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Drei Geschichten aus dem Lovecraft-Universum.Unter Doningham Hall hat sich in der Nacht die Erde aufgetan. Lord Doningham ist mit zwei Begleitern hinabgestiegen, um die Ursache zu erforschen.Die Besatzung eines Frachtkahns auf dem Main bemerkt einen Verfolger am Ufer. Niemand ahnt, dass sich die wahre Bedrohung bereits an Bord befindet.Die Mitarbeiter einer Sternwarte setzen reiche Menschen gegen Bezahlung einem Licht aus dem All aus, das eine ganz besondere Wirkung hat.
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Seitenzahl: 193
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Andreas ZwengelFinsternacht
In dieser Reihe bisher erschienen:
2101 William Meikle Das Amulett
2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens
2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume
2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein
2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig
2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde
2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur
2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu
2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts
2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo
2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin
2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows
2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim
2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür
2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo
2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen
2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 2
2118 Alfred Wallon Salzburger Albträume
2119 Arno Thewlis Der Gott des Krieges
2120 Ian Delacroix Catacomb Kittens
2121 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 3
2122 Tobias Reckermann Gotheims Untergang
2123 Michael Buttler Schatten über Hamburg
2124 Andreas Zwengel Finsternacht
2125 Silke Brandt (Hrsg.) Feuersignale
2126 Markus K. Korb Treibgut
Andreas Zwengel
Finsternacht
Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: Jörg KleudgenSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-934-8
Nordengland 1898
Beim Betreten der Bibliothek steuerte Aloysius Stonecipher auf seinen kurzen Beinen geradewegs den hölzernen Globus an, legte seine Hände auf Nordamerika und Russland, bevor er beinahe wollüstig mit den Fingerspitzen am Äquator entlangstrich. Stirnrunzelnd umkreiste er einmal den Planeten, bevor er sich den Breitengraden widmete.
„Wie geht das Ding auf?“, fragte er ungeduldig, während er nach einer Lücke oder einem Mechanismus suchte.
„Entschuldigen Sie“, sagte Margaret schnell, „aber dies ist tatsächlich nur ein Globus. Die Getränke befinden sich links von Ihnen im Wandregal.“
Stonecipher versetzte die Holzkugel mit einem wütenden Stoß in Rotation und marschierte zu den aufgereihten Alkoholika.
Margaret Doningham, Tochter von Lord Bellamy Doningham, sah zu, wie dieser unorthodoxe Gentleman sein Glas auf geradezu unflätige Weise befüllte und in gierigen Zügen leerte. Sie wartete darauf, ihm ihre Sorgen schildern zu können, denn seit seiner Ankunft hatte er jede Ansprache abgewehrt. Sein Assistent und er mochten keine angenehme Anreise gehabt haben, da sich die Unwetter in jenen Oktobertagen vor der Küste aufreihten, deshalb gönnte sie ihnen einen Moment der Ruhe.
Zufrieden stellte Stonecipher das leere Glas ab. Er fasste mit beiden Händen das untere Ende seiner türkisfarbenen Weste mit dem raffiniertem Paisleymuster und zog sie über seinem kugelförmigen Körper straff. Dann rückte er die passende Krawatte zurecht, richtete das Einstecktuch in der Brusttasche seines nachtschwarzen Anzugs und fühlte sich offensichtlich bereit, zur Tat zu schreiten. „Wenden wir uns Ihrem Problem zu, meine Liebe.“
Margaret nickte und spürte sofort, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Die Erinnerung an die vergangene Nacht reichte aus, um eine Vielzahl von körperlichen Reaktionen zu erzeugen.
„Vor zwei Nächten wurde jede Seele auf Doningham Hall von einem gewaltigen Beben geweckt, das unser ganzes Haus in die Höhe zu stemmen schien. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich bis dahin noch nie solche Angst in meinem Leben verspürt habe.“
Stonecipher goss sich einen zweiten Whiskey ein, den er deutlich langsamer trank und zu genießen gedachte. Zwischen zwei Schlucken machte er ihr ein Zeichen, mit ihrem Bericht fortzufahren.
„Wir kamen alle hier in der Bibliothek zusammen und fragten uns, was geschehen war.“
„Wer ist alle?“, erkundigte sich Stonecipher über den Glasrand hinweg.
