Literaturpreis Grassauer Deichelbohrer - Geheimnis - Angeline Bauer - E-Book

Literaturpreis Grassauer Deichelbohrer - Geheimnis E-Book

Angeline Bauer

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Beschreibung

30 Kurzgeschichten zum Thema Geheimnis – eine spannende, bunte Mischung von Erzählungen, die es im Literaturpreis Grassauer Deichelbohrer 2020 auf die Longlist schafften.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 216

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Literaturpreis Grassauer Deichelbohrer

Anthologie zum Thema

Geheimnis

Herausgeber Gemeinde Grassau/Chiemgau

Lektorat und Gestaltung Angeline Bauer

E-Book

______

Impressum

Copyright © 2020

Verlag by arp

Ausgabe September 2020

Ledererstraße 12, 83224 Grassau, Deutschland

Herausgeber Gemeinde Grassau

Lektorat, Cover und Gestaltung Angeline Bauer

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Wenn Sie mehr über unser Verlagsprogramm erfahren möchten, besuchen Sie uns im Internet und auf Facebook

Inhaltsverzeichnis:

Impressum

Vorwort

Vielleicht

Von Manuela Trummer

Mutterleiden

Von Nasanin Kamani

Der Balkon, seine Bühne

Von Barbara Schilling

Knarzende Dielen

Von Leon Alexander Schmidt

Die Frau im Fenster

Von Iris Geyer

Pepescha

Von Michael Heine

In der Schlönderklamm

Von Bernhard W. Rahe

Meine fremde Tochter

Von Ursula Winkler

Jagdinstinkt

Von Anita Hetzenauer

Der Konfirmand

Von Gerlinde Kurz

Und der Kuckuck hat gerufen

Von Corinna Huber

Unter Bäumen

Von Yvonne Mehrle

Schiller und Schmetterlinge

Von Helge Streit

Homecoming Queen

Von Iris Boss

Abreisetag

Von Henrike Sänger

Die Spieluhr

Von Ingrid Krüger

Praxisstudien

Von Stefanie Maurer

Neunundvierzig Prozent

Von Janina Rehak

Das Muschelarmband

Von Sabine Flatau

Begegnung

Von Greta R. Kuhn

Glühen

Von Anja Sturmat

Dornröschen

Von Alexandra Grüttner-Wilke

Jesus auf meiner Terrasse

Von Verena Gaupp

Der Brief

Von Kathrin Hamel

Fenster putzen

Von Wolfgang Spreckelsen

Umkehr

Von Anders Alborg

Was du nicht siehst

Von Daniela Esch

Wahlfreiheit

Von Vera Kerick

Von alten Männern mit weißen Bärten

Von Adi Traar

Hakim

Von Sylvia Schmieder

Die AutorInnen

Die Jurymitglieder

Vorwort

Grassau ist eine Marktgemeinde im Chiemgau, die sich schon seit vielen Jahren im Bereich Kunst und Kultur engagiert. Aus der Musikschule Grassau gingen viele Profimusiker hervor, darunter neben GeigerInnen und Popmusikern vor allem BlechbläserInnen, die an deutschen Opernhäusern zu finden sind. Aber auch der inzwischen verstorbene Dirigent Wolfgang Sawallisch lebte in Grassau. Seine Villa am Ortsrand vermachte er einer in Grassau ansässigen Stiftung, die junge Talente im Bereich Musik fördert.

Im Jahr 2019 lobte Grassau zum ersten Mal einen Literaturpreis aus. Ganz bewusst hat man sich gegen eine Altersbeschränkung der Autoren oder gegen das Festlegen eines Genres entschieden. Vorgegeben wurden einzig das Thema und die Läge der Geschichten mit 6000 bis 9000 Zeichen. 2019 erhielt die Jury rund 470 Einreichungen, 2020 waren es bereits 590. Darunter Krimis, Liebesgeschichten, Skurriles, Mundartliches, Anrührendes und sogar moderne Märchen. Aus diesen Einsendungen – Namen und eventuelle Veröffentlichungen der VerfasserInnen waren den Juroren nicht bekannt - wählte jeder von ihnen die sechs Geschichten aus, die ihm am besten gefielen, das Thema Geheimnis in all seinen Schattierungen immer im Auge behaltend. Diese Titel wurden auf die Longlist gesetzt. Aus der Longlist wurden nach einem Punktesystem die sechs Geschichten ermittelt, die schließlich die Shortlist und am Ende die drei Erstplatzierten ergaben.

