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Kälte und Bitterkeit in der Holzmühle Gerstenrieder, die auf dem Setzberg, weit droben über dem Tegernseer Tal liegt. Die einzige Tochter, Annelie, opfert sich für ihren jähzornigen Vater und die Brüder auf. Täglich quälen sie Einsamkeit, die Launen der Männer und die Sorge um ihren geliebten Bruder Lenz, der geistig zurückgeblieben ist. Nur in ihrer Liebe zu Martin findet sie Trost. Gemeinsam mit ihm hofft Annelie, dem Leben in der Sägemühle eines Tages entfliehen zu können. Doch als sie von Martin zutiefst enttäuscht wird, verfällt sie dem berüchtigten Wilderer Jennerwein, der in der Mühle Unterschlupf sucht. Und so nimmt ihr Schicksal eine dramatische Wendung …
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Ich trug meine eigene Asche zu Berge,
eine hellere Flamme erfand ich mir.
(Also sprach Zarathustra)
Es war ein seltsames Licht, das an diesem Aprilmorgen durch die Baumkronen fiel. Ein silbriges Flirren im Walddunst, geperlter Morgentau auf den jungen Halmen der Segge. An schattigen Stellen lag noch Schnee, doch gleich daneben, wo Sonnenstrahlen sich ihren Weg durch das Geäst der Bäume bis auf den Waldboden bahnten, sah man helles Gelb wie hingetupft auf moosgrünen Grund. Und hob man den Kopf und erblickte zwischen den Baumwipfeln ein Stück vom Himmel, erschien er einem eher silbrig als blau.
Doch Annelie, die Tochter des Sägmüllers-Gerstenrieder, schaute nicht in den Himmel. Die Augen fest vor sich auf den Boden gerichtet, um nicht über Äste und Steine zu straucheln, ging sie ihren Weg.
Droben am Setzberg war sie gewesen, bei den Holzfällern, die sich nach dem Winter dort neu eingerichtet hatten, um den Holzschlag vom letzten Jahr aufzupflanzen. Sie hatte ihnen Brot, Schmalz und Eier hinaufgebracht und vom Vater eine Flasche Enzian, als Einstand für ein langes, arbeitsreiches Jahr.
Der Weg auf den Setzberggipfel war beschwerlich. Trotzdem hatte sie ihn gerne auf sich genommen, denn zu Hause in der Holzmühle, im Wald hoch über den Ortschaften Trinis und Oberach, war ihr kein ruhiger Augenblick vergönnt. Nichts als Arbeit den ganzen Tag! Zwei Rösser, eine Kuh, zwei Schafe, ein Schwein, eine Schar Hühner und vier, manchmal auch fünf Männer musste sie versorgen. Und einer von ihnen, ihr jüngerer Bruder Lenz, war deppert dazu und brauchte den ganzen Tag über Aufsicht.
Unterwegs im Wald aber konnte sie ihren Gedanken nachhängen. Manchmal setzte sie sich irgendwo für ein paar Minuten nieder, schloss die Augen und stellte sich vor, jemand ganz anderer zu sein. Ihre Base Magdalena zum Beispiel, die in München lebte, schöne Kleider trug und zwar kunstvolle Bilder malen konnte, aber nicht kochen. Das musste man sich mal vorstellen! Oder sie träumte davon, die Frau von Martin Ebner zu werden. Er war der Sohn eines Schreiners aus Oberach, der hin und wieder zu ihnen in die Mühle heraufkam, um sich nach gutem Holz umzuschauen.
Martin Ebner gefiel ihr, und auch er mochte sie und machte ihr schöne Augen. Er war ein guter Mensch, rechtschaffen und ehrlich gegen jeden, und er war ihre einzige Hoffnung. Denn wenn nicht er sie heiraten und von der Mühle fortbringen würde, wer sollte es dann tun?
