Notizen eines Nachtwächters - Rüdiger Schneider - E-Book

Notizen eines Nachtwächters E-Book

Rüdiger Schneider

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Beschreibung

Lüdringhausen, ein Dorf im deutschen Westerwald. Ein Dorf in einem für Deutschland symptomatischen Niedergang? Eine überbordende Bürokratie, Schikanen der Ausländerbehörde, unsinnige Regulierungen und Verbote. Darunter auch die Stilllegung eines nostalgischen Zuges. Der als Nachtwächter verkleidete Fremdenführer Theodor Leupold macht sich dazu seine Notizen unter dem Titel "Vom Wahnsinn umzingelt". Leupold ist zugleich auch Lokführer des nostalgischen Silberzuges, mit dem man früher Silber von Lüdringhausen an die Lahn befördert hat. Eines Tages macht er eine verbotene Tour mit einer brasilianischen Sambatruppe.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Vom Wahnsinn umzingelt

1

Kennen Sie Lüdringhausen? Nein? Kein Wunder. Es ist ein kleines Dorf im unteren Westerwaldkreis, zwanzig Kilometer von der Lahn entfernt, zählt gerade mal 800 Einwohner, hat aber eine besondere Historie und bemerkenswerte Sehenswürdigkeiten. Entstanden ist es im 12. Jahrhundert aus Einsiedlerhöfen, wurde im späten Mittelalter zu einem Ort mit wunderschönen Fachwerkhäusern und hat im 19. Jahrhundert den sogenannten Westerwälder Wüstungsvorgang, also das Verlassen und Brachlegen von Dörfern, mit Bravour überlebt.

Bis zum Jahr 2012 hielt es an der Tradition fest, einen orts- und geschichtskundigen Nachtwächter zu engagieren, der einmal in der Woche Touristen durch das Dorf führte und dabei launige Anekdoten erzählte.

Ich selbst hatte ihn 2010 bei einer seiner Führungen erlebt, war damals als Journalist dabei, um für das Feuilleton des ‚Limburger Abendblatt‘ eine Reportage zu schreiben. Der Nachtwächter war da 61 Jahre alt, hieß Theodor Leupold, hatte bis zu seiner frühen Verrentung im erst 52. Lebensjahr als Lokomotivführer bei der Deutschen Bundesbahn gearbeitet.

Ich erinnere mich noch genau an diese Führung an einem späten Samstagabend. Ich hatte mich zunächst gewundert über die schmucken Fachwerkhäuser des Ortes, von denen jedes einen speziellen Balkenspruch hatte, der zumeist von Frömmigkeit und Gottvertrauen sprach. Da waren in die Giebelbalken eingeschnitzt Sprüche wie etwa: „Es segne der Herr unser Schalten und Walten. Wir Menschen bauen, doch Gott muss erhalten.“ Oder: „Unser Glück, nicht Menschentand, liegt allein in Gottes Hand.“ Freilich gab es ab und zu auch einen profanen Spruch: „Ein fröhlich Herz, ein friedlich Haus, das macht das Glück des Lebens aus.“

„Wundern Sie sich nicht über den Zustand des Fachwerks“, sagte Leupold, „das wie frisch restauriert aussieht, obwohl es auf ein paar Jahrhunderte zurückblickt. Bis 1920 war Lüdringhausen ein sehr wohlhabendes Dorf. An seinem Rand lag eine Silbermine. Es war gediegenes, körniges Silber, lag also elementar und nicht als Erz vor. Manchmal haben wir neben den Körnern auch zusammenhängende Silbergeflechte gefunden. Die preußische Regierung war sehr an der Förderung interessiert, hat eine Schmalspurbahn bauen lassen, die von Lüdringhausen 20 Kilometer bis an die Lahn führt, wo das Silber umgeladen und mit einem Lastkahn zum Rhein transportiert wurde. Sie werden die Bahn nachher in unserem kleinen Eisenbahnmuseum sehen. Sie funktioniert auch heute noch. Ich darf Werbung dafür machen. Unser Heimatverein veranstaltet jeden Sonntag eine Fahrt. Sie sitzen dann bei 20 Stundenkilometern in einer offenen Lore und können unser Westerwälder Bergpanorama genießen. Im Herbst dürfen Sie während der Fahrt auch Äpfel pflücken, wenn der Zug durch eine Obstwiese schnauft. Unterwegs treffen wir auf eine Wohlfühlstation. Da hält der Zug an einem Bierzelt. Bei der Rückreise hält er dort noch einmal. Ich bin übrigens Ihr Lokomotivführer. Früher bin ich mit hoher Geschwindigkeit den Rhein entlang-gesaust, meistens von Köln bis Mainz. Jetzt geht es etwas gemütlicher zu.“

