Ramakrishna - Gabriele Ebert - E-Book

Ramakrishna E-Book

Gabriele Ebert

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Beschreibung

Ramakrishna (1836-1886) gilt als einer der bedeutendsten Heiligen Indiens im 19. Jahrhundert. Auf ihn geht die Ramakrishna-Bewegung zurück, die inzwischen weltweit verbreitet ist. Er verbrachte die meiste Zeit im berühmten Tempel von Dakshineswar bei Kalkutta, wo er nach vielen Jahren intensiver spiritueller Übungen die Gültigkeit aller Religionen erkannte und erfuhr, dass sie alle zur Erkenntnis Gottes führen. In seinen letzten Lebensjahren stellten sich zunehmend Schüler ein, Verheiratete und nichtverheiratete junge Männer, die später den Mönchsorden bildeten. Ramakrishna war ein Hindu unter Hindus. Für ihn waren die Mutter Kali und andere Götter eine greifbare Wirklichkeit, in der er ganz selbstverständlich lebte. Doch er erkannte auch den nicht-manifesten Aspekt (Gott ohne Gestalt) an. Seine Sichtweise war sehr breit gefächert. Seine Ausstrahlung, sein Lächeln und sein sanftes Wesen waren sehr einnehmend. Zudem besaß er die Fähigkeit, die Spiritualität seiner Schüler zu erwecken und sie zu leiten, wobei er in seiner Lehre viele Gleichnisse, Alltagsgeschichten und Erzählungen aus der indischen Mythologie verwandte.

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Gadadhars Eltern

Gadadhars Kindheit

Auf der Schwelle zum Jugendlichen

Gadadhar kommt nach Kalkutta

Rani Rasmani und die Tempelanlage von Dakshineswar

Ramakrishna wird Tempelpriester

Die Götterwelt Ramakrishnas

Die erste Vision von Kali

Der gottberauschte Zustand

Haladhari

Die ersten vier Jahre von Ramakrishnas spirituellen Übungen

Die Hochzeit

Wieder in Dakshineswar

Die Bhairavi

Tantra

Vishnuitische Übungen

Aussergewöhnliche Besucher in Dakshineswar

Ramlala

In Gemeinschaft mit dem göttlichen Geliebten

Vedanta und Totapuri

Ramakrishna wird ein Meister

Islam

In Kamarpukur

Pilgerreise

Die folgenden Ereignisse

Sarada Devi in Dakshineswar

Christentum

Das Ende der spirituellen Übungen

Todesfälle

Hriday

Der Brahmo Samaj

Keshab Candra Sen und die Brahmos

Die ersten Schüler kommen

Die verheirateten Schüler

Ramchandra Dutta und Manomohan Mitra

Surendra und Kedar

Harish und Bhavanath

Balaram Bose

Mahendra oder M.

Prankrishna

Adhar

Nag Mahashay

Girish Ghosh

Devendra Mazumdar

Nityagopal

Kalipada Ghosh

Narayan, Naren, Purna und andere Jugendliche

Verehrerinnen

Gopal Ma

Die unverheirateten Schüler

Narendra

Die anderen Mönchsschüler

Latu

Rakhal

Der ältere Gopal

Harinath

Gangadhar

Shashi und Sarat

Hariprasanna

Kali

Sarada

Tulasi

Tarak

Baburam

Niranjan

Jogin

Subodh

Einige berühmte Männer

Devendra Tagore

Pundit Shyamapada Bhattacharya

Kristodas Pal

Pundit Vidyasagar

Pundit Shashadhar

Bankim

Die Verletzung des Arms des Meisters

Krankheit

Shyampukur

Die letzten Monate in Cossipore

Mahasamadhi

Nach dem Tod Ramakrishnas

Chronologie des Lebens Ramakrishnas

Glossar

Weiterführende Literatur

VORWORT

Ramakrishna (1836- 1886) gilt als einer der bedeutendsten Heiligen Indiens im 19. Jahrhundert. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er im berühmten Tempel von Dakshineswar bei Kalkutta, wo er nach vielen Jahren intensiver spiritueller Übungen die Gültigkeit aller Religionen erkannte, die alle zur Erkenntnis Gottes führen. In seinen letzten Lebensjahren stellten sich zunehmend Schüler ein, Verheiratete und nichtverheiratete junge Männer, die später den Mönchsorden bildeten. Als er an Kehlkopfkrebs erkrankte, pflegten seine unverheirateten Schüler ihn hingebungsvoll bis zu seinem Tod. Bald darauf entstand das erste Kloster in Baranagore.

