Praxis Dr. Mondmann - Rüdiger Schneider - E-Book

Praxis Dr. Mondmann E-Book

Rüdiger Schneider

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Beschreibung

Dr. Eugen Mondmann, Psychiater im Ruhestand, eröffnet seine Praxis wieder, um mit Hilfe der kontrastiven Hypnose die Menschen in einer von Krisen geschüttelten Zeit von Sorgen und Ängsten zu befreien. Dabei erlebt er allerdings manche Überraschung. Seine Ehefrau veranstaltet ergänzend Lachseminare. Bis auf einmal eine hübsche, junge Studentin auftaucht, die sich als Mondmanns Nichte ausgibt.

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Personen und Handlung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten sind reiner Zufall.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

1

Die Straßenzüge in der Bonner Südstadt, unweit vom Hofgarten, fallen durch ihre herrschaftlichen Häuser auf. Sorgsam wird auf frisch gestrichene Fassaden geachtet. Die Häuser spiegeln den bürgerlichen Adel des sogenannten ‚fien de siècle‘, wurden zwischen 1860 und dem Beginn des ersten Weltkriegs gebaut und von neuzeitlicher Sanierungswut verschont. Hier wohnt auch heute noch das gehobene Bürgertum, also Beamte, Ärzte, Anwälte, Professoren und Pensionäre, die nicht jeden Euro zweimal umdrehen müssen. Zahlreiche Studentenkneipen befinden sich hier. Sie sind am Abend brechend voll und schon am Mittag gut besucht. Hier scheiden sich die studierenden Streber von den etwas Lässigeren, die sich Zeit lassen mit dem Einfädeln in die Arbeitswelt. Steht der aufmerksame Beobachter ganz in der Nähe der botanischen Gärten vor dem Haus mit der Nummer 27, wir sind in der Poppelsdorfer Allee, so fällt ihm an der terracottafarbenen Fassade ein von der Sonne weniger gebleichtes Rechteck auf, wo wohl vor nicht allzu langer Zeit ein Schild angebracht war. Hier konnte man vor einem halben Jahr noch lesen: ‚Psychotherapeutische Praxis Dr. Mondmann, Sprechstunden Mo – Fr, 10 – 12 und 15 – 18 Uhr. Tel: 0228…‘.

An einem sonnigen Nachmittag Anfang September 2023 kommt es im ersten Stock des Hauses, in einem geräumigen Wohnzimmer mit einer hohen Stuckdecke, von deren mittleren Rosette eine Wiener Barocklampe hängt, zu einem folgenschweren Dialog, den in einer gewisssen Wut und Frustration die Dame des Hauses eingeleitet hat. Ihr Mann, es handelt sich um den Psychiater Dr. Mondmann, liegt auf der ebenso barocken Couch, hat die Hände über dem Bauch gefaltet, trägt noch den Nachtpyjama, von dem er nicht weiß, warum er ihn ausziehen sollte, und starrt mit halb geschlossenen Augen auf die weiß gekalkte Zimmerdecke, als erwarte er dort den Durchbruch zum blauen Himmel. Die Dame, die seit vierzig Jahren seine Ehefrau ist, baut sich vor ihm auf, stemmt die Hände in die Hüften, blickt auf ihren Mann nieder und beginnt.

„Eugen, seitdem du die Praxis aufgegeben hast, ist mit dir nichts mehr los. Du liegst auf dem Sofa rum, trägst den ganzen Tag diesen Pyjama, schimpfst über das Fernsehprogramm. Noch nicht einmal ein Buch nimmst du in die Hand. Und mich auch nicht mehr seit langem. Du vergisst, dass ich deine Ehefrau bin.“

„Aber Hildegard, wir kennen uns doch. Damals waren das noch mystisch-anatomische Abenteuer.“

„Ach! Na, danke für die Bemerkung. Ich bin dir also nicht mehr attraktiv genug?“

„Doch, doch!“

„Du bemühst dich nicht mehr um mich.“

„Doch. Aber eben nicht so wie damals. Da ging es ja her wie bei einer Auktion. Du warst heiß begehrt mit deinen schrägen Wildkatzenaugen. Aber jetzt ist mir, seitdem ich die Praxis aufgegeben habe, langweilig. Der Ruhestand ist nichts für mich. Was soll ich tun? Den Rhein entlang fahren mit dem Rad? Im Hofgarten spazieren gehen, auf einer Bank sitzen und Tauben füttern, was übrigens verboten ist? Mich in der Kneipe gegenüber schon mittags an die Theke setzen? Mit dir zum Kaffee in den zweiten Stock wandern, zu deiner Freundin, die einen mit pränataler Medizin zuquatscht? Ist nicht der Tod die letzte Wahrheit? Verreisen? Wohin denn? Habe doch schon alles gesehen.“