Durch die Gassen von Lüdringhausen ging es dann zuerst zur romanischen Marienkirche. „Unser größter Schatz hier ist ein Jakobusfresko aus dem 12. Jahrhundert. Es stellt eine Pilgerkrönung dar. Jakobus, gemeint ist der Ältere, nicht der Jüngere, reicht nach links und rechts zwei Pilgern, die Santiago de Compostela erreicht haben, eine goldene Krone. Lüdringhausen lag im Mittelalter also zweifellos am Jakobsweg, der zum Beispiel von Marburg oder Fulda durch den Westerwald an den Rhein führte. Genießen Sie dieses erfrischend naive Fresko! Und wenn Sie an unserem Marienaltar eine Kerze anzünden wollen, genieren Sie sich nicht.“

Unsere nächste Station war der neben der Kirche liegende Friedhof. Hier blieb Leupold vor einem Grabmal stehen. Ich las: „Hier ruht unser verehrter Sir William Raleigh. 1912 – 2008.“

„Eine seltsame Geschichte“, erklärte Leupold. „Raleigh musste 1943 eine Notlandung auf einer unserer Kuhwiesen hinlegen. Das Fahrwerk war abgebrochen, aber er konnte unverletzt aus der Maschine steigen. Sie werden das Flugzeug nachher in unserem bescheidenen Museum sehen können. Drei Bauern mit Jagdgewehren haben den britischen Pilot empfangen und ihn ins Dorf geführt. Da er sehr höflich war, gute Manieren zu haben schien und sein englisches Ehrenwort gegeben hatte, nicht zu fliehen, haben wir ihn als Hofgehilfe bei einer jungen Witwe gelassen. Sie können sich denken, was passiert ist. Als 1945 die Amerikaner kamen, begleitet von zwei britischen Offizieren, die Raleigh befreien wollten, hat der abgewunken. „No, no! I stay here. Happy wife, happy life!“ Die Amerikaner und die englischen Offiziere haben sich gewundert, sind ein paar Tage in unserem Dorf geblieben und von uns bewirtet worden. Dann sind sie ostwärts weitergezogen. Raleigh blieb also, heiratete, und ein Resultat war nicht nur Dorfnachwuchs mit der schönen, jungen Witwe, sondern in den fünfziger Jahren eine Städtefreundschaft mit dem englischen Stratford upon Avon, aus dem Raleigh stammte. Stratford upon Avon ist in kleiner Ort in der Nähe von Birmingham. Die Engländer haben uns mehrmals besucht und ich darf Ihnen versichern, sie sind auch mit unserer Eisenbahn gefahren, und es hat noch nie so lange Pausen an der Wohlfühlstation gegeben.“

Solche Anekdoten hatte Leupold während der Dorfführung erzählt, und dann durften wir den Silberzug bewundern, der in einem ausgezeichneten Zustand war und in einer Scheune stand, deren Wände mit zahlreichen Erinnerungsfotos in Schwarz-Weiß ausgestattet waren. In einer anderen Scheune stand Raleighs Maschine, eine Hawker Hurricane mit nur einem Propeller und einem roten Punkt, weißem Kreis, blauem Kreis am Heck und auf den Tragflächen. Das abgebrochene Fahrwerk war fachmännisch repariert worden.

