Mohnschwestern - Ilona Einwohlt - E-Book

Mohnschwestern E-Book

Ilona Einwohlt

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Beschreibung

Im Sommer 1943 verliebt sich die zwanzigjährige Lotte zum ersten Mal – in den rätselhaften Wilhelm. Warum bloß will er ihre Liebe geheimhalten? Nur im Verborgenen treffen die beiden sich, meist in einem abgelegenen Kellerraum. Er scheint im Widerstand zu sein, aber trägt häufig Uniform. Bei einer ihrer nächtlichen Verabredungen beginnt plötzlich ein Bombenangriff, weit schlimmer, als die Stadt ihn je erlebt hat. Während ihrer dramatischen Flucht verliert Lotte Wilhelm aus den Augen und überlebt die Brandnacht nur knapp, weil sie sich in einen Brunnen retten kann. Das Einzige, was ihr bleibt, ist das kleine Bild von Mohnblumen, das Wilhelm ihr geschenkt hat. Wird sie ihn je wiedersehen? Im Jahr 2018 entdeckt Hazel bei der älteren Frau Mathilda ein Bild, das sie magisch fesselt. Welche Bedeutung haben die Blumen darauf, die sie so in ihren Bann ziehen, und wie kommt es, dass Mathilda so viel über Hazels Leben zu wissen scheint?

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Seitenzahl: 471

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HarperCollins®

Copyright © Ilona Einwohlt by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Die Zitate stammen aus: Erich Kästner, Weihnachtslied, chemisch gereinigt, aus: Herz auf Taille © Atrium Verlag AG, Zürich 1928 und Thomas Kästner

Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: Rekha Garton / Arcangel, akg / mauritius images / Karl Heinrich Lämmel, Quagga Media UG E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959679305

www.harpercollins.de

Hinweis

Dieser Roman beruht auf Erinnerungen, Dokumentationen und Aufzeichnungen vieler Menschen: jener, die die Schrecken des Nationalsozialismus selbst erlebten, und jener, die darüber geforscht, geschrieben und gefilmt haben. Gegen das Vergessen und für das Erinnern. Wie jetzt auch ich, die für Frieden, Freiheit, Demokratie und ein »Nie wieder« schreibt.

Personen, Handlungen und Orte dieses Romans sind frei erfunden, auch die Widerstandsgruppe. Die historischen Ereignisse sind jedoch inspiriert von der Situation in meiner Heimatstadt Darmstadt, vor allem von der Brandnacht am 11. September 1944, in der zwölftausend Menschen ihr Leben ließen und die Innenstadt komplett zerstört wurde.

Widmung

Für meine Mutter

Reißt die Bretter von den Stirnen, denn im Ofen fehlt’s an Holz! Stille Nacht und heilge Nacht – Weint, wenn’s geht, nicht! Sondern lacht!Erich Kästner

Prolog

Noch vor wenigen Stunden hatte die Brücke im Nebel gelegen, die Spitzen der Pylonen hatten in vagem Orange durch das dichte Grau geblinzelt, ein trüber, trostloser Tag. Doch dann hatte ein Windstoß das Wetter gewandelt, und nun strahlte der Himmel über der Bucht und zauberte dem jungen Mann unten am Hafen ein Lächeln ins Gesicht.

»Solange der Wind der Veränderung weht, ist nichts verloren«, murmelte er und drehte das Paket in seiner Hand, adressiert an seinen Bruder in Deutschland. Dem Land, das seine Heimat nicht mehr war. Solange dieses Regime an der Macht war, wollte er nicht einen Fuß auf jene Straßen setzen, in denen Menschen verfolgt wurden, nicht auf Plätzen stehen, wo sie Bücher verbrannten und Synagogen zerstörten. Schauer liefen über seinen Rücken. »Nie wieder«, murmelte er, »nie wieder darf so etwas passieren, solange ich lebe, ich schwöre, ich werde alles dafür tun. Und du, mein Bruder, wirst deine Sache machen, aufklären, Flugblätter verteilen. Weil du dich entschlossen hast, zu bleiben. Du wirst kämpfen, dort vor Ort, in der Stadt, die auch mal meine Heimat war.«

Der junge Mann überprüfte abermals die Schnüre seines Päckchens, es würde eine lange Reise überstehen müssen. Es würde keine Übelkeitswellen auf der Überfahrt zu ertragen haben, wie seinerzeit er, und noch weniger unter Bettwanzen leiden müssen, sowieso nicht unter ungewaschenen Mitreisenden und harten Holzbänken. Er hoffte inständig, dass es seinen Adressaten unbeschadet erreichen würde. Abermals lächelte er bei der Vorstellung, wie sein Bruder die Kordeln lösen und das Packpapier entfernen würde. Wie er beim Anblick des üppig orange-rot-gelben Blütenbildes überrascht den Kopf schütteln und das Arrangement zunächst als Kitsch abtun würde. Bis er dann bemerken würde, dass es eine neue Maltechnik war, die er hier ausprobiert hatte, expressionistisch, wie sie sagten, vor allem aber von seinen mexikanischen Freunden inspiriert.

Sie hatten sich eines Abends in der Bar kennengelernt, eine schicksalhafte Fügung bei viel zu vielen Zigaretten und noch mehr Wein. Einwanderer aus verschiedenen Welten und doch vereint in ihrem Klassenkampf, in ihrer Künstlerseele sowieso. Schnell hatten sie sich in der gemeinsamen Sprache der Farben und Formen gefunden, es bedurfte weniger Worte, ihr Anliegen war universell und mit Pinselstrichen darzustellen. Frieden. Freiheit. Gerechtigkeit. Für alle. Gemeinsam malten sie fortan ihre politischen Botschaften auf Leinwände, manchmal auch auf Häuserwände und Tore oben im Mission District, hielten gegenseitig Wache und organisierten Farben, woher auch immer.

Das Bild in seiner Hand bedeutete ihm alles, spiegelte es doch die Farben seines neuen Lebens wider: Orange und Gelb und Rot strahlten in allen Schattierungen, ein bunter Mohnblumenstrauß an Möglichkeiten im Hier und Jetzt. Hoffnung und Offenbarung zugleich. Alles, wovon er immer geträumt hatte, schien ihm nun in greifbarer Nähe, Sonne, Leben, Licht und Wärme pulsierten in seiner Hand, in dieser Stadt, die für ihn die so ersehnte Freiheit bedeutete.

»Möge es dir Liebe und Licht bringen in diesen dunklen Zeiten, mein geliebter Bruder«, murmelte er, die Widmung auf der Rückseite wiederholend. Er hatte mit Diego signiert, Wilhelm würde verstehen.

Mit einem Lächeln löste sich Dieter Petersen aus seinen Gedanken und zündete sich eine Zigarette an. Dann brachte er sein Päckchen zum Schalter.

11. September 1944

Später konnte sie nicht sagen, warum sie an diesem Tag die festen Stiefel angezogen hatte, die ihr das Leben retten sollten. Es war ein sonniger Herbsttag, die Luft schmeckte noch ein bisschen wie im Sommer, und auch wenn es in den letzten Monaten beinahe täglich Fliegeralarm gegeben hatte, versuchte sich Lotte keine Sorgen zu machen. Die Engländer würden die Stadt wegen ihrer großherzoglichen Verwandtschaft bestimmt verschonen. Hätten sie ihre Stadt auslöschen wollen, sie hätten es längst getan, sagte man. So hatte es nur einige schwere Luftangriffe gegeben, und zum Glück waren sie zu Hause im Deppertweg immer mit dem Schrecken davongekommen, wenn ein paar Kilometer weiter Luftminen und Brandbomben auf die Stadt gefallen waren. Lotte hatte sich daran gewöhnt, neben dem gepackten Koffer zu schlafen, stets bereit für die Flucht in den Luftschutzkeller. Oft genug blieb sie inzwischen einfach liegen – wenn sie nicht sowieso schon unten war.

Bei diesem Gedanken musste Lotte lächeln. Wenn die Nachbarn wüssten, wie gerne sie sich in den Räumen unter den Häusern in ihrer Straße aufhielt! Und das lag beileibe nicht an dem weiß getünchten Keller, den sich bei Fliegeralarm fünf Familien und mehr teilen mussten. Sondern an dem heimlichen Liebesnest, das sie sich gemeinsam mit Wilhelm dort unten eingerichtet hatte und in dem sie sich trafen, so oft sie konnten. Die Keller der Häuser waren durch ein ausgeklügeltes System an Türen und Gängen miteinander verbunden, wie in einem Labyrinth. Es gab dort hinter einer unscheinbaren Tür einen kleinen Raum, den nur sie beide kannten, und man musste aufpassen, nicht gesehen zu werden. Aber um Wilhelm zu treffen, tat Lotte alles. Und vor allem tat sie es heimlich. Sein Doppelspiel durfte nicht auffliegen, niemand durfte wissen, dass sie sich trafen, dass sie seine Geliebte war. Ihr war es egal, was die anderen von ihr dachten. Wenn sie sich wieder einmal davonschlich und ihre Mutter ihr einen dieser Blicke schenkte, kümmerte sie das nicht.