„Nun, mein Vater, sein Butler Godfrey, die Köchin Mrs Abberline und das Dienstmädchen Cybill. Cybill ist noch zum Stall gelaufen und hat Mister Robbins geweckt. Er ist der Stallmeister und bewohnt eine kleine Hütte hinter den Stallungen.“
„Mit Ihnen sind das sechs Personen.“
Sie nickte.
„Und dann?“
„Godfrey war der Meinung, dass wir nur ein kleines Erdbeben erlebt haben, und zunächst haben wir ihm geglaubt, doch als wir auf der Suche nach Schäden durch das Erdgeschoss gingen und das Speisezimmer betraten ...“
„Sahen Sie die Bescherung“, vollendete Stonecipher den Satz.
Margaret nickte.
Stonecipher hob erwartungsvoll die Augenbrauen.
„Oh ja, natürlich. Hier entlang bitte.“ Margaret ging auf eine doppelflügelige Schiebetür zu, fasste die Griffe und atmete tief durch, um sich gegen den Anblick zu wappnen. Dann schob sie in einer energischen Bewegung die beiden Türhälften auseinander und gab den Weg frei.
Stonecipher trat in die Türöffnung und ließ das Glas sinken, das er gerade zum Mund geführt hatte. In der Mitte des Raumes war das Parkett aufgebrochen und Holzplanken standen wie ein schadhaftes Gebiss in alle Richtungen. Er machte einen Schritt vorwärts, entdeckte den Tisch und mehrere Stühle, die an die Wand geschoben und ordentlich aufgereiht worden waren. Davor lag ein zusammengerollter Teppich.
Vorsichtig näherte sich Stonecipher der gewaltsamen Öffnung. Reste des Parketts lagen unten im Keller, zusammen mit dessen Decke. Doch es ging noch weiter hinab. Unter dem Keller war nacktes Erdreich zu sehen, das ebenfalls auseinandergerissen war wie eine brutale Wunde.
„Ein Wunder, dass das Haus stehen geblieben ist“, murmelte Stonecipher, während er in das Loch hinabblickte. „Bei einem Beben dieser Stärke keine Selbstverständlichkeit. Wie schlimm sind die Schäden am übrigen Gebäude?“
Er sah zu ihr auf, als keine Antwort erfolgte.
„Es gab sonst keine Schäden“, sagte sie schließlich.
Stonecipher runzelte die Stirn. „Wie kann das möglich sein?“
„Niemand hatte bisher eine Erklärung dafür. Es hat nur diese eine Stelle des Hauses getroffen.“
„Wirklich sehr seltsam“, murmelte Stonecipher und leerte sein Glas.
Margaret stand neben der Tür und lehnte mit dem Rücken gegen die Wand. Es widerstrebte ihr, das Speisezimmer auch nur zu betreten. Sie zitterte am ganzen Körper und das schon seit Stunden, aber das mochte auch mit dem Schlafentzug zusammenhängen, denn für sie war es momentan undenkbar, zur Ruhe zu kommen.
„Man könnte meinen, etwas sei aus dem Erdreich durch den Keller nach oben gekommen.“
Margaret sah ihn mit großen Augen an. Bisher war ihr noch nicht der Gedanke gekommen, dass etwas durch dieses Loch die Unterwelt verlassen haben könnte. Ihre weiße Haut wurde augenblicklich noch ein kleines Bisschen blasser.
Stonecipher verzog bedauernd den Mund. „Entschuldigen Sie bitte mein unbedachtes Mundwerk, Margaret. Manchmal geht die Phantasie nur allzu leicht mit mir durch. Lord Doningham ist in diesem Moment dort unten?“
„Vater wollte Ihre Ankunft nicht abwarten, nicht mit diesem Krater in seinem Haus, wie er sich ausdrückte. Er beschloss, sich mit Godfrey und Robbins in dem Loch umzusehen.“
„Wann sind Ihr Vater und seine Begleiter dort hinabgestiegen?“
„Gestern Nachmittag“, antwortete Margaret mit erstickter Stimme.