Ramakrishna war ein Hindu unter Hindus. Für ihn waren die Mutter Kali und andere Götter eine greifbare Wirklichkeit, in der er ganz selbstverständlich lebte. Doch er erkannte auch den nicht-manifesten Aspekt (Gott ohne Gestalt) an. Seine Ausstrahlung, sein Lächeln und sein sanftes Wesen waren sehr einnehmend. Zudem besaß er die Fähigkeit, die Spiritualität seiner Schüler zu erwecken und sie individuell zu führen. Seine Lehre war sehr anschaulich. Wie Jesus verwandte er viele Gleichnisse und Alltagsgeschichten.

Die Quellenlage zum Leben und der Lehre Ramakrishnas und zu seinen Schülern ist sehr gut und vertrauenswürdig, denn viele seiner direkten Schüler haben detailliert davon berichtet. Die vier Hauptquellen für diese Biografie sind: Ramakrishna the Great Master von Swami Saradananda, Life of Sri Ramakrishna von Swami Nikhilananda, Ramakrishna and His Disciples von Christopher Isherwood und natürlich das Gospel (Die Botschaft Sri Ramakrishnas).

Das Bildmaterial stammt aus verschiedenen frei zugänglichen Quellen, deren Urheberrecht erloschen ist oder die lizenzfrei sind.

Dem westlichen Menschen wird das eine oder andere in Ramakrishnas Leben befremdlich anmuten, besonders was seine Visionen und Ekstasen betrifft. Hier gilt, wie Ramakrishna es selbst einigen Anhängern riet: „Ihr könnt den Kopf und den Schwanz (das Unwesentliche) beiseitelassen“. In diesem Sinn wünsche ich nun dem Leser, der Leserin eine spannende Reise in das Leben dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit.

Gabriele Ebert

GADADHARS ELTERN

ABBILDUNG 1: KAMARPUKUR

Im Hugli-Distrikt in der Provinz Bengalen liegt Kampukur, ein typisches Dorf in der ländlichen Gegend, unberührt von der Stadt. Dort wurde Ramakrishna geboren. Die Häuser sind meist aus Lehm gebaut und mit Stroh bedeckt. Zwischen ihnen liegen schmale, ungepflasterte Gassen. Es gibt Reisfelder, Palmen und Banyanbäume. Ein Mangohain schützt die Reisfelder, sodass im Herbst, wenn die Setzlinge austreiben, das Wasser gehalten wird und Kamarpukur wie eine tropische Insel in einem Pflanzenmeer aussieht. Wenn die Reisfelder im Winter stopplig und ausgetrocknet sind und der Staub der roten Erde über das Land fegt, gleicht der Ort dagegen einer halben Wüste.

Im Dorf gibt es drei oder vier Wasserspeicher, von denen der größte der Haldarpukur ist. Zudem gibt es viele kleine Teiche, zwei Verbrennungsplätze und den Amodar-Fluss. Der örtliche Tempel ist der Göttin Visalakshi geweiht. Kamarpukur liegt an der Straße, die nach Puri führt und von vielen Pilgern benutzt wird.

Ramakrishnas Vater Khudiram Chattopadhyaya wurde vermutlich 1775 geboren. Nach dem Tod seines Vaters erbte er dessen Landbesitz im Dorf Derepur, zwei Meilen westlich von Kamarpukur gelegen. Er hatte früh geheiratet, aber seine Frau starb jung. Mit fünfundzwanzig heiratete er zum zweiten Mal. Seine Braut war Chandra Devi, die in der Familie nur Chandra genannt wurde. Sie stammte aus dem Dorf Saratimayapur, war ein einfaches, gutaussehendes Mädchen und dem Dienst für die Götter und heiligen Männer hingegeben. Sie war tiefgläubig, hatte ein gütiges Wesen und war bei allen beliebt. Vermutlich wurde sie 1791 geboren und war bei ihrer Hochzeit 1799 acht. Ihr erster Sohn Ramkumar wurde bereits 1805 geboren. Fünf Jahre später folgte die Tochter Katyayani.