„Alles gesehen? Du übertreibst. Über Holland bist du selten hinausgekommen. Auf jeden Fall hatte ich einen zufriedenen Mann, als du tagsüber unten in der Praxis warst. Jetzt liegt das Schild als Souvenir auf der Kommode im Flur. Psychotherapeutische Praxis Dr. Mondmann, Sprechstunden soundso. Jetzt sprichst du kaum noch mit mir. Damals, als ich dir in der Praxis geholfen habe, warst du redseliger. Du scheinst deinen Schwung, deinen Lebensmut verloren zu haben. Das Alter ist keine Bedrohung. Der Müßiggang ist die Gefahr. Mach die Praxis wieder auf! Rette unsere Ehe! Du machst zur Zeit nur ein fröhliches Gesicht, wenn du zur Kühltruhe schlürfst, dir ein Vanilleeis holst und es dann andächtig löffelst. Und abends trinkst du nicht nur eine Flasche Pils, sondern fünf. Merkst du nicht, wie du langsam fett wirst, dein Bauch sich mehr und mehr vorwölbt!?“

„Ach, Hildegard, was soll ich denn machen? Mir ist einfach nur langweilig.“

„Hab‘ ich dir doch gesagt, was du machen sollst. Mach die Praxis wieder auf. Du bist erst 71. Da hört man doch nicht einfach auf zu arbeiten. Noch sind die Räume unten im Haus nicht vermietet. Warte, Eugen, das wollte ich dir doch zeigen.“

Forschen Schrittes geht Hildegard zu einem Kaminsims, nimmt von dort die Zeitung von gestern, blättert sie durch, findet, was sie sucht und sagt mit einem unüberhörbaren Triumph in der Stimme:

„Hier, Eugen, lies das! 85 Prozent!“

Sie faltet die Zeitung, so dass ihr Mann den Artikel bequem lesen kann, geht zur Couch, beugt sich hinab, drückt Eugen die Zeitung in die Hand. Der kann nicht umhin, ohne unhöflich zu scheinen, den Artikel zu lesen. Dabei murmelt er die Worte halblaut vor sich hin. Er beginnt mit der Überschrift.

„‘Zahl der psychischen Erkrankungen hat um 85 Prozent zugenommen…‘ Hmm“, kommentiert er. „Ist natürlich viel, verglichen mit dem Vorjahr. Aber ist das ein Wunder bei all den Sorgen und Krisen.“

„Du könntest etwas dagegen tun.“

„Wie denn? Was denn? Soll ich etwa mit Putin reden, die Preise im Supermarkt drücken, Wärmepumpen verschwinden lassen, Impforgien abschaffen, Klimaaktivisten bekehren, Häuser für Asylanten bauen? Ich kann doch nichts dran ändern.“

„Doch, Eugen! Mach den Leuten wieder Mut, vertreibe die negativen Bilder im Kopf, pflanze Positives ein. Niemand beherrscht die kontrastive Hypnose so gut wie du. Das hast du doch vorher schon bewiesen, als du noch praktiziert hast. Hat ein Mann Albträume gehabt, zum Beispiel von einem Zombie geträumt, hast du das durch das Bild einer schönen Frau ersetzt.“

„Quatsch! So habe ich das nicht gemacht. Dann bekäme er erst recht Albträume.“

„Sei nicht so gehässig! Du weißt, was ich meine. Du warst ein Meister der kontrastiven Psychologie, hast schlimme Bilder durch ihr Gegenteil ersetzt. Das kannst du doch immer noch und jetzt, wo du älter und erfahrener bist, viel besser. Wir würden den Menschen helfen. Ich wäre auch gerne bereit, in der Praxis wieder die Organisation zu übernehmen. Mit 68 gehöre ich doch auch noch nicht zum alten Eisen. Ich würde mich freuen, wenn wir die Praxis wieder in Betrieb nähmen. Die Einrichtung ist doch noch komplett da. Gott sei Dank warst du zu faul, alles aufzulösen.“