„Und seitdem sind die drei Männer verschwunden?“
Margaret wollte etwas sagen, aber Tränen schossen ihr in die Augen und liefen über ihre Wangen. Sie wandte sich von ihm ab und zückte ein Taschentuch.
Stonecipher wartete, bis sie sich wieder gefasst hatte. „Was ist mit den übrigen Bewohnern?“
„Mrs Abberline und Cybill wollten nach dem Beben nicht bleiben und haben sofort das Haus verlassen. Vater gab Cybill ein Telegramm an Sie mit. Sie sollte es aufgeben, sobald sie den Ort erreichte. Nun, das hat sie offenbar getan, sonst wären Sie nicht hier.“
„Die Nachricht hat mich erreicht“, bestätigte er. „Wir sind sofort aufgebrochen, aber leider ging es nicht schneller. Sie wohnen hier recht abgelegen.“
„War die Reise anstrengend?“
„Zermürbend, meine Liebe. Der Regen hat die Wege in Schlammbäder verwandelt.“
Damit erzählte er ihr nichts Neues, denn sie war bis zum Tor gegangen und hatte die Zustände selbst gesehen. Die Außenwelt war von Wind und Regen in eine Albtraumlandschaft verwandelt worden, die nicht durchdringbar schien. Obwohl Stonecipher und sein schweigsamer Begleiter den Gegenbeweis darstellten.
Margaret war so tief in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie Stonecipher mit ihr sprach. Als sie endlich reagierte, betrachtete er sie nachdenklich.
„Gehe ich recht in der Annahme, dass dieses Loch inzwischen nicht mehr das Schrecklichste ist, seit Sie sich allein in diesem Haus befinden?“
Sie blickte überrascht zu ihm auf. War ihr das so deutlich anzusehen? Wortlos ging Margaret an der Wand entlang zur Tür einer Abstellkammer auf der anderen Seite. Sie drückte die Klinke herab, ließ die Tür aufschwingen und gab den Blick frei auf die Leiche des Stallmeisters.
Stonecipher kniete sich neben die Leiche, ohne dass der feine Stoff seiner Hose mit dem Küchenboden in Berührung kam. Er beugte sich über den toten Körper, bewegte seinen Kopf dicht darüber hinweg und blickte schließlich in Robbins’ Gesicht. „Der Mann sieht aus, als habe er sich zu Tode erschreckt.“
Margaret schaffte es nicht, ihren ehemaligen Bediensteten anzusehen. „Er kehrte letzte Nacht zurück. Ich hörte ihn unter der Erde schreien. Er krabbelte mit letzter Kraft aus dem Loch heraus, versuchte noch etwas zu sagen, aber bevor er ein verständliches Wort herausbrachte, verkrampfte er sich und blieb so liegen, wie Sie ihn hier sehen.“
Robbins sah aus, als habe man ihn gebeten, eine besonders schaurige Grimasse zu ziehen, und sei anschließend mit ihr erstarrt. Sein Mund war auf so groteske Weise verzerrt, dass die Mundwinkel eingerissen waren. Es war einfach schauderhaft. Als sie ihn mühselig vom Loch bis zur Abstellkammer gezogen hatte, musste sie unentwegt den Kopf abwenden.
Stonecipher besaß diese Berührungsängste nicht. Er unterzog die Leiche einer gründlichen Untersuchung. Befühlte die verkrampften Glieder, suchte unter der Kleidung nach verborgenen Wunden und zog die Zunge aus dem Mund, um nach Verfärbungen zu sehen. Schließlich richtete er sich über dem toten Körper auf.
„Ich kann nicht ausschließen, dass er vor seinem Tod schreckliche Angst hatte, aber daran ist er nicht gestorben. Ich vermute, wir haben es mit einer Vergiftung zu tun. Die Zunge ist verfärbt und seine Hände zeigen Verkrampfungen, die nicht von der Totenstarre stammen.“
„Sind Sie Arzt? Oder Polizist oder Detektiv?“, fragte Margaret erstaunt.
