß von etwas leben, Monsieur!«

»Das müssen wir alle. Jeder muß von etwas leben.«

Er musterte das Mädchen unauffällig. Das zigeunerbunte Kleid, das sie trug, war dünn, und auch die Seidenstola mit den langen Fransen wärmte sicher nicht. Aber sie schien nicht zu frieren.

»Und welche?« fragte sie. »Welche Puppe möchten Sie gern haben?«

»Alle«, antwortete Graf Philippe.

Hatte er den Verstand verloren, fragte er sich selbst bestürzt. Er hegte schließlich eine heftige Abneigung gegen Puppen, und er hatte seine guten Gründe dafür. Außerdem besaß auf Schloß Samarcan eine der wertvollsten Puppensammlungen Frankreichs.

»Alle!« wiederholte er fest.

»Wirklich – alle?« fragte das Mädchen ungläubig. Sie klatschte vor Freude in die Hände. »Wissen Sie, Monsieur, als ich meine Lehre abgeschlossen hatte, da habe ich die Schneiderei an den Nagel gehängt. Und da hat meine Mama zu mir gesagt: ›Das wird dir noch einmal leid tun, mein Kind, denn Handwerk hat einen goldenen Boden!‹«

Ihre zarten Hände waren wie im Nebel verirrte weiße Falter, als sie übermütig die Arme ausbreitete. »Hat nicht auch der Flohmarkt einen goldenen Boden, frage ich jetzt? Manchmal zumindest«, schränkte sie ehrlich ein, »wenn Touristen kommen oder jemand, der alle Puppen auf einmal kauft! So jemand kommt freilich nicht oft!«

Ihr Lachen war wie eine Glocke, deren heller Klang das Herz des Grafen eigenartig anrührte.

Er zog seine Brieftasche. »Fünf-tausend Francs?«

Sie lachte nicht mehr.

Wahrscheinlich brauchte sie das Geld dringend, dachte Graf Philippe. Wann, fragte er sich zugleich, hatte er zum letzten Mal Mitleid mit einem Menschen gehabt? »Ich bin auch bereit, das Doppelte zu zahlen. Ist das dann genug?«

»Welche Mutter verkauft ihre Kinder auch für noch so viel Geld?« fragte der kleine Harlekin traurig.

Graf Philippes Begleiter, die hungrig waren und kalte Füße bekamen, drängten ungeduldig: »Nun kaufen Sie die Puppen schon, Philippe, wenn Sie so verrückt darauf sind! Wollten wir nicht unseren Abschluß mit einem exquisiten Essen feiern?«

Graf Philippe steckte die Brieftasche wieder ein und wandte sich seinen Begleitern zu. »Sie haben recht, das wollten wir. Also, feiern Sie doch, meine Freunde«, schlug er liebenswürdig vor. »Feiern Sie unsere prächtigen Abschlüsse mit einem exzellenten Diner, und betrachten Sie sich als meine Gäste. Allerdings möchte ich Sie bitten, mich bei der Fete zu entschuldigen!«

Die Herren tauschten bedeutungsvolle Blicke. Keiner zögerte, das Angebot anzunehmen. Franzosen hatten das Gespür dafür, wann es an der Zeit war, sich zurückzuziehen, weil just ein galantes Abenteuer eingeläutet wurde. Der Abschied verlief dementsprechend kurz. Man versprach, Kontakt zu halten und miteinander zu telefonieren.

Taktvoll zogen die Herren sich zurück.

Graf Philippe sandte ihnen keinen Blick nach. Er schenkte seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem kleinen Harlekin.

Sie werkelte schon emsig herum, wickelte die Puppen liebevoll in Seidenpapier und packte sie einzeln in einen großen bunt bemalten Pappkarton, der wie ein Koffer einen Henkelgriff hatte.

»Darin transportiere ich meine kleinen Aschenbrödel«, erklärte sie. »Ich habe den Karton für die Puppen zurechtgebastelt, damit sie irgendwo daheim sind.«

»Es fällt Ihnen schwer, sich von den Puppen zu trennen?«

Sie nickte. »Es ist dumm von mir, ich weiß. Ich muß ja froh sein, wenn ich sie verkaufe, weil man eben von etwas leben muß! Aber es bricht mir jedesmal das Herz, wenn ich eines meiner Kinder hergeben muß – und nun gleich alle auf einmal!«

Tapfer wischte sie sich über die Augen und lenkte schnell ab. »Ihre Freunde sind jetzt sicher böse, weil Ihre gemeinsame Abschiedsfete geplatzt ist, Monsieur?«

Graf Philippe zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Das ist unwichtig. Sie sind Geschäftspartner, keine Freunde.« Er zögerte kurz, schlug dann spontan vor: »Ich denke, wir beide haben auch einen Geschäftsabschluß zu feiern. Darf ich Sie zum Abendessen einladen, Mademoiselle?«

Der Blick, mit dem sie ihn ansah, war ernst und prüfend. Aber dann lachte sie wieder, und ihre Augen strahlten auf. »Warum nicht, Monsieur?«

Ihr Lachen und ihr Blick waren Graf Philippe vertraut.

Woher kannte er sie nur?

*

Der Nebel fiel wie ein Vorhang zusammen, als der Laternenmond über dem Puppenstand erlosch.