„Zu faul? Ich war nicht zu faul. Ich habe einen Nachfolger gesucht, aber keinen gefunden. Aber, liebe Hildegard, wie stellst du dir das vor? Positive Bilder einpflanzen, kontrastive Psychologie. Sollten wir nicht lieber ein Auswanderungsbüro gründen? Kontrastive Pyschologie! Da haben die Leute ein positives Bild im Kopf und rennen damit in die gleiche Scheiße wie zuvor. Funktioniert das überhaupt? Ist es nicht so, als hätte man im Kino eine herzerwärmende Romanze gesehen, kommt dann wieder nach draußen in das brutale Tageslicht und in eine Menschenmenge, bei der jeder gegenüber jedem abgeriegelt ist?“

„Sei nicht so skeptisch, Eugen! Zunächst nimmst du den Leuten etwas Negatives, etwas, das sie bedrückt. Danach sind sie stabiler, widerstandsfähiger, gesund sogar und nehmen prekäre Umstände weniger wichtig.“

„Na ja, meinst du?“ Eugen Mondmann runzelte die Stirn, schwieg eine Weile, murmelte dann: „Vielleicht hast du gar nicht so unrecht. Mit dem positiven Bild müsste aber zugleich auch der Humor trainiert werden. Man müsste die kontrastive Psychologie durch Lachseminare ergänzen. Dann, ja dann, aber auch nur dann könnte es funktionieren. 85 Prozent Zunahme an psychischen Erkrankungen ist tatsächlich viel, zu viel. Weißt du was, Hildegard: Lass mich darüber nachdenken. Ich werde es mir überlegen. Und du willst wirklich wieder die Rezeption und den ganzen organisatorischen Kram übernehmen?“

„Von Herzen gern, Eugen. Du machst mir Hoffnung.“

2

„Ich geh aus dem Haus“, sagte Hildegard nach einer Weile. „Ich fahre zu ‚Edeka‘, obwohl wir nichts brauchen. Ich kann die vier Wände hier nicht mehr sehen. Du darfst in der Zwischenzeit ruhig über meinen Vorschlag nachdenken.“

Sie sprach’s, ging in den Flur, nahm eine Tragetasche vom Garderobenhaken. Mondmann hörte, wie sie die Wohnungstür öffnete und wieder schloss. Eigentlich hatte er ihr noch zurufen wollen: „Bring eine Flasche Burgunder mit!“ Aber Hildegard war zu rasch weg gewesen. Kurz danach vernahm er das Summen des sich öffnenden Garagentors. Eugen Mondmann atmete durch, seufzte, legte die Stirn in Falten, starrte an die Decke. Nach einer Weile strich er sich über den weißen Haarkranz, murmelte: „Soll ich oder soll ich nicht? Mit 71 bin ich eigentlich zu alt, um wieder zu arbeiten, andererseits aber auch zu jung, um nichts zu tun. Vielleicht hat Hildegard ja recht. Das Land bzw. seine Bürger sind in einer Notlage, sind von Krisen umzingelt, was wiederum die psychischen Erkrankungen in die Höhe schnellen lässt. 85 Prozent Zunahme, das ist wirklich zu viel. Das darf so nicht weitergehn. Könnte die kontrastive Psychologie tatsächlich helfen? Nutzte es etwas, wenn man den Menschen wieder positive Bilder einpflanzte? Möglich, dass es in Kombination mit einer Lachtherapie gelingen würde. Aber diese Lachtherapie hätte Hildegard zu übernehmen. Einmal die Woche wenigstens. Sie musste einen kleinen Anlass erzählen, dann dreimal die Trommel schlagen, und dann wurde losgelacht, bis sich das Lachen verselbstständigt hatte und immer weiter ging. Nach schätzungsweise zehn Minuten wären die Teilnehmer erschöpft. Hildegard würde wieder dreimal die Trommel schlagen zum Zeichen, jetzt mit dem Lachen aufzuhören. Wahrscheinlich würde es noch eine Weile weitergehen, dann aber allmählich verebben. Auf jeden Fall wären die Teilnnehmer gut gelaunt oder sogar richtig fröhlich.

