Minimalinvasiv - Stefan Blankertz - E-Book

Minimalinvasiv E-Book

Stefan Blankertz

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Beschreibung

Dass im Verhältnis zu der ebenso traditionell wie spontan gebildeten, die organisierte Gesellschaft minimalinvasiv sein solle: in dieser konservativen, liberalen und anarchistischen Forderung drückt sich die Hoffnung auf eine bessere Welt aus, die nicht perfekt sein muss (weil die perfekte auch die überwachende und letztlich die vernichtende Gesellschaft ist). Mehr bedarf es nicht. Doch angesichts des gesellschaftlichen Drucks, jede Lösung, die nicht die Perfektion im Sinne einer totalen Kontrolle verspricht, als soziale Kälte zu deuten, erfordert es eine große theoretische und literarische Anstrengung, an der humanen Perspektive einer offenen, gleichsam 'unfertigen' Gesellschaft festzuhalten. Einige »Nachträge« aus dieser Anstrengung lege ich hier vor und hoffe, deren Lektüre möge alles andere als anstrengend sich gestalten. Stefan Blankertz

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Schriftenreihe

Murray Rothbard Institut für Ideologiekritik in der edition g.

Stefan Blankertz

101 Minimalinvasiv: Acht kritische Nachträge

104 Das libertäre Manifest:

   Zur Neubestimmung der Klassentheorie

105 Pädagogik mit beschränkter Haftung:

   Kritische Schultheorie

106 Thomas von Aquin: Die Nahrung der Seele

107 Die Katastrophe der Befreiung:

   Faschismus und Demokratie

110 Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt

111 Mit Marx gegen Marx

123 Die neue APO: Gefahren der Selbstintegration

Murray Rothbard

102 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt,

Band 1: Staat und Krieg

103 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt,

Band 2: Soziale Funktionen

Stefan Blankertz | 1956 | »Wortmetz« | Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt.

Inhalt

Vorbemerkung

wirklich ist wirklich wirklich

Tanz ums Goldene Kalb

Die Wurlitzer-Orgel des Geistes

Wie praktisch ist die Praxis?

Die Radikalität kleiner Schritte

Enteignung oder Aneignung

Subversiver Kapitalismus

drei gründe für die todesstrafe

Nachweise

verdichtet

perfekt

vollendet

gegenwärtig

perfekt

vollkommen

leer

Vorbemerkung

Dass im Verhältnis zu der ebenso traditionell wie spontan gebildeten die organisierte Gesellschaft minimalinvasiv sein solle: in dieser konservativen, liberalen und anarchistischen ForderungI drückt sich die Hoffnung auf eine bessere Welt aus, die nicht perfekt sein muss (weil die perfekte auch die überwachende und letztlich die vernichtende Gesellschaft ist). Mehr bedarf es nicht. Doch angesichts des gesellschaftlichen Drucks, jede Lösung, die nicht die Perfektion im Sinne einer totalen Kontrolle verspricht, als soziale Kälte zu deuten, erfordert es eine große theoretische und literarische Anstrengung, an der humanen Perspektive einer offenen, gleichsam »unfertigen« Gesellschaft festzuhalten. Einige »Nachträge« aus dieser Anstrengung lege ich hier vor und hoffe, deren Lektüre möge alles andere als anstrengend sich gestalten.

Berlin, im Frühjahr 2012

I Der Begründungszusammenhang und die Zielrichtung dieser Forderung unterscheiden sich jeweils: Konservativ ist die Bewahrung traditioneller Gesellschaft, liberal die Herstellung ihrer Effizienz und anarchistisch die Sehnsucht nach In-Ruhe-gelassen-Werden der Individuen und ihrer frei zu bildenden Gruppenzugehörigkeiten.

Kant

Immanuel Kant, dieser sch öne alte Mann,

Mannhaftigkeit charakterisiert ihn am besten,

diesen anständigsten Denker im Westen,

so gerne würde ich ihm zeigen, wo die Alpen

hinabfallen zum dunklen See im Kanton Uri,

und den Schock und die Tränen der Freude sehen,

wie sie seine wissenden Augen füllen. Und wo

die blaue Bucht des Vesuvius sie funkeln ließe

und mit Genuss seine Runzeln fluten würde.

Und wo, wenn ich’s könnte, ohne ihn zu schrecken,

ein neckisches Pack hübscher arabischer Stricher

in Tunis gastfreundlich verweigert, dass er

geht, ohne sie zu ficken, echt aufregend.

All das würde ich gern können, weil ich ihn liebe,

diesen kleinen Mann, der Königsberg nie verließ

und sich nun wirklich eine Pause verdient hat.

