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Weiter geht es mit Elena, der glücklichen Lottogewinnerin, und ihrer Familie.
Nachdem Elena ihren Gewinn in ein Mietshaus investiert hat, beziehen ihr Sohn Axel und seine Familie eine der Dachgeschosswohnungen. Doch Axel ist wenig begeistert, als seine Schwester Kerstin ihre neue Anwaltskanzlei ebenfalls dort einrichtet und ihren Freund, der plötzlich als alleinerziehender Vater dasteht, gleich daneben einquartiert. Und was wird Elenas Freund sagen, wenn ihr Ex-Mann Ossi das alte Hofgebäude in eine Atelierwohnung umbaut?
Mit Umsicht und Tatkraft versucht Elena, alle Interessen unter einen Hut zu bringen – ob ihr das gelingen wird?
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Elena
Teestunde
„Zu einer ordentlichen Teestunde gehören eine ostfriesische Teemischung, Sahne, Kluntjes und Apfelkuchen“, sagte Elena und goss den heißen Tee über die riesigen Kandisstücke, die leise knackten. Dann stellte sie die Teekanne auf das Stövchen und lehnte sich behaglich in ihrem Fauteuil zurück.
„… und etwas Zeit“, ergänzte Henriette, die ihr gegenüber saß.
„Allerdings. Ich hoffe, du hast genug davon mitgebracht. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen.“
„Fast ein halbes Jahr. Zuletzt haben wir uns in diesem netten Biergarten getroffen, als du von Gut Landau zurückkamst. Weißt du noch? Du warst ziemlich euphorisch, weil du deiner Familie an diesem Wochenende endlich von deinem Lottogewinn erzählt hast und Helmut Burger dir so hilfreich zur Seite gestanden war.“
Die Erinnerung an Gut Landau zauberte ein Lächeln auf Elenas Gesicht. „Das waren wirklich schöne Stunden. Gut, dass wir sie genossen haben, die Zeit danach war ziemlich anstrengend.“
Henriette probierte ein Stück vom Apfelkuchen, dann lehnte sie sich mit der Teetasse in der Hand zurück. „Jetzt erzähl schon. Ich platze vor Neugier. Du hattest ja nicht einmal Zeit für ein ordentliches Telefonat.“
Ein ordentliches Telefonat dauerte bei Henriette nicht unter einer Stunde, E-Mails las sie hingegen nur selten und Smartphones lehnte sie rundweg ab. Das hatte den Kontakt in den letzten Monaten nahezu zum Erliegen gebracht.
„Das Traurigste an diesem Sommer war, dass Ossis Mutter, Rosalia, gestorben ist.“
„Ich weiß, du hast mir eine Todesanzeige geschickt. Sie war fast 89. Irgendwann müssen wir alle gehen.“
Elena nickte. „Erschütternd war es dennoch, weil es so unerwartet kam. Sie starb an den Folgen eines Unfalls. Ein Lastwagenfahrer hatte sie in der Abenddämmerung übersehen, als sie von einer Nachbarin nach Hause ging. Ossi war völlig neben der Spur.“
„Das geht bei ihm bekanntlich schnell.“
Seit Elenas Scheidung war Henriette nicht gut auf Ossi zu sprechen.
„Jedenfalls waren Yvonne und ich in den Ferien einige Zeit im Waldgau und haben versucht, ihn ein wenig aufzumuntern.“
„Ich nehme an, ihr wart erfolgreich.“
„Ja und nein. Yvonne hat ihn dazu überredet, sich einen Facebook-Account anlegen zu lassen. Sie meinte, das sei einfach total notwendig. Das bezweifle ich zwar, aber es schien ihn zumindest ein wenig zu beschäftigen. Solange wir bei ihm waren, war auch alles gut, aber das Alleinsein setzt ihm zu.“ Sie seufzte. „Zumindest haben wir ihm geholfen, Rosalias Sachen auszumustern. Yvonne fand das total spannend. Da waren Dinge dabei, die kannte sie überhaupt nicht.“
„Zum Beispiel?“
„Rosalia besaß noch Lockenwickler aus Metall, Netzhandschuhe, eine gehäkelte Handtasche aus Bast, aber am meisten amüsiert hat sie sich über ein altes Bettjäckchen.“
„Kann ich mir lebhaft vorstellen. Die Kids wissen heute ja nicht einmal mehr, was eine Telefonzelle ist“, warf Henriette lachend ein.