„Weder noch, aber ich muss Menschen gelegentlich aus prekären Situationen helfen.“
„Woher kennt mein Vater jemanden wie Sie?“
„Ein Bekannter aus seinem Club wird ihm von mir erzählt haben. Ich löse Probleme aller Art und so jemanden kann man immer gebrauchen.“
Margaret blickte ihn verwundert an. „Dann kennen Sie meinen Vater gar nicht?“
„Bis zu seiner Nachricht hatte ich noch nie von ihm gehört.“
„Aber wieso hat er sich dann an Sie gewendet? Und nur an Sie? Sind Sie Geologe oder Archäologe? Höhlenforscher?“
Stonecipher schüttelte amüsiert den Kopf.
„Was dann? Ein Maurer vielleicht, obwohl Sie nicht so aussehen.“
„Nun, ich bin schon eine Weile mit ungewöhnlichen Fällen beschäftigt. Das spricht sich in bestimmten Kreisen herum. Gerade wenn man auf Diskretion achten möchte.“
Margaret bemerkte, dass sie nicht mehr allein waren. Stoneciphers Gehilfe hatte hinter ihnen das Speisezimmer betreten. Der Mann war über zwei Meter groß, aber auch breit und muskulös, sodass er nicht wie ein zu groß geratener Mensch wirkte, sondern wie eine Naturgewalt. Sein Mantel war eher ein Umhang mit angenähten Ärmeln, die er leer herabhängen ließ. Bei dem Dauerregen, der draußen herrschte, umhüllte man sich gerne mit etwas Wetterfestem.
Margaret wich unwillkürlich vor ihm zurück.
„Das ist Frank“, stellte Stonecipher ihn vor.
Sie wunderte sich über die seltsame Aussprache des Namens. „Ist er Deutscher?“
„Ja. Nun, zumindest größtenteils.“
Frank ließ seinen Umhang fallen und stand in einfacher Arbeitskleidung vor ihnen. Jacke und Hose machten einen robusten Eindruck, obwohl sie nicht so steif wie Leder wirkten.
Aus der Nähe betrachtet, konnte man verblasste Narben auf den Händen und im Gesicht erkennen. Irgendetwas sagte Margaret, dass dies nur die Narben waren, die man trotz der Kleidung sehen konnte, darunter gab es sicher noch einige mehr.
„Frank wird zuerst in das Loch hinabsteigen und sicherstellen, dass für uns keine Gefahr besteht“, erklärte Stonecipher und nickte seinem Gehilfen zu.
Frank kletterte kommentarlos in das Loch hinab und war verschwunden.
„Wie wäre es mit einer Tasse Tee?“, fragte Stonecipher, als befänden sie sich bei einem gemütlichen Treffen.
Margaret wollte schon erwidern, dass ihr augenblicklich nicht der Sinn nach Getränken stand, da bemerkte sie, dass er erwartete, sie würde ihm den Tee zubereiten. Andererseits gab es auch niemanden sonst im Haus, der diese Aufgabe übernehmen konnte.
Als sie eine halbe Stunde später mit einem Tablett zurückkehrte, fand sie Stonecipher in der Bibliothek, wie er mit einem frisch gefüllten Glas Scotch in der Hand die Bücherwände studierte.
Die Bibliothek verlief über zwei Etagen. Mehr Bücher, als ein Mensch in einem einzigen Leben lesen konnte. Die einheitlichen ledergebundenen Buchrücken verrieten ihm sicher, dass die Bücher nicht über Jahre zusammengetragen worden waren, sondern regalweise eingekauft wurden. Sie dienten einzig dazu, Betrachter zu beeindrucken, und bisher waren sie nie aufgeschlagen worden. Eigentlich eine Verschwendung. Was hätten ärmere Leute dafür gegeben, solch geballtes Wissen zur Verfügung zu haben?
Stonecipher prostete ihr beim Eintreten zu und zeigte sein verschmitztes Lächeln. In schlichter Kleidung, ohne das glänzende Bartwachs und mit ungescheiteltem Haar hätte er vielleicht als braver Mann aus dem Ort durchgehen können, doch er machte einen durchtriebenen Eindruck und mit einem bunten Zylinder auf dem Kopf hätte man ihn sich gut auf einem Jahrmarkt vorstellen können. Am meisten stieß Margaret jedoch sein Alkoholkonsum ab.
„Was ist mit Ihrer Mutter?“, erkundigte er sich, als sie zusammensaßen.