Paul Goodman

Immanuel Kant that beautiful old man / that character, the most manly and modest / intellect we ever had in the West, / I’d like to taken him to where the Alps / descend in the dark lake in Canton Uri /and watch the terror and the tears of joy / awaken in his knowing eyes. And where / the blue bay of Vesuvius would made / them sparkle and his wrinkles flush with pleasure. / And where, if I could without alarming him, / a teasing pack of pretty Arab hoodlums / hospitably refuse to let him quit / Tunis without a fuck, immensely flustered. / All this I wish I could because I love / that little man who never left Koenigsberg / and well he merited a sabbatical. In: Collected Poems, S. 425. – Dies Gedicht zählt zu meinen Favoriten, seit ich Goodman Mitte der 1970er Jahre entdeckte.

I

wirklich ist wirklich wirklich

Immanuel Kant 1724-1804

Die nachfolgende kritische Auseinandersetzung mit dem (De-) Konstruktivismus skizziert ein Arbeitsprogramm. Geschrieben während des Sterbens meiner Mutter, ist der Tod zwischenzeilig für den psychoanalytisch Geübten offensichtlich, für die anderen vielleicht intuitiv greifbar; auf jeden Fall hätte dieser Text eigentlich eine Kurzgeschichte oder besser noch ein Gedicht werden wollen.

Radikaler Konstruktivismus

Das, was vom Menschen als »Wirklichkeit« vermeintlich wahrgenommen und benannt werde, sei »in Wirklichkeit«1 nicht wirklich, sondern vielmehr »konstruiert« (durch Sprache, Vorstellungen, Denken o. ä.).

David Hume (1711-1776): Der Glaube an die Existenz der Außenwelt lasse sich nicht rational begründen.

Friedrich Nietzsche (1844-1900): Menschliches Erkennen sei Lügen.2

Edward Sapir (1884 -1939) und Benjamin Whorf (1897-1941): Sprache (= Grammatik) forme Denken.

Ernst von Glasersfeld (1917 - 2010): »Wahrheit« bedeute nichts anderes, als dass etwas gestern Gesagtes heute ohne wesentliche Änderung wiederholt werde.

Humberto Maturana (II1928) und Francisco Varela (1946-2001): »Wir« [sic!] erzeugen die Welt, in der wir leben, buchstäblich dadurch, dass wir sie leben. Wir existieren als lebende Systeme in vollständiger Einsamkeit innerhalb der Grenzen einer individuellen »Autopoiesis«. Nur dadurch, dass wir mit anderen durch konsensuelle Bereiche Welten schaffen, schaffen wir uns eine Existenz, die diese unsere fundamentale Einsamkeit übersteige, ohne sie jedoch aufheben zu können. – Das von Maturana und Varela gern beanspruchte »wir« mag eine sprachliche Marotte sein, doch im Zusammenhang einer derart solipsistischen Theorie sei mir hier jedoch ein artiger Hinweis auf Sigmund Freuds »Wiederkehr des Verdrängten« gestattet. Rhetorisch gesehen hat das »wir« die Funktion, gegen möglichen Widerspruch zu immunisieren. Philosophisch gesehen impliziert es dagegen die Anerkennung einer Denk- und Diskussionsgemeinschaft als sozialem Raum.

Paul Watzlawick (1921-2007): Die sogenannte [sic!] Wirklichkeit sei das Ergebnis von Kommunikation.

Der philosophische, linguistische, erkenntnistheoretische, biologische, neuro- und kommunikationswissenschaftliche Konstruktivismus soll nicht verwechselt werden mit dem, was F. A. Hayek – in kritischer Absicht – »Konstruktivismus« genannt hat: das Ideal, dass Gesellschaft nach festgelegten Leitlinien politisch-administrativ »konstruieren« oder beliebig sich formen lasse. In anderen Theorien wird dieses Ideal unter Begriffe wie – zustimmend – »Technokratie« (Thorstein Veblen) und »social engineering« (Karl Popper) oder – ablehnend, kritisch – »organized society« (Paul Goodman), »Verwaltete Welt« (Theodor W.Adorno), »Sozialtechnologie« (Jürgen Habermas) und »statism« (Murray Rothbard) gefasst.

Den Begriff »Dekonstruktivismus« prägte Jacques Derrida (1930-2004) im Zusammenhang seiner Art, sich mit Texten auseinanderzusetzen; Derridas Auseinandersetzung befasst sich eher mit dem, was im Text (Werk, Buch, ebenso jedoch Institution, Tanz, Situation, usw.) »gewaltsam«3 ausgeschlossen werde, als mit den expliziten Inhalten. In der Folge hat sich der Begriff jedoch aus diesem speziellen (und nicht im Hauptstrom des Konstruktivismus integrierten) Zusammenhang gelöst und ist zum Programm gewisser praktischer Umsetzungs- und Anwendungsversuche des Konstruktivismus geworden: Wenn die Welt bloß bestehe aus Konstruktionen, können wir sie »einfach« ändern, indem wir bestehende und unerwünschte Konstruktionen wie z.B. Geschlechterrollen auflösen und an ihre Stelle sodann andere, »uns« (sic!4) angenehmere Konstruktionen setzen.

Insofern ergibt sich übrigens doch eine – wenn auch lose – Assoziation zu Hayeks Kritik an Vorstellungen willkürlicher Form- und Verfügbarkeit des Sozialen.

