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Liebe, Intrigen und Mord – das ist der Stoff, aus dem dieser Roman besteht. Er handelt von einer starken und mutigen Frau, die tatsächlich lebte und in den Jahren um 1600 als oberste Hofnärrin drei französischen Königen diente. Wer glaubt, Hofnarren waren dumme Faxenmacher, der irrt. Ihre Aufgabe bestand darin, dem König mit Rat und Klugheit zur Seite zu stehen und ihm die Augen zu öffnen – nötigenfalls auch über seine eigene Dummheit.
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Seitenzahl: 469
Angeline Bauer
Historischer Roman über das aufregende Leben einer Hofnärrin, die in den Jahren um 1600 drei französischen Königen diente.
Im Gedanken an alle närrischen, ungelebten, heimlichen Lieben
Impressum
Copyright © 2021 by arp
Herausgeber Verlag by arp
Ledererstraße 12, 83224 Grassau, Deutschland
Ausgabe Juni 2021
Alle Rechte vorbehalten
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Herausgebers wiedergegeben werden.
Covergestaltung by arp
Über das Buch und die Autorin
Dieser Roman wurde 2008 unter dem Titel ‘Die Närrin des Königs‘ zum ersten Mal im Aufbauverlag / Berlin veröffentlicht. 2012 folgte eine E-Book-Veröffentlichung im Klarant Verlag unter dem Titel ‘Gefährliche Liebe einer Hofnärrin‘ und nun diese Wiederveröffentlichung im Verlag by arp.
Angeline Bauer hat unter dem Pseudonym Friederike Costa und ihrem eigenen Namen unzählige heiter-freche Frauenromane (Heyne Verlag), Historische Romane (Aufbau Verlag / Rosenheimer Verlagshaus) und Sachbücher für Verlage wie Südwest, Gütersloher Verlagshaus und andere geschrieben. Hinzu kommen viele hundert Kurzgeschichten für deutsche Frauen- und Fernsehzeitschriften, aber auch Kurzkrimis unter dem Pseudonym Ronda Hendrikus.
Verhängnisvolle Liebe einer Hofnärrin
Inhaltsverzeichnis:
Prolog
1. Buch
Ein Fest mit verhängnisvollen Folgen
Schlechte Nachrichten für den König
Vergessen im Keller
Die Qualen des Königs
Liebesnacht
Man hole mir die Närrin
Trunken von zärtlichen Worten
Eine schwangere Närrin und ein blaugesottener Karpfen
Ein schwerer Entschluss
Bei der Hebamme
Tod zweier Heerführer
Ein Schreiben des Königs von Navarra
Im dichten Nebel zur Müllersfrau
Mathurine im Fieber
Ein vergifteter Hund
Gustave kommt ins Haus und Nicolas zu Besuch
Attentat einer Hofdame
Abschied von Nicolas
Vorbereitungen für ein Frühlingsfest
Prinz Zipfelchen vom Kissen
Eine Flugschrift vom Casiergeneral
Die Niederkunft
Im Schmerz wird die neue Zeit geboren
Ein Kind für den Himmel
Gefährliches Spiel
Intrigen und eine Aufstand
Das tote Kind braucht ein Grab
In der Kaschemme
Geheimgang in den Louvre
Dem König hinterher
Der Rabe am Fenster
Sei selbst der Wolf!
Wiedersehen mit Nicolas
Ein Halsband und zwei Würste
Ein Mordkomplott wird geschmiedet
Die Todesintrige
Ein Brief aus Paris
Agnes, dem Tod geweiht
Ein Mörder in der Kutte
Vom Totengräber und einer Flasche Julep
2. Buch
Vom Frieren und vom Hungern
Gewettet um zwei Fuder Heu
Das Brückenfest
Wettstreit der Kutscher
Vom Fest am Abend und den Wirrungen der Liebe
Die erste Hofklatschzeitung
Die törichte Liebe des Königs
Eine Jagdgesellschaft und ein Mordanschlag
Irrungen des Schicksals
Die Entführung - alles auf eine Karte gesetzt
Der neueste Hofklatsch gefällig?
Nachtrag der Autorin
Verzeichnis der verwendeten Zitate
Literaturnachweis
Wer alles zu tun begehrt,
was ihn gelüstet,
muss entweder als König
oder als Narr geboren sein.
(Sprichwort)
Paris im Jahre 1607
Dunkelgrau wölbte sich der Himmel über die Stadt, ein Stück flussaufwärts jedoch schien er zu brennen. In grellem Rot, von Gelb durchzogen, glühte er wie Feuer. Ein Schwarm Krähen durchkreuzte das Bild, das Krächzen der Vögel vermischte sich mit den Geräuschen des Flusses, der sich nachtschwarz unter den Pfeilern des Pont Neuf hindurchzwängte.
Mathurine besah sich das schaurig schöne Schauspiel am Himmel und presste dabei die bedruckten Blätter, die sie im Arm hielt, an ihre Brust. Nach einer Weile beugte sie sich über das steinerne Brückengeländer und blickte hinunter ins Wasser. Erst als eine Kutsche hinter ihr vorbeifuhr, richtete sie sich wieder auf, wandte sich um und fing an, ihr Druckwerk zu verkaufen.
„Der neueste Hofklatsch! Greift zu, Leute, kostet nur sechs Deniers und den Furz einer Fliege! Der neueste Hofklatsch - na, was ist Marie, willste oder willste nicht?“
Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand kam auf Mathurine zu und hielt ihr einen Sol hin. Die Närrin zog ein Blatt aus dem Packen, reichte es der Frau, nahm das Geld entgegen und gab ihr sechs Deniers heraus. Dann riss sie den rechten Arm hoch, als würde sie eine Fahne schwingen und brüllte wieder los: „Der neueste Hofklatsch! Greift zu, Leute, kostet nur sechs Deniers! Der neueste Hofklatsch - na, was ist Marie, willste oder willste nicht?“
Das Mädchen hatte sich hinter der Mutter versteckt und hielt sich an ihrem Rockzipfel fest. Mit nur einem Auge lugte es hervor, starrte die große, derbe Frau an, die in ihrem seltsamen Kostüm mitten auf der Brücke stand und so laut herumschrie.
„Wer ist sie, Mama?“, fragte es. „Sie sieht so komisch aus.“
Mathurine hatte es gehört. Sie griff nach ihrer Marotte1, die an einer Kordel am Gürtel hing, und ließ die Schellen klingeln. „Was, du kennst mich nicht? Ich bin's doch, die Närrin des Königs!“
Die Kleine schob den Daumen in den Mund. „Eine Närrin? Was ist eine Närrin?“
„Eine Närrin ist ein Kind, obwohl sie erwachsen ist, sagt die Wahrheit, obwohl sie lügt, lügt, obwohl sie die Wahrheit sagt und will niemandem gefallen, auch wenn sie den ganzen Tag nichts anderes tut, als herumzutanzen und Unfug zu treiben.“
„Bringst du die Leute zum Lachen?“
Mathurine zuckte die Schultern. „Die einen lachen, die anderen weinen oder werden wütend und wünschen mir die Pest an den Hals.“
„Die Pest?“
„Die Pest und noch viel mehr!“ Die Närrin klatschte in die Hände und hielt plötzlich eine Münze zwischen den Fingern. „Was siehst du hier?“
„Es ist ...“, das Kind sah fragend die Mutter an, dann wieder zu Mathurine, „ ... es ist eine Münze, das sieht doch jeder.“
„Bist du sicher? Siehst du wirklich eine Münze?“
Das Kind nickte und traute sich endlich hinter dem Rockzipfel der Mutter hervor.
Da riss Mathurine plötzlich die Hand hoch und rief. „Wo? Wo siehst du hier eine Münze? Ich seh keine.“
„Aber da war eine Münze“, sagte das Kind. „Du hast sie vielleicht in der anderen Hand.“
Mathurine streckte der Kleinen beide Hände entgegen. „Unsinn, hier ist keine Münze. Dafür ein Frosch - oder nein, warte, es ist ein grünes Tuch!“ Sie winkte damit. Dann lachte sie. „Siehst du, jetzt hast du Tränen in den Augen und schaust mich an, wie ein Fass saurer Gurken, bloß weil du glaubtest, eine Münze gesehen zu haben, obwohl gar keine Münze da war.“
„Sie lügt“, sagte das Kind zur Mutter, „sie hatte eine Münze zwischen den Fingern!“
Die Mutter zuckte die Schultern. „Vielleicht, aber vielleicht war es auch nur Illusion. Man kann ihr nichts glauben, sie ist eben eine Närrin.“
„Sie ist hässlich, und ich kann sie nicht leiden“, sagte das Kind. Es drehte sich um und wollte gehen, da klirrte etwas unter seinen Füßen. „Da ist sie ja, die Münze!“ Das Kind bückte sich und hob sie auf, starrte das Geldstück eine Weile an, hielt es dann der Närrin hin.