„Ossi war dann im September ein paar Tage hier und dieses Wochenende fahren Axel, Yvonne und Maren zu ihm, damit er zu Allerheiligen nicht allein ist.“
„Apropos Axel. Ich habe mir sein Buch gekauft und es auch gelesen. Ich fand es superspannend und hochinteressant. Wie verkauft es sich?“
„Könnte besser sein, sagt Maren. Aber er nimmt sich auch viel zu wenig Zeit für die Werbung. Pia Moser meint, er müsse es laufend bewerben. Aber du kennst ihn ja. Werbung in eigener Sache, das liegt ihm gar nicht.“
„Das kann ich gut verstehen, aber muss er als Neo-Politiker nicht genau das machen?“
„Er sagt, das Werben für die Partei sei etwas ganz anderes, denn dabei ginge es einzig und allein um die Sache.“
„Ihm vielleicht“, sinnierte Henriette. „Bei anderen geht es bedauerlicherweise um alles andere, nur nicht um die Sache. Und wer ist Pia Moser?“
„Pia war Bezirksrätin wie Axel, hauptberuflich ist sie Journalistin und Autorin. Ich fürchte übrigens, die beiden hatten im vergangenen Winter ein Verhältnis.“
„Ehrlich?“
„Leider. Scheint aber vorbei zu sein. Dennoch arbeitet sie seit Kurzem in seiner Partei mit.“
„Weiß Maren davon?“
„Ich glaube nicht. Zumindest ist nichts zu mir durchgedrungen. Aber zurück zu Axels Politkarriere. Seit er die Ökologische Mitte gegründet hat, arbeitet er wie noch selten in seinem Leben und redet mit einem Enthusiasmus über seine Arbeit, das glaubst du nicht.“
„Doch. Habe ich nicht immer gesagt, der Bub ist begabt und leistungsbereit, er hatte einfach nur noch nicht das richtige Betätigungsfeld gefunden.“
Das hatte Henriette tatsächlich gesagt, und Elena hat es auch gern geglaubt. Doch in den letzten Jahren hatte sie den Glauben daran mehr und mehr verloren.
„Ökologische Mitte ist ein guter Name für eine Partei, was meinst du?“
„Doch, ich habe sie sogar gewählt.“
„Aus Überzeugung oder aus alter Loyalität?“
„Beides“, schmunzelte Henriette und nahm sich noch ein Stück vom Apfelkuchen.
„Hast du übrigens seine Online-Zeitung schon gelesen? Er nennt sie Plusminus, weil nicht nur über ‚Bad News‘ berichtet wird.“
Henriette schüttelte verneinend den Kopf: „Du weißt ja, online und Henriette schließen einander aus.“
„Solltest du aber, so viele ‚Good News‘ findest du sonst nirgends. Macht wirklich Spaß, sie zu lesen.“
„Sollte er eines Tages eine richtige Zeitung herausgeben, werde ich zu den ersten Abonnenten gehören. Sag ihm das.“
„Und du meinst, eine richtige Zeitung ist aus Papier?“
„Exakt. So wie ein richtiges Buch aus Papier besteht. Aber wie auch immer, jedenfalls hat Axel endlich seinen Weg gefunden.“
„Absolut. Trotzdem hätte er Maren beim Umzug in die Dachgeschoss-Wohnung in der Nelkengasse nicht so hängenlassen dürfen.“ Es war Elena anzuhören, was sie davon hielt.