Auch für heute waren sie noch verabredet, später am Abend, und Lotte zählte die Minuten, nicht die Stunden. Wilhelm wollte eine neue Swing-Platte mitbringen, sie würden gemeinsam tanzen und dann … Bei dem Gedanken an die Berührungen seiner Hände wurde Lotte rot. Erst neulich hatte sie bei Oltkes im Laden ein Gespräch zwischen zwei Frauen belauscht, die sich über die »leichten Mädchen« ausgelassen hatten. »Ein anständiges deutsches Mädel tut das nicht«, hatten sie gesagt. Wenn die wüssten, wie viel Spaß »das« machte, dachte Lotte und wurde noch röter. Nie im Leben hätte sie erwartet, dass sie mal »so eine« werden würde, aber Wilhelm machte mit ihr Dinge, die sie sich nie hätte erträumen können. Sie lebte für diese Momente mit ihm, ertrug die trostlosen Tage des Krieges, der für Deutschland längst verloren schien, auch wenn sie in der Wochenschau das Gegenteil behaupteten und immer noch etliche am Gerede vom baldigen Sieg der Deutschen festhielten. Noch kämpften sie an den Fronten, in Frankreich, in Russland, stellten selbst Frauen und Kinder an die Flaks, aber auch wenn man es bloß nicht laut sagen durfte, musste mittlerweile wohl jeder einsehen, dass es längst vorbei war, dass die Alliierten nur noch auf die bedingungslose Kapitulation des Führers warteten. Es bestand Aussicht auf Frieden, und Lotte versuchte, fest daran zu glauben.

Wilhelm küsste ihre Tränen weg, wenn sie dann doch weinen musste, weil ihr alles so aussichtslos, so traurig vorkam. Weil Vati fort war und ihre besten Freundinnen auch verloren schienen. Weil die Mutter angesichts der vielen Todesnachrichten nur noch verzweifelt vor sich hin starrte, die Bibel in der Hand, Jesus ist Sieger. Ein Schatten ihrer selbst, kaum noch da, kurz vorm Verschwinden. Lotte wusste, dass der Else sie beschützte und es ihrer Familie nur deshalb so gut ging, weil ihre Mutter die Dinge mit dem Blockwart machte, die sie mit Wilhelm tat und die ihr so viel Vergnügen bereiteten. Mit dem Unterschied, dass ihre Mutter dabei nicht glücklich war, sie hatte ihre Tränen gesehen.

Lotte atmete tief durch, es würde schon alles gut gehen, hatte Wilhelm ihr das nicht versprochen? Wenn der Krieg vorbei war, das Regime endgültig am Ende, würde ihrer Liebe nichts mehr im Wege stehen. Dann würden sie beide in Amerika ein ganz neues Leben beginnen, bei Wilhelms Bruder in San Francisco. Sie bräuchten nur eine Schiffspassage. Wilhelm hatte die nötigen Unterlagen bereits zusammen, gut versteckt im Mauerwerk lagen in einer Geldkassette etliche Scheine, zusammengespart im Laufe der letzten Monate.

All diese Dinge gingen ihr jetzt durch den Kopf, während sie mit den Lebensmittelmarken anstand, die ihr die Mutter gegeben hatte. Heute sollte es Kartoffeln geben, die aus dem Garten reichten schon lange nicht mehr. Doch es wurde gemunkelt, dass die Rationen bald abermals gekürzt werden sollten. Noch weniger Brot! Noch weniger Fleisch! Bei dem Gedanken rumorte unwillkürlich Lottes Magen, mit einem Mal fühlte sie sich schwach. Doch es war nicht nur der permanente Hunger, der ihr zu schaffen machte. Der Krieg mit all seinen Schrecken nagte an ihr, ständig war Fliegeralarm, immer wieder gab es Angriffe und Todesopfer, zerstörte Häuser, Obdachlose und Verletzte, Schutt und Asche überall. Trotzdem hielt Lotte das Alltagsleben aufrecht, spielte weiterhin mit dem jüngeren Bruder und nähte wie die anderen Frauen Mullbinden für die Lazarette. Lotte glaubte an den Frieden, und dennoch hatte sich die Angst wie ein Schatten auf ihre Seele gelegt. Wilhelm vermochte sie nicht wegzuküssen, so zärtlich er auch war.

Bei dem Gedanken an ihren Geliebten straffte Lotte die Schultern. Ihm zuliebe würde sie durchhalten, das hatte sie ihm versprechen müssen. Ein versonnenes Lächeln legte sich um ihren Mund, sie duldete es sogar, dass sich jemand an ihr vorbeidrängelte. Mit Wilhelm würde alles gut werden, das spürte sie. Und es beruhigte sie, dass es trotz des großen Andrangs vor dem Verpflegungslager am Hauptbahnhof heute anscheinend wirklich Kartoffeln für alle gab. War es nicht ein gutes Zeichen, dass die Menschen in ihrer Stadt trotz des Krieges immer noch so gut versorgt waren? Ganz bestimmt hatten sie alle nichts mehr zu befürchten, die meisten hatten wie sie über den Sommer genügend Gemüsekonserven eingelagert, und vor dem Winter würde garantiert das Kriegsende verkündet, davon war Wilhelm felsenfest überzeugt, und Lotte glaubte ihm.

Rasch drückte sie dem Händler die Marke in die Hand und nahm ihre Tüte mit den Kartoffeln entgegen. Nachdem sie auch noch ein kleines Säckchen Zucker erstanden hatte, war sich Lotte sicher: Heute war ihr Glückstag! Nur der Munitionszug hinten auf dem Abstellgleis wirkte bedrohlich. Die Waggons reihten sich wie dunkle Ungeheuer aneinander, schwarze Höllenperlen, in denen eine zerstörerische Kraft wohnte, an die sie lieber gar nicht denken mochte.

Rasch wandte sie den Blick ab und dachte wieder an Wilhelm, an das einzige Mal, als sie sonntags zusammen ins Grüne geradelt waren, ein Festtag, weil sie sich sonst ja nur im dunklen Schutz des Kellers treffen konnten. Auf Umwegen waren sie an den See gefahren, unendlich weit, und das bei gleißendem Sonnenschein und glühender Hitze. Stundenlang waren sie im Wasser gewesen, hatten ausgelassen herumgetobt, um dann auf der Picknickdecke dicht aneinandergeschmiegt in den Himmel zu träumen, da war es bald Zeit, den Heimweg anzutreten. An diesem Tag hatte er ihr seine Liebe gestanden und noch so viel mehr. Dinge, die sie verwirrten und doch für immer mit ihm verbanden. Seither wusste Lotte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, so froh war sie, in seiner Nähe zu sein. Sie meinte, ihr Herz würde überquellen vor so viel Glück, nicht auszuhalten.

In der Wohnung roch es nach Kohlsuppe, aber niemand begrüßte sie, als sie mit ihren Schätzen die Küche betrat. Das war ungewöhnlich, denn es war schon spät. Bald würde die Dunkelheit einsetzen und sich niemand mehr gerne draußen auf den Straßen aufhalten. Es herrschte Verdunklungsgebot, jeder hatte Angst vor dem nächtlichen Fliegeralarm, und die wenigen ruhigen Stunden am Abend waren kostbar. Mit der Mutter und Otto saß sie dann zusammen, nähte, schwatzte oder hörte Radio.

Seit Lotte Wilhelm kannte, hörte sie heimlich BBC und manchmal auch die Swing-Platten von Fritz, auch wenn es verboten war. Längst hatte sie aufgehört, schicke Röcke zu tragen und sich zu schminken. Nicht weil sie Sorge hatte, mit ihrem Aufzug die Nationalsozialisten zu provozieren und im Jugendkonzentrationslager zu landen. Nein, es schien ihr einfach nicht mehr angemessen, Lippenstift aufzutragen, wo überall um sie herum Menschen hungerten und nur noch das Nötigste am Leib trugen. Die Menschen waren kriegsmüde, erschöpft und abgemagert, jeder sehnte sich nach Frieden. Deswegen hatte Lotte ihre Kleider in einer Schachtel im Schrank versteckt. Wenn der Krieg erst vorbei war, würde sie sich hübsch machen, zum Sonntagsspaziergang mit Wilhelm. Und tanzen, tanzen, tanzen und danach …

Wilhelm hatte sie fest an sich gedrückt, als sie ihm von ihren Gedanken erzählt hatte, und sie hatte seine Verzweiflung gespürt, als er gesagt hatte: »Wir lassen uns das Leben nicht verbieten, unsere Liebe erst recht nicht, hörst du!«

An jenem Tag hatte er beschlossen, vorerst nicht mehr in der Öffentlichkeit zu tanzen, schon seit einiger Zeit trug er diesen blauen Mantel. Er wollte kein Swingheini mehr sein, selbst hinter verschlossenen Türen nichts mehr dafür riskieren, passte sich nach außen an, um im Untergrund etwas zu bewirken. Wilhelm spielte ein doppeltes Spiel, es war gefährlich, was er machte, und Lotte wusste nie, ob er zu einer Verabredung kommen würde oder nicht, lebte in ständiger Sorge und Angst um ihn. Aber sie hatte keine Wahl, sie wollte Wilhelm nicht verlieren. Abends, wenn es dunkel war und niemand etwas merkte, schlich sie sich davon und traf sich mit ihm. Heimlich. Im Luftschutzkeller. Sie konnte nicht anders, wie von Fäden gezogen musste sie zu ihm, immer wieder. Seit fast einem Jahr beherrschte er ihre Gedanken … seit sie damals Fritz gerettet hatten.