Mathurine lachte. „Das darfst du behalten. Du bekommst zwei Äpfel dafür oder einen Hefekringel. Aber glaube mir, viel mehr wert ist das, was du soeben gelernt hast.“
Das Kind sah zur Mutter. „Gelernt? Was habe ich denn gelernt?“
„Wirst schon sehen“, sagte die Mutter. „Hat was mit Lüge und Wahrheit zu tun, und dass man nicht alles glauben kann, selbst dann, wenn man meint, es mit eigenen Augen gesehen zu haben.“
„Darf ich die Münze wirklich behalten?“
„Ja“, sagte die Mutter, und Mathurine pries wieder ihre Zeitung an: „Der neueste Hofklatsch! Greift zu, Leute, kostet nur sechs Deniers und den Furz einer Fliege! Der neueste Hofklatsch - na, was ist Marie, willste oder willste nicht?“
„Will nicht“, flüsterte eine Stimme hinter ihr.
Mathurine blieb das Geschrei im Halse stecken. Sie kannte dieses Flüstern. Es war das Flüstern einer Alten, die dem Wahnsinn nahe war. Das Flüstern hinter den Gräbern, wenn sie über den Friedhof ging, um das fremde Kind zu besuchen. Das Flüstern in den Baumwipfeln, wenn der Wind über das Land strich und das Flüstern ihres Gewissens, so sie überhaupt noch eines hatte.
Langsam drehte sie sich um und starrte das alte, zahnlose Weib an, das, in ein schwarzes Tuch gehüllt, hinter ihr stand. Mehr als siebzig Jahre zählte Hélène inzwischen. Ihr Gesicht, einst schön wie der taufrische Morgen, war von tiefen Furchen durchzogen, unter dem linken Auge hatte sie eine wulstige Narbe. Ein deutscher Söldner hatte sie ihr zugefügt, als sie ihm nicht geben wollte, was er von ihr verlangt hatte - ihren schönen, jungen Körper. Schwer atmend hatte er auf ihr gelegen, hatte an ihren Apfelbrüsten geleckt und sich dann an ihrem Mund festsaugen wollen. Doch da hatte sie wie eine wütende Hündin nach seiner Nase geschnappt, und sie hätte sie ihm abgebissen, hätte er ihr nicht mit seinem Messer diese Wunde zugefügt.
Aber das war noch lange vor Mathurines Zeit, damals war die Närrin noch nicht einmal geboren.
„Will nicht“, wiederholte Hélène. „Das ist wohl der Weiber ärgste Qual, nicht zu wollen und doch zu müssen!“ Die Alte beugte sich dichter an Mathurines Ohr und flüsterte dringlich auf sie ein: „Es geht um Jaqueline. Was ich dir jetzt sage, weiß ich von meiner Enkelin, die im Hause du Vivière als Köchin arbeitet - das Kind soll mit Nicolas d'Amerval verheiratet werden! In drei Tagen wird auf Château du Vivière Verlobung gefeiert. Abends wird man den Ehevertrag unterzeichnet, und schon am nächsten Morgen soll der Pfaffe seinen Segen geben!“
„Du meinst ...“, Mathurine stockte der Atem, „ … meinst Jacqueline ... und Nicolas?“
„Ja - ja, du hast richtig gehört!“ Hélène griff nach Mathurines Ärmel und zerrte daran. „Na los, was stehst du hier noch herum! Meine Enkelin wartet in deinem Haus auf dich. Verlier keine Zeit! Nicolas und das Kind ... wir beide haben doch schon genug Schuld auf uns geladen!“
Mathurine rannte los. Im Laufen ließ sie die Zeitungen fallen. Ein Windstoß fuhr zwischen die Blätter und wirbelte sie auf, trieb einige davon über den Brückenrand, ließ sie eine Weile über dem Fluss kreisen, bis sie auf dem Wasser landeten und von den Fluten mit fortgerissen wurden.
Paris anno 1587
Mathurine ist vierundzwanzig Jahre alt und Närrin am Hofe Heinrich III., der, wie man heute vermutet, aufgrund einer vererbten Syphilis, geistig und körperlich zunehmend verfällt.
Mathurine beugte sich über den Spiegel und betrachtete den Ansatz ihrer Haare. Sie hatte sie ausgezupft, damit die Stirn höher wurde und die Nase weiter hervortrat. Mit einem Seufzen fuhr sie über die wunde Stelle, strich etwas Salbe auf die Haut und tupfte weißen Puder darüber.
„Andere Weiber tun alles, um schön zu sein, du tust alles, um auszusehen, dass einer sich fürchten muss“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Sie riss den Mund auf und zog Grimassen, „noch nicht hässlich genug!“, griff nach einem Stück Kohle, schminkte die Nase seitwärts dunkel, betonte mit weißem Puder den Nasenrücken und lehnte sich wieder zurück. „Schon besser. Der Mund noch!“ Sie malte ihn rot und etwas schief, zog die Mundwinkel breiter, warf den Kopf zurück und grinste sich an. „Gut so!“ Endlich war sie zufrieden.
Sie stand auf, ging zum Fenster, sah hinunter in den Hof des Louvre. Eine Kutsche war gerade vorgefahren und hatte neben dem Portal angehalten. Nun öffnete ein Diener den Wagenschlag und Anne de Joyeuse, einer der 2Mignons des Königs, sprang heraus. Auf dem linken Arm hielt er sein Hündchen. Es war ein Zwergspaniel, wegen seiner großen Ohren nannte er ihn Papillon.
Anne zog seinen Federgeschmückten Hut ab. Er fächelte sich Luft zu, sah sich um, setzte dann den Hut wieder auf und betrat das Schloss.
Mathurine griff nach ihrem Kostüm, das über einem Stuhl hing, hielt es eine Weile vor sich hoch und betrachtete es. Es war den Kleidern der Amazonen nachgebildet. Aus hellem Stoff genäht, war es über der Brust gerafft und wurde in der Taille mit einem Gürtel gebunden. In den Falten des Kleides befanden sich verschiedene kleine und größere Taschen, darin konnte sie Utensilien verbergen, die sie für ihre Zauberkunststücke brauchte.
Dieses Amazonenkostüm war ihr offizielles Narrenkostüm. Manchmal trat sie aber auch in einer Offiziersuniform auf, in der sie die hohen Kriegsherren imitierte. Ging sie zum König, um für ihn zu musizieren, zog sie ein buntes Flickenkleid an zu dem eine Kappe gehörte, die mit Schellen und Bändern verziert war.
Doch für das heutige Fest wählte sie das Amazonenkostüm. Sie schlüpfte hinein, band den Gürtel um, befestigte ihre Marotte und ein hölzernes Schwert daran und setzte ihren Kopfschmuck, ein helmartiges Gebilde, auf. Dann füllte sie die verborgenen Taschen ihres Kostüms mit Silbermünzen, bunten Tüchern und Süßigkeiten, nahm ihren Schild und trat auf den Flur.
Während sie in den Hohen Saal ging, pfiff sie ein Lied. Sie konnte pfeifen wie ein Mann und singen wie eine Göttin. Ihre Stimme war dunkel, aber klar, und sie traf jeden Ton ohne Mühe. Sie spielte die Altblockflöte, die Einhandflöte mit Trommel, die Gitarre - der König hatte sie ihr aus Spanien mitbringen lassen - und die Violine. Auch tanzen, Räder schlagen und jonglieren konnte sie, war geschickt beim Zaubern, verfügte über ein großes Repertoire an heiteren Versen und klugen Sprüchen, spielte allein einen Schwank, in dem drei oder vier Personen auftraten, und imitierte die Stimmen der wichtigsten Leute bei Hofe.
Das Fest, zu dem sie nun ging, fand im Hohen Saal, dem Karyatidensaal, statt. Gestern war der König aus dem Kloster zurückgekehrt, wo er sich nach Herzenslust gegeißelt hatte, heute wollte er das Leben wieder in vollen Zügen genießen.
„Lustvolle Tat statt Zölibat - Zölibat ist fad - fad, fad, fad ...“, murmelte Mathurine vor sich hin. Sie suchte nach einem Reim, mit dem sie den König auf die Schippe nehmen konnte. „Zölibat, obstinat, Spinat, privat ...“
Sie bog um die Ecke, sah dort Anne de Joyeuse auf der Treppe sitzen. Sein Hut lag neben ihm, Papillon saß auf seinem Schoß.