Die Unwirklichkeit der Wirklichkeit

Denken wir uns: eine Welt mit einer objektiven Struktur (Zeit, Raum, Farben, Formen etc.), die der Wahrnehmungsapparat des Menschen linear abbilden kann.

Ist die Richtigkeit einer solchen Vorstellung beweisbar? Nein, denn uns fehlt der Standpunkt, der die Abbildungen durch die Sinnesorgane mit den unmittelbaren Urbildern vergleicht. Der fehlt nicht nur uns. Auch wenn wir uns einen (z.B. extraterrestrischen) Beobachter denken, der nicht zur Gattung des homo sapiens sapiens gehört, kann dieser nur seine eigenen Wahrnehmungen mit denen der Menschen vergleichen und gegebenenfalls Abweichungen feststellen, ohne dass daraus zu folgern wäre, welche Wahrnehmungen »wahrer« (im Sinne von »die Struktur der Objekte ›unverändert‹ wiedergebend«) seien.

Ist eine solche Vorstellung widerlegbar? Ja. Zuerst schlicht durch optische Täuschungen. Dann durch Wahrnehmungsverzerrung aufgrund von z. B. Verletzt- oder Kranksein der Sinnesorgane, von Abgelenktheit (Unaufmerksamkeit) oder von Vorurteilen (Projektionen). Und schließlich durch die Fehlkonzeptionen aufgrund von sozialen oder kulturellen (sprachlichen) Konventionen. Doch Achtung: Aufklärung der Täuschungen, der Wahrnehmungsverzerrungen und der Fehlkonzeptionen setzt voraus:

1. Die Existenz einer von Konvention und Konstruktion unabhängigen Objekthaftigkeit (andernfalls machten die Begriffe »Täuschung«, »Verzerrung« und »Fehl…« keinen Sinn: Was kein objektives Dasein hat, kann auch nicht falsch oder verzerrt wahrgenommen werden).

2. Die grundsätzliche Erkennbarkeit dieser Objekte in dem Rahmen der Möglichkeiten, die die Sinnesorgane bieten (denkbar ist jedoch, dass die Objekte weitere Qualitäten aufweisen, für die unsere Sinnesorgane nicht empfänglich sind; auch der blind Geborene weiß, dass den fühlbaren Objekten eine zusätzliche, für ihn nicht wahrzunehmende Qualität eignet, die als »Farbe« bezeichnet wird – von den über die Möglichkeiten unserer Sinnesorgane hinausgehenden Qualitäten, die kein Mensch wahrnehmen kann, wissen wir zunächst nichts; allerdings kann die Beobachtung und die Untersuchung anderer Lebewesen uns zu dem Schlüsse kommen lassen, dass es weitere Qualitäten gibt, wie etwa der Sinn der Haie für elektrische und Magnetfelder; spekulativ sind unendlich viele Qualitäten denkbar).

3. Die Sinnhaftigkeit intersubjektiver Vergleiche (3.a die Existenz der Mitmenschen, 3.b die Vergleichbarkeit ihrer Sinneseindrücke).

Die Wirklichkeit der Wirklichkeit

Denken wir uns dagegen: einen Geist ohne Körper, ohne irgendeine konkrete Umwelt, auch ohne Mitmenschen, der sich Körper, Umwelt und Mitmenschen konstruiert. Oder nehmen wir den Traum: Im Traum ist – neurobiologischer These zufolge – die Großhirnrinde von den Sinnesorganen (nur weitgehend; nicht vollständig) abgekoppelt, bekommt jedoch aus dem Hirnstamm zufällige Erregungsmuster derart signalisiert, als ob Wahrnehmungen vorlägen; aus diesen werden in der Großhirnrinde dann » sinnfällige« Bilder und Handlungen konstruiert. Menschen berichten gelegentlich von Traumerfahrungen, nach denen es für sie schwer bis unmöglich ist, den Unterschied zur Wirklichkeit zu erkennen (»Habe ich das nur geträumt?«); dies wäre ein Modell für eine völlige Konstruiertheit der Realität. Allerdings müsste innerhalb dieses Modells der Unterschied zwischen Traum und »Wirklichkeit« ebenso als ein konstruierter gedacht werden. (Die Analogie zum Traum kann wohlgemerkt nur der ziehen, der die Grundannahmen des Konstruktivismus für falsch hält; denn im Konstruktivismus gibt es schlechterdings kein Kriterium, um zwischen einem Traum und der konstruierten Wirklichkeit unterscheiden zu können, ausgenommen die [Sprach-] Konvention, die die eine Sorte von Konstrukten als »Traum« sowie die andere als »Wirklichkeit« kennzeichnet.)

Ist die Richtigkeit einer solchen Vorstellung beweisbar? Nein. Schon allein deswegen nicht, weil der Begriff des »Beweises« ja seinerseits nichts als eine beliebige Konstruktion ohne eine Verbindung zu der nicht existenten »Wahrheit«, »Realität« oder »Wirklichkeit«5 sein würde.