Etwa 1814 klagte Ramananda Roy, der Grundherr von Derepur1, einen Mann aus dem Ort fälschlicherweise vor Gericht an und bat Khudiram, ein falsches Zeugnis für ihn abzulegen, da er im Dorf von allen respektiert wurde und man ihm somit Glauben schenken würde. Der aufrichtige Khudiram war schockiert und weigerte sich. Dadurch erzürnt brachte Ramananda auch gegen ihn eine Anklage vor, gewann den Fall, indem er sich falsche Zeugen besorgte, und Kudiram verlor seinen ganzen väterlichen Besitz und was er im Laufe der Zeit dazugewonnen hatte, insgesamt etwa 50 Morgen Land. Die Leute im Dorf fühlten großes Mitleid mit ihm, wagten aber aus Furcht vor dem Grundherrn nicht, ihm zu helfen. Khudiram, der zu dieser Zeit etwa vierzig Jahre alt war, hatte alles verloren, was er besaß. Er nahm Zuflucht bei seiner Familiengottheit Raghuvir2 und dachte darüber nach, wie er dem Grundbesitzer entkommen konnte.

Sukhlal Goswami aus Kampukur war eng mit Khudiram befreundet. Als er von dessen Missgeschick hörte, räumte er einige Hütten in seinem Gehöft und bot seinem Freund an, dort dauerhaft zu wohnen. Khudiram nahm das Angebot dankbar an und zog mit seiner Familie nach Kamarpukur. Er erhielt von seinem Freund auch etwa einen Morgen fruchtbares Land geschenkt, sodass er seine Familie ernähren konnte. Trotzdem kam es anfangs vor, dass nichts zu essen im Haus war. Wenn Chandra Devi sich Sorgen machte, sagte Khudiram zu ihr: „Mach dir nichts draus. Wenn Raghuvir fasten will, warum sollten wir dann nicht auch fasten?“ Beide gaben sich ganz dem Willen ihrer Familiengottheit hin. Doch allmählich brachte das Stück Land, das Sukhlal ihnen gegeben hatte, reichlich Frucht, sodass es mehr als nur die Familie ernährte.

ABBILDUNG 2: RAGHUVIRS SCHREIN IN KHUDIRAMS HAUS

Auf diese Weise vergingen zwei oder drei Jahre. Khudiram gab sich ganz in Raghuvirs Hände und hatte hin und wieder göttliche Visionen. Morgens und abends wiederholte er das Gayatri mit solch tiefer Frömmigkeit und Konzentration, dass seine Brust rot wurde und ihm Tränen der Liebe aus den geschlossenen Augen rannen. Die Dorfbewohner erkannten instinktiv seine hohe Spiritualität und verehrten ihn wie einen Rishi. Jedes Mal, wenn sie ihn kommen sahen, unterbrachen sie ihre belanglosen Gespräche, erhoben sich und grüßten ihn respektvoll. Sie zögerten, in den Wasserspeicher zum Baden zu gehen, wenn sie ihn dort baden sahen, und warteten, bis er fertig war.

Chandra Devi wurde wegen ihres freundlichen Wesens als Mutter betrachtet. Die Armen wussten, dass sie bei ihr nicht nur zu essen bekamen, sondern auch ein herzliches Willkommen und Zuneigung. Für heilige Männer, die von Almosen lebten, stand ihre Tür immer offen.

Später sagte Ramakrishna über seine Eltern: „Meine Mutter war eine ehrliche und offene Seele. Sie wusste nicht viel über die weltliche Lebensart. Sie konnte nichts verheimlichen und sagte, was sie dachte. Mein Vater verbrachte die meiste Zeit mit Verehrung und Meditation und mit seiner Gebetsschnur. Jeden Tag schwoll seine Brust beim Beten und erstrahlte mit göttlichem Glanz, und es rannen ihm Tränen über die Wangen. In seiner Freizeit, wenn er nicht mit Andachten beschäftigt war, wand er Girlanden für Sri Rama. Die Dorfbewohner respektieren ihn als einen Weisen.“

Der älteste Sohn Ramkumar wurde mit sechzehn verheiratet und beendete das Studium der Grammatik und Literatur in einer Sanskritschule in Dorfnähe. Anschließend studierte er die Hindugesetze. Nach drei weiteren Jahren nahm er die Verantwortung auf sich, die Familie zu unterhalten. Er war ein hervorragender Sanskritgelehrter geworden und verdiente inzwischen Geld, indem er jenen Rat gab, die irgendeinen Punkt aus den Schriften geklärt haben wollten. Er hatte auch gelernt, wie man besondere Riten ausübt, die Krankheit und anderes Unglück abwenden.