„Wie ich dich kenne, bist du für ihn eingesprungen.“
„So gut ich eben konnte. Was hätte ich denn sonst machen sollen?“
„Und das Haus in der Nelkengasse ist jenes, das du mit dem Geld aus dem Lottogewinn gekauft hast?“
Elena nickte zustimmend, trank von ihrem Tee und fuhr fort: „Kerstin ist Maren auch zur Hand gegangen, sie hat im Moment ohnehin nicht allzu viel zu tun.“
„Ich dachte, sie will eine eigene Kanzlei eröffnen?“
„Das hat sie auch, aber zurzeit arbeitet sie noch von zu Hause, weil ihr neues Büro, ebenfalls in der Nelkengasse, erst dieser Tage fertig wird. Der Vormieter ist leider später als erwartet ausgezogen. Aber sobald das neue Büro fertig ist, will sie richtig loslegen.“
„Wird ihr sicher guttun, ein paar Wochen etwas leiser zu treten. Aber nun zu dir. Wie lebt man so, als Hauseigentümerin?“
„Als Hauseigentümerin lebt man wie früher auch, zum Glück erledigen das Meiste Helmuts Kanzlei oder eben der Steuerberater. Helmuts Idee, das Geld aus dem Lottogewinn in ein Mietshaus zu stecken und den Kindern einzelne Wohnungen zu schenken, war goldrichtig. Kerstin hat ihre zweite Wohnung übrigens an meinen Nachfolger Klaus Fritsch vermietet.“
„Du hast damals erwähnt, dass sich die beiden … angefreundet haben. Ist da etwas Ernstes daraus geworden?“
„Wie ernst das ist, kann ich dir nicht sagen. Du weißt ja, über Kerstins Gefühlswelt war ich noch nie besonders gut informiert.“
„Na, haben sie jetzt ein Verhältnis oder nicht?“
„Nachdem sie gemeinsam ein paar Tage Urlaub gemacht und seinen Vater im Allgäu besucht haben, ist wohl davon auszugehen. Habe ich dir übrigens erzählt, dass ich Klaus‘ Urlaubsvertretung übernommen habe?“
„Hast du. Hat’s Spaß gemacht?“
„Sehr. So sehr, dass ich mich anschließend habe bequatschen lassen, diese Allergiebekämpfungsmethode zu erlernen. Deswegen war ich im Oktober dann auch drei Wochen in Baden, dort fand nämlich der Kurs statt.“
„Aber du warst dieser Methode gegenüber doch immer etwas skeptisch.“
Elena lächelte. „Wer heilt, hat halt recht, und du weißt ja, Kerstin geht es viel besser, seit sie sich von Klaus Fritsch behandeln lässt. Leider hat die Schulmedizin bei Allergien und Unverträglichkeiten immer noch wenig anzubieten. Mit Schulmedizin hat das Ganze auch nicht allzu viel zu tun. Trotzdem gebe ich Klaus recht, wenn er sagt, diese Methode gehört in die Hand von Medizinern. Möchtest du noch ein Stück Kuchen?“
„Ich hatte doch schon zwei, aber zur Feier des Tages lasse ich mich noch zu einem überreden. Hast du vielleicht auch einen Schluck Rum für den Tee?“
„Selbstverständlich. Wie konnte ich das nur vergessen?“, lachte Elena und erhob sich.
Wenig später brachte sie ein Kristallkännchen mit Rum und zündete eine Kerze an, denn es wurde bereits dämmrig.
Als sie wieder Platz genommen hatte, sagte sie: „Weißt du, nachdem Kerstin solche Erfolge mit dieser Methode hatte, dachte ich mir, es gibt so viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht erklären können. Warum nicht eine Methode versuchen, die vielen Menschen helfen kann, auch wenn ich sie immer noch nicht hundertprozentig durchschaut habe.“
„Stimmt schon. Ich durchschau ja auch nicht, warum ich eine Mail bekomme, nur weil du auf einen Knopf drückst“, warf Henriette ein.
„So ähnlich habe ich mir das auch gedacht. Jedenfalls helfe ich Klaus seither an zwei Nachmittagen pro Woche in der Praxis. Er hat durch diese Methode bereits so viele neue Patienten, dass er einfach nicht genügend Termine anbieten konnte.“
„Schön für ihn, aber übernimmst du dich auch nicht? Gemeinsam mit deinem Engagement bei den ‚Ärzten ohne Grenzen‘ bist du wieder ganz schön im Einsatz.“ Die Besorgnis war Henriette anzuhören.
„Kein bisschen. Es geht mir richtig gut, seit ich wieder etwas Vernünftiges zu tun habe.“
„Und was ist mit Helmut?“
Elena lächelte verschmitzt. „Der ist mit seiner Kanzlei ja auch noch voll im Einsatz. Aber es gibt Anlass zur Hoffnung. Er hat mich sogar in Baden besucht und ist übers Wochenende geblieben.“
„Hört, hört! Seid ihr jetzt … Ich meine, habt ihr …?“
Elena nickte und spürte, wie sie leicht errötete. Also wirklich, sie war doch kein Schulmädchen mehr. Zeit, das Thema zu wechseln. Resolut sagte sie: „So, jetzt aber zu dir.“
„Nur nicht ablenken. Erst will ich noch wissen, wie das jetzt so ist mit euch beiden. Was soll daraus werden?“
Elena rührte in ihrer Teetasse. „Um ehrlich zu sein, das wissen wir selbst noch nicht genau. Im Moment ist es gut, so wie es ist.“
Axel
Alles Theater
Axel stand unter der Dusche und überlegte, dass er bis vor Kurzem gar nicht gewusst hat, was Stress überhaupt ist. Doch, so ehrlich musste man sein. Trotzdem machte ihm die Arbeit für die Ökologische Mitte verdammt viel Spaß - wenn nur diese gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht wären. Diesmal hatte, wie schon öfter in letzter Zeit, Pia Moser die Sache eingefädelt. Ihr Mann kannte eine Menge Unternehmer, darunter etliche, die mit den arrivierten Parteien unzufrieden waren. Auf diese Weise hatten sie schon mehrere Sponsoren gefunden. Heute Abend sollte ein neuer Mitstreiter geworben werden, und Mitstreiter brauchten sie dringend, wenn sie bei den kommenden Bundestagswahlen antreten wollten.