Ist eine solche Vorstellung widerlegbar? Um gegenüber der schlichten Alltagserfahrung eines Hindernisses, etwa einer Mauer, die uns am Weitergehen hindert, den Konstruktivismus aufrecht erhalten zu können, ist mindestens eine weitgehende Hilfshypothese erforderlich, nämlich die, dass dem singulären Geist die eigenen Konstruktionen nicht beliebig zur Verfügung stünden: Sie können nicht einfach in dem Augenblick modifiziert werden, wenn sie als hinderlich sich erweisen. Mit einer solchen Hilfshypothese ausgestattet, ist die Vorstellung des Konstruktivismus hermetisch und unangreifbar. Jedoch ist sie ihrer hermetischen Struktur wegen überdies auch unerheblich: Dann muss ich mit »meinen« Konstruktionen leben und unter ihnen leiden, als ob sie eine objektive Struktur aufwiesen. Allerdings dürfte doch nachgefragt werden, welchen Sinn für den solitären Geist es hat, solche quasi-objektiven Strukturen zu konstruieren, die für ihn hinderlich oder schädlich sind.

Kollektiver (De-) Konstruktivismus

Die Unerheblichkeit der Vorstellung eines solitären körperund weltlosen Geistes hat dahin geführt, dass aus dieser Vorstellung nie mehr geworden ist als eine philosophische Spielerei zum Zwecke der Provokation. Anders dagegen die Variante, die am besten als »kollektiver Konstruktivismus« bezeichnet werden sollte. Die Wirklichkeit werde durch gemeinsame – aktuelle oder historische – Konstruktionen kollektiv geschaffen. Wirklichkeit sei »konsensuell«.

Anziehend am kollektiven Konstruktivismus ist – so meine ideologiekritische Hypothese – in einer immer komplexeren und globalisierteren Wirklichkeit, deren Steuerung, Beeinflussung und Veränderung gerade aufgrund von globaler Verzahnung, von Vielfalt der Interessen und von Unübersichtlichkeit des Erklärungs- und Steuerungswissens immer komplexer und schwieriger wird, dass es »uns« so scheint, als könnten »wir« »die« »Wirklichkeit« dadurch in den Griff bekommen, wenn »wir« »gemeinsam« (kollektiv, sozial) »unsere« »Konstruktionen« verändern (Stichwort »Dekonstruktivismus«). Wir müssen nichts anderes tun, sondern einfach anders denken, am besten gemeinsam und gleichzeitig. Der kollektive Dekonstruktivismus wäre dann moderner Voodoo-Kult.

Implizierte Wirklichkeit

Kollektive Konstruktivisten erkennen eine Reihe von Wirklichkeiten implizit an, über die sie allerdings keine Rechenschaft ablegen:

1. Die reine Existenz (Realität) von anderen Menschen. Woher wissen sie von der Existenz anderer Menschen? Warum sind sie sich so sicher, dass diese anderen Menschen keine Konstruktionen sind? Oder dass die Wahrnehmung solcher anderer Menschen nicht in Einbildungen oder Täuschungen gründet?

2. Die gemeinsame Konstruktion setzt 2. a die Möglichkeit von Verständigung, 2.b das Interesse an Verständigung und 2.c das Gelingen der Verständigung voraus (Wirklichkeit). Konstruktivisten behandeln gern und ausführlich das Misslingen von Kommunikation, schlachten Missverständnisse aus, während ihre Argumentation auf der uneingestandenen Annahme beruht, dass Leser und Hörer fähig seien, ihre Worte zu verstehen. Bereits in der Vorsilbe »Miss …« drückt sich aus, dass zumindest die Forscher in der Lage sind, genau festzustellen, was da »eigentlich« gesagt oder ausgedrückt werden wollte.

3. Erweitert: Alle konstruktivistischen Aussagen, die sich auf psychologische oder biologische (inkl. neurologische) Experimente stützen, müssen davon ausgehen, dass Experimente etwas aussagen. Dieses »etwas« kann nur Wirklichkeit (sogar noch pointierter: Wahrheit) sein, denn andernfalls wären sie als Beweis (oder wenigstens Beleg) unbrauchbar. Wenn das Experiment nichts anderes als eine beliebige, willkürliche oder subjektive Konstruktion wäre, könnte es genauso gut unterbleiben.6

4. Die »historische« Variante des Konstruktivismus macht darüber hinaus allerlei frag-würdige Annahmen über die Struktur der Wirklichkeit wie Zeitverläufe (Konstruktionen bauen aufeinander auf), Ursache-Wirkungs-Phänomene (eine Konstruktion hat definierte Wirkungen), Kontinuität (eine frühere Konstruktion besteht fort), Identität (die Konstruktion von früher ist heute als eben jene zu identifizieren); ggf. gibt es weitere, dies sind jedoch schon mal bedenkenswerte erste Beispiele.