Margaret fand es seltsam, in einer solchen Situation Konversation zu betreiben, aber sie beantwortete die Frage. „Sie ist vor zwölf Jahren verstorben.“
„Das tut mir leid. Sie wäre sicher stolz auf das, was aus Ihnen geworden ist.“
Wollte er sie umschmeicheln oder versuchte er nur, sie zu beruhigen, damit sie nicht über das Schicksal ihres Vaters nachdenken musste?
„Und das wäre?“, fragte sie fast ein bisschen zu forsch nach.
„Eine anständige, standesbewusste Frau, die selbst unter diesen ungewöhnlichen Umständen die Etikette wahrt.“
„So sehen Sie mich? Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesem Bild entsprechen kann.“ Margaret stand nicht der Sinn nach einer oberflächlichen Plauderei, während ihr Vater und sein Butler irgendwo unter ihnen verschollen waren, auch wenn ihr Gegenüber es vielleicht gut meinte.
„Wollen Sie nicht einmal nach Ihrem Gehilfen sehen?“, fragte sie schließlich, da die Untätigkeit sie beinahe rasend machte.
„Er war eben hier.“
„Was? Wann?“ Sie stellte ihre Tasse ab und sah zum Speisezimmer.
„Während Sie den Tee zubereitet haben.“
„Aber weshalb haben Sie mich nicht gerufen? Ich will sofort mit ihm sprechen!“
„Das ist leider nicht möglich, er redet nur mit mir. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihnen alle Informationen so wortgetreu wie möglich wiedergebe. Obwohl er nicht immer leicht zu verstehen ist. Deshalb muss ich es manchmal erst in eine verständliche Form bringen.“
„Was hat er erzählt?“
Stonecipher nippte an seinem Tee, der ihm deutlich weniger zusagte als der Scotch im Wandregal. „Frank ist das Loch hinabgestiegen und hat dabei festgestellt, dass es sich nicht nur um einen Riss im Erdboden handelt.“
„Sondern?“
„Unter dem Anwesen und wahrscheinlich auch unter dem gesamten Land ihrer Familie befindet sich ein gewaltiges Höhlensystem. Frank konnte seine Ausmaße nicht einmal abschätzen, deshalb kam er zurück, um sich mehr Ausrüstung zu holen.“
„Und das hat bisher niemand bemerkt?“
„Vor dem Beben gab es keinen Zugang zu den Höhlen“, sagte Stonecipher achselzuckend. „Und ohne das Beben wären sie wahrscheinlich für immer unentdeckt geblieben.“
„Schön und gut, aber wo ist mein Vater?“
„Von ihm gab es keine Spur, aber Frank hat die Ursache für den Tod des Stallmeisters entdeckt. Durch das Beben ist ein Spalt in der Erde entstanden, durch den giftiges Gas aus dem Erdinneren entweichen konnte.“
„Dieses Gas hat Robbins getötet?“
„So ist es.“
Margaret schluchzte auf. „Und meinen Vater?“
„Das ist die gute Nachricht. Frank hat keine weiteren Leichen gefunden. Wahrscheinlich sind sie vor dem Gas geflohen und vor lauter Panik tiefer in das Höhlensystem hineingegangen.“
„Und sind dort an der Vergiftung gestorben.“
„Das wissen wir noch nicht. Sie dürfen jetzt die Hoffnung nicht aufgeben, Margaret. Genauso gut können sie sich dort unten verirrt haben und nicht mehr zu dem Ausstieg zurückfinden.“
„Ich will selbst nach ihm suchen.“
Stonecipher machte eine abwehrende Handbewegung. „Sie bleiben schön, wo Sie sind, meine Liebe. Die giftigen Gase dort unten sind absolut tödlich. Überlassen Sie das Frank.“
Sie hätte beinahe aufgelacht, wenn es nicht so unschicklich gewesen wäre. „Haben Sie nicht gerade gesagt, jeder Mensch würde daran sterben?“
„Das ist wahr, aber Frank ist anders.“ Er legte ihr tröstend seine Hand auf die Schulter. „Er wird nicht aufgeben, bis er die beiden gefunden hat. Anscheinend gibt es einen Tunnel, der breit genug ist, um ein Pferdefuhrwerk hindurchzutreiben. Diesem wird er erst einmal folgen.“
Sie nickte. Erst als sie wieder in der Küche war, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, ihn zu fragen, weshalb Frank dieses Gas nichts ausmachte.