Zum Glück schien es Maren nichts auszumachen, ihn zu begleiten. Genau genommen machte es ihr sogar Spaß, möglicherweise auch, weil sie auf diese Weise schon zu einem Auftrag gekommen war.
Heute mussten sie ins Theater. Irgend so ein modernes Stück stand auf dem Programm; weder der Autor, noch der Regisseur waren Axel bekannt, den Titel hatte er auch vergessen.
Als er ins Schlafzimmer kam, hatte Maren ihm bereits seinen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte herausgelegt.
„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?“
„Doch. Du weißt, wie korrekt Konsul Moser immer gekleidet ist, sein Freund wird vermutlich auch nicht in zerrissenen Jeans aufkreuzen.“
„Zwischen zerrissenen Jeans und dem da ist aber ein himmelhoher Unterschied.“
Sie einigten sich auf Jeans, ganz ohne Risse und Stopflöcher, das weiße Hemd samt Krawatte und den dunkelblauen Blazer, den Maren ihm neulich aufgeschwatzt hatte. Dann konnte es losgehen.
Das Schöne an ihrer neuen Wohnung war, dass vieles zu Fuß erreichbar war, so auch das Stadttheater – allerdings nicht mit Stöckelschuhen, meinte Maren und steuerte den gegenüberliegenden Taxistandplatz an.
Er ersparte sich den Hinweis auf die Möglichkeit der U-Bahn, er hatte im Moment keine Lust auf dieses Thema.
„Wie heißt überhaupt das Stück?“, fragte er, als sie im Taxi saßen.
Maren kramte in ihrer Handtasche und beförderte eine Einladung hervor. „Der Wal und der König“, las sie vor.
„Hast du davon schon einmal gehört?“
„Nein, aber ich habe mich im Internet schlaugemacht. Es ist ein sehr modernes Stück und der Autor führt selbst Regie.“
„Dann braucht er es zumindest nicht neu zu interpretieren“, murmelte Axel. Er hielt wenig davon, Hamlet in Jeans auftreten zu lassen oder König Ottokar mit einem Smartphone auszustatten.
„Worum geht’s dabei?“
„Laut Wikipedia handelt das Stück von der Schwierigkeit, authentisch zu leben – klingt doch nicht ganz schlecht. Außerdem wird es ohne Pause gespielt. Das finde ich gut, ich freue mich ohnehin mehr auf das Essen danach. Pia hat bei diesem neuen Italiener einen Tisch bestellt. Es soll dort ganz hervorragende Pastagerichte geben.“
Axel hatte immer noch ein unangenehmes Gefühl bei dem Gedanken, dass Maren und Pia nun öfters zusammentrafen. Aber bisher war alles gut gegangen, und solang Pias Konsul dabei war, war ja alles ganz unverdächtig. Außerdem hatte er ohnehin nicht vor, ihr Verhältnis wieder aufleben zu lassen.
In der Zwischenzeit waren sie vor dem Stadttheater angekommen.
Pia erwartete sie bereits im Foyer, allein.
„Wo ist dein Mann?“, fragte Axel nach der Begrüßung.
„Der hängt noch in einer Besprechung fest und kommt nach, notfalls erst zum Italiener.“
„Sehr clever“, dachte Axel und fragte: „Und wo sind unsere Gäste?“
„Die sitzen schon in der Loge. Kommt.“ Mit diesen Worten eilte sie ihnen voraus. Pia überließ Maren den Sitz in der ersten Reihe und nahm neben Axel Platz.
Kaum hatten sie ihre Plätze eingenommen, ging auch schon der Vorhang hoch. Auf der nur mäßig ausgeleuchteten Bühne lagen ein paar nackte Gestalten herum, sonst tat sich wenig.
Im Laufe der Zeit erhoben sich einige der Gestalten, sprangen herum, kreischten, beschimpften sich, heulten, gingen wieder zu Boden. Axel, der sich anfangs ehrlich bemüht hatte, irgendeine Form von Handlung oder zumindest so etwas wie eine Quintessenz zu erkennen, gab es bald auf und widmete sich der Frage, welche Schritte die Ökologische Mitte als Nächstes setzen musste, um bei der kommenden Wahl in den Bundestag zu kommen. Wäre da nicht Pias Schuhspitze gewesen, die an seinem Bein auf- und abfuhr, hätte es durchaus sein können, dass ihm etwas Brauchbares eingefallen wäre.