5. Auch die philosophisch ziemlich unbeleckte und wenig überzeugende Vermischung von Konstruktivismus mit der Evolutionslehre (wie sie z. B. Gordon Wheeler vertritt)II soll erwähnt werden. Sie spricht davon, dass Konstruktionen auf den Ebenen »menschliche Art«, »Gesellschaft« und »Individuum« nach dem Prinzip des Erfolgs oder Überlebens sich anpassen. Anpassen woran? Woran anders als an die Wirklichkeit? Eine ganz objektive Struktur der Wirklichkeit muss dafür als gegeben vorausgesetzt werden, und zwar eine solcherart objektive Struktur der Wirklichkeit, an der sich konstruktionsunabhängig der Beitrag einer Konstruktion zum Lebenserfolg entscheidet. Zudem verkennt die Vermischung von Konstruktivismus mit der Evolutionslehre, dass die Evolutionslehre nun ganz bestimmt dieses ist: eine Konstruktion.

Extrapolierte Wirklichkeit

Damit aber nicht genug. Wenn man sich fragt, Warum wird etwas so konstruiert, wie es konstruiert wird?, stößt man auf zusätzlich implizierte Wirklichkeiten, es sei denn, der Konstruktivist würde darauf bestehen, dass die Konstruktionen völlig beliebig und ohne jeden inneren oder äußeren Reiz zustande kämen. In diesem Fall würde jedoch zu fragen sein, wie es denn dann überhaupt zu einer gemeinsamen Konstruktion kommen kann. Wenn die Antwort darauf »Interesse«, »Bedürfnis« oder »Macht« lautet, haben wir genau die implizierten inneren Wirklichkeiten, die meines Erachtens stets zumindest vorausgesetzt sind. Ein Beispiel macht dies sofort deutlich: In einer Reihe von Gesellschaften, die »patriarchalisch« genannt werden, gibt es traditionelle Rollenkonstruktionen mit einer deutlichen Übermacht der Männer über die Frauen (sofern auch die Begriffe »Mann« und »Frau« bloß konstruierte Kategorien ohne geringste Fundierung in einer Wirklichkeit darstellen sollten, fragt sich, warum Menschen überhaupt die Kategorien »Frauen« und »Männer« konstruiert haben). Eine solche Übermacht als rein zufälliges Konstrukt zu charakterisieren, in das zudem nicht nur die Gewinner (also die »Männer«), sondern genauso die Verlierer (also die »Frauen«) einstimmen, fällt sicherlich schwer. Sobald ein »Interesse« als bestimmend für die Konstruktion angenommen wird, haben wir es mit einer vorausgesetzten Wirklichkeit zu tun (das gleiche gilt für die Kategorien »Gewinner« und »Verlierer«).

Ebenso ist zu fragen, warum Menschen kollektiv ein äußeres physisches Hindernis konstruieren sollten, wenn dies nicht vorhanden ist. Denken wir uns einen Berg und in den vier Himmelsrichtungen grenzen vier verschiedene Sprach- und Kulturgruppen an. Wir befinden uns in einer Zeit mit einer geringen Infrastruktur und mit beschwerlichem Reisen. Jede Gruppe wird den Berg anders, in der ihrer jeweiligen Sprachtradition eigenen Weise sehen. Jedoch würde es der Gruppe, die sich den Berg wegdenkt (oder, konstruktivistisch gesagt: die sich den Berggar nicht erst hindenkt), wenig nützen, um einfacher auf die andere Seite zu kommen. Wir gehen davon aus, dass der Berg »trotzdem« da ist.

Oder ein anderes Beispiel: Ein Fischer sticht in See, die ihm bis dato völlig unbekannt ist. Er wird das Wasser in der von ihm erlernten Weise sehen, also speziell jene Eigenschaften, die ihm beim Fischen behilflich sind. Wenn er aber einen Schwarm »sieht« und nach ihm seine Netze wirft, wo doch »keiner ist«, kehrt er mit leeren Händen heim. Hoffen wir, dass er kein solcher Konstruktivist ist, sondern sieht, was »da« ist. Auf seine Weise. In seinem Interesse. Und doch an der Realität orientiert, damit er wirklich (und nicht nur konstruiert) seine Familie ernähren kann.

Die Begriffe »Sinnesorgane« oder »Wahrnehmung« sind konstruktivistisch gesehen ohne Sinn. Denn sie setzen ihrerseits voraus, dass bei aller Gefahr der Täuschung, Projektion oder kulturellen und sprachlichen Prägung »etwas« da sei, das auf die Organe wirkt (sie reizt) und das sich für wahr oder real »nehmen« lässt. Der Konstruktivismus bricht das erkenntnistheoretische Denken ja dort ab, wo es spannend wird: Wie lässt sich Wahrnehmung von Täuschung unterscheiden? Oder mit Kant: Wie ist Kritik möglich? Zu sagen: Oft täuschen wir uns (bzw. oft täuschen wir die anderen bzw. oft täuschen andere uns), ist wenig zielführend. Da die Konstruktivisten mehr nicht tun, reflektieren sie nicht auf die Wahrheitsfähigkeit – bzw. den »Geltungsanspruch« – ihrer eigenen Aussagen (und beruhten die auf noch so ausgeklügelten Experimenten): Sie bleiben – durch Immanuel Kant gesprochen – vorkritisch.