Niemals würde Lotte jenen Moment auf der Brücke vergessen, als Wilhelm sie angeschaut hatte und sie ihn, ein Blick, den zwei Menschen tauschten, um sich in dem anderen zu erkennen. Von da an wusste Lotte, dass er ihr Mann sein würde, egal was passierte, egal wie lange sie auf ihn warten müsste. Sie war glücklich mit ihm, allein das zählte, jede Minute, ach was, jede Sekunde war kostbar, und nur deswegen waren die Tage erträglich – und die Nächte mit dem Fliegeralarm.

Die Suppe auf dem Herd duftete verlockend, Lotte ignorierte ihren knurrenden Magen. Sie würde später gemeinsam mit Wilhelm essen, wie immer würde er von irgendwoher ein Stück Brot mitbringen und einen Zipfel Wurst, ein Festmahl für sie beide. Sie konnte es kaum erwarten.

Draußen vor dem Fenster wurde es langsam dunkel, Lotte fragte sich, wo ihre Mutter und Otto blieben. Es war ungewöhnlich, dass sie zu so später Uhrzeit noch unterwegs waren. Lotte nutzte die Gelegenheit, um sich frisch zu machen, ohne dass die Mutter sie wegen der Seifenverschwendung schimpfte. Nur wenige Minuten später lief Lotte wieder die Treppe hinunter, beeilte sich, durfte vom Else nicht bemerkt werden. Diesmal lief sie nicht nach draußen, diesmal lief sie in den Luftschutzkeller, vorbei an den Matratzen und Regalen, am Notdurfteimer und den Gasmasken, die jemand achtlos in der Ecke hatte stehen lassen. Sie öffnete vorsichtig die Gasschutztür, kletterte an einer Leiter vorbei in einen schmalen Gang und lief weiter, jetzt stand sie im Luftschutzkeller des Nachbarhauses. Abermals lief sie durch das Labyrinth der Kellergänge, bis sie zu dem versteckten Räumchen kam. Wilhelm würde vom anderen Ende der Straße den Weg durch die Unterkellerung zu ihr finden.

Schnell hatten sich Lottes Augen an die Dunkelheit gewöhnt, sie tastete nach dem Lichtschalter hinten an der Wand, bevor sie die Streichhölzer suchte und die Kerze neben der Matratze anzündete. Es war nicht das erste Mal, dass sie vor Wilhelm hier war. Der Gedanke, ganz allein unter den Häusern der Stadt zu sein, versetzte sie in einen Zustand zwischen Angst und Erregung. Lotte schaltete das Deckenlicht aus, das Grammophon an, legte die Nadel auf die Platte. Der Rhythmus ging ihr sofort ins Blut, Musik strömte durch ihren Körper, vergessen war der Krieg und alles. Sie tanzte einfach drauflos. Es war egal, dass die Musik bis nach oben an die Decke dröhnte, egal, dass sie laut mitsang, sie war hier, tanzte, tanzte, als ob es um ihr Leben ginge, sie konnte nicht anders. Drehte sich, zappelte mit den Armen, kickte die Beine, so wie Wilhelm, als sie ihn im Tanzpalast getroffen hatte. Damals … Lotte hielt inne. Sofort hatte sie wieder die Szene auf der Brücke vor Augen, erinnerte sich an seinen Blick. Sie dachte an all die kurzen, zufälligen Treffen im Park, die Küsse im Schnee, bis sie sich eines Tages hier unten verabredet hatten. Für Wilhelm war es ein Leichtes, in das Nachbarhaus zu gelangen, und so hatten sie sich hier nach und nach ein Liebesnest eingerichtet. Er hatte die Matratze mitgebracht, Lotte Decken, ein Kissen. Eines Tages hatte Wilhelm ihr ein kleines Ölgemälde geschenkt. Seitdem leuchtete rotorangegelber Mohn über ihnen, wenn sie sich liebten.

Irgendwann brachte er dann das Grammophon mit und eine Platte, ihre Lieblingsplatte. Sie tanzten gemeinsam, spürten nur sich und nichts sonst, tanzten fröhlich und ausgelassen und schließlich nur noch ganz leise und sanft, bis Wilhelm seine Hände zärtlich über ihr Kleid wandern ließ, sie seine Halsbeuge küsste und er ihre Haare, sie ihm das Hemd aufknöpfte und sie beide im Liebestaumel versanken.

Oft schon waren sie ineinander versunken eingeschlafen und mit einem Schreck aufgesprungen, hatten hastig ihre Kleidung aufgesammelt und sich angezogen. Ein kurzer, leidenschaftlicher Abschiedskuss und noch einer und noch einer, dann trat jeder wieder durch die kleine Tür zurück in seine Welt, die triste, traurige zerbombte Welt.

Wenn der Krieg nur endlich vorbei wäre, dachte Lotte. Sie hatte sich auf der Matratze zusammengerollt, die flackernde Kerze warf unruhige Lichter an die Wand und brachte den Mohn zum Leuchten, golden schimmerte er zu ihr herunter. Langsam machte sie sich nun doch Sorgen um Wilhelm. Wo er nur blieb? Aber in jüngster Zeit verspätete er sich öfter.

Lotte lauschte in die Dunkelheit, längst waren ihr die Geräusche des Hauses vertraut, das Pfeifen der Rohre, das Ächzen des Kellergebälks. Doch heute war alles anders, alles wirkte gespenstisch ruhig. Lotte zog sich die Decke über die Schultern, ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein und hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als sie spürte, wie sich Wilhelm neben sie legte und sie sanft auf die Wange küsste.

»Wo warst du so lange? Ist etwas passiert?«, flüsterte sie schlaftrunken, während sie sich in die Arme des Geliebten schmiegte.

»Nein, es ist alles wie immer«, antwortete er, aber sie hörte seiner Stimme an, dass ihm etwas Sorgen bereitete. Schon fügte er hinzu: »Sie rechnen für heute Nacht mit einem Bombenangriff der Engländer.«

»Wieder einmal … Das glaubst du doch selbst nicht!« Lotte zog ihn dichter zu sich und küsste ihn zärtlich auf den Mund, Wilhelm ließ zur Antwort seine Hände über ihren schmalen Körper wandern. Dünn war sie geworden, kein Wunder.

»Nein, ich glaub’s nicht«, murmelte Wilhelm in ihre Haare und zog ihr wie nebenbei das Kleid über den Kopf. »Aber seit einer Weile haben sie die Drahtfunkwecker an …«

»Solange sie ticken, passiert uns nichts …«, antwortete Lotte, küsste ihn stürmisch, und kurz darauf vergaßen sie die Traurigkeit um sich herum. In leidenschaftlicher Umarmung gefangen, sich atmend, spürend, liebend, gaben sie sich einander hin. Ihr Atem ging stoßweise, und wie nebenbei registrierte Lotte das rasche Auf- und Abschwellen der Sirene, diesen Ton, der ihr durch Mark und Bein ging, sie erschütterte und sämtliche Körperzellen in Alarmbereitschaft versetzte. Alles in ihr vibrierte. Lotte spürte Wilhelms Irritation, wie er die Hände von ihr nehmen wollte, den Kopf lauschend hob, doch sie küsste ihn weiter, klammerte sich an ihn, verdrängte Panik und Todesangst. »Nicht aufhören«, flüsterte sie, »es sind doch nur wieder die Engländer, wie immer, sie werden uns schon nicht treffen …«

Und während die Sirenen nicht aufhörten zu heulen, hielten sie sich innig umschlungen, liebten sich, wie sie sich noch nie geliebt hatten, wollten kein Ende finden. Ihre Körper schwitzten heiß, Lotte meinte zu verglühen, die Münder in Küssen versunken. Sekunden später bebte die Erde. Lotte schrie auf, aus Wilhelms Kehle drang ein tiefer Laut – und dann …

Flieger dröhnten über der Stadt, brachten den Tod, Sprengbomben heulten nieder. Jetzt hörte sie nebenan die Menschen schreien. Immer wieder gab es dumpfe Einschläge, dass die Wände vibrierten und Staub von der Decke bröselte.

Lotte hielt sich an Wilhelm fest, der sich aufgerichtet und das Licht angeschaltet hatte, während er hastig nach seiner Kleidung suchte. Der nächste Einschlag schüttelte sie, rüttelte an den Wänden.