Annelie überquerte eine kleine Lichtung, trat auf einen Felsvorsprung hinaus und blickte zuerst hinüber auf den Hirschberg, dann hinunter ins Weissachtal. Von hier oben wirkten die Häuser in den Ortschaften wie Spielzeug, von Kinderhänden nach Lust und Laune hingesetzt. In der Mitte eine Kirche, rundherum ein paar Höfe, Stallungen und Kühe – was kleiner war, sah man nicht mehr.
Kreuth lag linker Hand, rechter Hand der Tegernsee und unter dem Fels, auf dem Annelie stand, noch eine halbe Wegstunde entfernt, die Holzmühle, in die sie vor zweiundzwanzig Jahren als drittes Kind von Lina und Xaver Gerstenrieder hineingeboren worden war.
Den Erstgeborenen, den Hans, hatte vor drei Jahren ein Baum erschlagen. Er war des Vaters Ein und Alles gewesen. Dass er den Franzosenkrieg überlebt, dann aber, kaum wieder zu Hause, im Wald den Tod gefunden hatte, konnte er nicht verwinden.
Vielleicht wäre es ihm leichter gefallen, wenn die Mutter noch gelebt hätte. Sie war die gute Seele im Haus gewesen, ein Vorbild für jeden. Mit Sanftmut und Liebe hatte sie alles zusammengehalten – davon hatte sie so viel in sich gehabt, dass es auch für den wortkargen, jähzornigen Vater noch gereicht hatte. Doch nach ihrem Tod war sein Herz ausgetrocknet wie ein verschrumpelter Apfel, der im Keller zwischen die Regale gerutscht und dort vergessen worden war. Für keinen hatte er mehr ein gutes Wort. Nicht für Annelie, die schon seit ihrem dreizehnten Lebensjahr Haus und Hof führen musste. Nicht für Max, der sich im Schatten des toten Bruders dem Hass verschrieben hatte. Erst recht nicht für Lenz, seinen Jüngsten, der mit siebzehn Jahren zwar groß und kräftig war wie ein ausgewachsenes Mannsbild, dabei aber nicht mehr im Kopf hatte als ein kleines Kind.
Annelie, eine Kraxe auf dem Rücken, den Rocksaum aufgeschlagen und in den Bund geschoppt, damit er sich nicht so leicht am Gestrüpp verfing, stand breitbeinig da und lauschte in die Stille – nicht das Krächzen eines Raben, nicht das hell klingende »bija-bija« eines Adlers, nicht das Knacken eines einzigen Zweiges war zu hören.
Bis plötzlich ein Glockengeläut den Berg heraufkroch und Annelie aus ihren Träumen riss. Die Kuh so nah? Das dumme Rindviech musste sich verlaufen haben! Doch dann hörte sie ein irres Lachen. Es war der depperte Bruder, der hirnrissige Lenz, der Käfer küsste und sich auf Eier setzte, um sie auszubrüten, und seltsame Wörter erfand, die niemand außer ihm selbst verstand.
Was hatte er wieder angestellt?
Annelie lief los, sprang über Stock und Stein, rutschte auf Laub dem Abgrund entgegen, fing sich, rannte weiter, sah ihn endlich: wie er den Bergstock gegen die Kuh schwang und lachte und sich freute, dass sie so rennen konnte und so lustig buckelte und sprang.
»Hör auf, Lenz!«, schrie sie. »Guter Gott, Lenz, was machst denn nur wieder!«
Er freute sich, sie zu sehen. »Annele, Annele, i hab dich lieb!« Breitete die Arme aus, fiel ihr um den Hals. »Annele, wo warst so lang? I stielebebele!«
»Bei den Holzknechten droben, das hab ich dir doch gesagt. Aber du darfst die Kuh nicht jagen! Wenn der Vater das sieht, der verprügelt uns wieder.« Sie nahm die Kraxe vom Rücken und gab sie ihm. »Jetzt bleibst hier, bis ich wiederkomm, und sammelst da Fichtenzapfen hinein.«
»Ja, Annele. Aber net zu lang. Tannezapfe einelugen.«
Sie ging der Kuh nach, die ein Stück weiter droben schnaubend stehen geblieben war und ihr entgegenglotzte. Als sie näher kam, duckte sie sich, um wieder loszurennen, doch Annelie lockte sie mit guten Worten, und da kam sie ihr entgegen und ließ sich am Lederriemen fassen, den sie um den Hals trug. Annelie klopfte ihr lobend den Leib, sprach weiter auf sie ein, damit sie ihr folgte. So kam sie wieder an die Stelle, an der Lenz vor der Kraxe hockte, ein Lied sang und Fichtenzapfen hineinfallen ließ.