Die Geschichten, die für die Longlist nominiert waren, sind hier als Anthologie zusammengefasst. Manche stimmen nachdenklich, andere wiederum lassen einen schmunzeln.

Die sechs Autorinnen der Shortlist sind bei Herausgabe der Anthologie der Öffentlichkeit bereits bekannt, ihre Platzierung jedoch ist noch geheim. Deshalb können wir hier die Gewinnerinnen der ersten drei Plätze nicht verraten. Sie werden in der eingangs erwähnten Villa Sawallisch zu einem späteren Zeitpunkt geehrt.

Ein Dank geht an die AutorInnen für die Genehmigung zum Abdruck.

Der Bürgermeister und Gemeinderat von Grassau, die Jury und die AutorInnen wünschen viel Spaß beim Lesen.

Angeline Bauer

Vielleicht

Von Manuela Trummer

Ein lautes Lachen übertönte das Rauschen der Wellen. Ich setzte mich auf und blinzelte zu Mama hinüber. Sie stand im Meer mit unserem Frisbee in der Hand und himmelte Jan mit diesem Lächeln an, das sie in letzter Zeit auf ihr Gesicht geklebt zu haben schien.

Es sah total albern an ihr aus, schien ihm aber zu gefallen, denn er schwamm zu ihr hinüber, und sie küssten sich. Schon wieder. Schlimm genug, dass sie darauf bestanden hatte, den Typ mit in den Urlaub zu nehmen, kaum dass die Scheidung durch war. Aber dass sie ihn jetzt auch noch bei jeder Gelegenheit abknutschen musste!

Bevor ich wegsehen konnte, hatten sie meinen Blick bemerkt und winkten mir zu. Ich drehte mich demonstrativ auf den Bauch, weg von ihnen, und stellte die Musik an meinem Handy lauter.

Der Wind trieb etwas Sand über den Boden. Einige Körner blieben an meiner Hand hängen. Andere sprangen über meinen Handrücken und setzten ihren Weg fort, über mein Handtuch bis hinein in die Strandtasche, wo sie gegen seine Uhr fielen. Die Sandkörner verschwanden im Inneren der Tasche, aber mein Blick blieb an der Uhr haften. Ich hatte sie noch nie genauer betrachtet, weil Jan sie eigentlich immer trug.

Langsam zog ich sie heraus und legte sie vor mich in den Sand. Das Band war aus Leder, braun und an einigen Stellen leicht abgewetzt. Auch wirkte es sehr schmal im Vergleich zu dem großen Zifferblatt mit den römischen Zahlen.

Ein dünner Schleier aus hellem Sand fegte über die Uhr. An dem Lederarmband blieben die Sandkörner hängen, aber das Glas des Zifferblattes war gewölbt, so dass sie dort wieder herunterrollten. Ich fuhr mit den Fingern durch den Sand, nahm eine Faust voll hoch und ließ die Körner langsam genau auf die Mitte des Zifferblattes rieseln. Wieder sprangen die Körner vom Glas weg, rutschten seitwärts hinab und blieben als kleine Erhebung neben der Uhr liegen.

Ich schaltete die Musik aus, und das Rauschen des Meeres war nun wieder lauter. Aber wenn ich mich konzentrierte, konnte ich trotzdem das leise Geräusch der Sandkörner auf dem Glas hören. Es änderte sich, je mehr davon ich herabrieseln ließ, bis es nur noch ein leises Prasseln war. Sand auf Sand.

Plötzlich fiel ein Schatten auf mich. „Langsam habe ich Hunger”, hörte ich Jans‘ Stimme über mir.

Sofort brannte es in meinem Magen. Seine Füße kamen in mein Blickfeld, als er in die Strandtasche griff und sein Handtuch herauszog. Ich hielt den Kopf gesenkt und presste die Lippen zusammen. Mit den Fingern zog ich Rillen um den kleinen Sandhügel, unter dem die Uhr nicht mehr zu sehen war.