Lieber Gott.

»Zieh dich an, schnell, wir müssen hier raus«, rief er und reichte Lotte das Kleid, das er vorhin – war es nicht schon eine Ewigkeit her? – achtlos in die Ecke geworfen hatte.

»Aber hier sind wir in Sicherheit«, wagte Lotte schwach zu protestieren. Sie hatte Angst, ob sie es zugeben mochte oder nicht. Mit zittrigen Fingern zog sie sich ihr Kleid über und schnürte ihre Stiefel zu. Hatte nicht der Else immer wieder gepredigt, dass sie in den Kellern nur überleben würden, wenn sie sich an die Regeln hielten? Dem Schutzwart bedingungslos gehorchten?

In diesem Moment gab es drei heftige Einschläge hintereinander, die Wände wackelten noch stärker und der Strom fiel aus. Lotte schrie erschrocken auf.

»Nicht mehr, wenn der Bombenhagel vorbei ist, hörst du? Sie fliegen einen Fächer und lassen Feuer vom Himmel regnen. Sie wollen die Stadt in einem einzigen Anlauf anstecken … uns vernichten. Ich weiß, dass wir auf ihrer Liste stehen.«

Woher weißt du das, wollte Lotte fragen, doch das Dröhnen der Fliegermotoren, das Bombengeheul ließ sie verstummen. Sie hielt sich die Ohren zu und versuchte, die aufsteigenden Tränen hinunterzuschlucken. Bewahre und behüte uns.

»Wir müssen abwarten.« Wilhelm beugte sich schützend über sie, doch sofort richtete er sich wieder auf. »Wenn ihre Strategie aufgegangen ist und alle Bomben und Kanister abgeworfen sind, rennen wir raus, verstehst du? Hier, nimm meinen Mantel, wir müssen ihn nass machen …«

Er warf ihr seinen triefend nassen Mantel zu, das Blau dunkler als sonst. Lotte nickte und leistete insgeheim Abbitte. Wie oft hatte sie ihn für seine Vorsichtsmaßnahmen ausgelacht. Spielverderber hatte sie ihn genannt, wenn er die Sicherheitsvorkehrungen prüfte, Gasmasken und einen Eimer Wasser bereitstellte, bevor er die Kerzen anzündete und das Grammophon einschaltete. Lotte wagte einen Blick zur Seite, ihre Lieblingsplatte lag stumm auf dem Teller. Später würde sie nicht mehr sagen können, warum sie sie nahm und in ihren Beutel steckte, gemeinsam mit dem Mohnbild von der Wand.

Und dann fielen Bomben, eine Ewigkeit lang, wieder und wieder und immer wieder. Wieder ein Einschlag, das Mauerwerk um sie herum brach krachend ein, Holzlatten splitterten, alles schleuderte durcheinander, während sie eng aneinandergekauert dasaßen und beteten. Die Tür zum Kellergang schlug auf, aufgewirbelter Staub brannte in ihren Augen, sie konnte fast nichts erkennen. Jetzt war das Dröhnen über ihnen verstummt, eine fast gespenstische Stille legte sich über sie. Lotte horchte in die Dunkelheit hinein, mochte nicht glauben, dass der Bombenregen aufgehört hatte. Dafür roch es jetzt überall nach Staub und Rauch.

»Komm, raus hier …« Wilhelm griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich. Durch das Kellerlabyrinth und vorbei an den anderen Schutzräumen, wo sich Menschen aneinanderklammerten, sich langsam aus ihrer Schockstarre lösten, mühsam auf alle viere kamen, um dann hustend aufzustehen. Lotte meinte, die Nachbarin zu erkennen, irgendwo mussten doch auch Otto und ihre Mutter sein, aber Wilhelm ließ ihr keine Zeit, sie zu suchen. Mit den Füßen und der freien Hand schob er Schutt und Steine zur Seite, zog Lotte eilig die Treppenstufen nach oben ins Freie. Die Wand des Nachbarhauses gab es nicht mehr.

»Oh mein Gott«, entfuhr es ihr, als sie die brennenden Dachstühle um sich herum erblickte. Dort, wo sich einst backsteinrote Häuserwände aneinandergereiht hatten, stand alles in Flammen, Ströme von Phosphor hatten die Stadt in ein Inferno verwandelt. Aus einigen Kellern kamen jetzt Menschen hervor, hustend, schnaufend, aber am Leben. Schnell formierten sich Löschreihen, Eimer mit Sand und Wasser wurden weitergereicht, doch es schien aussichtslos. Lotte folgte Wilhelm durch die brennenden Straßen. »Wir müssen helfen«, rief sie ihm atemlos zu.

»Wir müssen hier weg!«, antwortete er, zog sie mit sich und rannte weiter. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, beißender Rauch legte sich auf ihre Lungen, das Feuer prasselte in ihren Ohren.

Plötzlich krachte es abermals, ohrenbetäubend laut, eine Reihe von Explosionen, ein merkwürdig helles Geräusch. Woher kam das?

»Sie kommen wieder! Wir müssen zurück in den Keller!« Lotte schaute panisch in den Himmel.

»Nein, das glaube ich nicht …« Doch Wilhelm blieb stehen, horchte angestrengt. Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Da! Wieder und immer wieder hörten sie dieses merkwürdige Explosionsgeräusch, und es waren nicht die Fensterscheiben, die neben ihnen zerbarsten. »Das sind Granaten … die Waggons explodieren … Sie haben den Munitionszug getroffen«, flüsterte er fassungslos. »Oh mein Gott.«

Direkt vor Lotte krachte ein brennender Balken auf die Straße, glühende Dachpappe segelte wie ein Papierflieger hinterher, sie konnte gerade noch ausweichen. Die Luft wurde heiß und heißer, die Flammensäulen um sie herum stiegen immer höher.

»Weiter, komm!«, sagte Wilhelm, »hier dürfen wir nicht bleiben!«

»Es ist sinnlos …« Aber Lotte folgte ihm, den Mantel immer noch um sich geschlungen, obwohl er längst getrocknet war. Inmitten des Funkenflugs bahnten sie sich einen Weg durch das Flammenmeer, rannten um ihr Leben. Die Stadt brannte lichterloh. Lotte stolperte, knickte um. Hustend rappelte sie sich auf, sie konnte kaum mit Wilhelm Schritt halten. Bloß nicht hinfallen. Weiter. Weiter.

»Ihre Strategie ist aufgegangen, sie haben einen Feuersturm entfacht«, hörte sie ihn fluchen, als sie wieder einmal eine Querstraße nicht passieren konnten, weil sie komplett in Flammen stand und ihnen faustgroße Glutbrocken entgegenschlugen. Weiter. Menschen taumelten auf der Flucht an ihnen vorbei, kämpften mit der Glut zu ihren Füßen. Ein Vater zog seinen kleinen Jungen eilig mit sich, das Kind strauchelte und blieb im glühenden Asphalt stecken. Der Mann blieb stehen, zog und zerrte und fiel schließlich selbst auf die Knie, Lotte hörte seine verzweifelten Schreie. Eine schwangere Frau war an der gegenüberliegenden Häuserecke zusammengebrochen, niemand half ihr auf, niemand konnte sie retten. Im Umdrehen erkannte Lotte, dass sie gerade ihr Kind gebar, und der Anblick brannte sich für immer in ihre Seele.

»Wo willst du hin?« Lottes Stimme versagte. Längst glühten ihre Füße in den Stiefeln, schwer atmend hielt sie den Beutel in ihren Händen umklammert. Über ihnen züngelten die Flammen meterhoch aus den Häusern.

»Hierhin.« Wilhelm deutete auf den Bismarckbrunnen ein paar Meter vor ihnen. »Geh dort hinein, hier bist du in Sicherheit. Komm, schnell, mach den Mantel nass.« Er half ihr in den Brunnen, in dem sich bereits etliche Menschen drängelten, aber noch zusammenrückten, um ihr Platz zu machen.

Behutsam legte Wilhelm Lotte den Mantel um. Dann küsste er sie auf die Stirn. »Bleib hier, bis Hilfe kommt. Bleib! Hörst du, nicht aus dem Wasser raus! Rühr dich nicht hier weg, egal was passiert.«

»Und du? Was hast du vor?« Lotte hielt seine Hände fest, wollte ihn nicht gehen lassen.