»Bist brav«, sagte sie ihm. »Jetzt nimmst die Kraxe auf den Buckel und gehst schön mit. Und daheim trocknen wir die Fichtenzapfen fürs Ofenfeuer.«
Der Vater lief ihnen vom Sägewerk entgegen. Der Zorn hatte ihm das Blut in die Schläfenadern getrieben, dass sie blau hervorstanden.
Er schwang die Faust gegen seinen Jüngsten. »Saukopf, verreckter! Dummbartl, elendiger! Was hast denn wieder angestellt? Da wird uns ja die Milch in den Eutern sauer, du Depp!«
Er griff sich einen Stock, der auf dem Weg lag, um den Lenz zu schlagen, aber Annelie sprang dazwischen. »Wenn du ihn schlägst, Vater, dann kommt er doch nimmer her, wenn man ihn ruft, und versteckt sich wieder im Wald, und wir müssen ihn suchen. Ich bitt recht schön, Vater, schlag ihn nicht!«
Die Schläge prasselten statt auf den Lenz nun auf Annelie nieder. Sie hob die Arme über den Kopf, um sich zu schützen.
»Dann pass in Zukunft besser auf den Schwachkopf auf, dummes Luder!«
Der Stock brach und fiel zu Boden, und endlich ließ der Vater ab von ihr, warf auch das andere Ende des Stocks hin und ging davon.
Annelie fuhr sich über die Stirn, die nass war vom Angstschweiß. Tränen hatte sie nicht. Sie weinte schon lange nicht mehr, wenn sie geschlagen wurde. Nur nachts manchmal, alleine in ihrer Kammer unterm Plumeau.
Sie wandte sich nach ihrem Bruder um, dabei brannten ihr Haut und Knochen von den Schlägen. Zitternd kauerte er unter einem Baum, den Kopf zwischen den Armen verborgen, leise wimmernd: »’s Annele net schlagen, ’s Annele net schlagen … i böser Bub! I Sakrapotzi, sakrapotzi …«
Sie ging zu ihm hin. »Du bist nicht bös und auch kein Sakrapotzi.« Sie nahm ihn in die Arme und wiegte ihn. »Bloß a bisserl deppert bist.«
»I deppert«, plapperte er ihr nach, und da musste sie lachen und küsste ihn und hätte doch beinahe noch zu weinen angefangen.
»Vom Wolf mir erzählst?«, bat Lenz.
»Vom Wolf mit den Tränen?«
Er nickte heftig, und Annelie erzählte ihm, was sie selbst als Kind von ihrer Mutter gehört hatte: »Wenn du einen Wolf siehst, der weint, dann ist der Tod nah. Dort wo seine Tränen hinfallen, wächst kein Hälmchen mehr, da ist die Erde verbrannt. Der Wolf ist ein Seelenwächter. Du musst dich in Acht nehmen vor ihm, aber bös ist er trotzdem nicht. Er ist eben, wie er ist. Wir alle sind, wie wir sind; Gottes Geschöpfe, auch der Wolf. – So, und jetzt bringst die Fichtenzapfen in den Schuppen, dann kommst in die Kuchl«, trug sie ihm auf, trieb selbst die Kuh ins untere eingezäunte Waldstück zurück, suchte Eier im Hühnerstall und ging in die Küche, um einen Käseschmarren zuzubereiten.