Endlich fiel der Vorhang, der Applaus war höflich, aber wenig enthusiastisch.
Als sie aus dem Theater kamen, nieselte es. Zum Glück hatten sie nur wenige Schritte zu gehen. Konsul Moser erwartete sie bereits. Er hatte ein Glas Wein vor sich stehen und winkte ihnen zu. Warum kam Axel plötzlich den Verdacht, dass er die Besprechung mit voller Absicht in die Länge gezogen hatte – so er überhaupt eine gehabt hat.
Jetzt erst war Gelegenheit, die Gäste der Mosers näher in Augenschein zu nehmen. Rein optisch wirkten die Eheleute Heiner wie ein Gegenpart zu den Mosers.
Die Heiners betrieben eine Steuerberatungskanzlei, waren schlank und eher farblos, irgendwie wirkten sie auf Axel asketisch. Ein Eindruck, der sich während des Essens jedoch als falsch erwies.
Nachdem die notwendigen Höflichkeiten ausgetauscht und die Bestellungen aufgegeben waren, fragte der Konsul händereibend: „Na, wie hat euch das Stück gefallen?“
Maren versteckte sich blitzartig hinter einem Taschentuch, offenbar hatte sie in der Sekunde Schnupfen bekommen. Die Heiners taten, als hätten sie seine Frage nicht gehört, also fühlte Axel sich bemüßigt, eine Antwort zu geben. Nachdem sie eingeladen waren, konnte er ja schlecht sagen, dass er selten etwas Dümmeres gesehen. „Ich fand, es war ein sehr … naturalistisches Stück.“
„Naturalistisch, ja, das trifft es wirklich gut“, meldete sich nun Frau Heiner.
„Einerseits modern, andererseits nahezu archaisch“, setzte Gerhard Heiner kühn hinzu.
Nur Pia sah verwundert in die Runde und schüttelte leicht den Kopf, ehe sie sagte: „Also wenn ihr mich fragt: Es war ein ganz erbärmliches Stück.“
Maren hatte das Schnäuzen wieder aufgegeben und meinte zufrieden: „Das trifft es am besten!“
*
Dennoch war der Abend ein Erfolg gewesen, denn Gerhard Heiner meldete sich schon am nächsten Tag bei Axel, bot seine Mitarbeit an und vereinbarte einen Termin für ein erstes Gespräch.
Die Ökologische Mitte verfügte in der Zwischenzeit über Büroräumlichkeiten in der Nähe des Rathauses, in denen Axel nun seinem Besucher gegenüber saß.
„Meine Frau und ich sind im pensionsfähigen Alter und sie besteht darauf, dass wir unsere Kanzlei mit Jahresende an unseren Sohn übergeben. Mein Sohn hat, naturgemäß, nichts dagegen einzuwenden. Immerhin hat er gemeint, ich könnte ja anfangs noch ein wenig mitarbeiten. Die Betonung lag auf anfangs. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich dieses großzügige Angebot annehmen werde.
Was ich damit sagen will: Ich hätte ab Januar eine Menge Zeit, die ich gerne in den Dienst einer sinnvollen Sache stellen möchte. Ihre Bewegung halte ich für eine sinnvolle Sache.“
„Wir können wirklich jede Hilfe gebrauchen“, freute sich Axel, „denn wir haben beschlossen, bei der Bundestagswahl anzutreten.“
„Pia hat bereits etwas Ähnliches angedeutet.“
„Dachten Sie an ein bestimmtes Aufgabengebiet?“
„Als Steuerberater kann ich Sie vermutlich am ehesten im Bereich Finanzen unterstützen. Aber auch allgemeinwirtschaftliche Betrachtungen sind mir nicht fremd.“
„Das ist ja wie ein Sechser im Lotto“, freute sich Axel. Sie waren gerade auf der Suche nach einem Finanzreferenten. Einen Wirtschaftssprecher suchten sie zwar auch, doch Heiner schien ihm eher der Typ des Finanzreferenten zu sein.
Sie vereinbarten einen weiteren Termin, dann musste Axel sich beeilen. Pia wollte ein Interview mit ihm machen und hatte darauf bestanden, dass es in Elenas Haus stattfinden sollte. Eine Homestory hatte er abgelehnt, im Büro fand sie es zu trocken.