„Lasst uns zum Bungalow zurückgehen, dann mach ich uns schnell was zu essen”, sagte Mama fröhlich. Sie machte eine kurze Pause und als sie weitersprach, klang ihre Stimme noch höher. „Es sei denn, du willst noch kurz ins Wasser, Mattis. Es ist gar nicht kalt, es würde dir bestimmt gefallen!“

Sie wartete, und ich biss die Zähne zusammen, um die Wut nicht heraus zu lassen. Glaubte sie wirklich, dass es so einfach war? Einmal ins Wasser und schon waren wir eine von diesen glücklichen Patchwork-Familien aus ihren Fernsehshows? Ich grub meine Finger in den Sand und streute dann sehr langsam noch einige Sandkörner auf den kleinen Hügel.

Mama seufzte. Dann gab sie die Strandtasche an Jan, der ohne ein weiteres Wort damit Richtung Promenade ging.

„Ach, Mattis.” Mama ließ sich neben mir in den Sand fallen. „Wenn du ihm doch nur eine Chance geben würdest. Jan würde dich so gern kennenlernen.” Für einen Moment klang sie wieder wie sie selbst und ich wollte etwas sagen. Aber die Wut war immer noch da, und ich zögerte.

„Kommt ihr?“, klang Jans Stimme von der Promenade her.

„Ja, sind gleich da”, rief Mama zurück und der Moment war vorbei. Sie klopfte mir einmal auf die Schulter, dann stand sie auf und ging auf ihn zu. Als sie an der kleinen Mauer ankam, die die Promenade vom Strand trennte, griff Jan sie an der Hüfte und hob sie hinüber. In einem Ruck stemmte ich mich hoch und packte mein Handtuch. Ich warf einen kurzen Blick auf den unscheinbaren Sandhügel, dann presste ich die Lippen zusammen und stapfte hinter Mama her.

Bis zum Campingplatz waren es nur ein paar Meter den Strand entlang und durch das metallene Drehkreuz. Die Bungalows standen aufgereiht an einem kleinen Stück Wiese. Nur die Farbe der Handtücher an den Wäscheleinen unterschieden sie voneinander. Jan hängte Mamas buntes und sein dunkles Handtuch auf, und sie legte mir ihren Arm um die Schultern. „Wir haben noch Pizza, soll ich uns eine aufbacken?”

Ich nickte leicht, damit sie ging. Dann ließ ich mich in einen der Stühle sinken, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.

Kurze Zeit später hörte ich Jan von drinnen: „Nein, sie ist nicht da!”

„Nun beruhige dich”, sagte meine Mutter besänftigend. „Vielleicht hast du sie gar nicht dabeigehabt, und sie ist irgendwo hier.“

„Ich weiß genau, dass ich sie vorhin am Strand ausgezogen und in die Tasche gelegt habe.“

Ein Schauer lief meine Nacken entlang. Ob er etwas vermutete? Mein Herz begann, schneller zu klopfen. Ohne mich zu bewegen und ohne die Augen zu öffnen, lauschte ich den Geräuschen von drinnen.

„Sie muss rausgefallen sein, als ich das Handtuch rausgezogen habe”, sagte Jan. Seine Stimme wurde schlagartig lauter, als er die gläserne Terrassentür aufschob. Ein Schwung kalter Luft folgte ihm nach draußen.

„Ich geh schnell zurück, vielleicht liegt sie da noch irgendwo!”, rief er über seine Schulter.

„Okay”, hörte ich Mama, aber da war Jan schon von der Terrasse gesprungen. Ich öffnete die Augen und konnte gerade noch sehen, wie er zwischen den Bungalows verschwand.

„Jan geht nochmal zum Strand.” Mama war neben mich getreten. „Er hat seine Armbanduhr vorhin da verloren, du weißt schon, die mit dem braunen Lederband.” Ihre Finger kneteten den Putzlappen, den sie in der Hand hielt. „Ich hoffe, er findet sie”, sagte sie leise. „Die Uhr ist ihm sehr wichtig.“ Sie schwieg einen Moment, dann holte sie hörbar Luft und setzte das Lächeln wieder auf. „Essen ist gleich fertig.” Damit ging sie zurück in den Bungalow.