Es war ein länglicher, dunkler Raum. Die Fenster klein, die Wände schwarz vom Ruß. Ein Regal stand an der einen Wand, ein kleiner Tisch und zwei Stühle in der Ecke hinter der Tür. Allerhand Schöpfer, Pfannen und Töpfe hingen über dem Herd, und auf einem Brett über dem Fenster standen Krüge und Schüsseln.
Annelie stellte zwei Holzschalen auf den Tisch, trennte die Eier und verrührte das Eigelb mit Milch aus einer irdenen Kanne.
»Grüß dich Gott, Annelie«, kam es plötzlich von der Tür her.
Erschrocken fuhr sie herum, doch gleich erhellten sich ihre Züge und ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Ach, du bist es, Martin!«
Sie fragte sich, wie sie aussehen mochte. So zerrupft von den Schlägen, so vergrämt und wohl auch schmutzig. Sie griff sich eilig ins Haar, zuckte dabei zurück vom Schmerz, der ihr in den malträtierten Arm fuhr, und lächelte dennoch weiter.
»Ja, ich bin’s, oder hast jemand anderen erwartet?«
Annelie schüttelte den Kopf. »Hab niemanden erwartet; wer kommt hier schon herauf, außer du manchmal« – viel zu selten, fügte sie in Gedanken an und rückte ihm einen Stuhl zurecht.
»Geh, setz dich, Martin, trink einen Enzian.«
»Lieber eine Milch, wennst hast«, bat er.
Sie goss Milch in ein Haferl. Martin trank durstig, wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund, deutete dann mit einer Kopfbewegung auf die Schüssel, in der sie die Eier verrührt hatte. »Machst einen Retzl?«
Sie nickte. »Magst mitessen?«
»Ja, gern.«
Er sah sie aufmerksam an. »Er hat dich wieder geschlagen, gell?«
Annelie antwortete nicht.
»Ich war gerade drunten auf der Hauslerlichtung, da hab ich ihn fluchen und schreien gehört. Hab gleich die Füß unter die Arme genommen, aber bis ich heroben ankam, war der Spuk schon vorbei.«
Annelie wandte sich ab. »Du kennst ihn ja«, sagte sie, »da kann man nichts machen.«
»Du musst hier weg, Annelie.«
»Aber wo sollte ich denn hin?«
»Ich …«, begann er, brach jedoch ab und seufzte. Da fuhr plötzlich seine Faust auf den Tisch nieder. »Ach, wenn doch unsere Väter nicht solche Sturköpf’ wären!«
Annelie raspelte den harten Käse in eine Holzschale. Verbissen starrte sie dabei auf ihre Hände. Ja, wenn das nicht solche Sturköpfe wären! Dann würde Martin sie wohl mit nach Oberach nehmen. Aber sie waren nun mal so verbohrt, ihre Väter.
Bald schon 30 Jahre lag es zurück, die beiden waren noch Junggesellen gewesen, da hatte Annelies Vater den Ebner beleidigt, hatte ihn einen »zerrissenen Haderlump« genannt, weil er ihm beim Tanzen ein Madl ausgespannt hatte. Darauf hatte der Ebner ihren Vater einen Neidhammel und liederlichen Maulhelden geschimpft. Und so gab ein Wort das andere, bis es mit einer Rauferei endete, bei der sich der Ebner die Nase brach. Und die ist ihm dann schief zusammengewachsen, und so trug er für immer ein Mal im Gesicht, das ihn an den verhassten Gerstenrieder erinnerte. Aber was konnten schließlich sie und Martin für den Zwist ihrer Väter? Und wären denn eines Schreiners Sohn und eines Sägmüllers Tochter nicht ein gutes Gespann?