„Elenas Haus ist ideal“, hatte sie argumentiert. „Dort hast du dein Buch geschrieben, die Online-Zeitung Plusminus ins Leben gerufen und die Bewegung der Ökologischen Mitte gegründet.“
„Ja, das auch“, dachte Axel und verbot sich den Gedanken an die Nacht, die er mit ihr dort verbracht hatte. Er sah auf die Uhr. Schon so spät! Das würde er mit dem Fahrrad nie und nimmer rechtzeitig schaffen, er musste wohl ausnahmsweise ein Taxi nehmen. Vielleicht sollte er sich doch einen Kleinwagen zulegen. Natürlich müsste es einer mit Elektroantrieb sein, alles andere kam für ihn nicht infrage.
Elena
Vorsicht ist die Mutter der Weisheit
Schon als Elena in die Gasse einbog, sah sie Pias roten BMW vor ihrem Haus stehen. Was wollte die denn schon wieder hier?
Ach ja, Axel hatte etwas von einem Interview erzählt.
Sie hatte die quirlige Journalistin immer gern gemocht, doch seit sie von deren Verhältnis mit Axel wusste, sah sie Pia in einem anderen Licht.
Da sie nachmittags ohnehin in die Praxis fahren würde, stellte Elena ihren Wagen nicht in die Garage, sondern parkte ihn in der Seitengasse, sodass man ihn von Axels Zimmer aus gut sehen konnte. Nur für den Fall, dass die beiden meinten, sie wären allein im Haus.
Axel hatte ihr zwar versichert, dass er die Sache mit Pia beendet hätte, aber Elena hatte da so ihre Zweifel. Immerhin legte sich Pia neuerdings ganz schön für ihn ins Zeug: erst ein paar gute Presseartikel über ihn und seine Ökologische Mitte, dann ihr Angebot, der Partei vorerst unentgeltlich als Pressereferentin zur Verfügung zu stehen, und jetzt auch noch das Interview.
Nicht, dass sie an Pias Hilfsbereitschaft generell zweifelte, aber in diesem speziellen Fall schien ihr eine gewisse Skepsis doch angebracht. Pia war nicht nur eine rassige Person, sie wusste auch, was sie wollte, und Axel war … na ja, ein Mann halt.
Elena brachte erst die eingekauften Lebensmittel in die Küche, dann machte sie sich auf den Weg in den ersten Stock, um die beiden zu begrüßen.
Als sie sich Axels Zimmer näherte, hörte sie Pia gurren: „Wir
beide sind eben ein verdammt gutes Team!“
So, wie sie es gesagt hatte, klang das nicht nach einem Arbeitsgespräch. Da kam Elena scheinbar gerade richtig.
Sie räusperte sich vernehmlich und trat etwas lauter auf, schließlich wollte sie die beiden nicht unbedingt in flagranti erwischen. Sicherheitshalber klopfte sie auch noch.
„Ja bitte“, hörte sie Axel sagen.
Elena öffnete langsam die Tür, die beiden standen am Fenster.
„Hallo, Elena“, rief Pia. „Du kommst gerade richtig.“
In dem Punkt konnte Elena ihr nur zustimmen. Täuschte sie sich, oder hatte Axel Lippenstift auf dem Hemdkragen?
„Ich habe Axel eben gefragt, wie sehr ihn seine Kindheit in Bezug auf sein politisches Engagement geprägt hat. Er scheint sich nicht ganz sicher zu sein. Vielleicht kannst du uns bei dieser Frage helfen.“
„Warum habe ich etwas ganz anderes gehört“, fragte sich Elena im Stillen. Laut sagte sie: „Gerne. Wir könnten das bei einem kleinen Mittagsimbiss besprechen. Ich komme eben vom Einkaufen.“
„Musst du denn heute nicht in die Praxis?“, fragte Axel.
Der Bub schien nicht eben begeistert von ihrer Idee. Lächelnd antwortete sie: „Schon, aber erst um drei. Ich erwarte euch in zehn Minuten in der Wohnküche.“
*
Als Elena sich zwei Stunden später auf den Weg in ihre ehemalige Praxis machte, war Pia bereits abgerauscht und Axel kam eben die Stiegen herunter. Er trug die neue Aktenmappe unter dem Arm, die Maren ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.
„Seid ihr mit dem Interview schon fertig?“, fragte Elena.