Als Jan zurückkam, stand auf dem Tisch nur noch der Teller mit seinem kalten Stück Pizza. Mama umarmte ihn, Jan gab ihr einen Kuss aufs Haar. Sein Blick fiel auf die Pizza. „Ich habe keinen Hunger, entschuldige”, sagte er.

Mama nickte und nahm auch den letzten Teller vom Tisch. In meinem Magen rumorte es. Ich starrte auf mein Handy.

Jan ließ sich in einen Stuhl sinken, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Mama kam zurück, setzte sich dazu. Niemand sprach. Das schwere Gefühl in meinem Magen wuchs und wurde fester.

„Ich geh ins Bett”, sagte ich, als ich es nicht mehr aushielt. Es war viel zu früh, aber Mama nickte nur, und Jan schwieg.

In meinem Zimmer gab es einen Schrank und ein Stockbett. Ich lag oben, so dicht unter der Decke, dass ich sie berühren konnte, wenn ich den Arm ausstreckte. Meine Finger kratzten über die Holzplatte und ich musste an das Geräusch der Sandkörner auf der Uhr denken. Ich zog die Hand zurück.

Der Vorhang des Fensters stand einen Spalt offen, und etwas Licht fiel von der Terrasse herein. Jan saß immer noch in dem Stuhl und starrte geradeaus. Das schwere Gefühl drückte auf meinen Magen. Ich konnte nicht länger liegen und stemmte mich hoch. Mama lehnte mit dem Rücken zur Tür an der Spüle und bemerkte mich nicht, als ich nach draußen ging.

Einen Moment stand ich unschlüssig im Halbdunkel. Dann begann Jan plötzlich zu reden.

„Die Uhr war ein Geschenk meines Vaters.” Seine leise Stimme war mir unheimlich. Ich kannte ihn nur laut. „Er hat sie mir zum Schulabschluss geschenkt, lange her.“ Ein Lächeln huschte über Jans Gesicht, als ob er sich nicht ohne Lächeln daran erinnern konnte. Dann verschwand es wieder. „Kurz danach ist er gestorben. Er war sehr krank.” Jan räusperte sich, zuckte einmal mit den Schultern und schien noch etwas sagen zu wollen.

Ich wartete, aber er ließ es bleiben. Der Stein in meinem Magen fühlte sich an, als könnte er jeden Moment durch mich hindurchbrechen. Ich schluckte. „Ich habe die Uhr genommen”, presste ich heraus. „Ich habe sie am Strand vergraben.” Ich drückte meine Fingernägel in das weiche Fleisch der Handinnenflächen und starrte geradeaus.

Im Bungalow gegenüber saß ein Pärchen an dem gleichen schwarzen Plastiktisch. Jan beugte sich nach vorn und vergrub den Kopf in seinen Händen. Ich hörte ihn tief ein und ausatmen, aber traute mich nicht, ihn anzusehen. Das Pärchen gegenüber lachte.

„Warum hast du das getan?”, hörte ich ihn leise fragen.

Ich versuchte, die Scham herunterzuschlucken, aber meine Kehle war zu eng. „Ich weiß es nicht”, flüsterte ich, und es war die Wahrheit. Aber es war nicht genug. „Wenn wir noch einmal zusammen hingehen”, stieß ich hervor. „Jetzt gleich, vielleicht finden wir sie dann wieder!“ Ich drehte mich ruckartig zu Jan und unsere Blicke trafen sich. Es war das erste Mal, dass wir uns direkt ansahen. Ich biss die Zähne zusammen.

Jan betrachtete mich stumm. Dann nickte er. „Ja”, sagte er langsam. „Vielleicht.”

Mutterleiden

Von Nasanin Kamani

Amors Pfeil ist in den letzten Jahren so häufig an mir vorbeigeflogen, dass ich irgendwann zu der Erkenntnis kam, der kleinwüchsige Knabe habe nicht die geringste Ahnung, wo die Zielscheibe in meiner Brust liegt. Aber gut. Amor hat seine besten Tage ohnehin schon hinter sich und kann sich längst nicht mehr als The One and Only am Himmel der Liebe aufspielen, da kaum noch einer Lust hat, auf seine schicksalhaften Pfeile zu warten. Warten ist so out wie Kutsche fahren. Aus ‘Wünsch dir was‘ ist ‘Hol es dir‘ geworden. So beschloss auch ich, mich vom passiven Prinzessinnen-Gehabe zu verabschieden und den Liebespfeil eigenhändig auf die richtige Spur zu bringen – mochte dieser auch kein Original aus dem Pfeilköcher Amors sein, sondern das Produkt einer Wisch-App, deren Name ohnehin jeder kennt und die den Richtungen Links und Rechts eine ganz neue Bedeutung verliehen hat:

JA zum Insta-Helden, NEIN zum Wampen-Weichei.