»Du weißt, dass ich dich gern sehe.« Martin hob mit einem Finger ihr Kinn an, um ihr in die Augen zu schauen. »Ich könnt mir schon vorstellen, mit dir vor den Traualtar zu treten. Die Mutter liegt mir eh seit langem in den Ohren, dass ich endlich eine Braut heimführen soll.«
Annelie sah auf und lächelte ihn verliebt an. »Ja«, sagte sie, »und ich würde mich gern von dir heimführen lassen!« Doch dann wurde ihr Blick plötzlich wieder traurig. »Aber du sagst es ja selbst, dass unsere Väter Sturköpf’ sind. Und außerdem ist da noch der Lenz; ohne ihn kann ich nicht gehen.«
Martin seufzte. Ja, das wusste er. Ohne den Lenz hätte sie drunten in Oberach keine Ruhe vor lauter Angst, dass sie ihn heroben im Zorn erschlagen. Dabei war er doch ein lieber Kerl, führte nichts Böses im Schilde. Trotzdem, den Lenz konnte er seinen Eltern nicht zumuten. Und das sagte er Annelie auch. »Da müsstest du dich schon zwischen mir und deinem Bruder entscheiden. Nicht meinetwegen, ich tät ihn schon nehmen. Aber meine Eltern …« Seufzend brach er ab.
Annelie legte den Käse und die Raspel zur Seite und holte Mehl, das sie mit dem Käse vermischte und unter das Eigelb rührte.
»Ohne den Lenz kann ich nicht gehen, das hab ich der Mutter am Sterbebett versprechen müssen.«
Martin griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich. »Ich will es ja versuchen. Aber so, wie du nicht auskannst, kann ich es auch nicht. Meine Brüder sind im Krieg geblieben, mein Vater hat nur mich. Ich muss und will die Schreinerei übernehmen.« Er legte seine Arme um sie. »Trotzdem … ich werd alles versuchen, darauf geb ich dir jetzt ein Busserl als Pfand.« Annelie blickte auf, und er berührte sanft ihre Lippen mit seinen.
Es war ihr erster Kuss. Sie fühlte sich geborgen und getröstet in Martins Umarmung, und sie dachte, wie schön es wäre, die Schläge vom Vater gegen die Küsse vom Martin einzutauschen.
»Auf immer«, flüsterte er.
»Auf immer«, antwortete sie.
Als sie vor der Tür die harten Tritte der Männer hörten, gingen sie schnell auseinander. Martin setzte sich wieder, Annelie griff nach einem Schneebesen, um den Eischnee zu schlagen.
Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen, und Max sah herein. Seine blonden Haare waren vom Hut zerdrückt, den er im Fletz ans Nagelbrett gehängt hatte, seine blauen Augen, die so schön waren, aber so voller Hass, sahen von Martin zu ihr.
»Hast das Essen fertig?«, fragte er barsch.
»Es gibt Käseschmarren«, antwortete Annelie. »Den kann ich erst aufsetzen, wenn ihr da seid. »Wascht euch, bis dahin bin ich auch so weit.«
Martin ging in die Stube hinüber.
Xaver Gerstenrieder trocknete sich gerade mit einem Leintuch das nasse Gesicht ab. »Brauchst etwa Holz?«, fragte er den Schreinerssohn.
»Ich glaub eher, der kommt wegen der Annelie zu uns herauf«, murrte Max. »Gekauft hat er ja schon lange nichts mehr.«
»So?« Der alte Gerstenrieder sah an Martin rauf und runter, als ob er ein Gaul wäre, den er kaufen wollte. »Meinetwegen kannst die Annelie schon haben – wenn dein Vater und deine Mutter einverstanden sind!« Aus seinen Augen blitzte die Ironie. »Und den Lenz bekommst als Dreingabe dazu.«
Die Tür wurde geöffnet, Johannes Dörfner trat ein. Der alte Gerstenrieder sah seinen Gesellen an, dann wieder zu Martin und sagte. »Allerdings, das würde dem Johannes wahrscheinlich nicht gefallen, denn der hat auch ein Auge auf die Annelie geworfen.«
Johannes und Martin maßen sich mit Blicken. Die kalten, dunklen Augen, der krause, ungepflegte Bart, der harte Zug um den Mund des Holzmüllergesellen standen im krassen Gegensatz zu der hellen Gestalt des Schreiners, der so jungenhaft wirkte, dass ihm mancher sein Alter von 26 Jahren nicht glauben wollte.