Auch einen Märchenpark will ich noch erwähnen. Ein Liebhaber der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen hatte ihn angelegt. Da konnte man all die Figuren in Lebensgröße bewundern. Das Schneewittchen, bei dem der Sarg aufklappte, das Dornröschen, das aus dem hundertjährigen Schlaf erwachte, die Frau Holle mit der Pech- und Glücksmarie, den Froschkönig, Hänsel im Backofen, während die Hexe seinen Finger überprüfte.

Nach der Führung saßen wir noch in der einzigen Kneipe des Ortes zusammen. Ich wunderte mich, dass sie ‚Goethe-Stube‘ hieß und fragte Leupold.

„Ganz einfach“, meinte er. „Goethe war unter anderem auch Bergwerkdirektor in Weimar. Er hat sich für den Bergbau interessiert, war öfter an der Lahn und im Westerwald. Und einmal, zuvor war er in Nassau im Schloss des Freiherrn vom Stein, hat er einen Abstecher nach Lüdringhausen gemacht und uns mit seinem Besuch beehrt. Da hieß der Gasthof noch ‚Zur Silbermine‘. 1815 war das. Er hat hier an einem der Tische gesessen und Wein getrunken. Später ist der Gasthof dann umbenannt worden in ‚Goethe-Stube‘.“

Die Fahrt mit dem Zug habe ich nie gemacht. Warum eigentlich? Aber an einem Augusttag im Jahr 2023 sagte mein Chef: „Hans Peter, fahr doch noch einmal nach Lüdringhausen und gucke, wie es in dem Dorf heute zugeht. Du weißt ja, die Zeiten haben sich in den letzten Jahren verändert. Alles ist irgendwie enger und regulierter geworden. Aber vielleicht hat man sich in Lüdringhausen den nostalgischen Charme bewahren können. Sprich vor allem auch mit dem Nachtwächter, der euch damals durch den Ort geführt hat. Ich hoffe, er lebt noch. Du hast ihn damals als einen sehr humorvollen und kenntnisreichen Mann beschrieben.“

2

An einem Samstagvormittag im August fuhr ich nach Lüdringhausen, parkte den Wagen auf einem Wiesenstück am Ortseingang, da, wo an einer Kreuzung ein Kreis mit einer Insel in der Mitte den Verkehr reguliert, wollte das Dorf zu Fuß erkunden. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite war ein verwahrlostes Weizenfeld, in dem sich jedoch anmutig roter Mohn und blaue Kornblumen im leichten Wind des Tages wiegten. Ich hatte Leupolds Adresse nicht, aber ihn in dem kleinen Ort zu finden, würde nicht schwer sein. Ich erinnerte mich, dass die Lüdringhausener ein schmuckes Rathaus im Renaissancestil hatten. Dort könnte ich fragen. Oder aber in der ‚Goethe-Stube‘, deren Wirt bestimmt Bescheid wusste. Aber wie erstaunt war ich, als ich vor dem Rathaus stand, dessen Fassade eher grau als strahlend schön war wie damals. Die Fensterscheiben waren auf dem Weg zu einer unübersehbaren Blindheit. Neben dem verschlossenen Eingangsportal aus Eichenholz hing ein Schild: „Sie finden uns jetzt im Bürgerbüro, ehemalige Filiale der Sparkasse. Bitte melden Sie sich vorher online an.“

Ich ging zur ‚Goethe-Stube‘. Auch sie machte einen traurigen Eindruck, war geschlossen. Es war 11 Uhr, die Zeit, wo eine Wirtsstube eigentlich schon geöffnet ist und sich die ersten Rentner zu einem Umtrunk an der Theke versammeln. Durch ein Fenster sah ich hinein. Die Stühle waren auf den Tischen hochgestellt. Die Theke blank und leer. Die Goethestube gab es nicht mehr.