Unübersetzbar?

Die Sapir-Whorf-Hypothese einer sprachlichen Relativität (»Grammatik formt Denken«) führt zu der Auffassung, fremdsprachliche Texte seien im Grunde genommen nicht übersetzbar. Dass Übersetzungen nicht einfach sind, weiß nicht nur jeder, der sich einmal an einer Übersetzung versucht hat, sondern auch jeder, der einen fremdsprachigen Lieblingstext von einem Übersetzungsversuch missgestaltet vorfindet und der sich hierüber ärgert. Doch halt! Dieser angenommene Leser hat 1. die fremde Sprache erlernt, 2. den Text in der fremden Sprache gelesen, ihn 3.a verstanden (er selbst meint das jedenfalls) und 4. eine Differenz zwischen seinem eigenen Verständnis und dem des Übersetzers festgestellt (d.h., er hat 3.b die Intention des Übersetzers verstanden). Dieser Vorgang unterscheidet sich gar nicht vom Verstehen eines muttersprachlichen Textes bzw. von der Auseinandersetzung mit einer anderen als der eigenen Interpretation eines muttersprachlichen Textes. Also müsste die Sapir-Whorf-Hypothese konsequent lauten, gar kein Text sei verstehbar. Bei aller Schwierigkeit des Übersetzens vergisst die Sapir-Whorf-Hypothese das Wunder, eine fremde Sprache überhaupt verstehen und erlernen zu können.

Wie stellen wir »Verstehen« fest? Beispielsweise, indem wir beide zugleich die gleiche Fläche als »rot« identifizieren und zwar egal in welcher Sprache. Damit sind wir bei einer weiteren Nagelprobe des Konstruktivismus.

Farbenblind?

1969 führte Eleanor Rosch linguistische Experimente bei den Dani in Neuguinea durch. Die Sprache der Dani kennt nur die Farbnuancen »dunkel« und »hell«. Farben in unserem Sinne sind also nicht zu bezeichnen. Die Dani, die an dem Experiment teilnahmen, machten unter farbigen Karten mit der gleichen Sicherheit solche von identischen Tönen aus wie amerikanische Studenten einer Vergleichsgruppe. Allerdings kam Debi Roberson 1999 mit einem ähnlichen Experiment bei den Berinmo, ebenfalls Neuguinea, zu dem gegenteiligen Ergebnis. Die Berinmo kennen fünf Farbworte. Roberson und Rosch kritisieren sich gegenseitig für methodische Fehler. Was sollen wir daraus schließen? Dass bei jeder wissenschaftlichen Untersuchung genau das herauskommt, was schon vorher festgelegt war? Dass sich die Experimentatoren ihre »Wirklichkeit« so konstruieren, wie sie sie gern hätten?7

Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Genauso unsinnig wie die Vermutung, der Wahrnehmung (z.B. unserem Farbensehen) würde gar kein sächliches oder objekthaftes »etwas« als Realität oder Wirklichkeit zugrundeliegen, wäre die gegenteilige Behauptung, unsere Konstruktionen (z.B. unsere Sprache) hätten nun gar keinen Einfluss auf das, was und wie wir wahrnehmen. Selbstverständlich gibt die Sprache, die wir sprechen und in der wir denken, einen Rahmen vor, in welchem wir unsere Wahrnehmungen einordnen und interpretieren. Dass Sprache einen Einfluss auf das habe, was wir unsere »Realität« und unsere »Wirklichkeit« nennen, wird kaum überraschen.

Auch die Ausstattung unseres Wahrnehmungsapparates gibt einen solchen Rahmen vor. Ich erinnere mich, dass sich im Heizungsschacht meines Elternhauses Grillen angesiedelt hatten. Sie machten einen Radau, dass wir kaum in der Lage waren, uns zu unterhalten. Mein Vater allerdings war schwerhörig; das »laute« Zirpen der Grillen bewegte sich in einer für ihn unhörbaren Höhe und beeinträchtigte aus diesem Grunde seine Kommunikation nicht. Sie waren in diesem Sinne nicht Teil seiner Wirklichkeit. Dennoch war er selbstredend in der Lage, 1. die objekthafte Anwesenheit der Grillen dann wahrzunehmen, wenn er sie sehen konnte, 2. das Prinzip ihrer Tonerzeugung zu verstehen (sic!) und 3. die von ihr ausgehende Beeinträchtigung der Kommunikation der anderen Familienmitglieder nachzuvollziehen. Selbst das, was außerhalb der Wahrnehmungsmöglichkeit unserer Gattung liegt wie z. B. die von den Haien mit ihren »Lorenzinischen Ampullen« wahrnehmbaren elektrischen Felder, können wir erschließen. Nur eine Konstruktion ohne eine ihr hinterlegte Wirklichkeit? – Der Hai empfindet dass anders.