Johannes nahm das Leintuch, das der Alte an ihn weitergab, trocknete Gesicht und Hände ab, hängte es dann auf die Stange über dem Kachelofen. »So ein Krischperl ist mir keine Konkurrenz«, maulte er und setzte sich zum Tisch, »das blas ich doch mit einer einzigen Faust weg!«
Martin gab keine Antwort. Stattdessen wandte er sich an den Alten. »Hast ein paar Bretter Zirbelholz für mich? Ich hätte einen Auftrag, wofür ich es brauchen könnte.«
Der alte Gerstenrieder tat, als dächte er nach. Er hatte ein kleines Lager mit wertvollen Hölzern unterm Dach. Es war Tradition – seit 300 Jahren, seit sie die Mühle auf dem Setzberg hatten – bei jedem Kind, das geboren wurde, einen wertvollen Baum zu fällen und an seiner Stelle drei neue zu pflanzen. Das Holz wurde eingelagert und zur Hochzeit verkauft. Bei Lenz hatte er eine Zirbelkiefer gefällt, aber was sollte der Kretin damit, heiraten würde der eh nicht. Also stand auch nichts dagegen, das Holz zu veräußern.
»Kommt drauf an, was du bezahlst.«
Die Tür ging auf, Annelie brachte den Lenz herein und drückte ihn auf die Bank am Fenster. Dann holte sie die Pfanne mit dem Käseschmarren, stellte sie auf den Tisch, brachte einen Laib Brot, wartete bis alle saßen und sprach das Tischgebet.
»Amen«, sagten am Ende alle.
Der Vater schnitt das Brot ab, gab jedem einen Kanten. Erst als er den ersten Löffel vom Retzl genommen hatte, langten auch die anderen zu.
»Ich bezahl dir, was es wert ist«, nahm Martin den Faden wieder auf. »Nicht mehr und nicht weniger.«
»So, nicht mehr und nicht weniger. Und was, wenn es mir mehr wert ist als dir?«
Martin zuckte die Schultern. »Es geht hier ja nicht um mich, sondern um die Kundschaft.« Er sah den Alten mit festem Blick an. »Der Schwaiger könnte mir Zirbelholz besorgen, aber ich dachte, ich frag dich. Vielleicht freust dich ja über ein gutes Geschäft.«
»Über ein gutes schon!« Der Alte lachte.
»Ich hätte auch ein Geschäft zu machen«, mischte sich jetzt Annelie ins Gespräch. »Ich will die Strümpfe verkaufen, die ich über den Winter gestrickt habe. Und dann müsste der Mutter ihr Grab gerichtet werden. Darum möchte ich morgen nach Rottach gehen.«
Der Vater sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Schon wieder?«
»Ich geh doch immer im Oktober und im April, um das Grab zu richten. Das letzte Mal war ich kurz vor Allerheiligen.«
»Und was ist mit dem da?« Der Sägmüller deutete mit einer Kopfbewegung auf Lenz.
»Dann muss halt mal der Max einen Tag auf ihn aufpassen. Ihr wollt doch nicht, dass die Leut sagen, wir lassen das Grab der Mutter verkommen. Ich brauch außerdem ein paar Sachen vom Kramer. Macht sich ja kein Hausierer den weiten Weg zu uns herauf.«
»Hm«, brummte der Vater. »Meinetwegen.«
Im Stillen seufzte Annelie auf, äußerlich ließ sie sich jedoch ihre Freude nicht anmerken. »Danke, Vater«, sagte sie nur und legte den Löffel weg, um Lenz mit einem Sacktuch den Mund abzuwischen.