»Helfen. Ich muss helfen. Bevor die Flammen alles vernichten …« Er riss sich von ihr los, lief ein paar Schritte, bevor er noch einmal zurückkam und seine Stirn an ihre lehnte. »Was auch immer passiert, Lotte, ich bin bei dir, unsere Seelen sind eins. Ich liebe dich, vergiss das nicht! Nie, hörst du! Wir sehen uns wieder … irgendwo, irgendwann.«

Wie lange Lotte in jener Nacht in dem Brunnen saß, wusste sie im Nachhinein nicht mehr zu sagen. Immer wieder stand sie auf, wollte hinaus, doch immer wieder wurde sie zurückgezogen. Menschen drängelten sich zu ihnen, Wildfremde hielten sich an den Händen und spendeten sich gegenseitig Trost, der Mann neben ihr weinte stumm. Dicht aneinandergedrängt saßen sie da, hielten sich feuchte Taschentücher vor die Nase, während das Wasser um sie herum langsam verdampfte, bewacht vom starren Blick des Denkmals. Lotte versuchte ruhig zu bleiben, betete, doch die Sorge um Wilhelm, ihre Mutter und Otto brachte sie schier um den Verstand. Der Feuersturm rauschte in ihren Ohren. Dann ein Geräusch, das ihr seltsam vertraut vorkam. Glocken. Die Glocken der Kirche läuteten, unbeständig, leise, nicht wie sonntags, wenn der schwarze Markus predigte, sondern im dumpfen Todesschlag. Es musste der Feuersturm sein, der sie zum Läuten brachte.

Lottes Gesicht glühte, bald würde es nicht mehr genug Wasser für sie alle im Brunnen geben. Aber was hatte Wilhelm gesagt: Sie sollte hierbleiben. Ganz bestimmt würde er bald zurückkommen und Hilfe mitbringen, die Feuerwehr war ja unterwegs und würde rettendes Nass auf sie regnen lassen. Immer noch flüchteten Menschen an ihnen vorbei, versuchten sich vor der Feuerhölle in Sicherheit zu bringen. Immerhin hatten die Explosionen aufgehört. Dafür prasselte das Feuer um sie herum noch stärker, Funken flogen auf sie herab und versengten ihre Haare. Sie fühlten sich an wie Draht, als Lotte vorsichtig danach tastete. Der Mann neben ihr hatte aufgehört zu weinen und war nach vorne gekippt. Lotte wagte nicht, ihn zu berühren. Bestimmt war er tot.

Lottes Mund war trocken, in ihren Augen brannte der Rauch. Immer noch stoben Funken auf sie herab, brannten Löcher in Wilhelms Mantel und auch in den Beutel, den sie fest an sich gedrückt hielt. Das Wimmern im Brunnen wurde leiser, die Menschen neben ihr mussten eingeschlafen sein oder … Lotte wagte nicht, Schlimmeres zu denken. Da endlich wurde das Prasseln des Feuers leiser, legte sich der Feuersturm.

Grabesstille lag über der Stadt, als Lotte erwachte und in die Dämmerung blinzelte, nicht ein Vogel zwitscherte, kein grüner Baum, nur Tote, überall um sie herum Tod, alles schwarz, verbrannt. In ihrer Hand das Bild mit dem leuchtenden Mohn.

I

Ein Jahr zuvor

I

Lotte verliebte sich in dem Sommer, als der Soldat vom Himmel fiel. Es war heiß in diesem Jahr, sehr heiß, der Winter mit all seinem Schnee und Eis lag unvorstellbar weit zurück. In jenen Monaten hatten Tausende Männer bei klirrender Kälte ihr Leben gelassen, eingekesselt und erfroren an Körper, Leib und Seele. Und es war noch gar nicht lange her, dass so viele den totalen Krieg bejubelt hatten, im Glauben, sie könnten diesen Krieg noch gewinnen, der seit vier Jahren ihren Alltag bestimmte.

Aber Lotte wusste es anders. Sie hatte ihren Vater erlebt, der mit fahlem Gesicht am Tisch saß und keine Antworten auf ihre Fragen hatte. Keine liebevollen Berührungen für seine Frau, erst recht keine Gesten für seine beiden Ältesten, Lotte und Fritz, nur der kleine Sohn vermochte ihn aufzuheitern. Sie hatte die Hoffnungslosigkeit in den Augen der Soldaten auf Heimaturlaub gelesen, in den Feldpostbriefen von Hans zwischen den Zeilen. Lotte wusste, dass Studenten hingerichtet wurden, die ihren Widerstand offen bekannten. Jeder, der anders dachte, als das Regime es vorschrieb, war in Gefahr, und Juden transportierten sie einfach ab. Es war eine leidvolle Zeit und Lotte betete jeden Tag für Frieden.

An diesem Tag also saß sie wieder einmal in ihrem Versteck im alten Kirschbaum und ließ die Beine baumeln, eine Angewohnheit aus Kindheitstagen, die sie nicht ablegen mochte. Wie oft hatte Hans sie deswegen getadelt, als junge Frau, die zudem einen Verlobungsring trug, schickte sich das nicht. Aber Hans wusste ja nicht, wie viel Spaß es machte, barfuß einen Baum hinaufzuklettern, und wie egal es war, dass einem dabei Arme und Beine zerkratzten! Wie sich ein Bauch voller Kirschen anfühlte und die Backen voller Kerne! Wie es war, heimlich im Blätterdach zu hocken, während ringsum Geschichten passierten. Jemand wie Hans aß auch nicht händeweise ungewaschene Himbeeren und sowieso keine Tomaten, bei Hans musste immer alles ganz sauber und korrekt sein und seine Ordnung haben. Nie im Leben würde er sich die Hände mit Gartenarbeit schmutzig machen oder unter der Woche mit seinen guten Schuhen auf die Straße gehen. Hans tanzte nie im Regen, sondern hockte am liebsten am Schreibtisch, studierte Fachliteratur und las in der Zeitung.

Trotzdem liebte sie ihn, vielleicht gerade deswegen, weil er so strebsam war, so anders als sie. Sie ergänzten sich gut und waren ein schönes Paar. Hans und Lotte kannten sich aus Kindheitstagen, waren gemeinsam zur Schule gegangen, und während er zur Hitlerjugend ging, kam sie zum Bund Deutscher Mädel. Hans war natürlich ihr Partner in der Tanzschule gewesen und der erste Mann, den sie heimlich geküsst hatte. Sie küssten sich gerne, und da war es nur konsequent, dass sie jetzt miteinander verlobt waren. Für Lottes Mutter schien ein Traum in Erfüllung zu gehen, Hans war genau der richtige Mann, um ihrer Tochter die Flausen aus dem Kopf zu treiben, sodass sie ihr Studium sein lassen und Kinder kriegen würde, wie es sich für eine richtige Frau gehörte. Für Lotte war Hans der einzige Mensch, mit dem sie sich vorstellen konnte, ihr Leben zu verbringen, die anderen jungen Männer, die sie kannte, waren ihr nicht ernsthaft genug. Er liebte sie so, wie sie war. Auch mit schmutzigen Gartenfüßen und Studienplänen und Kirschkernen im Bauch.

Doch Hans’ Marschbefehl hatte ihre Hochzeitspläne durchkreuzt. Er diente nun bei den Bodeneinheiten, glücklicherweise nur im Nachrichtenbereich, und doch war er ständig feindlichen Angriffen ausgesetzt, bangte um sein Leben, wie er in seinen Briefen schrieb, und auch Lotte lebte in ständiger Sorge um ihn. Wie es ihm wohl erging, so ohne fließend Wasser und ohne regelmäßige warme Mahlzeiten, wie er sie von seiner Mutter gewohnt war. Seine Mutter, die keine Gelegenheit ausließ, um bei Oltkes im Laden mit ihrem Prachtsohn zu prahlen, der an der Front so tapfer das Reich verteidige und bereit sei, für den Führer zu sterben. Immer mit so einem speziellen Seitenblick zu Lotte, weil diese beim BDM keine Abzeichen gesammelt hatte und jetzt studieren ging, anstatt im Lazarett zu helfen oder Zünder zu justieren.

Schnell schob Lotte die düsteren Gedanken beiseite. Ihm würde schon nichts passieren, dieser Krieg würde bald vorbei und er wieder zu Hause sein und sie endlich seine Frau. Bei dieser Vorstellung lächelte Lotte. Oft hatte sie in den letzten Wochen nackt vor ihrem Spiegel gestanden, dabei ihre Brüste gestreichelt und sie wunderschön gefunden. Sie fühlte sich bereit für die Ehe und sehr erwachsen, erwachsener als ihre Freundinnen Hedwig und Ruth, die den jungen Männern hinterherkicherten und ihnen schöne Augen machten. Die beiden wollten natürlich alles über Hans und die Verlobung wissen, als ihnen Lotte davon erzählte – und von ihrem ersten Kuss.

Wie sie jetzt im Blätterdach hockte, strich sie sich versonnen über die Lippen, es war schön mit Hans, schöner als in den Filmen, die sie in den Kinos schaute. Hans war ihr liebster Kamerad unter der Sonne und ein ernsthafter und pflichtbewusster Mensch. Er würde einmal die Fabrik seines Vaters erben, in der er jetzt schon arbeitete, er konnte Lotte ein sorgenfreies Leben bieten, sogar mit einem großen Haus. Genau deswegen war ihre Mutter froh, denn in ihren Augen gehörte eine Frau an den Herd – und nicht an die Universität.