„Pia hatte ihren Text weitgehend vorbereitet, wir sind ihn nur noch einmal durchgegangen, und der Fotograf konnte leider nicht kommen. Grippe.“
„Der Arme aber auch. Es kursieren zurzeit ja wieder ganz heftige Virusinfekte.“
Axel nickte geistesabwesend. „Ich pack’s dann auch wieder. Tschüss, Elena.“
„Wann sehe ich dich wieder?“
„Weiß nicht, sobald der Fotograf einen neuen Termin hat.“
„Kommt Pia dann auch wieder mit?“
Er tat erstaunt. „Keine Ahnung, ich glaube nicht.“
Dummer Bub, hatte noch nie lügen können. Sie hatte es ihm immer angesehen.
„Dann ist’s ja gut“, antwortete sie. „Sollte sie doch kommen, bitte ich dich, mich vom Termin zu verständigen.“
„Muss ich das jetzt verstehen?“
Elena warf ihm einen langen Blick zu. „Ich bin sicher, du hast es verstanden“, antwortete sie und ging zu ihrem Wagen.
Als sie am Einkaufszentrum vorbeifuhr, wurde dort bereits die Weihnachtsdekoration angebracht. Wie rasch doch die Zeit vergeht, wenn man etwas Sinnvolles zu tun hat.
*
Obwohl Elena, wie immer, einige Minuten zu früh kam, wartete bereits eine Patientin auf sie. Elena nickte ihr lächelnd zu. „Ich bin gleich für Sie da.“
Dann ging sie in die ehemalige Küche, die Klaus in einen weiteren Behandlungsraum umgebaut hat. Dafür standen der Kaffeeautomat jetzt hinter dem Empfang und der Eisschrank im Abstellraum. „Auf die Dauer ist das auch keine Lösung“, dachte Elena wieder einmal, während sie ihre Jacke auf einen Haken an der Tür hängte. Wirklich schade, dass die Nelkengasse für seine Kassenpraxis nicht infrage kam, weil sie nicht im gleichen Bezirk lag.
Im Wartezimmer traf sie auf Klaus, der eben zur Tür hereinkam, ihr mit der linken Hand zuwinkte und in der rechten seine Aktenmappe und das Handy hielt.
„Freuen? Worüber soll ich mich denn freuen … vielleicht könnten wir das am Abend besprechen … auf jeden Fall … ja, tschüss …“, hörte Elena ihn sagen.
Dem Tonfall nach zu urteilen, sprach er mit seiner Frau.
„Geht’s gut?“, fragte sie im Vorbeigehen.
„Kann man nicht sagen. Hast du eine Minute?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür zu seiner Praxis und ließ ihr den Vortritt.
Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, sagte er: „Meine Frau hat mir soeben mitgeteilt, dass sie ein Engagement bekommen hat. Die Proben beginnen im Januar.“
„Das wollte sie doch. Wo ist das Problem?“
„Das Problem ist, dass das Engagement im Stadttheater Klagenfurt ist. Das heißt ich bin entweder ab Januar meine Kinder los oder sie haben bestenfalls noch eine Wochenendmutter.“
„Und wie stellt sie sich das vor?“
„Wenn du mich fragst, stellt sie sich wieder einmal gar nichts vor. Aber wir werden ja sehen. Wir sprechen heute Abend darüber.“
Das klang nicht gut.
Maren
Weiberabend
„Ja … sehr gerne … ich schicke Ihnen das Manuskript morgen zu. Per Mail … selbstverständlich. Auf Wiedersehen.“
Es war einfach nicht zu glauben. Das war nun schon der dritte Verlag, der sich für die Rechte an Axels selbst veröffentlichtem Buch interessierte. „Wer hätte gedacht, wozu sein politisches Engagement noch gut ist“, dachte sie beschwingt. Vielleicht brachte das Buch eines Tages doch noch etwas Geld ein? Als zweites Standbein war so eine Schriftstellerkarriere vielleicht gar nicht verkehrt.
Maren sah auf die Uhr. Schon sechs vorbei? Jetzt wurde es aber höchste Zeit, dass sie sich auf den Heimweg machte. Einkaufen musste sie auch noch, und um halb acht kam Kerstin. Die hatte vor wenigen Tagen ihr neues Büro im ersten Stock bezogen.
Maren fand das sehr praktisch, denn seit Kerstin nicht mehr bei Müller und Partner arbeitete und Axel abends ständig auf irgendwelchen Meetings herumsaß, hatten sie einander schon öfter auf einen Plausch getroffen.
Hoffentlich hatte Yvonne zumindest im Wohnraum ein wenig aufgeräumt, bei Kerstin war immer alles tipptopp. Wahrscheinlicher war freilich, dass Yvonne das am Morgen zurückgelassene Chaos noch vergrößert hatte. Maren beschloss, ihr sicherheitshalber eine WhatsApp-Nachricht zukommen zu lassen.