Als Anne Schritte hinter sich hörte, blickte er sich um. Auf seinem geschminkten Gesicht waren Tränenspuren zu erkennen.
„Du weinst?“, fragte Mathurine und setzte sich zu ihm. Wie alle Hofnarren duzte sie jeden, es sei denn, sie machte sich über ihn lustig, dann wurde er gesiezt. Sogar der König musste sich das Du von ihr gefallen lassen.
Anne nickte und tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen von den Wangen.
„So sehr ich mich auch um einen Blick, ein liebes Wort bemühte, Heinrich hat mich nicht ein einziges Mal angesehen! Das habe ich nicht verdient, immer war ich ihm treu!“
„Mon Dieu, verdient!“ Mathurine schlug Blicke zur Decke. „Statt zu klagen, dass du nicht alles hast, was du willst, solltest du lieber dankbar sein, dass du nicht alles bekommst, was du verdienst. Außerdem, was gäbe es an dir auch schon zu sehen, das der König noch nicht kennt?“
„Du mit deinem Schandmaul! Du weißt ja nicht, was Liebe ist, dein Herz ist ein finsteres Loch.“ Anne sah Mathurine mit Leidensmiene an, dann presste er Papillon an sich und küsste ihn. „Heinrich hatte nur Augen für diesen Nicolas!“
„Nicolas?“
„Nicolas d'Amerval de Picardie. Sein Vater brachte ihn vor zwei Tagen her, damit er dem König als Hofkavalier dient. Neunzehn Jahre ist er jung! Mon Dieu, süße neunzehn! Und ich bin siebenundzwanzig, fast schon ein alter Mann! Das ist so ungerecht ...“ Anne warf beide Arme hoch, Papillon erschrak, sprang von seinem Schoß und fing an zu kläffen.
„Komm her - na komm schon!“ Der Hund ließ sich fassen und wieder auf den Schoß ziehen.
Mathurine zuckte die Schultern. „Was heulst du da? Es ist eben so - wir leben, und wir sterben, und dazwischen passiert eine Menge Mist!“ Sie stieß Anne in die Seite. „Na komm, lass dich nicht so hängen! Sehen wir uns diesen Nicolas d'Amerval de Picardie einmal an!“
Anne winkte ab. „Ich habe genug von ihm gesehen! Er ist eine Zumutung! Augen hat er, so blau wie der Himmel bei Sonnenschein, Hände, zart wie die einer Elfe, und einen Hintern wie eine reife Pflaume.“ Anne seufzte. „Warum lässt Gott es nur zu, dass wir altern! Wir sollten fünfzig Jahre lang jung bleiben und dann sterben wie die Fliegen. Weg, Adieu für immer.“
„Lass Gott aus dem Spiel“, sagte Mathurine, sprang auf und betrat den Hohen Saal.
Das Fest war bereits im Gange. Kein großes Fest, nur ein Zeitvertreib im kleinen Kreise.
Um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, sich seiner Angst und seinen Depressionen nicht stellen zu müssen, hatte sich der König schon am frühen Morgen mit seinen Zwergen bei den Vogelvolièren eingeschlossen und Bilboquet gespielt. Am Nachmittag hatte er sich mit Schlosserarbeiten abgelenkt - er liebte dieses Handwerk als Zeitvertreib - und nun mussten der Tanz, seine Günstlinge und seine Narren herhalten, um ihm das Leben erträglich zu machen.
Mathurine versteckte sich hinter einer der Säulen und beobachtete das Geschehen. Rechts von ihr saßen die Musiker auf einem Balkon, der von vier Karyatiden getragen wurde, und spielten eine Bourrée. Auf der anderen Seite des Saales, dort, wo an Gerichtstagen der Sessel des höchsten Richters stand, war die Tafel angerichtet. Die Königin, der König, Claude Saint-Sauveur - er war ein Bruder Annes und zählte ebenfalls zu den Günstlingen des Königs - einige der Hofdamen und Hofkavaliere und ein Gesandter aus England speisten bereits.
Auch Chicot, Hofnarr wie Mathurine, war anwesend und zauberte aus dem Ärmel einer Hofdame ein Collier, das er zuvor der Königin entwendet hatte. Ein Raunen ging durch den Saal, als er das wertvolle Geschmeide hochhielt, und als er dann auf die Hofdame zeigte und kreischte: „Diebin, sie ist eine Diebin! Nun muss sie zur Strafe drei Nächte lang ihr Bett mit dem König teilen!“, lachten alle.
Zwischen den Gästen liefen Getränketräger, Speisenträger, Tischjunker und der Mundschenk des Königs hin und her, schenkten Wein ein, trugen leere Schüsseln weg und tischten neue Speisen auf.
Und dann entdeckte Mathurine diesen Nicolas d'Amerval de Picardie - er musste es sein, denn er war der Einzige unter den Anwesenden, den sie nicht kannte. Er stand links neben der Tafel und sprach mit einer der Hofdamen. Anne hatte nicht übertrieben. Der Junge war tatsächlich eine Augenweide. Schön wie ein Mädchen, und offensichtlich ebenso schüchtern, denn als nun auch die Königin ein Wort an ihn richtete, wurde er rot vor Verlegenheit.
D'Amerval de Picardie - Mathurine kannte den Namen. Sein Vater war Marquis Victor d'Amerval de Picardie. Landadel, nicht eben einflussreich, königstreu und bescheiden.
Schon seine beiden Töchter, inzwischen zufrieden stellend verheiratet, hatte er als Hofdamen nach Paris geschickt. Jetzt war den Schwestern also der Bruder gefolgt.
Am Hof eines Königs, der mit Vorliebe Männer in sein Bett holte, war es für einen so hübschen Jungen nicht ungefährlich - es sei denn, er war listig und durchtrieben und bevorzugte seinerseits das eigene Geschlecht. Dann hätte er eine Chance, den höfischen Intrigen Parole zu bieten und es weit zu bringen. Aber dieser Nicolas schien ihr vollkommen naiv und unerfahren, vermutlich auch was die Liebe betraf. Er war das ideale Freiwild für eine 'Jagdgesellschaft' wie diese, und offensichtlich, hatte die Hatz bereits begonnen.
Die Damen der Königin umgarnten ihn nach allen Regeln der Kunst. Sie flüsterten, kicherten, setzten sich in Pose, und Ève de Marbeaux, eine der Hofdamen, warf ihm ganz unverfroren kecke Blicke zu. Obwohl sie verheiratet war - ihr Gatte befand sich zurzeit im Auftrag des Königs in Spanien - würde sie Nicolas, ohne mit der Wimper zu zucken ihren Sattel auflegen, um ihn zuzureiten.
Der König, dessen Rücken vermutlich noch von den Riemen der Geißeln wund war, die er sich selbst übergezogen hatte, stand ihr in nichts nach. Auch er verschlang den Jungen mit lüsternen Blicken und würde ihn sich wohl gerne 'zum Untertan' machen.
Mathurine hatte genug gesehen. Sie trat hervor und stellte sich neben Nicolas. „Ja, was haben wir denn da für ein hübsches Bürschchen?“, sagte sie. „Allerdings ist er so steif wie der Schwanz eines Pfaffen, wenn der König ihm seine Sünden beichtet.“
Lachbeifall blieb nicht aus. Nur Ève de Marbeaux, eine erklärte Feindin Mathurines, sah sie mit hasserfülltem Blick an. Mathurine verbeugte sich mit Kratzfuß vor ihr, dann wandte sie sich an den König: „Nun, wie ich sehe, amüsiert man sich bestens, man braucht meine Späße heute nicht, ich kann wieder gehen.“
„Willst du denn nicht wenigstens eine Kleinigkeit essen, Mathurine?“, fragte der König. „Du kriegst doch sonst den Hals nicht voll.“
„Also gut, eine Kleinigkeit.“ Sie setzte sich neben ihn, nahm sich den Käse, der auf seinem Teller lag, und rief dann nach einem der Speisenträger. „Bringe er mir einen halben Schwan, gut durchgebraten, aber nicht zäh!“
„Einen ganzen halben Schwan?“ Der Mann riss die Augen auf.
„Meinetwegen können es auch zwei halbe sein.“
Heinrich lachte. „Nun, bringe er ihr ein Achtel von einem halben, das muss genügen.“
Verwirrt entfernte sich der Diener.
„Ist ein Achtel denn nicht mehr als nur eine Hälfte?“, fragte Ève de Marbeaux in spitzem Tonfall. Immerhin konnte sie bis zehn zählen und wusste, dass acht mehr waren als nur ein Halbes.