Fallstudie: Sigmund Freud und die Erfindung der Psychoanalyse

Eine einschneidende Änderung sprachlicher Konstruktion unseres Selbstverständnisses ist zweifellos die Erfindung der Psychoanalyse. Während noch Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel definiert werden konnte, sich im Rahmen der Psychologie mit einem unbewussten Vorgang zu befassen, stelle einen Widerspruch in sich selber dar, ist es heute umgekehrt kaum vorstellbar, den Begriff des Unbewussten nicht nur aus der Psychologie, sondern auch aus dem Alltag wegzudenken. Die Erfindung der Psychoanalyse eignet sich als Fallstudie, weil dieser grundlegende Wandel der Selbstkonstruktion ziemlich jung ist und dementsprechend gut dokumentiert. Wir können Beschreibungen menschlichen Verhaltens in wissenschaftlicher sowie in schöngeistiger Literatur aus der Zeit vor Freud nachvollziehen. Unser Einfühlungsvermögen ist »abwärtskompatibel«, obwohl uns das Fehlen, die Möglichkeit unbewusster Motive in Betracht zu ziehen, oft oberflächlich oder gar lächerlich vorkommt. Aber könnte jemand aus der Zeit vor Freud verstehen, wie wir menschliches Verhalten heute beschreiben?

Aufschluss über den Zusammenhang von Konstruktion und Wirklichkeit erhalten wir, wenn wir uns dem Prozess des Erfindens zuwenden, also wenn wir Sigmund Freud (1856-1939) selber in den Blick nehmen. Die Sprache der Psychoanalyse war nicht auf einmal da und hat nicht beliebig die Köpfe der Menschen okkupiert. Freud ringt um Worte und Möglichkeiten, das, was er beobachtet und für das er keine Sprache vorfindet, auszudrücken. Besonders interessant sind in diesem Kontext die »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« aus den Jahren 1915 bis 1917.8 In diesen Vorlesungen erklärt er Zuhörern, meist Ärzten, die Psychoanalyse, die von ihr bis dahin nichts oder bloß kaum etwas wussten. Freud ging des Weiteren davon aus, dass seine Zuhörer dem, was er sagte, skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen würden. – Seine Vorlesungen sind als eine Art von Übersetzungsarbeit zwischen Psychoanalyse und damals gängigen Selbstinterpretationen des Menschen zu lesen.

Für diese Übersetzungsarbeit knüpft Freud sowohl an Alltagserfahrungen als auch an literarische Dokumente an, in denen, wie er akribisch herausarbeitet, psychoanalytisches Wissen sich bereits vorfindet. Das ist mehr als nur didaktisch geschickt (Motto: »die Leute abholen, wo sie sind«), sondern auch bezogen auf das Problem des Konstruktivismus interessant. Obwohl man die Wirklichkeit nach der psychoanalytischen Aufklärung anders interpretiert als bis zu ihrer Erfindung, ja anders sieht und anders wahrnimmt, wird die Wirklichkeit durch die Psychoanalyse nicht von Grund auf selbst geschaffen, sondern liefert das Material, um an ihm eine neue Sichtweise auszuprobieren.

Der Konstruktivist kommt mir so vor wie jemand, der den »Prozess« (1914) von Franz Kafka (1883-1924) nur neu auslegt, dann aber behauptet, er habe ihn eigenhändig verfasst. Möglicherweise »sind wir Papst« (wie die Bildzeitung anlässlich der Wahl von Benedikt XVI. 2005 titelte), wir sind aber nicht Gott, der Schöpfer.

Konstruierte Wirklichkeit – wirkliche Konstruktionen

Das Gepräge des Etatismus: Aufgewachsen bin ich mit der unhinterfragten Voraussetzung, dass Theodor W. Adorno ein jüdischer Philosoph war. Das kann ja auch anders nicht sein, denn er musste ja, weil Jude, in der Zeit des Nationalsozialismus emigrieren. Die biografische Recherche, die ich angesichts eines Vortrags durchführte, änderte an der Voraussetzung nichts, bis mich ein Freund darauf aufmerksam machte, dass Adornos Mutter eine italienischstämmige Katholikin sei, Adorno katholisch getauft wurde und in seiner Jugend zum Protestantismus konvertierte.9 Adorno ist nach den Nürnberger Rassegesetzen ein (Halb-) Jude, denn der Vater war Jude. Nach der Regel jüdischer Religion wird aber nur derjenige (automatisch) als Jude anerkannt, dessen Mutter Jüdin ist. So prägt das Gesetz unsere Wahrnehmung: man nimmt für wahr (realisiert), was wirklich wurde: wirksam, verwirklicht (realisiert), wirkmächtig; der Nationalsozialismus ist es weiterhin, unsere Wahrnehmung trägt bis in unfeinste Details hinein sein Gepräge.