Lottes Miene verdüsterte sich. Es war ein ewiges Streitthema im Hause der Braunstetts, dass Lotte studierte, der Mutter ein Dorn im Auge, der es Lotte sowieso nie recht machen konnte. Dabei arbeitete sie selbst als Aushilfslehrerin, allerdings weniger aus innerer Überzeugung denn aus den Umständen heraus. Da Vati im Krieg diente und das Geld vorne und hinten nicht reichte, unterrichtete die Mutter seit einiger Zeit im Schulhaus gegenüber, hatte seine Stelle eingenommen und kümmerte sich um Kriegswaisen und Schulkinder. Aber sie machte keinen Hehl daraus, dass sie es allein aus mütterlichem Pflichtgefühl und Nächstenliebe tat, sie hielt von studierten Mädeln und diesem neumodischen Getue nichts. Wissensdurst und Erkenntnisgeist waren für sie Männersache, und Frauen waren Mütter, was hatten sie an der Universität zu suchen? Sie hätte Lotte viel lieber als Kinderkrankenschwester gesehen, dann hätte sie wenigstens jetzt schon Geld verdient.

Und dennoch hatte Lotte sich begeistert eingeschrieben. Das neue Regime förderte das Frauenstudium und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, warum also zu Hause sitzen und auf einen Mann warten, wenn sie selbst etwas tun konnte. Lotte wollte Lehrerin werden, sie konnte gut mit Kindern umgehen und würde ihnen alles beibringen, was sie wusste – das ABC, Rechnen, Lesen, vor allem aber das Denken wollte sie mit ihnen üben, schien ihr doch das selbstständige Denken in letzter Zeit bei vielen abhandengekommen zu sein. Hans war jetzt schon stolz auf sein Lottchen und wusste, sie würde eine ganz wunderbare Lehrerin sein – und eine noch bessere Mutter für seine Kinder, trug sie doch Leichtigkeit und Frohsinn im Herzen. Sie würde nicht wie ihre Mutter mit der Bibel auf dem Stuhl in der Ecke sitzen, sondern mit den Kindern tanzen, singen und Musik machen. Lotte träumte zwar gerne vor sich hin und studierte ihre Bücher – doch sie tanzte auch für ihr Leben gern. Die Beine fliegen und das Herz sprechen lassen, sich fröhlich und ungestüm im Takt drehen, federleicht über das Parkett schweben … Hans nannte sie liebevoll seine Sommertänzerin.

Seit Lotte denken konnte, zog Musik sie magisch an und war aus ihrem Leben nicht fortzudenken. Wann immer sich die Möglichkeit ergab, spielte sie bei ihrer Freundin Ruth am Flügel. Deren Mutter war eine gefragte Pianistin und hatte einige große Auftritte in den Musikfilmen der Zeit. Mit ihrem sympathischen wie bescheidenen Auftreten eroberte sie die Herzen im Sturm. Frau Rosenthal freute sich über Lottes Interesse, wo doch ihre eigene Tochter eher die Nase rümpfte und alle erdenklichen Ausreden erfand, wenn sie ihre Stücke üben sollte. Gerne erteilte Frau Rosenthal Lotte Unterricht und ermunterte ihre talentierte Schülerin zum Spiel. Doch die Zusammenkünfte waren in den letzten Monaten rar geworden, obwohl Ruths Mutter keine Rollen mehr hatte und außergewöhnlich oft zu Hause war. Der Flügel verwaiste in den großzügigen Räumen, kaum einer wagte zu spielen, die Schikanen und Verbote, die alltäglichen Anfeindungen und Gemeinheiten hatten sie stumm gemacht. Selbst Lotte berührte die Tasten nicht mehr, wenn sie dann doch mal zu Besuch bei Rosenthals war, auch wenn es sie jedes Mal in den Fingern juckte. Vergangen die Zeit, in der sie vierhändig Schubert spielten oder ein Scherzo, vorbei jene herrlich unbeschwerten Stunden, in denen sie gemeinsam das Kino besuchten: Filme über Liebe und Leidenschaft, schwere Stimmen mit sehnsuchtsvollen Liedern. Federleichte Tänzerinnen auf der Bühne, fröhliche Sprüche für beste Unterhaltung. Ruths Mutter hatte immer eine zusätzliche Freikarte für Lotte bereitgehabt, und so hatte sie zum Neid von Hedwig und den anderen Mädchen all die Berühmtheiten der Zeit kennengelernt und sogar Autogrammkarten bekommen.

Lotte verdankte Ruths Mutter Einblicke in eine andere Welt, die aufregender nicht sein konnte, glitzernd, funkelnd, hell. Weit weg vom Kriegsalltag mit Luftangriffen und Bomben, Hungern, Anstehen und Löchern in den Strümpfen, hier war die Welt ohne Sorgen. Wenn Lotte im Saal in ihrem Plüschsessel saß in ihrem besten gelben Kleid, ließ sie sich mitreißen von der Choreografie der Tänzerinnen, ihrem lustigen Gesang, dem Lächeln in den Gesichtern um sie herum. Begeistert klatschte sie im Takt, wippte mit dem Bein, schwebte federleicht über die Bühne und tanzte die Treppe hinunter, dass einem schwindelig wurde. Die Musik erfüllte sie, nie war sie so glücklich wie in jenen erwartungsvollen Momenten, wenn das Licht ausging und sie in der Dunkelheit des Saals in den Sessel gedrückt darauf wartete, dass sich der Vorhang aufrollte, wenn sie vor Aufregung an ihren Lippen nagte und ihr das Herz fast am Zerspringen war.

Als Lotte in jenem Sommer also im Kirschbaum saß, verborgen in den leer gepflückten Ästen mit dem dichten Blattwerk, begann sie wieder einmal, von einem bejubelten Auftritt zu träumen. Sie war reich und schön, entbehrte nichts, ein Star mit einer eigenen Garderobiere, Pelzkragen und rotgemalten Lippen. Wenn sie tanzte, sahen die Menschen gebannt zu, klatschten begeistert Beifall, sie hingen an ihren Lippen, wenn sie sang, wollten Autogramme und …

Ein dumpfer Einschlag schreckte Lotte aus ihren Gedanken, gefolgt von einem Rauschen und Rascheln. Erschrocken spähte sie durch die Blätter. Im Garten des Mehrfamilienhauses stand ein Soldat – und schaute zu ihr herüber. Hinterher wusste Lotte nicht zu sagen, wer von ihnen beiden sich wohl mehr erschrocken hatte. Sie, weil aus heiterem Himmel ein fremder Mann in ihren Garten gesegelt war. Oder er, weil er mitten in einem Bohnenbeet stand. Verstohlen lächelten sie sich zu, für den Bruchteil einer Sekunde nur, schüttelten ungläubig die Köpfe, dass so etwas passierte. Zwei Fremde, die sich am helllichten Nachmittag mitten im Gemüsegarten gegenübersahen, sich verbündeten, nur sie und er, als stünde die Welt still.

Dann besann er sich, entledigte sich eiligst seines Fallschirms und sprintete durch die Beete davon. Sprang über die Nachbarsmauer und war schon um die Ecke verschwunden, bevor Lotte überhaupt erkennen konnte, welche Uniform er trug. In Windeseile kletterte sie vom Baum herunter, schaute nach links und nach rechts, ob auch ja niemand etwas von dem Flüchtigen bemerkt hatte, und machte sich dann daran, den Fallschirm aufzurollen. Denn dass es nur unliebsame Fragen geben würde, wenn jemand den Zwischenfall bemerkte, war so klar wie der Sommerhimmel über ihr. Dummerweise hatte der Fallschirmspringer beim Landen die Karotten zertrampelt und beim Weglaufen auch keine Rücksicht auf die Bohnen genommen, die sie ordentlich angehäufelt hatte.

Erschrocken schaute sich Lotte um. Hoffentlich hatte der Blockwart von der Landung nichts bemerkt! Sie mochte den stämmigen Mann nicht, der immer so seltsam zwinkerte. Der Erste Weltkrieg hatte dem Else ein Glasauge beschert, sie wusste nie, wann er sie wirklich ansah. Lotte misstraute ihm. Er würde sofort Alarm melden, und binnen kürzester Zeit würden zwischen den Tomaten- und Lauchpflanzen Polizei und Gestapo herumstolzieren. Die Beete zertrampelt und das Unglück fertig.

Schnell raffte sie den Stoff und die Seile zusammen, den Arm voller Seide, die sich unter ihren Fingern weich und fließend anfühlte. Lotte zog und schleppte den Fallschirm in die kleine Hütte am Ende des Gartens, die ihnen gehörte. Sie konnte nur hoffen, dass sämtliche Nachbarn um diese Uhrzeit beschäftigt waren oder wenigstens Mittagsschlaf hielten. Eilig stopfte Lotte die unzähligen Stoffbahnen in die kleine Luke unter den Dielen. Dort, wo eine schmale Treppe in einen kleinen Lagerraum führte, ergoss sich nun ein weißes Meer aus Seide und brachte das Dunkel zum Leuchten.