„Keineswegs“, antwortete Mathurine. Sie verbeugte sich übertrieben höflich vor der Hofdame, dann deutete sie auf Nicolas. „Wollte man diesen hübschen Jungen achteln, müsste man ihm die vier Gliedmaßen und den Kopf abtrennen, sodann denn Torso in der Taille halbieren und die Brust noch einmal teilen. Ich allerdings hätte auf jeden Fall lieber den ganzen Kerl.“
Diesmal lachte sogar Nicolas, und Mathurine zwinkerte ihm zu.
Noch größer wurde das Gelächter, als wie aufs Stichwort der Speisenträger einen halben Schwan brachte und vor Mathurine auf den Tisch stellte, dazu ein Tranchiermesser aus der Küche legte und sagte: „Mir ist das närrische Rechnen zu schwer, teile sie sich den Vogel selbst in Stücke, so wie sie es haben will.“
Mathurine grinste den Mann an. „Ein Messer brauche ich dazu nicht!“ sie riss den Schenkel ab und biss genüsslich hinein.
Das Orchester hatte nach der Bourrée eine Allemande gespielt, nun stimmte es eine Volta an.
Plötzlich waren die edlen Damen in Aufruhr. Wie aus einem Munde fragten drei von ihnen den jungen Nicolas: „Tanzt Ihr eine Volta mit mir?“
„Eine Volta?“ Verlegen sah er von einer zur anderen. „Ich kann einiges tanzen, aber eine Volta hat mir niemand beigebracht!“
Da lachte Mathurine. „Siehst du, mein schöner Marquis, was du anstellst mit unseren Damen! Du machst einen wahren Bienenschwarm aus ihnen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als sich über deinen Stempel zu beugen und von deinem Nektar zu kosten!“ Sie sah die Damen eine nach der anderen an. „Habe ich recht, Mesdames?“
Sie schickten ihr giftige Blicke und taten empört.
„Nein? Ihr wollt ihn nicht vernaschen?“ Mathurine wandte sich wieder an Nicolas. „Dann, so scheint es, bleibe nur ich für dich übrig, junger Herr - denn ich will schon!“
Er sah sie an wie ein Rehkitz, das unvermutet vor einem Keiler stand, und das Gelächter der Anwesenden brach wie ein Donner los.
Da mischte sich der König ein. „Vielleicht bevorzugt er ja einen Mann? Ich wäre nicht abgeneigt, ihm die Ehre zu erweisen.“
Hatte es gesagt, und im selben Moment hatte das Orchester die Volta zu Ende gespielt. Der letzte Akkord trug die Worte des Königs wie auf Schwingen durch den Raum. Kein Atmen war mehr zu hören, alle starrten den Jungen Marquis an und warteten gespannt auf seine Antwort.
Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Lippen öffneten und schlossen sich mehrmals, bevor er stammelte: „Oh, Sire, das ist sehr freundlich von Euch, aber ich bevorzuge Frauen!“
Eine Weile herrschte betretene Stille. Dem König so eine Abfuhr zu erteilen, war höchst undiplomatisch, um nicht zu sagen unverschämt. Aber er lachte, und als er lachte, fielen auch die anderen ein. Doch plötzlich verzog er das Gesicht zu einer starren Maske und hob die Hand, um seine Gäste zum Schweigen zu bringen. „Nun gut, wenn das so ist, sollt Ihr eine Frau haben, Marquis! Die Einzige, die Euch will, wie wir soeben erfahren konnten. Seit sicher, Mathurine wird Euch ein himmlisches Lied geigen und es im Übrigen mit den Spinnenweibchen halten Sie klemmt Euch zuerst zwischen ihre Schenkel, die dick wie Saustallpfosten sind, dann frisst sie Euch auf!“ Er gab dem Hofnarren Chicot und Annes Bruder Claude ein Zeichen. „Sperrt die beiden in eine der Kammern im Keller, aber vergesst nicht den Schlüssel umzudrehen, denn sonst flieht unsere liebe Mathurine am Ende noch.“
Die Gäste brüllten vor Lachen, und am lautesten lachte Mathurine selbst. Doch plötzlich verstummte sie, griff nach einer Schale mit Früchten, sprang damit auf einen Stuhl, hielt die Schale wie einen Pokal hoch und rief: „So ziehe ich denn in den ältesten Krieg der Welt! Ich, ein armes, schwaches Weib, bereit, mich dem feindlichen Feldherren zu unterwerfen! Doch ich gebe zu bedenken, nicht diejenigen beweisen höchstes Geschick, die jede Schlacht gewinnen - wirklich stark ist, wer die Armee des Gegners hilflos macht, ohne es zu einem Kampf kommen zu lassen!“ Sie schwang ihre Marotte, sprang wieder vom Stuhl und drückte Nicolas, der dabei ein Gesicht machte als ginge es auf den Richtplatz, einen Kuss auf den Mund.
Unter lautem Hallo wurden die beiden aus dem Saal geführt. An der Tür versuchte Nicolas sich den Händen Chicots zu entziehen, die ihn schoben und zogen, aber der Hofnarr packte nur umso härter zu und drängte ihn weiter. Schließlich ergab sich Nicolas, im Vertrauen darauf, dass alles nur ein übler Scherz sein würde. Seine Schwestern hatten ihn ja gewarnt: „Man wird derbe Späße mit dir treiben, sich auf deine Kosten amüsieren. Das ist so üblich bei Hofe. Nimm es hin, mach gute Miene zum bösen Spiel. Und wenn es Andere trifft, wirst auch du schon bald mitlachen.“
Doch seine Hoffnung, man ließe ihn gehen, sobald sie den Saal verlassen hatten, wurde zunichte gemacht, als Chicot und Claude ihn und Mathurine über eine verborgene Treppe nach unten führten, durch einen düsteren Korridor und schließlich in einen kleinen Raum schoben, die Tür hinter ihnen zuwarfen und den Schlüssel zweimal umdrehten. Einen Moment konnte er noch ihr Lachen hören, dann war es schneidend still.
Mathurine sah sich um. Die Kammer war nicht groß. Fünf Schritte breit, doppelt so lang. An den Wänden standen hohe Schränke. Auf der kurzen Seite, gegenüber der Tür, befand sich knapp unter der Zimmerdecke eine kleine vergitterte Luke, darunter ein Tisch mit einem Stuhl. Das war alles.
Seufzend stellte sie die Obstschale auf den Tisch. Ein Blick in die Schränke zeigte ihr, dass es sich um eine der Wäschekammern handelte, ein Blick aus der Luke - sie musste auf den Tisch steigen, um hinaussehen zu können - dass sie sich im Keller des südlichen Flügels befanden.
Die Luke war von innen hoch gelegen, von außen befand sie sich jedoch nur ein paar Handbreit über dem Boden. Viel war nicht zu erkennen. Aufgerissene Erde, ein Haufen mit Brennholz, dahinter die Mauer zur Seine hin, und rechts ein Ausschnitt der Galerie, die Katharina di Medici hatte anbauen lassen, um trockenen Fußes und unbeobachtet zu ihrem neuen Schloss kommen zu können, sobald es einmal fertig sein würde.
Mathurine seufzte. An ein Entkommen aus diesem Gefängnis war nicht zu denken, auch würde sie hier wohl niemand rufen hören. „Nun, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als Geduld zu üben“, überlegte sie laut. „Sie werden uns wohl ein wenig zappeln lassen.“ Sie stieg vom Tisch und drehte sich zu Nicolas um. Als sie in sein schreckensbleiches Gesicht sah, musste sie lachen. „Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?“
Nicolas blickte zu Boden, wie ein kleiner Junge, den die Mutter schalt. Die Närrin mit ihrem riesigen rotgeschminkten Mund, der großen Nase und Schenkeln, von denen der König behauptet hatte, sie seien so dick wie Saustallpfosten, machte ihm tatsächlich Angst.
Mathurine verkniff sich das Grinsen. „Hm“, sagte sie, „also doch!“
Plötzlich packte sie den jungen Marquis am Wams, zog ihn zu sich und sah ihn bohrend an. „Merke dir eins - willst du die Welt verstehn, muss du ihr klar ins Auge sehn! Also, blicke nicht zu Boden. Und was mich betrifft, ich mag ein großes Maul haben, aber ich fresse keinen. Drei Dinge hasse ich: Dummheit, Falschheit und Wankelmut - also bemühe ich mich auch selbst, weder dumm noch falsch, noch wankelmütig zu sein. Und ich bin keine, die einem Kerl zwischen die Beine greift, wenn er es nicht will!“ Sie lachte. „Es sei denn im Spaß, und dann packe ich schon mal richtig zu!“
Mathurine ließ Nicolas wieder los, zog ihren Helm ab, legte ihn neben die Schale auf den Tisch, löste dann ihr Haar, das sie mit drei Nadel aufgesteckt hatte, und kämmte es mit zehn gespreizten Fingern einmal durch.