JA zum wortkargen Schnelle-Nummer-Schönling, NEIN zum redseligen Lifetime-Loser.

Ein SUPER-JA zum tierlieben Doc in Weiß, dessen Jackpot-Profil eine Rundum-Rettung verspricht, und ein DOPPELT-NEIN zu dem enttäuschten Romantiker, der sich eigentlich nur dorthin verirrt hat, weil er nicht mehr wusste, wo er sonst noch nach der Liebe suchen soll.

Ich stellte ein Profilbild ein, auf dem ich in einer belebten Altbauküche stehe und eine Zucchini schibble, lachend, mit einem halb gefüllten Rotweinglas neben dem Schneidebrett, in einer eng geschnittenen Bluse, welche an Büro und Brüste denken lässt – ein richtiger Feierabend-Traum, diese Frau: Taff und etwas trunken. Emanzipiert, aber keine Emanze. Sexy, aber keine Slut.

Ich strecke meine Beine, schlage die Decke beiseite und fasse mit der Hand unter das OP-Hemd an meinen Bauch.

Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger kapiere ich, warum das Baby nicht noch ein paar Jährchen warten konnte, bevor es sich in meiner Gebärmutter eingenistet hat. Was glaubt es denn, hier draußen zu verpassen? Ist doch sowieso tote Lockdown-Hose.

Vermutlich ist die Eile meinem Erbgut geschuldet: Ich lese, lerne, laufe und rede in einem Mordstempo. Ich komme schnell an, in neuen Städten, lustigen Freundeskreisen, renovierten Bürozimmern, und ich schließe schnell ab, mit alten Städten, zerstrittenen Freundeskreisen und stickigen Bürozimmern. Ich gebe so hastig Geld aus, als wäre der Euro eine Plage und drücke in der Orange-Phase so doll aufs Gas, als würde eine gesparte Sekunde im Verkehr mir ein ganzes Jahr im Paradies verschaffen.

Ist es da noch ein Wunder, dass meine Eizellen über die Spermien hergefallen sind, als gäbe es kein Morgen?

Es klopft, zweimal. Die Krankenpflegerin öffnet die Tür einen Spalt. Hinter ihrem Mundschutz deutet sich ein mitfühlendes Lächeln an: „Wir sind dann gleich soweit.“

Ich nicke: „Danke.“

Sie nickt zurück, zieht die Tür zu.

Danke! Danke, dass Sie sich tagtäglich mit Embryonen und Föten herumschlagen, mit Blut und Urin, Tumoren und Metastasen. Danke, dass Sie Kindsverweigerer wie mich, die morgens in Stöckelschuhen in die Werbeabteilung einer Immobilienfirma staksen, nicht für ein Deko-Teil in der Kulisse des Lebens halten, wie etwa eine überteuerte Vase, die eigentlich niemand braucht, da sie nur Platz für zwei oder drei Blumenstiele bietet.

Als ich mich vor drei Jahren in der berüchtigten App herumtrieb und Simons Bild nach rechts wischte, ahnte ich natürlich nicht, dass wir, die beide noch mit einem Bein in einer toten Beziehung hingen, gemeinsam neues Leben schaffen würden. Während er einen warmen Wechsel anstrebte und daraus auch kein Geheimnis machte, wollte ich mich eher ablenken von meiner damaligen Halb-Beziehung, die mich durch zermürbende On-Off-Spielchen in eine Kurztherapie getrieben hatte. Die Psychologin erklärte mir nach nur fünf Minuten, der Kerl sei Narzisst, wie so viele Männer heutzutage. Manche Jahrzehnte hätten Dichter und Denker hervorgebracht und andere – …tja. In der Tat bot mein Ex eine Reihe an red flags, vor denen Beziehungsgurus überall im Internet warnen, nur ist das Problem, dass diese Rote Fahne niemals schon in der Pilotfolge gehisst wird, sondern erst nach gut einer Staffel, wenn die Serie bereits einen Strudel entfaltet hat, der einen an den Abgrund der Spannung zieht.