Mit einem leisen Lächeln klappte Lotte kurz darauf den Deckel zu und schob das Tischchen darüber. Sie hatte den Raum eines Tages entdeckt, als sie beim Fegen an einer der Holzkanten hängen geblieben war und sich über diese kleine, feine Unebenheit im Boden gewundert hatte. Einer inneren Stimme folgend hatte sie niemandem davon erzählt, selbst Ruth nicht, der sie sonst immer alles anvertraute. Irgendwann würde dieser Raum für irgendwas gut sein, und jetzt war genau dieser Moment.

Lotte griff nach der Hacke und lief wieder nach draußen. Während sie sich im Bohnenbeet zu schaffen machte, um die Schleifspuren der Fangleinen zu verwischen und die Ordnung der Dinge wiederherzustellen, blickte sie sich möglichst unauffällig um. Zu ihrer Erleichterung war alles ruhig.

Mit leichter Hand stieß Lotte die Hacke in den Boden, die trockene Erde gab rasch nach, und binnen kurzer Zeit waren die Beete vorbildlich aufgelockert wie in Böttners Gartenbuch. Später würde sie noch gießen, dann wären auch die letzten Spuren beseitigt. Zufrieden stellte sie die Hacke zurück, keine Minute zu früh, denn in diesem Augenblick kam Otto in den Garten gerannt, einen kleinen gefleckten Mischlingshund im Schlepptau.

»Lotte, Lotte, stell dir vor, was der Lumpi kann …«, stieß Otto atemlos hervor, als er die Schwester erblickte. Mitten im Satz hielt er inne und schaute irritiert auf die Erdklumpen zu ihren Füßen. »Warum gräbst du im Sommer um?«

»Weil … die Erde musste aufgelockert werden. Wegen der Trockenheit, verstehst du? Wenn es später regnet, kann das Wasser so viel besser in den Boden eindringen.«

Schnell strich Lotte ihrem kleinen Bruder durchs blonde Haar, hielt aber mitten in der Bewegung inne.

»Igitt, was ist das denn?« Angewidert betrachtete sie die Klümpchen, die sich zwischen ihren Fingerspitzen rollten.

»Ach, das ist nur Zuckerrübensirup von Oma Schmidt!« Otto grinste sein typisches Otto-Grinsen. »Und was ist das?«

Lotte stockte der Atem.

Doch zu ihrer Erleichterung zeigte Otto auf ein kleines Stück Metall, das neben den Eimern auf dem Boden lag. Schnell bückte er sich und hob es auf, drehte es zwischen seinen Fingern, kniff das rechte Auge zusammen und hielt es dicht vors andere, um es genauer betrachten zu können.

»Sieht nach einem abgerissenen Knopf aus, oder?«, meinte Lotte und versuchte, ihrer Stimme einen leichten Klang zu geben. In Wirklichkeit hielt sie die Luft an. Denn Lumpi schnupperte aufgeregt in der Hütte herum. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Ein Blick genügte, um festzustellen, dass noch ein Stückchen Fallschirmseide aus der Luke hing, kaum sichtbar, aber jetzt, wo sie es entdeckt hatte, musste Lotte die ganze Zeit hinschauen.

»Kann ich gebrauchen«, sagte Otto und steckte ihn ein. »Lumpi, komm, Lumpi, sei brav. Was hat er denn nur?«

Lumpi dachte nicht daran, Kunststückchen vorzuführen. Immer wieder flitzte er von drinnen nach draußen und von draußen nach drinnen. Lotte spürte, wie sie immer nervöser wurde. Wie sollte sie Otto bloß erklären, dass sich etliche Quadratmeter feinste Fallschirmseide und wertvolle Seile unter dem Dielenboden befanden? Ohne Frage würde er sofort eins und eins zusammenzählen und selbst mit seinen zehn Jahren verstehen, dass es kompliziert werden konnte, von einem geflüchteten Soldaten zu wissen. Auch wenn der wer weiß wohin verschwunden war, ganz egal, wessen Abzeichen er auf seiner Uniform trug.

»Komm, gehen wir nach draußen. Da kann Lumpi zeigen, was er kann.« Lotte fasste ihren Bruder an der Hand und zog ihn mit sich. »Hilfe, die kleben ja wie Fliegenpapier! Was macht denn der Sirup an deinen Händen?«, rief sie mit gespieltem Entsetzen.

Otto kicherte. Dann schickte er Lumpi zu Lottes Erleichterung endlich in den Garten, wo er ihn mit einem Stöckchen zu Kunststückchen zu animieren versuchte.

»Soso.« Lotte rollte amüsiert die Augen und wischte sich die Hände am Kittel ab. Hedwigs Oma steckte ihrem Bruder bei jeder Gelegenheit eine Kleinigkeit zu: Rosinen, ein Stückchen Brot oder wie heute etwas Süßes zum Naschen. Angeblich, weil er sich so rührend um Lumpi kümmerte. In Wirklichkeit hatte sie einen Narren an Otto gefressen, weil er sie an Hedwigs Vater erinnerte, als der noch ein kleiner Bub gewesen war. Heinrich Schmidt, der wie ihr Vati und alle Männer mit dem festen Glauben an den Endsieg in den Krieg gezogen war. Wahrscheinlich kämpften sie sogar Seite an Seite an der Westfront.

»Aus, pfui, Lumpi, was machst du da«, tadelte Otto den kleinen Mischlingshund, der gerade am Bohnenbusch sein Beinchen heben wollte, doch Lotte hatte ihn schon beiseitegezogen.

»Also, was ist jetzt?« Sie guckte ihren Bruder erwartungsvoll an.

»Also, pass auf!« Otto pfiff ein Lied – und Lumpi bellte im Takt, dabei drehte er sich im Kreis.

»Das ist ja großartig!« Lotte war in die Hocke gegangen, um Lumpi ausgiebig zu loben. »Aber jetzt wird es Zeit, wieder zu Frauchen zu gehen. Otto muss Hausaufgaben machen. Und ich will Ruth besuchen, ihr ein paar Pfirsiche vorbeibringen.«

»Also gut«, maulte Otto und marschierte Richtung Haus, nicht ohne Lumpi vorher gebührend verabschiedet zu haben, der sich Richtung Nachbargrundstück trollte.

September 2006

Ob sie ihn wiedersehen würde? So viele Male hatte Hazel, wenn sie morgens auf dem Weg zur Arbeit im vollen Bus saß, insgeheim die Haltestellen gezählt, bis er am Luisenplatz einstieg, um ihn dann aus dem sicheren Schutz der Menschenmenge heraus zu beobachten. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, ein Blick, fast wie ein Zunicken, wenn er sich einen Platz suchte und dabei zu ihr herübersah, sie in der hintersten Reihe, er im Mittelgang zwischen all den anderen. Sie wusste kaum etwas von ihm, aber sie kannte seine Hände, die sich an der abgewetzten Griffstange festhielten, wenn der Bus schaukelnd losfuhr, wie ihre eigenen. Sie wusste, dass er gleich mit der linken Hand den Sitz seiner Kopfhörer prüfen würde, während er mit nachdenklichen blauen Augen aus dem Fenster blickte und sich mit lässiger Geste die dunklen Locken aus dem Gesicht strich. Oft genug hatte sie sich gefragt, welche Musik er wohl hörte. Jazz, Blues, R’n’B?

Hazel und Henry. Die Liebe des Millenniums.

So vertraut war ihr seine rechte Hand, die lässig auf der Griffstange ruhte, bereit, fest zuzupacken, wenn der Bus plötzlich anhielt. Wie oft hatte sie die feinen Linien der Haut verfolgt, beobachtet, wie sie sich über die Knöchel spannten und in einem kräftigen Nageloval endeten. Sie hatte den breiten silbernen Ring am rechten kleinen Finger so ausführlich studiert, dass sie den Riesenkratzer sofort bemerkt und sich gefragt hatte, was da wohl passiert war – ein Sturz? Ein Unfall? Sie liebte die sanfte Behaarung seiner Unterarme, die je nach Jahreszeit bereits unter dem Ärmelbündchen der Daunenjacke oder erst nach einer Weile unter einem lässigen Shirt verschwand. Seine Hand, seine Hände, sie kannte sie besser als alles andere an ihm, genau gesagt waren sie das Einzige, was sie bisher wirklich von ihm kannte.