Nicolas sah sie von der Seite an. Er hatte geglaubt, ihr Schädel sei unter dem Helm kahl. Nun, wo ihr die Locken auf die Schultern fielen, wirkte ihr Äußeres viel gefälliger und freundlicher.
„Also machen wir es uns ein wenig bequem“, sagte sie, legte auch ihren Gürtel mit dem Schwert und der Marotte ab und fing an, die Schränke zu durchsuchen. In einem fand sie einen Samtvorhang, der ausgebreitet die ganze Kammer bedeckte. Sie faltete ihn dreimal, legte ihn auf den Boden, dann setzte sie sich darauf und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schrank. „Na komm schon her, mein Schöner!“ Sie klopfte mit der Hand neben sich. „Erzähl' mir etwas von dir.“
Nicolas setzte sich, zog die Beine an und schwieg.
„Also, was ist nun - rede! Oder hat man dir die Lippen versiegelt?“
„Was kann einer wie ich dir schon groß erzählen“, antwortete er unwirsch.
„Egal. Erzähl von zu Hause. Irgendwie müssen wir uns die Zeit doch vertreiben.“
Nicolas öffnete und schloss den Mund, räusperte sich, erzählte dann stockend: „Château Picardie, das Schloss meines Vaters, liegt knapp zwei Tagesritte nördlich von Paris.“
„Und?“
„Reich sind wir nicht und auch nicht bedeutend, dafür ist mein Vater ein fleißiger Mann, und meine Mutter war eine ehrbare Frau. Mein Hauslehrer hat mich in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet, von meinen Schwestern habe ich das Tanzen erlernt. Das Reiten und das Jagen hat mir mein Vater beigebracht, und das Musizieren auf dem Fagott und dem Spinett meine Mutter.“
Mathurine hatte die Augen geschlossen und gelauscht. Als Nicolas wieder schwieg, stieß sie ihn in die Seite. „Na komm schon, lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“
„Als Kind durfte ich mit meinem Vater, wenn er Pferde oder Vieh kaufen wollte, ab und zu auf den Markt nach Creil, und zweimal war ich mit ihm auch in Amiens. Ansonsten habe ich nichts Aufregendes erlebt. Männer, die sich schminken, die ihre Hunde küssen und anderen Männern eindeutige Angebote machen, gibt es bei uns nicht.“ Nicolas zögerte einen Moment. „Und Frauen wie dich ...“, er brach ab und starrte verlegen auf seine Hände.
„ ... Frauen, wie mich, die sich geben wie ein Mann, auch nicht“, führte Mathurine den angefangenen Satz zu Ende. Sie lachte leise und fügte an: „Eine Frau wie mich findest du auch in Paris kein zweites Mal! Und weißt du was, es ist gut so! Denn gäbe es mich an jeder Straßenecke, hätte mich unser König nicht zu seiner Närrin gemacht. Ich könnte nicht hier bei Hofe leben, mich nicht an den besten Leckereien sattessen, nicht den edelsten Wein trinken, hätte im Winter kein Holz im Kamin und könnte im Sommer nicht an die Loire reisen. Ich wäre Kantinenwirtin bei der Armee, wie ich es bis vor drei Jahren noch war, müsste mich mit ranziger Kohlsuppe begnügen, mich plagen bis zum Umfallen und mir die besoffenen Kerle vom Leibe halten. Aber hier ...“, sie deutete um sich, „hier lebe ich wie eine Fürstin, darf den König duzen, kann mich ungestraft über die Dummheit der Leute amüsieren und werde auch noch reichlich entlohnt dafür.“ Sie sah Nicolas an, und um ihren rotgeschminkten Mund spielte ein Lächeln, als sie ihn fragte: „Wärest du an meiner Stelle nicht auch lieber 3'Fou en titre', eine Amtsperson, unkündbar und dem König gleichgestellt, wenn auch nur symbolisch?“
Nicolas zuckte die Schultern. „Natürlich - aber ich wäre wohl kaum in der Lage, die Leute zu foppen, so wie du.“
„Nein, das wärst du sicher nicht.“
Nicolas glaubte ein Kratzen an der Tür zu vernehmen. Er hob den Kopf und lauschte, aber nichts geschah. „Wie lang werden sie uns wohl eingesperrt lassen?“, fragte er mit einem Seufzen.
„Bis ihre verdorbene Fantasie befriedigt ist. Ein wenig wirst du dich also noch gedulden müssen.“
Mathurine stand auf, holte die Schale mit den Früchten und setzte sich wieder. „Nimm etwas davon, das löscht den Durst und vertreibt die Zeit.“
Er griff nach einer Orange, wog sie nachdenklich in der Hand, sah Mathurine plötzlich an. „Hast du die Schale mit dem Obst absichtlich mitgenommen, weil du schon wusstest, dass wir hier länger ausharren müssen?“
Mathurine lachte. „Halte dich immer für dümmer als die anderen - sei es aber nicht! So kommst du am besten durchs Leben.“
„Und warum hast du dich dann mit mir hier einsperren lassen? War das etwa nicht dumm? Zu zweit hätten wir sie doch überwältigen können!“
„Sie überwältigen! Himmel!“ Sie schüttelte in gespieltem Entsetzen den Kopf. Doch dann wurde sie plötzlich sehr ernst. „Es gibt ein paar Spielregeln, die du dir hinter deine hübschen Ohren schreiben solltest. Wenn du diese Regeln beachtest, lässt es sich gut leben bei Hofe, wenn nicht, wirst du den Raubtieren zum Fraß vorgeworfen. Erstens widersprich dem König nicht. Zweitens, sei klüger als die Anderen und denke weiter als sie. Und drittens, Gefühle behält man besser für sich, denn sie machen einen verletzlich, und Schwächen werden hier gnadenlos ausgenutzt! Ich meine mit Gefühlen nicht nur das, was man vielleicht für einen anderen Menschen empfindet, ich meine auch Angst, Hass, Wut oder Verletzlichkeiten. Nimm Ève de Marbeaux, diese selbstgefällige Intrigantin, die von sich glaubt, sie sei so schön und unwiderstehlich wie keine, und die doch nur Hofdame der Königin werden konnte, weil ihr Schwager mit dem König ins Bett ging. Sie hasst mich, weil ich sie durchschaut habe. Mich zu hassen, ist ihr gutes Recht, aber mir ihren Hass zu zeigen, ist mehr als dumm, denn so provoziert sie mich und wird zur Zielscheibe meines Spottes.“
„Du könntest sie schonen“, sagte Nicolas.
„Ach Gott!“ Mathurine lachte auf. „Sie schonen, das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin der Spiegel, in den sie blicken. Ich bin das Echo ihrer Worte, das Gewissen, das sie nicht haben. Ich bin das wilde Tier, das sie in sich verdrängen, das hässliche Gesicht, das unter ihren schönen Masken zum Vorschein kommt. Das ist meine Aufgabe!“
Inzwischen war es fast dunkel. Eine Kerze gab es nicht in der Wäschekammer, und kalt war es auch.
„Wir brauchen etwas, womit wir uns zudecken können“, sagte Mathurine.
Sie nahm zwei der Tafelkleider aus den Schränken, legte sie aufeinander und faltete sie zur Größe einer Decke zusammen. Dann setzte sie sich wieder, rückte näher an Nikolas und deckte ihn und sich zu.
So kauerten sie in der Dunkelheit auf dem Boden, schwiegen und lauschten auf ihren Atem. Das Gezwitscher der Vögel vor dem Fenster, das Rattern der Wagen, die auf den Gassen zwischen dem Louvre und St-Germain-de-Loclearas fuhren, das Geschrei der Männer, die auf ihren Kähnen die Seine überquerten, war längst verstummt.
Nach einiger Zeit schlief Nicolas ein. Sein Kopf sank an Mathurines Schulter. Seufzend legte sie ihren Arm um ihn. „Dein Vater hätte dich nicht herschicken dürfen“, flüsterte sie, „du bist nicht stark genug für diesen dekadenten Sündenpfuhl.“
Katharina hatte gar nicht erst einen Diener geschickt, sie war gleich selbst erschienen. Noch in Reisekleidern, die wollene Haube tief in die Stirn gezogen, trat die Königinmutter vor Heinrich, der noch immer mit seinen Gästen tafelte.