Bei Simon, dem Vater meines Babys, gab es von Beginn an nur die white flag. Ein defensiver Kerl, der die Friedensfahne schon beim ersten Date schwenkte, als der erste Streit noch in weiter Ferne lag.

Hatte ich um den letzten Kerl noch herumgetänzelt wie ein Suchti, der auf den nächsten Schuss hoffte, auf das wohlverdiente Hoch nach dem wochenlangen Tief, war ich für Simon plötzlich die Bombe aus dem Internet, deren taffes Profil ihn schwer beeindruckt hatte. Er zeichnete mit dem Zirkel seines Alltags lauter Kreise um mich herum und rückte mich damit in eine Position, die ich zuvor noch an einen anderen abgedrückt hatte.

Ich war nicht verliebt in ihn. Aber ich war verzückt: Der Online-Fund hatte eine deutlich längere Pro-Punkte-Liste als mein komplizierter Ex, der davon lebte, mit dem Leben zu hadern.

Ich zücke mein Handy.

Eine Nachricht von Simon: „Scheiß Virus. Ich muss doch bei Dir sein dürfen. Gibt es denn gar keine Ausnahmen?“

Nein. Gibt es nicht. Besucher sind Infektionsquellen und damit potentielle Sensenmänner und –frauen.

Wenn mein Freund wüsste, was hier vor sich geht, würde er vermutlich die Station stürmen und ein fettes Bußgeld kassieren. Er würde mich unter Tränen anflehen, sein Fleisch und Blut nicht zu entsorgen, als wäre es Sperrmüll aus der Rumpelkammer. Just in diesem Moment hockt er jedoch seelenruhig im Homeoffice, beantwortet seine dreizehn Emails und glaubt, ich lasse mir eine Gewebestück aus dem Gebärmutterhals entfernen, ein unkomplizierter Routineeingriff im ambulanten Setting. Er hat die Lüge geschluckt, als wäre sie eine Delikatesse, und zelebriert mich als die Frau, mit der er auf sein Happy End zuläuft.

Ein Happy End.

Ein End.

Mein Ending à la Simon: Ein gut bezahlter Job, stylische Möbel in einer zentralen Wohnung, zweimal Reisen im Jahr, dreimal Sex pro Woche, ein Kind, das ich liebe von einem Mann, den ich mag.

Mein High End. Meine Qual nach der Wahl. Mein Match. Mein Superlike. Mein Premium-Account.

Ein Traum, gebastelt mit einer Online-Schere. Geklebt mit dem Kleister der Kompromisse. Angemalt mit der Farbe der Futura. Ein Zauber aus dem Hut einer App, mit der Magie eines Algorithmus. Und was ist mit der schwarzen Magie des Virus? Entstammt sie auch einem Algorithmus? Dieses verdammte Virus!

Aber immerhin schützt es mein Geheimnis, hält mir Freund und Family vom Hals, lässt mich unter dem Radar seines R-Werts verschwinden.

Darf das Virus auch etwas Gutes haben?

Schon wieder ein Klopfen. Die Tür öffnet sich. Niemand wartet mein „Herein“ ab. Warten ist so out wie Kutsche fahren. Die Pflegerin tritt ein, eine zweite hinterher.

Jetzt werde ich rausgerollt in meinem Bett, Richtung OP.

Und was, wenn ich es doch behalte? Wenn ich nach dem Geschlecht frage, jetzt direkt, und mir rasch einen Namen überlege? Wie wäre es mit Aufbruch statt Abbruch? Babyparty statt Begräbnis? Freudentanz statt Trauerspiel?

Wenn die Zeit Wunden heilen kann, kann sie dann nicht auch die Mama in mir wecken?

Die Zeit.

Ich würde ihren Zeigern fortan hinterherrennen wie eine Bekloppte, die am Gleis dem Zug nachhetzt, obwohl der Lockführer schon längst entschieden hat, sie auflaufen zu lassen. Ich würde vom Stillen zum Wickeln zum Baden zum Wiegeln zum Weinen hetzen. Das Baby würde wachsen und ich würde schrumpfen. Die Zeiger würden weiter- und ich mich zusammenziehen, wie eine Matratze, der die Luft ausgeht.