Nach dem Essen wusch Annelie Pfannen und Schüsseln aus, ging dann mit Lenz das Schwein heimholen, das sich im Wald herumtrieb, um Eicheln vom Vorjahr und junges Gras zu suchen. Lenz hatte sich einen Leinensack umgehängt, in den er Zapfen sammelte. Über jeden, den er fand, freute er sich wie ein kleines Kind. Man brauchte Geduld mit Lenz, es dauerte lange, mit ihm voranzukommen.
Das Schwein weidete auf der Hauslerlichtung. Es war eine einjährige Sau. Annelie hatte sie über den Winter gebracht und vor zwei Wochen zur Walli getrieben, die einen Eber besaß. Gut eine Wegstunde Richtung Trinis, danach eineinhalb wieder zurück. Das war jetzt drei Wochen her, und wenn die Sau aufgenommen hatte, dann würde sie in etwa einem Vierteljahr ferkeln, und das würde gutes Geld einbringen. Vielleicht konnte Annelie etwas davon abzweigen für eine Aussteuer. Und wenn nicht, dann hatte sich wenigstens das Träumen gelohnt.
Sie wollte weg von der Mühle. Weg vom Jähzorn des Vaters. Weg von Max, dem verhassten Bruder. Weg von Johannes, der ihr nachstellte und vor dem sie Angst hatte, wenn sie alleine mit ihm war. Seine Hände, die ihr an den Rock gingen, sein Blick, der sie beschämte, seine Worte, die manchmal so hart sein konnten wie Peitschenhiebe.
Die Sau war anhänglich und folgte Annelie aufs Wort. Sie kam gleich her zu ihr, schob ihr wie zur Begrüßung den Rüssel in die Kniekehle, hob dann den Kopf und sah sie aus ihren kleinen, schwarzen Augen an. Annelie kraulte sie, und Lenz warf ihr einen Fichtenzapfen hin, den sie grunzend in den Waldboden stampfte.
So standen Annelie, Lenz und das Schwein auf der Lichtung, als Martin den Weg herunterkam.
»Zum Glück, da bist du ja. Hab dich gesucht.« Er fasste nach ihrer Hand. »Ich muss jetzt wieder nach Hause. Dein Vater hat mir das Holz verkauft, ich werde nächste Woche mit dem Wagen raufkommen, um es abzuholen.«
»Es war nicht recht von ihm, dir das Holz zu verkaufen«, sagte Annelie. »Hätte die Mutter noch gelebt, sie hätte es niemals erlaubt. Es ist für den Lenz. Auch wenn er nicht heiratet, vielleicht braucht er das Geld einmal.«
Martin sah von Annelie zu Lenz. »Das hab ich nicht gewusst. Aber wenn ich es nicht bekomme, dann eben ein anderer. Und so kann ich dich beim Abholen wenigstens wiedersehen. Vielleicht auch morgen schon, wenn du nach Rottach gehst? Ich könnte dich ins Gasthaus auf einen Becher Most oder eine Brotzeit einladen.«
Annelie schüttelte den Kopf und sah ihren Bruder an. »Lenz, schau dort droben auf dem Weg liegen noch viel mehr Fichtenzapfen. Geh schon mal voraus, ich komm gleich nach.«
»Annele nachkommt!« Lenz drückte sich zärtlich an die Schwester.
»Ja, Annele nachkommt«, versprach sie ihm.
Als Lenz sich davontrollte, wandte sich Annelie wieder an Martin: »Du sagst nichts dem Vater davon, gell? Ich will mich mit Magdalena treffen. Sie ist meine Base, wohnt in München. Im April kommt sie immer für ein paar Wochen nach Rottach und erwartet mich. Nicht bös sein, ich freu mich doch schon so lange, sie wiederzusehen.«
»Ach so.« Er war enttäuscht. Doch dann legte er seine Hand an Annelies Wange und lachte. »Hast dir einen schönen Tag mit deiner Base verdient. Und bestimmt sag ich dem Gerstenrieder nichts davon.« Er gab ihr einen Kuss und ging.
An der Wegkrümmung sah er sich noch einmal nach ihr um, und sie winkten sich zu.