„Nun, wie ich sehe, amüsiert Ihr Euch, mein Sohn“, begrüßte sie ihn mit leisem Vorwurf. Seine Feste und Eskapaden, seine Ängste und Depressionen, brachten ihm nicht nur beim Volk Hohn und Verachtung ein, auch der Adel wandte sich mehr und mehr von ihm ab. „Doch leider muss ich Euch stören und um eine Unterredung bitten. Sofort, denn ich habe schlechte Nachrichten.“ Ihr Blick glitt über die Anwesenden und blieb kurz am Gesandten der Königin von England hängen, dann wandte sie sich wieder ihrem Sohn zu. „Es scheint mir am besten, Ihr entlasst Eure Gäste für heute.“
Heinrich gehorchte sofort. Nicht nur, weil er Respekt vor seiner Mutter hatte, auch weil er sich denken konnte, welcher Art die schlechten Nachrichten waren. Und wenn er mit seiner Vorahnung richtig lag, würde dieser verdammte Krieg, den er gegen Heinrich von Navarra führte, schon bald wieder auflodern.
„Nun denn, ihr habt es ja gehört - geht, geht!“ Er winkte ungeduldig mit den Händen.
Sofort sprangen alle auf und zogen sich mit Knicksen und Verbeugungen zurück.
Auch er selbst und seine Mutter verließen den Saal. Auf dem Weg zu ihren Räumen, sprach Katharina kein Wort, auch dort angekommen, zog sie sich zuerst einmal die Haube vom Kopf, um dann im Spiegel lange und schweigend ihr Gesicht zu betrachten. Sie war achtundsechzig Jahre alt, das dunkelblonde Haar war schüttern geworden, die Haut fahl und ebenso glanzlos, wie ihre hervorstehenden Augen. Und sie war müde, unendlich müde, von den ewigen Sorgen um Frankreich und ihre missratenen Kinder.
Als hätte sie in diesem Moment des Schweigens all ihre Kraft für einen Vorstoß gesammelt, drehte sie sich plötzlich um und sah ihren Sohn an. „Auch diesmal hat er sich geweigert! Heinrich von Navarra ist ein Starrkopf! Kein Zugeständnis, keine noch so großzügige Pension kann ihn locken, Frieden zu schließen, wieder an den Hof zurückzukehren und endlich zum rechten Glauben überzutreten. Frankreich braucht einen Thronfolger, unser Schiff kann nicht länger ohne zweiten Kapitän segeln!“ Sie warf beide Hände in die Luft. „Aber als ich ihm sagte, die Krone sei in Gefahr, und darum wäret Ihr bereit, ihn der Liga4 zum Trotz als seinen Nachfolger anzuerkennen, wenn er nur endlich wieder zur Messe ginge, hat er mich ausgelacht!“
Katharina setzte sich und verbarg das Gesicht in den Händen. Nach einer Weile sah sie auf. „So bleibt also wieder nur der Krieg“, sagte sie, „und Ihr müsst, statt den Vetter auf den rechten Weg zurückzuführen, ein weiteres Mal gegen ihn und seine Hugenotten antreten.“
Als Heinrich nichts sagte, sie immer nur blicklos anstarrte, schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. „Noch dazu wetzen bereits die Guisen ihre Messer, um Euch in den Rücken zu fallen“, rief sie, „und das Volk habt Ihr auch gegen Euch!“
Lange sah sie ihn an. Vorwurf lag in diesem Blick, auch Mitleid und Trauer. Dann stand sie auf und wandte ihm den Rücken zu. „Jetzt geht, mein Sohn. Es ist spät, ich bin müde von der Reise und den fruchtlosen Verhandlungen und möchte mich hinlegen.“
Als Mathurine die Augen aufschlug, saß Nicolas neben ihr und betrachtete sie. Durch die Luke fiel das sanfte Morgenlicht und zeichnete ein Raster auf den Steinboden der Wäschekammer - ein verzerrtes Quadrat in vier verzerrte Quadrate geteilt.
Mathurine setzte sich auf und lehnte sich an den Schrank. „Was siehst du mich so an?“
„Als ich wach wurde, lag mein Kopf auf deinem Schoß“, sagte Nicolas.
„Und darum musst du so gaffen?“
„Außerdem hast du im Schlaf gelächelt und sehr glücklich ausgesehen, bestimmt hast du von etwas Schönem geträumt.“
„Meine Träume gehen nur mich etwas an!“, antwortete sie barsch, stand auf und reckte sich. „Nicht gerade bequem, auf dem Boden zu schlafen.“ Sie drehte sich zu Nicolas um und seufzte. „Ich glaube, sie haben uns vergessen.“
„Meinst du?“
Mathurine zuckte die Schultern. „Ich hatte mit ein paar Stunden gerechnet, nicht mit einer ganzen Nacht.“
„Aber wenn sie uns vergessen haben, dann ...“ Nicolas brach ab. Plötzlich lief er zur Tür, pochte mit beiden Fäusten dagegen und schrie: „Macht auf, lasst uns raus!“
„Es wird nichts nützen“, sagte Mathurine, „die Türen und Wände sind dick. Vielleicht haben wir Glück, und heute Abend wird frische Tischwäsche gebraucht. Aber selbst dann kann es sein, dass die Bediensteten sich in einer andern Wäschekammer versorgen. Es gibt vier oder fünf, soweit ich weiß.“
Nicolas sah sie entsetzt an. „Am Ende werden wir hier noch verhungern!“
Mathurine lachte. „So schnell geht das nicht. Außerdem haben wir Obst, und zudem ...“, sie griff in die Luft, schnalzte mit den Fingern und hielt plötzlich ein Bonbon in der Hand, das in hellgelbes Papier gewickelt war, „... zudem kann ich zaubern, oder hast du das etwa vergessen?“
„Dann zaubere uns hier heraus!“, fuhr er sie an.
„Tut mir leid, mon cher, aber um Türen zu öffnen, bräuchte ich schon einen Zauberstab, und so einen besitze ich leider nicht.“ Mathurine wickelte das Bonbon aus dem Papier und hielt es ihm an die Lippen. „Na komm schon, mach's Mäulchen auf!“
Zuerst drehte er sich weg, aber als Mathurine Faxen machte, ließ er sich die Süßigkeit doch in den Mund schieben. Eine Weile kaute er darauf herum, dann seufzte er. „Meine Blase ist zum Platzen voll.“
„Na, da hast du's ja gut, brauchst nur auf den Tisch zu steigen und kannst Pissmännchen spielen.“
„Du meinst, ich soll aus dem Fenster ...?“
„Also, wenn ich du wäre, ich würde nicht zögern.“
Nicolas sah von Mathurine zur Luke, schien nachzudenken. Schließlich stieg er auf den Tisch und wandte sich dem offenen Fenster zu, um sich Erleichterung zu verschaffen.
Doch so einfach ging das nicht. Stand er auf dem Tisch, war die Decke zu nah, um sich aufzurichten, außerdem befand sich die Luke zu weit oben, um geradewegs nach draußen zielen zu können.
Als er sich wand wie ein Aal und in alle Richtungen verbog, fing Mathurine zu lachen an. „Wirklich, ein seltsamer Tanz, den du aufführst! Du könntest es ja einmal im Handstand versuchen. Wenn du die Knie dabei abwinkelst und die Schienbeine gegen die Decke stemmst, müsste es eigentlich möglich sein. Ich halte dir dann das Schläuchlein in die rechte Position.“
„Ja, ja, mach dich nur lustig!“ Er sprang vom Tisch und starrte sie zornig an.
Mathurine hielt ihm ihrem Helm hin. „Na, dann nimm halt den!“
„Ich soll deinen Helm als Nachtgeschirr benutzen?“
„Er ist aus Kupfer, er wird es schon aushalten. Und anschließend schütt' das Zeug raus und gib ihn mir zurück, denn ich muss auch.“
Als sie beide ihre Blase entleert hatten, setzten sie sich wieder, aßen etwas von dem Obst und hingen ihren Gedanken nach.
„Hätte ich meine Tanzmeistergeige bei mir, könnte ich dir ein wenig vorspielen, und du könntest dazu tanzen“, sagte Mathurine nach einer Weile.
„Ich tanze nicht besonders gut.“
„Dann könntest du eben dazu singen.“
„Ich singe auch nicht gerne, es macht mich verlegen, wenn ich einmal einen Ton nicht richtig treffe.“
Mathurine verdrehte die Augen. „Gibt es überhaupt etwas, das du gut und gerne tust?“
„Ich reite gut und bin ein guter Jäger. Wenn ich auf meinem Pferd über Wiesen und durch Wälder galoppiere, fühle ich mich frei und gleichzeitig geborgen.“
Mathurine biss in ihren Apfel. „Kennst du William Kemp?“, fragte sie kauend.