Ich suchte das Bürgerbüro auf, ging hinein, ohne mich online anzumelden. Eine junge Frau saß hinter einem Schreibtisch, hatte Computer und Monitor vor sich, sah mich erstaunt an, fragte mit einer eher interessenlosen Stimme: „Sie haben einen Termin?“

„Nein. Brauche ich den? Es ist doch außer Ihnen und mir niemand hier. Ich möchte auch nur wissen, wo Herr Leupold, der Nachtwächter, wohnt. Ich würde gerne eine private Führung mit ihm vereinbaren.“

„Die Adresse darf ich Ihnen aus Datenschutzgründen nicht sagen. Führungen macht er auch nicht mehr. Wenn Sie aber an einem Rundgang interessiert sind, können Sie für 10 Euro unsere App auf Ihr Smartphone laden und werden interaktiv zu unseren Sehenswürdigkeiten geleitet und bekommen auch einen Kommentar dazu.“

„Interaktiv? Ich kann mit der App sprechen?“

„Sie können die Führung anhalten, vor-und zurücklaufen lassen.“

„Also keine Fragen stellen?“

„Nein, das ist keine Alexa, aber Sie können Ihren Rundgang frei gestalten.“

„Was ist mit dem Silberzug? Kann ich da eine Fahrt bei Ihnen buchen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht mehr. Die Bezirksregierung hat die Fahrt aus Sicherheitsgründen verboten. Die Leute dürfen nicht in einer offenen Lore sitzen.“

Ich erinnerte mich an den Besuch im Eisenbahnmuseum und wandte ein: „Aber die Loren waren doch wunderbar umgebaut mit kleinen Bänken. Was soll denn da unsicher gewesen sein? Der Zug ist nicht schneller gefahren als mit 20 Kilometern die Stunde.“

Sie schüttelte wieder den Kopf. „Manchmal sind die Leute aufgestanden, wenn die Fahrt durch die Obstwiese ging. Dabei könnte es zu Unfällen kommen. Offen geht nicht. So etwas finden Sie bei der Bundesbahn ja auch nicht.“

„Ja, richtig. Die fahren aber auch mit 150. Da können Sie noch nicht einmal ein Fensterchen aufmachen. Alles verrammelt und verriegelt. Sagen Sie, ist die Filiale der Sparkasse umgezogen?“

„Nein. Sie ist geschlossen worden. Finanzpolitische Gründe oder so ähnlich.“

„Und wo erledigen die Leute ihre Bankgeschäfte? Kontoeinsicht zum Beispiel oder Überweisungen, Geld abheben.“

Sie sah mich erstaunt an, legte die Stirn in Falten, als hätte ich eine idiotische Frage gestellt. „Online natürlich!“ antwortete sie.

„Und wenn sie das nicht können? Ältere Menschen zum Beispiel.“

„Dann müssen sie nach Limburg zum Hauptsitz fahren.“

„Sich aber vorher online anmelden?“

„Kann sein, weiß ich nicht.“

„Sagen Sie, haben Sie hier überhaupt Kundschaft?“

Sie blickte mich strafend, etwas entrüstet an. „Aber natürlich. Sonst hätten wir hier kein Bürgerbüro.“

Ich hörte auf, sie zu fragen, zog meinen Presseausweis, zeigte ihn. „Ich bin vom ‚Limburger Abendblatt‘, 2010 hatte ich schon einmal eine Reportage über den Ort und seinen Nachtwächter geschrieben. Jetzt, dreizehn Jahre später, will ich das noch einmal. Also sagen Sie mir doch bitte die Adresse. Sonst muss ich mich durch das Dorf fragen. Hier wird ihn doch jeder kennen und wissen, wo er wohnt.“

Sie schüttelte wieder den Kopf. „Geht aus Datenschutzgründen nicht. Ich mache mich sonst strafbar. Bitte haben Sie Verständnis dafür.“

„Habe ich aber nicht. Das ist doch alles absurd. Könnte ich denn den Bürgermeister sprechen?“