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Annelie Gerstenrieder
– Tochter des Holzmüllers
Xaver Gerstenrieder
– Annelies Vater
Hans Gerstenrieder
– Annelies ältester Bruder, vom Baum erschlagen
Max Gerstenrieder
– Annelies mittlerer Bruder, verbittert und jähzornig wie der Vater
Lenz Gerstenrieder
– Annelies jüngster Bruder, geistig zurückgeblieben
Magdalena
– Annelies Base, die in München lebt
Martin Ebner
– der Mann, den Annelie liebt
Georg Jennerwein
– berüchtigter Wildschütz vom Schliersee, der am 6. November 1877 »hinterrücks« erschossen wurde (geschichtlich verbürgte Person)
Johannes Dörfner
– Holzmüllergeselle, der Annelie nachstellt
Emma Rieder
– Magd in der Gerstenrider Holzmühle
Julius Hartmann
– Holzmeister und Freund der Familie
Ursula Haslinger
– die Alte, um die Annelie sich kümmert
Egon Haslinger
– Ursulas Sohn
Lina
– Annelies Töchterchen
Max Bernloher und die Bernloherin
– sie kümmern sich um Annelie
Lisa
– Magd vom Bernloher
Otto Leitmeier
– Annelies späterer Dienstherr und Verlobter
Die Leitmeierin
– Ottos Mutter
Barbara Scharrer
– Neuwirtin in Schliers
Michl Scharrer
– Barbaras Mann
Brettlholz
– Wandgestell für Teller
Bschoadtücherl
– ein Tuch, in das die Brotzeit eingewickelt wird. Wo man Rast macht, schlägt man das Tuch einfach auf und isst darauf wie von einer Picknickdecke.
Darangeld oder Arrha
– Je nach Vermögen bezahlte der Bräutigam nach dem erfolgreichen Werben an die Braut einen Betrag (meist zwischen 3 und 10 bayerischen Thalern), das sogenannte Darangeld. Schickte die Braut dieses Geld zurück, galt der »Vertrag« als gelöst. Dies war eine große Schmach für den Bräutigam.
Deichel
– hölzernes Wasserrohr
Fletz
– breiter Hausflur in einem Bauernhaus
Godin
– Patin
Gunkerer
– Glocke, die an einem breiten Lederriemen um den Hals einer Kuh angebracht wird.
Heukreister
– Schlafstatt der Holzknechte im Kobel (auch auf Almen üblich). Ein Teil des Raumes wird durch eine Bank oder ein Brett abgetrennt und zuerst mit Ästen und Zweigen, dann weiter mit Heu oder Farn aufgefüllt. In einem Heukreister schlafen mehrere Leute nebeneinander.
Holzlege
– ein überdachter Platz, an dem Holzscheite fürs Ofenfeuer aufgeschichtet werden; meist an einer Scheunen- oder Hauswand gelegen.
Kracherl
– Limonade
Krischperl
– schmächtige Person
Liederzeile »Heiliger Leonhard ...«
– aus »Die große Bühne Chiemgau«, Klaus Bovers, Volk Verlag München, 2011
Plumeau
– Federdeckbett
Richten
– Menügänge
Rindenkobel
– die einfachste Form einer Waldarbeiterhütte im Hochgebirge. Ein Gerüst aus Holzstangen wird mit Rindenbahnen verschalt und abgedeckt. So ein Kobel hält etwa drei Jahre und dient den Holzknechten als Unterkunft, wenn eine bessere Hütte für den täglichen Weg zu weit entfernt ist.
Rotte (auch Holzmeisterschaft oder Partie genannt)
– eine Gruppe von Holzknechten (üblicherweise vier), die gemeinsam für einen Holzmeister Waldarbeiten erledigen.
Ruach
– Geizkragen
Saubohnen (Ackerbohnen)
– auch dicke Bohnen genannt. Früher galten sie als Arme-Leute-Essen.
Schlagfluss
– Schlaganfall
Stutzen
– kurzes Jagdgewehr