„Nie gehört.“
„Er hat eine Wette verloren und musste die Strecke von London bis Norwich tanzend zurücklegen. Es dauerte einen ganzen Monat. Er schaffte es auch, doch kurz darauf starb er.“
„Er muss ein Narr gewesen sein, sich auf so eine Wette einzulassen!“
Mathurine lachte: „Er war ein Narr!“
„Und doch würde ich gerne wissen, wovon du geträumt hast“, sagte Nicolas.
„Und ich sagte dir: das geht dich nichts an!“
Einen Moment maßen sie sich mit Blicken, dann schlug Nicolas die Augen nieder und entschuldigte sich. „Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahetreten.“
Nach einer Weile des Schweigens bat er: „Wenn du mir nichts über dich erzählen willst, vielleicht kannst du mir dann wenigstens etwas über den König erzählen.“
„Aber alle wissen alles über ihn - was könnte ich dir da noch Neues berichten?“
„Vielleicht alle - ich nicht!“, antwortete Nicolas, und dann etwas leiser: „Von wem sollte ich auch etwas wissen. Seit meine Mutter vor zwei Jahren gestorben ist, hat mein Vater kaum noch ein Wort mit mir gesprochen. Meine Schwestern leben nicht mehr bei uns, mein Hauslehrer wurde entlassen, und Feste feiern wir in Château Picardie schon lange nicht mehr.“
„Deine Mutter ist gestorben?“
„Ja, und mein Vater gibt mir die Schuld.“
„Wie ist sie gestorben?“
„Nun, du willst alles von mir wissen, aber du erzählst mir nichts von dir!“ Nicolas Augen blitzten, als er sie ansah.
„Ein Hofnarr ist ein Hofnarr, ist ein Hofnarr!“, fauchte Mathurine zurück. „Verstehst du, wir haben keine Träume. Und wir haben keine Vergangenheit, auch keine Zukunft. Wir sind nicht wir, sondern das fratzenhafte Spiegelbild des Königs. Und so er noch gewillt ist, einen guten Rat anzunehmen, weisen wir ihm den Weg, wenn er sich im Dickicht seines Gedankenwaldes verlaufen oder im Dornengestrüpp seiner Seele verfangen hat.“
„Dann wärst du ja ziemlich mächtig.“ Leise Ironie schwang in Nicolas' Stimme mit.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Närrin. „Vielleicht bin ich das, vielleicht hast du mich aber auch nicht wirklich verstanden. Will der König etwas über eine Kriegsstrategie wissen, befragt er seinen Kriegsminister. Braucht er Rat in Finanzdingen, befragt er seinen Finanzminister. Geben sie ihm eine Antwort, die ihm nicht passt, kann er sie zum Schweigen bringen, indem er ihnen den Mund verbietet, sie entlässt oder gar zum Henker schickt. Darum kuschen sie alle vor ihm. Aber ein Narr kuscht nie, denn er ist der König selbst. Er ist seine dunkle Seite, seine Hässlichkeit, das Böse in ihm, und solange wir unsere Narrenkappe tragen, haben wir Narrenfreiheit. Nur unsereins kann ihm ungestraft vor Augen führen, wie dumm er sich verhält, wie schwach und lächerlich er ist.“
„Und wie schwach und wie lächerlich ist er, unser König?“, fragte Nicolas, der in den zwei Tagen bei Hofe schon eine Menge der übelsten Gerüchte über Heinrich gehört hatte.
„Schon wieder eine Frage, die du nicht stellen solltest!“
Nicolas sah sie enttäuscht an. „Für einen Moment hatte ich geglaubt, eine Freundin in dir gefunden zu haben, aber wenn ich auch mit dir nur über Nichtigkeiten und dummes Geschwätz reden kann, verzichte ich auf diese Freundschaft.“
„Oha, der junge Herr Marquis möchte sich an Geistreichem laben! Aber vergesse er dabei nicht: Ein geistreicher Mensch wäre oft recht in Verlegenheit ohne die Gesellschaft der Dummköpfe! Und was mich betrifft, ich wäre ohne sie gar ohne Brot und Lohn.“
Nicolas warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, dann schloss er die Augen und schwieg verbissen. So saßen sie eine lange Zeit schweigend nebeneinander, als von draußen plötzlich Geschrei zu hören war. Sofort sprang Nicolas auf, schwang sich auf den Tisch und versuchte durch die Luke zu erkennen, was sich auf dem schmalen Streifen zwischen dem Louvre und der Seine abspielte. Doch was immer es auch sein mochte, es ereignete sich außerhalb des Blickfeldes, das ihm die Luke eröffnete.
„Hallo!“, rief er. „Hier! Wir sind hier im Keller! Schickt uns jemanden, damit er uns befreit! - Hier her, so helft uns doch!“ Aber nichts geschah, man schien seine Hilferufe nicht zu hören.
Nach einer Weile schrie draußen einer 'hüh' und 'hott', dann hörte man Peitschenknallen und ein Fuhrwerk rattern, und es war wieder still.
Nicolas stieg vom Tisch und ging zur Tür. Er trat dagegen und schrie: „Verdammt! Lasst uns raus oder geht zur Hölle!“
Mathurine lachte. „Zur Hölle gehen sie auch ohne deine frommen Wünsche.“
„Und du wirst sie begleiten!“, zischte er.
„Ist anzunehmen - na komm, setz dich wieder.“ Sie winkte ihn zu sich.
Nicolas ignorierte sie, ging auf und ab, fluchte leise. Aber schließlich setzte er sich doch, seufzte, verschränkte die Arme und schloss wieder die Augen, um Mathurine nicht ansehen zu müssen.
„Nun gut, was willst du über unseren König wissen?“, fragte sie nach einer Weile.
Nicolas antwortete nicht, also fing sie einfach an zu erzählen. „Er ist ein Kind, dieser König, auch wenn er bereits 36 Jahre zählt, und er ist schon verloren, er weiß es nur noch nicht. Einerseits ist er gebildet und klug und könnte ein guter Herrscher sein, doch andererseits ist sein Charakter unstabil. Wankelmütig, von Ängsten und Depressionen gequält, wurde er zum Spielball seiner Mutter und seiner Günstlinge, den Mignons. In seiner Jugend fühlte er sich von den Ideen der Hugenotten angezogen, aber schon bald fügte er sich wieder dem Willen Katharinas und vertrat an ihrer Seite die Sache des Papstes. Zusammen mit ihr, mit seiner Mutter, hatte er auch das schreckliche Massaker von St. Bartholomäus geplant und so die Schuld am Tod tausender Männer, Frauen und Kinder auf sich geladen. Vielleicht ist es das, was ihn so quält und zerrissen sein lässt.“
Mathurine griff in eine der Taschenfalten ihres Kleides und zog zwei der Bonbons heraus, die sie dort als Zauberutensilien verborgen hatte. Eines gab sie Nicolas, das andere starrte sie eine Weile gedankenversunken an. Dann wickelte sie es aus und schob es sich selbst in den Mund.
„Während Heinrich in jungen Jahren wenigstens hin und wieder versuchte, etwas für sein Land zu tun“, erklärte sie weiter, „ist er inzwischen in Trägheit versunken und der Vergnügungssucht verfallen. Er schminkt sich und trägt Frauenkleidung. Er gibt seinen Rüden weibliche Namen, seinen Hündinnen männliche, schläft mit Männern und Frauen, verbirgt sich heulend und zitternd vor Angst im Keller, wenn es blitzt und donnert. Statt sich um die Politik zu kümmern, schließt er sich mit seinen Zwergen in einen Raum ein, den er mit Vogelvolièren vollgestopft hat, spielt Bilboquet oder beschäftigt sich mit Schlosserarbeiten. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, treibt er sich zusammen mit seinen Mignons in üblen Kaschemmen herum, schlägt Leute und benimmt sich, dass es einem speiübel wird. Und wie du dir vielleicht vorstellen kannst, erregt er mit derartig grauenvollen Unarten die Abscheu seiner Untertanen gleichermaßen wie die der Adeligen, die ihm doch eigentlich den Rücken stärken sollten.“
„Und solch ein Kretin ist König von Frankreich?“, empörte sich Nicolas.