„Na gut“, dachte Mondmann, „so könnte es laufen. Ich benutze, um die Klienten in Hypnose zu versenken, wie früher entweder Pygmäenmusik oder den Klang tibetischer Glocken. Sind sie in Hypnose, erzähle ich ihnen von schönen, stimmungsvollen Bildern und Begebenheiten, als wären sie selbst mittendrin und würden das erleben. Das bringt sie in eine sorgenfreie Stimmung, die sie die Unbill des Alltags leichter ertragen lässt. Und wenn dann noch ein Schuss Humor hinzukommt, ist alles gut. Wenigstens für eine Weile.

Nach einer guten Stunde hörte er wieder das Summen des Garagentors. Zwei Minuten später öffnete sich die Wohnungstür. Hildegard war zurück, verschwand aber zunächst einmal in der Küche.

„Du liegst ja immer noch da“, bemerkte sie mit einem vorwurfsvollen Unterton, als sie endlich ins Wohnzimmer trat.

„Immer noch? Nein, eigentlich nicht. Ich bin in Gedanken unterwegs. Ich glaube, du hast recht. Wir müssen etwas gegen das neue Elend tun. Ich mache die Hypnose, du organisierst alles und übernimmst auch wenigstens einmal pro Woche das Lachseminar. Du musst nur etwas als Appetitanreger erzählen, zum Beispiel eine aktuelle Begebenheit, dann dreimal die Trommel schlagen. Das ist das Zeichen zum Beginn des Lachens. Gelacht werden darf natürlich auch schon, wenn du etwas erzählst.“

„Erzählen? Was denn?“

„Ach, kein Problem. Kleine Reime fallen mir aus dem Stegreif ein.“

„So? Zum Beispiel?“

„Na ja. So auf die Schnelle. Aber bitte: Baerbock bleibt in Dubai liegen und muss jetzt Lufthansa fliegen. Oder du sagst einfach: Leute, lasst euch doch nicht lumpen und kauft Habecks Wärmepumpen. Oder: Lasst die Aktivisten leben, lasst sie auf der Straße kleben. Oder: Wer fröhlich eine Frau berührt, wird polizeilich abgeführt. Du kennst ja dieses Theater um den spanischen Fußballpräsidenten. Du kennst auch bestimmt die Kieling-Affäre. Der hatte es gewagt, seine Tanzpartnerin am Hintern zu berühren. Jetzt ist ganz Deutschland angeblich entrüstet. Weißt du, in manchen Ländern freuen sich die Frauen, wenn man sie berührt. Darüber kann man doch wirklich lachen. Aber selbstverständlich kannst du auch eigene kleine Reime erfinden. Der Stoff ist ja gewaltig und schier unendlich groß. Du musst morgens nur die Zeitung aufschlagen. Also, meine Liebe. Ich gehe auf deinen Vorschlag ein. Wir machen das. Die Praxis wird wieder eröffnet. Die alten Öffnungszeiten können wir beibehalten. Nein, der Mittwoch bleibt für mich frei. Da hast du nur dein Lachseminar. Ein neues Schild muss also her. Ich schlage vor: Psychotherapeutische Praxis Dr. Mondmann, Befreiung von Sorgen durch kontrastive Hypnose, Lachseminar Hildegard Mondmann. Dann die Öffnungszeiten, wie früher, aber außer Mittwoch, Telefonnummer. Schild in Weiß mit schwarzer Schrift. Und mach dir bitte auch Gedanken, wie wir das Sprechzimmer weniger nüchtern gestalten können. Es darf ruhig ein paar psychedelische Effekte haben. Ich denke dabei zum Beispiel an Tapeten mit Fotos von Palmen, Stränden, Meeresbrise und einem Regenbogen. Und blühende Pflanzen müssen in die Praxis. In Blau und Rot und Gelb. Die alte Liegepritsche können wir behalten. Aber da sollte eine Decke drauf mit orientalischen Ornamenten. Ich vertraue ganz deinem Geschmack. Ach ja, in eine der Zimmerecken könnte auch ein Brunnen mit einem Buddha. Den Text für Werbeanzeigen in den Zeitungen setze ich selber auf. Oder aber dir fällt etwas Besseres ein.“

Hildegard hatte erstaunt zugehört, fragte: „Woher kommt der Sinneswandel?“

„Weil du einfach recht hast“, erwiderte Mondmann ruhig. „So viel Elend, wie es jeden Tag größer wird, können wir nicht mehr zulassen. Und es stimmt ja auch. Ich liege nur nutzlos herum, langweile mich, werde immer fetter. Das muss ein Ende haben.“

3

„Wenn das so ist“, meinte Hildegard, „dann steh bitte auf, damit die guten Vorsätze nicht wieder auf dem Sofa einschlummern. Es ist schon fünf Uhr. Am Nachmittag.“

„Hast recht“, ging Mondmann darauf ein und um zu zeigen, dass er noch gut in Schuss war, schwang er die Beine vom Sofa auf den Teppich, wollte, ohne sich auf der Kante abzustützen, aufrichten, sank aber mit einem Seufzer zurück und nahm jetzt die Hände zu Hilfe.