»Um ehrlich zu sein, ich hätte jetzt Appetit auf etwas Herzhaftes«, gestand Graf Philippe.

»Dann verrate ich Ihnen, wo es die besten Steaks von ganz Paris gibt«, versprach der kleine Harlekin. »Das ›Lapin blanc‹ ist ein Geheimtip.«

»Dann auf zum ›Weißen Kaninchen‹!«

Der Nebel zog sich dichter zusammen. Es nieselte. Die letzten Standleute räumten auf. Immer mehr Lichter erloschen.

»Wo haben Sie Ihren Wagen geparkt, Monsieur?« fragte der kleine Harlekin.

»Ich bin ohne Wagen da. Nach Paris fahre ich nie mit meinem Wagen, man hat doch immer nur Scherereien mit den Parkplätzen und den Blechbeulen. Wir nehmen ein Taxi.«

»Das ist nicht nötig. Es ist nicht weit.«

Graf Philippe hätte gern ihren Namen gewußt. »Ich heiße übrigens Philippe«, stellte er sich vor.

»Ich bin Fleur.«

Sie war »Blume«. Der Name paßte zu ihr.

»Nun gut, gehen wir also, Fleur.«

Zutraulich überließ sie ihm den Henkelgriff des Pappkartons. »Sie dürfen du zu mir sagen, Monsieur.«

»Wenn du erlaubst, werde ich das gern tun.« Es fiel ihm überhaupt nicht schwer, obwohl ihm ein Du sonst nicht leicht über die Lippen kam. Aber er dachte, daß sie ja fast noch ein Kind war.

Sie machten sich auf den Weg.

Die Gegend um den Flohmarkt war trist. Paris hatte viele Gesichter, und das Gesicht dieses Viertels war nicht schön.

Der Großstadtverkehr rollte hektisch und aggressiv vorbei, die Luft stank nach Benzin, Zuckerwatte und Fritten. Betonklötze mit abweisenden, glatten Fassaden und kaltes Neonlicht töteten jeden Hauch von Poesie, und das vermochten auch Dämmerung und Nebel nicht zu verschleiern.

Aber in den Seitengassen gab es noch Giebelhäuser, zwischen Fliedersträuchern versteckte Romantik, und das warme Licht freundlicher Laternen verbreitete jene einzigartige Atmosphäre des »Alten Paris«.

Das »Weiße Kaninchen« lag inmitten einer solchen Gasse. Anheimelnde Wärme empfing Graf Philippe und das Mädchen Fleur, als sie, aus der feuchten Novemberkälte kommend, an einem der letzten freien, hölzernen Tische in dem dicht besetzten Bistro Platz nahmen. Es duftete gut nach krossen Steaks, frisch gebackenem Brot und herbem Landwein. Rote Kerzen brannten auf den Tischen in Windleuchten aus buntem Glas.

Im »Lapin blanc« kannte der Patron seine Gäste noch persönlich, und er winkte Fleur vom Tresen herüber zu.

Graf Philippe fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Die Steaks waren wirklich köstlich, Fleur hatte nicht zuviel versprochen. Sie futterte freilich nur wie ein Spatz.

»Wenn ich traurig bin«, vertraute sie Graf Philippe an, »ist mein Magen ein zugesperrtes Kämmerlein.«

»Dann solltest du es schleunigst aufsperren«, schlug er freundlich vor.

Es entging ihm nicht, daß sie während des Essens immer wieder heimlich nach dem bunten Pappkarton griff, den sie neben sich gestellt hatte.

»Sie werden gut zu meinen Puppen sein, Monsieur, nicht wahr?« erkundigte sie sich, und eine Sorgenfalte schob sich in ihre Stirn. »Wohin kommen meine Kinder überhaupt?«

»Sie kommen in ein Schloß.«

»Ehrlich?«

»Ja.« Er lächelte.

»Sie lächeln nicht oft, Monsieur, nicht wahr?« Eine Strähne des schwarzen Lockenhaares fiel in ihre Stirn. »Warum nicht?«

»Weil ich finde, daß es nicht viele Dinge gibt, über die man lächeln kann.«

»Oh! Es gibt sie!« versicherte Fleur eifrig. »Man muß sie nur sehen.«

Der Patron schenkte von dem herben Wein nach.

Graf Philippe und Fleur tranken sich zu. Wieder lächelte Graf Philippe, und es fiel ihm leicht, weil dieses Lächeln aus seinem Herzen kam. Wenn es wirklich Wunder gab, so sagte er sich, geschahen sie in einem Bistro, das »Weißes Kaninchen« hieß, wahrscheinlich so gut wie sonst irgendwo auf der Welt.

Als neue Gäste kamen, mußten Graf Philippe und Fleur zusammenrücken, damit die Leute an ihrem Tisch noch Platz hatten.

Neugierig fragte Fleur: »Sie wohnen also nicht in Paris, Monsieur?«

»Ich lebe in der Bretagne.«

»Und wirklich in einem richtigen Schloß?«

»Du glaubst es nicht?« Er mußte schon wieder lächeln. »Nun, es ist weniger amüsant, in einem Schloß zu leben, als du es dir vielleicht vorstellst, zumal wenn das Schloß wie eine Festung inmitten schroffer Klippen liegt.«

»Am Meer?«