„Das darfst du nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen!“, wies ihn Mathurine scharf zurecht. „Zumindest, solange dir dein Leben lieb ist. Die Mauern des Louvre mögen so dick sein, dass uns hier niemand schreien hört - aber andererseits dringt schon das leiseste Flüstern durch sie hindurch, als wären sie aus Papier.“
„O ja!“ Da lachte Nicolas, aber sein Lachen klang nicht fröhlich, sondern triefte vor Ironie.
„Wie das möglich sein kann, hat man mir bereits zugetragen. Man bohre heimlich ein Loch durch die Decke des königlichen Schlafgemachs, führe des Nachts ein langes Rohr hindurch, und raune sodann dem König zu, dass er zur Hölle verdammt sei, wenn er fortführe, die Ketzer zu begünstigen. Und Heinrich lässt sich foppen, durchschaut den Spuk nicht, sondern schreit noch in derselben Nacht nach seinen Hausgeistlichen, damit sie ihm drei Messen lesen! Und am Ende lacht der ganze Hof über diesen Dummkopf, der sich König nennt. Er muss den Verstand verloren haben!“
„Wie ich dir schon sagte, eine Last drückt auf seine Schultern, die kein Mensch unbeschadet ertragen kann, sofern er auch nur den Hauch eines Gewissen hat.“
„Dann ist das vermutlich auch der Grund, warum er sich wochenlang bei den Hieronymitenbrüdern verkriecht, um den Rosenkranz durch seine Finger gleiten zu lassen und sich zu geißeln, bis sein Rücken blutig ist und seine Seele dumpf.“
„Vermutlich“, sagte Mathurine, „und doch ist es nicht der einzige Grund. Es geht um mehr. Es geht um Frankreich, um die Thronfolge, um einen Erben, den er nicht vorweisen kann. Oft genug hat er mich rufen lassen, bevor er die Gemächer seiner Gemahlin aufsuchte, damit ich ihm Mut machte, in dem ich ihm auf meiner Geige oder der Flöte etwas vorspielte oder sang für ihn, ihm Verse vorsprach oder, sei es drum, ihm etwas vorfurzte. Jahre lang hat er Luise begattet. Zu Anfang frohen Herzens, dann in Demut, in Pflichterfüllung, schließlich in rasender Verzweiflung und gar voller Wut. Aber wie oft er auch in sie hineinstieß, und ob in Liebe oder Hass, nie kam ein Erbe aus diesem Leib, der ihn schließlich anekelte. Vielleicht hat er sich darum den Männern zugewandt. Ein pralles Glied in der Hand, von blauen Adern durchzogen, die Eichel dunkelrot glänzend, das konnte ihm Lust schenken, ohne dabei an die Erfüllung seiner ehelichen Pflicht denken zu müssen. Und doch war gerade er selbst es, der sich immer wieder in das Bett der Königin trieb, denn er will und muss doch einen Erben haben! Für Frankreich, für sein Land, sein Volk.“ Mathurine sah Nicolas unvermittelt an. „Wenn du, ein Dummian von neunzehn Jahren, also deinen König einen Kretin schimpfst, dann solltest du auch sein Leid bedenken und ein wenig mit ihm fühlen und weinen für ihn.“
Nicolas senkte den Blick, seine Wangen liefen dunkelrot an.
Da lachte Mathurine und rezitierte:
„Gesteh dir's selbst,
hast du gefehlt,
füg nicht,
wenn Einsicht kam,
zum falschen Weg,
den du gewählt,
auch noch die falsche Scham!“
Sie stieß ihn in die Seite. „Weißt du, es ist nicht immer leicht, so gut zu sein, wie man es von sich erwartet - auch für einen König nicht! So“, sagte sie dann, „und jetzt erzählst du mir, wie deine Mutter starb.“
Sein Kinn sank noch tiefer auf seine Brust. „Sie kam bei der Geburt ihres Kindes um, und das Kind mit ihr.“
„Ach!“ Mathurine tat erstaunt. „Dann hast du also deine Mutter geschwängert?“
„Ich?“ Er fuhr auf wie der Blitz, fast hätte er Mathurine am Hals gepackt. „Wo denkst du hin! Macht dein Schandmaul denn vor gar nichts Halt!“
„Du sagtest doch, dein Vater gab dir die Schuld am Tod deiner Mutter.“ Mit provozierendem Blick sah sie ihn an.
„Aber doch nicht, weil ich ... weil sie ... es war, weil ich unbedingt unseren Nachbarn auf Château la Chassagne einen Besuch abstatten wollte.“
„Euren Nachbarn?“
„Nun ja, was man so Nachbarn nennt. Ihr Château liegt zwei Stunden mit der Kutsche von uns entfernt. Damals luden sie zu einem Tanzfest ein. Ich war fünfzehn Jahre alt und hatte mich in Pauline, die Tochter des Hauses verliebt. Ich wollte sie sehen, unbedingt. Wie ein kleiner Junge habe ich gebettelt, und schließlich fuhr meine Mutter mit mir hin, obwohl mein Vater es der Schwangerschaft wegen nicht gestattete.“
„Und unterwegs ist es dann passiert?“
Nicolas nickte. „Plötzlich zuckte Mama zusammen wie unter einem Hieb. Sie stöhnte, dann fing sie an zu schreien. Ich sagte dem Kutscher, er solle anhalten, das tat er dann auch. Inzwischen war ihr Rock nass wie ein Wischlappen, und Blut quoll aus ihrem Leib - Gott, es war so entsetzlich, und wir wussten nicht, was wir tun sollten. Schließlich fuhr der Kutscher weiter, gab den Pferden die Peitsche. Es war eine Höllenfahrt, wie wir über Stock und Stein flogen. Das Blut floss an Mamas Schenkel herab, bis es schließlich versiegte, so wie ihre Schreie verstummten und ihr Kopf in meinen Armen schwer wurde. Als wir endlich auf Château la Chassagne ankamen, war sie bereits tot.“ Nicolas Stimme war immer leiser geworden, seine Augen starrten ins Leere, so als ob sie irgendwo dort die Schreckensbilder sahen.
Mathurine nahm seine Hand und drückte sie. „Du hast nicht schuld daran“, sagte sie.
„Wir spielen, aber das Schicksal mischt die Karten - und was immer es auch vorsieht, es kommt, da hilft dir kein As im Ärmel.“
Sie stand auf und ging zum Tisch. Vor ihr stand die Schale mit Obst. Fünf Äpfel, zwei Orangen, ein paar Pflaumen und ein Rest Trauben waren übrig. Wie lange mussten sie in diesem Keller noch ausharren? Und wie lange konnte das bisschen Obst für sie beide reichen? Irgendwann würde jemand ihr Fehlen bemerken und sich erinnern, wo sie abgeblieben waren - aber wann? Nicolas war erst zwei Tage bei Hofe, und man hatte ihm vermutlich noch keine festen Aufgaben zugeteilt. Also hinterließ er auch keine Lücke. Sie selbst konnte in ihrem Haus in der Rue des petits Champs sein. Wenn keine Feste anstanden oder der König nicht ausdrücklich nach ihr verlangte, zog sie sich hin und wieder vom Hof zurück, und verbrachte ein paar Tage mit ihrer Familie. Er hatte ja noch Chicot und seine Zwerge, die um ihn herumtanzten.
Sie hob den Kopf und blickte hinauf zur Luke. Nur ein kleines Stück vom Himmel war zu sehen. Wolkenschiffe trieben vorbei, einmal kreuzte ein Vogel ihr Blickfeld.
„Wie spät mag es wohl sein?“, fragte Nicolas.
„Mittag, vielleicht.“
„Warum vermisst man uns nicht?“
Mathurine lachte. „Hier denkt doch jeder nur an sich selbst! Bist du ihnen aus den Augen, bist du ihnen aus dem Sinn!“
Nicolas zog die Knie an, legte seinen Kopf darauf und verbarg sein Gesicht in den Ellenbeugen. „Wo bin ich nur hingeraten“, sagte er.
Nach einer Weile hörte Mathurine an seinem gleichmäßigen Atem, dass er eingeschlafen war. Leise setzte sie sich zu ihm, nahm sein langes dunkles Haar in ihre Hand und ließ es wie prüfend durch ihre Finger gleiten. Es fühlte sich weich und seidig an. Dann neigte sie ihren Kopf und schob ihre Nase in die Locken, um daran zu riechen. Sie dufteten nach Pferden, Heu und Lavendel. Schließlich betrachtete sie seine Hände. Schlanke, lange Finger ohne Schwielen, die Nägel hatten schöne, weiße Halbmonde und waren gepflegt. Vorhin, als sie eine seiner Hände in der ihren gehalten hatte, hatte sie bemerkt, dass sie warm und trocken waren, und weich wie die eines Kindes.