„Man müsste die Bibel für Leute wie uns umschreiben“, murmelte er. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch schon alt.“

„Ach was!“ sagte Hildegard. „Was erwartest du? Wenn du Monate lang da rumgelegen hast, kannst du nicht wie eine Sprungfeder hochschnellen. Jetzt steh auf und zieh dich um! Wir gehen endlich mal wieder raus. Am besten für ein paar Gläschen Wein in die ‚Lustige Witwe‘. Ich habe heute auch keine Lust, für dich zu kochen.“

„Für mich? Für uns, meinst du.“

„Du hast noch nicht gemerkt, dass ich auf Diät bin. Ich will ein paar Kilo weniger. Vielleicht werden zumindest deine Augen wieder etwas begehrlicher. Und dass du mir in der ‚Lustigen Witwe‘ nicht die Studentinnen anstarrst!“

„Wie käme ich dazu!? Die jungen Hüpfer nerven doch nur. Die träumen davon, als Influencerin berühmt zu werden, mit einer Million Followern. Wenn die einen alten Herrn sehen, bekommen die höchstens Mitleid. Um acht Uhr sprechen sie dich an und sagen: ‚Opa musst du nicht ins Bett?‘ Und antwortest du ‚Ja, gerne. Aber nur mit dir‘, hast du ein Me-too-Verfahren am Hals. Nein, nein. Wir werden gemütlich ein paar Gläschen Wein trinken und eine Kleinigkeit essen. Ich muss auch auf Diät, damit das Bäuchlein wegkommt. Und vor allem haben wir etwas zu besprechen. Wie wir nämlich die Wiedereröffnung mit dem neuen Programm organisieren. Jetzt musst du mir nur noch sagen, was ich anziehen soll, damit du dich nicht schämst.“

„Zunächst gehst du endlich mal wieder unter die Dusche. Das letzte Mal war vor vier Wochen. Und rasieren bitte. Meinetwegen belasse es bei einem Dreitagebart. Du könntest mit der Maschine auch durch die Haare gehen. Die hängen dir nämlich wie Zotteln über die Ohren. Die 68iger-Zeit ist vorbei. Die Sachen zum Anziehen lege ich dir raus. Weiße Hose, hellblaues, ärmelloses Hemd. Es ist warm draußen. Und nimm die Saguaro-Schuhe. Die passen dazu, sehen nicht so bieder aus.“

„Okay, meine Liebe. Habe ich jemals etwas nicht gemacht, was du vorgeschlagen hast? Aber ich nehme eine Havanna-Zigarre mit. Bei dem Wetter können wir draußen sitzen. Weißt du was? Ich fühle mich jetzt erheblich besser. Der Mensch braucht einfach eine Perspektive. Und wenn es dann noch eine so gute ist – wir helfen der Menschheit, das heißt dem deutschen Bürger – ist es um so besser. Mir kommen wieder richtig tolle Ideen. Wir werden zunächst nur ein halbes Jahr praktizieren. Dann gibt es Betriebsferien für ein paar Monate. Und bloß keine Kreuzfahrt. Ich möchte den Amazonas entlang schippern. Oder den Rio Negro. Und ein paar Indianer treffen, um zu sehen, wie ursprünglich und schön das Leben ohne Digitalität ist. Nachts auf Deck in der Hängematte schaukeln und Sterne begucken. Am besten auf einem so alten Dampfer mit Schaufelrad und jeder Menge Leben an Bord. Was hältst du davon?“

„Nichts. Ich möchte mich nicht von Moskitos stechen lassen oder beim Schwimmen von einer Anaconda umarmt werden. Außerdem lauern da Krokodile. Und deine gelobten Indianer laufen gewiss schon mit Smartphone herum. Erst einmal starten wir unser Projekt und bringen das halbe Jahr hinter uns. Dann unterhalten wir uns, wo es hingeht.“

Eugen Mondmann verdrehte die Augen, seufzte: „Du bist so unendlich praktisch. Aber meinetwegen. Eins nach dem anderen.“

4

Punkt Sieben stand Mondmann frisch geduscht, rasiert, frisiert und mit den Saguaro-Schuhen an den Füßen vor seiner Frau, fragte: „Geht das so?“

„Ja. So gefällst du mir endlich wieder.“ Sie strich sich über ihr rotes Seidenkleid die Hüften entlang. „Und ich?“ fragte sie zurück.