Ein wütendes Brüllen ließ Margaret zusammenfahren. Sie hatte am Fenster gestanden und zugesehen, wie der Starkregen gegen die Scheibe prasselte und draußen die unbefestigten Wege weiter aufweichte. Sofort raffte sie ihre Röcke und eilte in das Speisezimmer.
Dort sah sie, wie Stonecipher seinem Gehilfen aus dem Loch half. Der Riese presste seinen zusammengekrümmten Arm gegen den Bauch und schleppte sich vorwärts, während Stonecipher ihn stützte. Kurz war der verletzte Arm zu sehen, und Margaret stockte der Atem. Die Hand war nicht mehr vollständig und hing in einem seltsamen Winkel zum Rest des Unterarms, der seinerseits seltsam gequetscht und verformt war.
Frank bemerkte ihren Blick und drehte sich zur Seite, um den Anblick zu verbergen.
„Was ist geschehen?“, rief Margaret entsetzt.
„Später“, antwortete Stonecipher gehetzt. „Bereiten Sie heißes Wasser vor und bringen Sie es in das Arbeitszimmer Ihres Vaters!“
Margaret eilte in die Küche und tat, wie ihr befohlen. Sie brauchte lange, um das Feuer neu anzufachen und Wasser zu erhitzen. Als sie mit der Schüssel in Händen zum Arbeitszimmer kam, nahm Stonecipher das dampfende Wasser entgegen, verwehrte ihr allerdings den Zutritt.
„Bleiben Sie bitte draußen, das ist nichts für Sie“, sagte er entschieden. Er trug nur noch die Weste und hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Über seine Schulter hinweg sah Margaret, wie Frank ausgestreckt auf dem Billardtisch ihres Vaters lag. Daneben stand eine von Stoneciphers Taschen, auseinandergeklappt und mit funkelnden Instrumenten darin.
„Was ist denn bloß geschehen?“
„Nur ein bedauerlicher Unfall, nichts weiter. Keine Sorge, ich werde mich um ihn kümmern. Am besten, Sie gehen zu Bett und versuchen, etwas Schlaf zu finden. Morgen Früh werden wir die Suche fortsetzen.“ Damit schloss er die Tür.
Margaret konnte kaum glauben, was er ihr da erzählte. Der Arm hatte ausgesehen, als müsse er sofort amputiert werden. Frank würde frühestens in ein paar Wochen wieder in das Loch hinabsteigen können.
Sie zögerte, da sich ihr Vorhaben nicht ziemte, doch schließlich siegte die Neugier. Sie sank lautlos auf die Knie und näherte sich mit ihrem Auge dem Schlüsselloch.
Frank lag ausgestreckt auf dem Tisch, Stonecipher hatte sich über ihn gebeugt. Er stand mit dem Rücken zu ihr, sodass Margaret nur das obere und untere Ende des Riesen sehen konnte, nicht aber, was dieser seltsame Mann dort mit seinem Gehilfen anstellte. Sie wusste immer noch nicht, welche Tätigkeit Stonecipher ausübte, aber wie ein Chirurg war er ihr nicht vorgekommen.
Als er sich urplötzlich zur Tür drehte, wäre sie beinahe nach hinten gekippt und auf dem Boden gelandet. Leise entfernte sie sich von der Tür. Da es nichts anderes für sie zu tun gab, zog sie sich in ihre eigenen Räumlichkeiten zurück. Dort ging sie unruhig auf und ab. Es gefiel ihr nicht, dass Stonecipher sie wie ein kleines Kind auf ihr Zimmer geschickt hatte. Sie war auch in jungen Jahren nie aufsässig gewesen oder hatte ihrem Vater widersprochen. Eine brave Tochter wie aus dem Bilderbuch. Doch es hatte auch niemals Anlass bestanden, sich zu widersetzen. Ihr Vater war eine Seele von Mensch, dem stets ihr Wohlergehen am Herzen lag.