Damit aber nicht genug. Denn die jüdische Regel entspringt ihrerseits etatistischem Zusammenhange, der noch weiter zurückreicht, nämlich in die Zeit der römischen Herrschaft über Israel. Juden genossen im Imperium Romanum das Privileg, die Staatsgötter und den Kaiser nicht verehren zu müssen, da ihnen das ihre Religion verbot. Das Imperium hatte nun ein Interesse daran, dass dieses Privileg nicht ungebührlich in Anspruch genommen werde. Da Lateinern die biologische Vaterschaft als stets zweifelhaft galt, definierte das Imperium die jüdische Abstammung über die mütterliche Linie – und dieses Gesetz übernahmen die Juden, bis es ihnen als die eigene Regel erschien. Auch das Imperium Romanum ist noch wirkmächtig. Die Regel der jüdischen Abstammung ist nur ein Beispiel unter vielen. Beides – das Nürnberger Rassegesetz der Nationalsozialisten und das Abstammungsgesetz des Imperium Romanum – stehen klar für Konstrukte; der Fehler des Konstruktivismus ist, dass er den Konstrukten die Realität abspricht. Nein, sie sind wirksam, wirkmächtig (oder: real, realisiert; »realisiert« hat ja die schöne Doppelbedeutung von »zur Realität machen« – verwirklichen – und »[plötzlich] erkennen«).

Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit?

1. Jede einzelne Wahrnehmung kann angezweifelt werden.

2. Nicht angezweifelt werden kann, dass wir wahrnehmen.

3. Wir können nicht beweisen, gehen aber sinnvollerweise davon aus, dass wir im Vorgang des Wahrnehmens etwas wahrnehmen. 4. Unsere Wahrnehmung ist mit den Möglichkeiten unseres Wahrnehmungsapparates begrenzt. 5. Dass unser Wahrnehmungsapparat im Rahmen seiner Möglichkeiten die Wirklichkeit abbildet, ist ebenfalls ohne Beweis vorauszusetzen. 6. Damit erst beginnen die Probleme der Erkenntnistheorie. Wer das Denken davor abbricht, drückt sich vor dem Eigentlichen.

Die Erfindung der Wirklichkeit

Meister Eckhart räusperte sich. »Ich sage dir: Nichts kann wirken, bevor es da ist. Also kann die Welt nicht erschaffen worden sein, bevor Gott da war. Weiter nämlich sage ich: Da Gott die Wirklichkeit der Welt schlechthin ist, muss Er sie, wie auch den Sohn, zugleich geschaffen haben, sobald Er auch da war. Und noch mehr sage ich: Da Er lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit, wie es heißt, muss die Welt von Ewigkeit her da gewesen sein.«

»Was soll das heißen, ›Wirklichkeit‹? Das ist doch kein Wort. Du meinst sicherlich ›Wahrheit‹!« Es war die Stimme von Bruder Nikolaus. Ihn hatte der Orden aus Straßburg vor etlichen Monaten gesandt, um die Rechtgläubigkeit Bruder Eckharts überprüfen zu lassen, es hatte aber nicht lange gedauert, da war er dem Banne des Meisters gänzlich erlegen.

»Gewiss nicht«, erwiderte eine Stimme, die Bruder Seuse gehören musste, einem treuen Schüler von Meister Eckhart.

»Die Wahrheit ist nicht immer und überall gleichzusetzen mit dem, was wirkmächtig ist.«

»Nur Gott wirkt und Gott ist mit der Wahrheit gleichzusetzen«, beharrte Bruder Nikolaus.

»Wenn Wirklichkeit und Wahrheit nicht voneinander verschieden wären, würde es nichts Böses geben können, denn die Wahrheit kann nichts Böses wirken«, steuerte ein dritter Bruder bei, den Wilhelm als Tauler erkannte, einen weiteren Schüler des Meisters.

»Es ist bekannt unter den Philosophen«, erklärte Bruder Nikolaus von oben herab, »dass das Böse kein eigenes Prinzip ist. Zu behaupten, dass das Böse ein Eigenleben führt, ist die Ketzerei der Manichäer. Vielmehr besteht das Böse bloß in der Abwesenheit des Guten, so wie die Kälte in der Abwesenheit der Wärme besteht.«

» Oder umgekehrt die Wärme in der Abwesenheit der Kälte, demnach könnte man auch sagen, das Gute bestünde in der Abwesenheit des Bösen, was in einen völligen Aberwitz münden würde«, höhnte Bruder Tauler.

»Das sind eitle Wortspiele«, wies ihn Bruder Seuse zurecht.

»Ein Vergleich ist nicht die Sache selbst. Bleiben wir bei gut und böse. Die Abwesenheit des Guten ist das Böse, hast du gesagt, Bruder Nikolaus?«

»Durchaus«, bestätigte dieser.

»Nun denn. Dann sage ich: Die Abwesenheit des Guten wirkt das Böse. Das Böse hat dadurch kein eigenes Prinzip, aber eine Wirkmächtigkeit. Und das nennt der Meister ›Wirklichkeit ‹.«