Das Mädel kam langsam in die Pubertät, das würde ihr aller Leben nicht einfacher machen, wobei Axel im Moment - außerhalb seiner Arbeit - kaum etwas wahrnahm. Sie durfte sich allerdings nicht beschweren, schließlich hatte sie sich oft genug gewünscht, dass er sich beruflich mehr engagierte.
*
„Wie war dein Tag?“, fragte Maren und reichte Kerstin die Schinkenplatte.
„Frag mich besser nicht. Du weißt, ich suche eine Assistentin.“
„Ja, und?“
„Heute haben sich einige Bewerberinnen vorgestellt“, antwortete Kerstin mit Grabesstimme und angelte nach einer Olive.
„Das klingt nicht, als ob die Richtige dabei gewesen wäre.“
„Du sagst es. Entweder sie sind kompetent und leistungsbereit, dann verlangen sie so viel, dass ich sie mir nicht leisten kann, oder ihre Gehaltsforderungen sind bescheiden, dann sind es auch ihre Kenntnisse – so sie überhaupt welche haben. Du glaubst nicht, wer sich alles dazu berufen fühlt, ein Anwaltssekretariat zu leiten.“
„Was muss man als deine Assistentin denn so können?“, fragte Yvonne dazwischen.
„Willst du dich etwa bewerben?“, neckte Kerstin, was ihr einen genervten Blick von Yvonne eintrug, ehe sie antwortete: „Nö. Aber meine Freundin Rosine vielleicht, die will doch die Schule schmeißen.“
Maren verkniff sich eine Bemerkung. Die Freundschaft zu dieser Rosine passte ihr gar nicht. Das Mädchen hatte eindeutig keinen guten Einfluss auf Yvonne.
„Ist sie dazu nicht ein wenig zu jung?“, fragte Kerstin mit einem Lächeln.
„Rosine ist sechzehn“, stellt Yvonne klar. Es klang, als wäre Yvonne allein davon schon mächtig beeindruckt.
„Und die geht in deine Klasse?“, fragte Kerstin erstaunt.
„Natürlich nicht. Ich kenne sie aus dem Tennisklub.“
„Also Matura sollte sie schon haben, dazu gute Deutschkenntnisse.“ Dann wandte Kerstin sich wieder an Maren:
„Anfangs habe ich ja sehr gute Deutschkenntnisse verlangt, da hat sich gar niemand gemeldet. Aber auch diesmal ist die Hälfte der Bewerberinnen einfach nicht erschienen.“
„Kenn ich“, meinte Maren und schnitt sich ein Stück vom geräucherten Mozzarella ab. „Wir haben auch immer noch keinen Ersatz für Lisa.“
„Lisa? Ist das nicht die Kleine, mit der dein Geschäftspartner Achim ein Verhältnis hat?“
„Hatte“, korrigierte Maren. „Nach einem Jahr ist ihm ihre Dummheit dann doch zu viel geworden. Von unserem Geschäft hatte sie immer noch keine Ahnung, obwohl er sich wirklich bemüht hat, ihr etwas beizubringen. Dafür hat sie versucht, sich zur Vize-Chefin hochzustilisieren, weil sie doch die Freundin vom Chef war. Das war dann sogar Achim zu blöd.“
„Ich finde Lisa cool“, meldete sich Yvonne wieder zu Wort. „Sie hat immer superstylishe Klamotten an, und sie lässt sich nicht alles gefallen.“
„Was genau meinst du damit?“, fragte Maren.
„Hast du doch selbst erzählt. Die wollte sich eben nicht von euch versklaven lassen.“
Maren schüttelte unwillig den Kopf. „Für eine Sklavin hat sie definitiv zu viel verdient und zu wenig geleistet.“
Yvonne warf ihre Serviette auf den Tisch. „Bei euch geht es doch immer nur um Kohle, das ist mir echt zu stressig, ich gehe lieber chillen.“
Maren wollte sie schon zurückholen, doch dann siegte ihr Wunsch nach einem ruhigen Abend, und sie ließ Yvonne ziehen.
„Kann es sein, dass meine Lieblingsnichte in die Pubertät kommt?“, fragte Kerstin und schenkte sich Tee nach.
„Ich fürchte, sie ist bereits mittendrin.“
„Das kam aber schnell.“
Maren nickte zustimmend. „Mehr oder weniger über Nacht. Ich hole mir ein Glas Rotwein. Magst du auch eines?“
„Gerne, aber nur ein halbes, ich muss ja noch fahren.“