Der Sturm war weiterhin beängstigend. Er rüttelte an der Verkleidung des Hauses, bewegte die Schieferplatten hin und her, bis sich ihre Nägel in dem Holzgestell darunter lockerten. Man hätte ihm böse Absicht unterstellen können. Noch nie hatte Margaret sich Gedanken darüber gemacht, ein Sturm könne dem Haus Schaden zufügen. Sie betrachtete den Familiensitz als unerschütterliche Festung. Doch nachdem sich nun buchstäblich die Erde unter ihnen aufgetan hatte, hielt sie Doningham Hall nicht mehr für unverwundbar. Auch die übrigen Elemente hielt sie nun für fähig, dem Gebäude zuzusetzen, und in dieser Nacht war offensichtlich der Wind an der Reihe. Böen prallten überfallartig gegen ihre Fenster und brachten die hölzernen Läden zum Klappern. Dann endete der Lärm und Windstille trat ein, bis die nächste Böe genauso überraschend auf das Gebäude traf. Es kam ihr vor, als würden die Elemente von oben toben, um das Grauen unter der Erde zu halten. Aber das war natürlich nur Einbildung. Obwohl die Bedrohung vom Himmel aus zumindest real war.
In dieser Nacht fand Margaret nicht viel Schlaf. Aber wie sollte sie auch, solange das Schicksal ihres Vaters ungeklärt war? Im besten Fall irrte er durch die Dunkelheit der Höhlen. Ohne Wasser und Nahrung. Wie konnte sie nur so tatenlos in ihrem Bett herumliegen und alles diesem seltsamen Kerl und seinem noch seltsameren Gehilfen überlassen? Ihr Vater hatte Stonecipher vertraut, sonst hätte er nicht nach ihm rufen und stattdessen den Constable aus dem Nachbarort verständigen lassen. Wenn ihr Vater diesem Mann so viel Vertrauen entgegenbrachte, dann sollte sie nicht an dieser Entscheidung zweifeln. Schließlich hatte sie nie an ihnen gezweifelt. Sie konnte nur hoffen, dass Stonecipher den Erwartungen ihres Vaters gerecht wurde.
Am Morgen trug Margaret ein burgunderfarbenes Kleid, das, verglichen mit ihrer übrigen Garderobe, sehr schlicht wirkte. Doch da sie inzwischen die Tätigkeit einer Küchenmagd verrichtete, erschien es ihr praktikabler, ohne weite Ärmel und Rüschen hantieren zu können. Handschuhe erwiesen sich in der Küche ohnehin als äußerst unpraktisch.
Stonecipher kam herein. Er sah erschöpft aus und schien in der Nacht nicht besonders viel Schlaf bekommen zu haben. Sofort schaufelte sie ihm einen Teller mit Rührei voll und hoffte, alle Eierschalen herausgelesen zu haben.
„Wie geht es Frank?“, erkundigte sie sich besorgt und rechnete mit dem Schlimmsten.
„Davon können Sie sich gleich selbst überzeugen“, verkündete er munter zwischen zwei Bissen.
Im nächsten Moment trat sein Gehilfe in die Küche, mit zwei gesunden Armen. Er trug nicht einmal einen Verband. Der Riese setzte sich wortlos und mit gesenktem Blick an den Tisch.
Margaret war zu überrascht und blieb wie erstarrt stehen. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn in einem so guten Zustand wiederzusehen.
„Ich schätze, der gute Frank hat sich eine Stärkung verdient, bevor er die Suche nach Ihrem Vater fortsetzt, meinen Sie nicht auch, Margaret?“
Sie nickte geistesabwesend und machte sich daran, einen weiteren Teller aus den Töpfen am Herd zu füllen. Margaret stellte die Schale mit Ei und Porridge zwischen die Hände von Frank, die flach auf der Tischplatte lagen. Sie wollte zum Herd zurück und sich eine eigene Schale füllen, als ihr seine Hände auffielen. So dicht nebeneinander stach es geradezu ins Auge, wie unterschiedlich die Hautfarbe war.
Frank missdeutete ihren Blick und glaubte, sie würde darauf warten, dass er das Frühstück kostete. Er nahm den Löffel, tauchte ihn in den warmen Haferbrei und führte ihn zum Mund. Er machte Geräusche des Wohlbefindens und blickte erwartungsfroh zu ihr auf, als hoffe er, sie zufriedenzustellen.