Der OP-Saal ist kalt. Und alle tragen grün. Grün ist die Farbe der Hoffnung.

„Sind Sie allein hier?“, fragt die Krankenschwester.

Ich nicke. Ich dachte, wenn niemand da ist, um zu hören, wie der Baum im Wald umkippt, könnte auch ich eines Tages das Geräusch seines Aufpralls vergessen.

Aber funktioniert das tatsächlich?

Ich weiß es nicht. Woher soll ich das wissen?

Mein schlauer Ex, der wusste solche Dinge! Der angebliche Narzisst, der mein Herz schneller schlagen ließ, ohne mir den Hof zu machen. Aber musste er das überhaupt? Mir den Hof machen? Er, der doch ganz andere Talente besaß – das Talent, mich mit Worten, statt mit Händen zu berühren? Mit Händen kann jeder berühren.

Hat mein Baby schon Hände? Zehnwöchige Hände mit unfertigen Fingerchen?

Simon hat Hände. Hände, mit denen er in der App geswipt hat.

Warum hast du nach rechts geswipt?

Sie wollen loslegen. Der Arzt ist ein autoritärer Greis aus der alten Schule und könnte mein Richter sein, die kleine OP-Schwester meine Zeugin. Sie fragen, ob ich bereit sei für die Narkose. Ah ja, der dritte im Bund, der Anästhesist – mein Anwalt, der mir ein möglichst schmerzfreies Verfahren bereiten will.

Nein, ich bin nicht bereit. Aber ja, legen Sie los.

Ich schließe die Augen und bitte mein Baby zum Abschied, im Himmel ja niemandem von seiner Mama zu erzählen.

Der Balkon, seine Bühne

Von Barbara Schilling

Die Glut seines Zigarillos ist deutlich zu sehen. Er steht auf seinem Balkon, wie stets leger in britische Pantoffeln und seidenen Morgenmantel gekleidet. Ein Hermes-Tuch ziert den langsam faltig werdenden Hals. Das Licht ist dämmrig, kann sich nicht entscheiden, ob es Tag oder Nacht sein will. Der Blick unter den sorgfältig gestutzten Augenbrauen ist entspannt; er, der Nachbar mustert seine Umgebung, halb interessiert, halb amüsiert, scheint ganz bei sich zu sein. Und seinem Telefon, das er zwischen Wange und Schulter geklemmt hält. Zigarillo, Espresso und Handy, zwei Hände für drei Dinge. Er muss jonglieren.

Eine hochgewachsene Frau im roten Mantel kommt vorbei. Er dreht nicht einmal den Kopf. Träge hebt er die Hand mit der Tasse. Er läuft gemessenen Schrittes die kurzen Wege auf seinem Balkon hin und her, parliert, lacht, posiert, … spielt - sich selbst erfolgreich. Der Balkon, seine Bühne. Die Wohnung, ein Glücksfall. Hochparterre. Die Passanten sehen ihn, er auf sie hinunter.

Im Innern der Wohnung; deckenhohe Bücherregale, ausgesuchte Kunstdrucke und ein paar preiswerte Antiquitäten. Das Prunkstück ist die Bronzefigur. Schwer, glänzend, formvollendet.

Er mag seine Wohnung: Geschmackvoll, aber nicht luxuriös. Und dennoch als Singlewohnung genau auf seine Bedürfnisse abgestimmt. Musik, Kunst, Bücher - dazu südamerikanischen Kaffee, guten Grappa und Edelbitter-Schokolade. Seine Gedanken ziehen, kehren früher oder später immer wieder zurück zu seiner wunderbaren Liaison mit der Schriftstellerin von Format. Beeindruckender Werdegang. Beeindruckende Persönlichkeit, beeindruckende Beine.

Er lässt sich auf die Chaiselongue fallen und legt das Telefon zur Seite und lässt den Blick über die Bücherreihen wandern. Zeitgenössische Literatur, ein paar Nachschlagewerke, Klassiker, großformatige Kunstbände. Keine Ratgeber - gedruckter Blödsinn. Keine Lyrik - dazu hat er, mitunter zu seinem Bedauern, keinen Zugang.