„Sehr schön“, antwortete er. „Ich liebe das, wenn eine Frau ein langes Kleid trägt. Man sieht das hier so selten. Die laufen ja meistens nur in Hosen herum.“

„Reize ich dich denn damit noch?“

Der Psychiater wurde etwas verlegen, grummelte „Hmm“ und fuhr dann fort, da es als Antwort nicht zu reichen schien: „Ja, schon. Ich bin stolz, mit einer so hübschen Frau auszugehen. Aber im Prinzip, das weißt du doch, ist das Sechstagerennen meiner Hormone vorbei. Dafür haben wir eine schöne Kameradschaft. Das ist doch auch etwas wert.“

Hildegard verzog das Gesicht, meinte: „Das ist aber recht wenig. Früher war das anders. Da war kein Wald, kein Strand vor uns sicher. Und einmal bist du sogar im Fahrstuhl über mich hergefallen. Das war in einem Hochhaus in Köln. Weißt du noch?“

„Allerdings. So etwas vergisst man nicht. Vor allem, wenn im dritten Stock jemand zusteigen will und verzichtet bei unserem Anblick. Aber im Ernst, du siehst recht flott aus. Ich muss aufpassen, dass dich niemand klaut. Vor allem dein Ausschnitt lässt tief blicken.“

Hildegard schien damit zufrieden, sagte: „Dann komm. Gehen wir in die ‚Lustige Witwe‘. Ich hoffe, draußen ist noch ein Tisch frei, damit du dieses hässliche Kraut rauchen kannst. Geht’s vielleicht auch ohne?“

„Nee, die Zigarre hat mir der Franz aus Havanna mitgebracht. Zwei Jahre hat sie in dem Glasröhrchen in der Schublade gelegen. Jetzt ist sie fällig. Ist doch ein schöner Anlass. Das ist eine ganz edle Sorte. Das merkt man schon, wenn man sie an der Nase entlang streicht.“

„Na, meinetwegen. Ich bin ja froh, dich endlich außerhalb des Sofas zu sehen.“ Sie ging mit ihrer Nase an sein Hemd. „Oh, du hast sogar ein Parfüm aufgelegt! Was ist es denn?“

„‚Versace Eros‘. Das in dem blauen Flacon. Bei der Werbung haben sie angegeben: Beruhigend männlich und sinnlich. Eigentlich ein Widerspruch. Seit wann ist das Sinnliche beruhigend? Reklame eben. Aber ich wollte es halt einmal ausprobieren.“

„Für mich?“

„Natürlich. Für wen denn sonst?“

„Und warum erfahre ich erst jetzt davon? Wie lange hast du das denn schon?“

„Seit zwei Jahren. Aber ich habe es noch nie benutzt. War eigentlich für die Praxis gedacht. Wegen dem Prädikat ‚beruhigend‘. Aber wie gesagt: Aufgetragen habe ich es noch nie. Doch jetzt unserem neuen Projekt zu Ehren.“

„So? Für das Projekt? Nicht für mich?“

„Natürlich für dich. Dem Projekt ist das doch egal, wie ich dufte. Aber lass uns nicht darüber streiten. Ich habe nichts Arges im Sinn. Und eigentlich habe ich eher an die Havanna-Zigarre gedacht. Damit ich nicht so sehr nach Rauch rieche.“

„Du bist ein Meister der Ausrede.“

5

Es war ein warmer, sonniger Septemberabend. Nach einem grauen, verregneten August hatte die Bonner Südstadt ein mediterranes Flaire. Die Tische vor der ‚Lustigen Witwe‘ waren bis auf einen alle besetzt. Bierkrüge wurden voll herausgetragen und nach nur kurzer Zeit leer wieder mitgenommen. Was in Bonn studierte, dachte an diesem Abend weniger an Klausuren, Vorlesungen und Prüfungen, ließ lieber das kühle Nass durch die Kehle rinnen.