Und diese Hände hatten sie berührt, gestreichelt, liebkost, einen ganzen Abend lang, überall, wo sie es sich nur vorstellen konnte. Es war auf der Party am Samstag gewesen, bei ihrer Freundin Anne, eigentlich total öde der Abend, denn niemand hatte so recht Lust. Kein Wunder, nach der Sache mit Sascha, der bei einem Autounfall am Mittag schwer verletzt worden war. Sascha war der attraktivste Mann in ihrer Clique, alle ihre Freundinnen hatten es auf ihn abgesehen. Er war eine gute Partie, sollte der Vater ihrer Kinder werden. Jetzt lag er mit gebrochenen Beinen und Nierenquetschung im Krankenhaus, und die Freundinnen heulten um die Wette, vielleicht weil sie wirklich Angst um ihn hatten, vielleicht weil der Abend für sie jetzt gelaufen war. Hazel hatte mit ihrem Prosecco in der Ecke gesessen und sich gerade überlegt, ob sie lieber nach Hause gehen sollte, in Ruhe ein Buch lesen, als er auf einmal den Raum betreten und sich suchend umgeschaut hatte, so wie sonst immer im Bus. Unwillkürlich war sie zusammengezuckt, dann hatte sie beschlossen zu bleiben. Hatte er sie gesehen? Die Hände lässig in die Hosentaschen vergraben, hatte er Anne begrüßt und sich mit ihr eine Weile unterhalten. Den ganzen Abend über hatten sie sich beobachtet, belauert, angeschaut, zugeschaut, wie sie tranken, ohne auch nur ein Wort miteinander zu reden.

Hazel und Henry.

Später in der Nacht, als die meisten in der Ecke hingen, bekifft, besoffen oder verliebt, hatte er sich auf einmal neben sie gesetzt, ohne ein Wort zu sagen, als ob sie sich schon ewig kannten. Seine Arme kitzelten an ihren, er hatte sie angeschaut, sie hatte gelächelt, und er hatte sie bei den Händen gefasst – mit seinen Händen! –, und es war das Normalste der Welt gewesen, dass er sie mit sich zog. Und noch normaler war es, dass sie ihm folgte, und das Allernormalste war, dass sie später draußen auf der Wiese zwischen den Mohnblumen lagen und sich küssten. Sein Mund war weich und sanft, seine Hände waren überall, streichelten ihr Gesicht, ihren Mund, ihren Busen, wühlten in ihren Haaren, rutschten vom Bauch abwärts immer tiefer zwischen ihre Beine. Sie hatte nur noch die Funken über, in und auf ihrem Körper gespürt, und auch jetzt noch prickelte und kribbelte es überall, wenn sie an ihn dachte. Danach hatten sie sich gegenseitig und verlegen grinsend die Grashalme von den Klamotten gezupft und waren eng umschlungen noch stundenlang stillschweigend durch die Nacht gewandert. Irgendwann hatte er sie vor ihrer Haustür verabschiedet, mit einem brennend intensiven Kuss, so als ob er sie in sich aufsaugen wollte, so als ob er sie nie mehr loslassen wollte.

Am Morgen war sie nur langsam aufgewacht. Noch immer meinte sie, seine Hände überall zu spüren, nur allmählich kapierte sie, was geschehen war. Ihr ganzer Körper roch nach ihm, ihr Hintern war vom Gras zerkratzt, ganz rot und juckte. Doch als sie nach ihrem Handy kramte, Fehlanzeige, nur eine Nachricht von Anne: WIE WAR ER ODER IST ER NOCH? ;-)

Lächelnd hatte sie das Handy auf den Tisch gelegt. Sie wusste, dass sie sich wiedersehen würden, heute, morgen oder irgendwann, wie der Zufall es eben wollte. Als es schon dunkel wurde, hatte er immer noch nicht geschrieben und sie auch nicht, und da war sie sich dann nicht mehr so sicher.

Und nach einer unruhigen traumlosen Nacht saß sie nun im Bus, wie immer in der hinteren Reihe, und wartete auf die nächste Haltestelle. Würde er einsteigen? Würde er zu ihr kommen? Und was würde sie tun? Das Flattern im Bauch war unerträglich und viel stärker als all die Morgen davor. Letzte Nacht hatte sie seine Hände anders kennengelernt, wusste, wie sie sich anfühlen und berühren konnten, wusste auch, wie er atmete, wie er roch, kannte seine Augen, sein Lächeln, seinen Mund, seinen Körper …

Der Bus hielt, aber er stieg nicht ein. Sie seufzte und lehnte sich halb enttäuscht, halb erleichtert zurück. Was hatte sie gedacht? Dass sie von nun an ein Paar sein würden? So richtig mit Händchen halten und täglich treffen? Und womöglich einem Ring zum Geburtstag? Dass das nicht funktionierte, hatte sie oft genug bei ihren Freundinnen mitgekriegt, Anne vor allem war jedes Mal todunglücklich, wenn sich ein Lover nicht mehr meldete, erfand tausend Ausreden dafür und redete sich alles schön. Sie hatte sich geschworen, dass ihr das niemals passieren würde, und nun saß sie da und fühlte ihren Brustkorb eng werden. Wie sie die restliche Busfahrt hinter sich brachte, wusste sie später nicht mehr. An jeder Haltestelle war sie zusammengezuckt. Sie würde ihn so schnell nicht vergessen, wie auch.

*

Als Lotte bei Rosenthals klingelte, öffnete niemand. Kein vertrautes Türsummen zur Antwort. Irritiert schaute Lotte auf die Uhr, es war später Nachmittag, normalerweise war Ruth in den letzten Wochen immer zu Hause gewesen. Sie ging nur noch selten vor die Tür, das Tragen des gelben Sterns fand sie entwürdigend, genauso die vielen Verbote. Dann lieber gar nicht. »Juden drin statt Juden raus«, hatte sie gesagt und bitter gelächelt dabei. Lotte hatte es das Herz zugeschnürt, es war ihr unmöglich geworden, wegzuschauen bei dem, was da um sie herum passierte.

Als sie jünger war, hatte sie die Hetze nicht ernst genommen, die Eltern hatten Hitler gewählt und sprachen begeistert über seine Erfolge: neue Autobahnen, Arbeit für alle, ein Großdeutsches Reich. Doch konnte Lotte all das nicht mehr bewundern, wenn dafür Kriege geführt, Menschen getötet und Juden »umgesiedelt« werden mussten. Auf der Straße hörte man schreckliche Geschichten von Lagern und Hinrichtungen, sie waren zu grausam, um wahr zu sein, und Lotte sprach lieber mit niemandem darüber, auch nicht mit Fritz, selbst wenn der ganz bestimmt nicht damit einverstanden war, was da im Land geschah.

Überhaupt war es schwer geworden, seine Meinung zu äußern. Ein falsches Wort, und man ging ins Lager. Es war vielleicht feige, doch die Angst hatte sie stumm gemacht, selbst gegenüber ihrer Freundin, und das schlechte Gewissen deswegen verdrängte Lotte lieber, ging studieren oder in den Garten. Sie fühlte sich schäbig deswegen und gleichzeitig hilflos, was sollte sie auch tun? Seit Ruths Verlobter Elias abgeholt worden war, war die Freundin still geworden. Die neuen Sitzordnungen und Regeln, die Beschimpfungen, all das hatte sie ertragen. Aber plötzlich war die Bedrohung greifbar, plötzlich fehlten immer mehr, und Lotte wusste nicht, wie sie Ruth trösten sollte.

Jetzt wollte sie ihr die Geschichte von dem Soldaten erzählen, der gerade in ihrem Garten gelandet war, ganz bestimmt würde das Ruth aufheitern, dessen war sich Lotte sicher. Sie klingelte ein zweites und ein drittes Mal, aber der Summer blieb stumm. Dass auch Ruths Eltern nicht zu Hause waren, irritierte Lotte. Am Ende … Sie wagte den schrecklichen Gedanken nicht weiterzudenken und auch nicht, bei den Nachbarn nachzufragen. Beklommen drehte sie sich weg. Sie würde es später noch einmal versuchen. Dann würde sie Ruth von der Fallschirmseide erzählen, und sie beide würden wie frisch verliebte Teenager davon träumen, ganz in Weiß und in einem Blütenmeer aus roten Rosen zu heiraten.

Bei diesem Gedanken verdüsterte sich Lottes Miene. Ruth und sie hatten sich schon oft die feierlichen Zeremonien ausgemalt, aber Hans wäre es lieber gewesen, sie hätte mit Hedwig eine Doppelhochzeit geplant. Sie war ihm als ihre Freundin lieber, ein Mädchen arischer Herkunft, er hatte so eine Bemerkung gemacht. Seufzend lief sie weiter. Warum nur war in letzter Zeit alles so kompliziert geworden?

Um sich abzulenken, klingelte Lotte bei Hedwig, vielleicht wusste sie, wo Ruth steckte, auch wenn sich die beiden seit einiger Zeit aus dem Weg gingen. Ein Dreier-Kränzchen hatte es schon lange nicht mehr gegeben, dabei waren Ruth und Hedwig früher einmal ziemlich dicke Freundinnen gewesen. Ruth war es gewesen, die Hedwigs Kaninchen in ihrem Schrank versteckt hatte, als ihre Brüder auf der Jagd nach einem Sonntagsbraten waren. Aber Hedwig schien das vergessen zu haben.

Die Freundin öffnete Lotte mürrisch die Tür, machte eine vage Geste Richtung Küchenstuhl und bot ihr halbherzig ein Glas Wasser an. Hedwig hatte Ruth auch nicht gesehen und tat Lottes Frage mit einer vagen Handbewegung ab.