Eines der Bücher, ein umfangreiches Werk, adäquat mit Schutzumschlag und Lesebändchen versehen, ist von ihr. Ein gelungener Gesellschaftsroman. Sie vereint darin die drei Ps: Präzise, poetisch, packend. Er kannte das Buch, bevor er sie traf. Damals, auf einer eher enttäuschenden Inszenierung Tristans. Nach Jahren der Suche und missglückter Affären hatte er sie in der Pause getroffen, ohne Begleitung und ohne Getränk. Er hatte für beides gesorgt und sie das zu schätzen gewusst. Obwohl verheiratet hatte sie seine Einladung zum romantischen Abendessen angenommen. Der Abend hatte sich gelohnt: Der Kellner war aufmerksam, die Unterhaltung geistreich, das Filet Mignon auf den Punkt und der Weg zu seiner Wohnung nicht weit. Seither trafen sie sich regelmäßig, meist montags und freitags.

Es war das perfekte Arrangement. Sie war kultiviert, belesen, hatte Stil.

Bei ihr konnte er sein, wie er seine wollte. Ihre Zusammentreffen waren diskret, genussreich und zeitlich begrenzt. Das kam ihm zupass. Käuzchenschreien der Lust folgte zuverlässig köstliche Ruhe. Zufrieden räkelt er sich auf dem Sitzmöbel. Er hat ein Auskommen. Er ist flexibel. Sie hatte als Ehefrau und Autorin Verpflichtungen. Die Zwangspausen erhöhten die Freude auf das Wiedersehen, die er ohnehin als Heilmittel, ja als Präventivmaßnahme für Ehen im Besonderen und Allgemeinen, ansah. Er war sich ihrer sicher. Ohne Ring. Ohne Versprechungen. Er war glücklich.

Er überlegt, ob er noch ins Feinkostgeschäft gehen soll. Ach was, sie haben Champagner - und sich, das genügt in der Regel.

Der Nachbar, er schließt für einen Augenblick die Augen, genießt sie, die ruhige, diese köstliche Stille. Dafür ist er dankbar. Dazu einen kleinen Grappa, er gießt sich ein Schlückchen in das zart geschwungene Glas ein, schnuppert, seufzt wohlig und lässt sich wieder in die handbestickten marokkanischen Kissen sinken. Er als Privatier. Keiner will etwas. Keiner stört. Das Handy ist ausgestellt. Allein seligmachende Ruhe.

Das Türklingeln zerreißt die friedliche Atmosphäre wie ein wildes Tier. Ungehalten schlägt er auf die Armlehne, dann erhebt er sich seufzend und schlurft zur Tür.

Wer stört?

Rote Haare leuchten ihm entgegen. Sie ist es. Verwirrt steht er im Türrahmen. Sie ist zu früh, es ist Nachmittag. Sie ist nie zu früh. Er schwankt einen Augenblick, fängt sich und beweist Contenance. Er bringt seinen Mund zum Lächeln. Entschlossen drängt sie sich an ihm vorbei, stellt sich mitten ins Zimmer und deklamiert: „Ich habe ein Buch geschrieben. Über uns. Offen. Schonungslos. Ehrlich.“

Er weiß nichts zu antworten, nickt nur.

Sein Lieblingssessel ist der am Fenster. Ihrer auch. nach der Eröffnung setzt sie sich nun, drapiert ihr Haar über die Rückenlehne, schürzt die sinnlichen Lippen. Ihre Gestalt schmiegt sich an den edlen Bezug, und sie fährt fort, als säße sie vor großem Publikum. Sie eröffnet ihm, dass sie in diesem Buch alles offenlegt: Ihre Begegnungen, ihre geheimen Treffen, ihre Liaison, Namen, Daten, Fakten. „Es ist absolut athenisch“, schwärmt sie.

Er schweigt betroffen.

„Mein Mann wird alles erfahren“, erklärt sie enthusiastisch. „Dann können wir endlich zusammen sein.“

Er, der Nachbar im seidenen Morgenmantel, schluckt. Er lässt sich auf einen Stuhl sinken, wie ein Herbstblatt auf frostigen Boden. Verquere Gedanken verkleben sein Gehirn. Das Hermestuch schnürt ihm einen Augenblick lang die Kehle zu.