Durch seine Übungen hatte Ramkumar sich übernatürliche Kräfte erworben und konnte kommende Ereignisse vorhersagen. Dadurch kam es gelegentlich zu dramatischen Situationen. Als er zum Beispiel einmal geschäftlich in Kalkutta zu tun hatte, wollte er im Ganges baden. Da kam ein reicher Mann mit seiner Familie zum Bade-Ghat. Die Frau des reichen Mannes versuchte, sich ihre Privatsphäre zu erhalten. Sie saß in einer mit Vorhängen versehenen Sänfte, die von ihren Dienerinnen ins Wasser getragen wurde, damit sie drinnen ihr Bad nehmen konnte. Ramkumar staunte nicht schlecht. Da konnte er durch die Vorhänge einen kurzen Blick auf das Gesicht der schönen Dame im Innern werfen. Sofort erkannte er, dass sie am nächsten Tag sterben würde. Diese Erkenntnis machte ihn so traurig, dass er vor sich hinmurmelte: „Heute so viele Vorkehrungen, um diesen Körper in der Privatsphäre zu waschen – und morgen werden sie ihn als eine Leiche, die jeder sehen kann, zurück zum Fluss bringen!“ Unglücklicherweise hörte ihr Ehemann diese Worte. Schockiert und verärgert beschloss er, diesen jungen Unheilspropheten zu bestrafen, sobald seine Vorhersage sich als falsch erwiesen hatte. Mit äußerster Höflichkeit bestand er darauf, dass Ramkumar sie nach Hause begleiten sollte. Aber in der folgenden Nacht wurde die scheinbar gesunde Frau tatsächlich plötzlich krank und starb.

Ramkumar sagte auch voraus, dass seine eigene Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes sterben würde. Er war sehr erleichtert, als sie viele Jahre kinderlos blieb. Aber sie starb tatsächlich 1849, im Alter von fünfunddreißig, als sie ihren Sohn Akshay gebar, der später noch eine Rolle spielen wird.

Doch zurück zu Khudiram. Dadurch, dass Ramkumar jetzt die Familie unterhielt, war er von seinen Pflichten befreit. Er sehnte sich danach, auf Pilgerreise zu gehen. Etwa 1824 machte er sich zu Fuß auf den Weg nach Rameswar. Nach etwa einem Jahr auf dieser Reise durch Südindien kehrte er nach Hause zurück. 1826 gebar Chandra Devi einen weiteren Sohn. In Erinnerung an seine Pilgerreise nannte Khudiram ihn Rameswar.

1835 spürte Khudiram erneut ein großes Verlangen, auf Pilgerreise zu gehen. Diesmal wollte er nach Gaya, um dort die Riten für die Erlösung der Geister seiner Ahnen zu begehen. Er war bereits sechzig. Trotzdem zögerte er nicht, zu Fuß zur heiligen Wohnstatt Vishnus zu pilgern. Im Winter 1835 besuchte er Benares und im darauffolgenden Frühjahr Gaya.3 Kudiram blieb einen Monat in Gaya.

Nachdem er alle Schreine besucht hatte, ging er zuletzt zum heiligsten Schrein, dem Haupttempel, der den Fußabdruck Vishnus enthält. Er brachte für seine Ahnen die üblichen Opfergaben dar, Klöße, die aus gekochtem Reis mit Ghee und Weizen- oder Gerstenmehl bestehen und Pindas genannt werden. Nachts hatte er im Schlaf eine Vision. Er sah sich selbst im Vishnu-Tempel die Opfergaben darbringen, wie er es tags zuvor getan hatte. Dann sah er, wie seine Ahnen seine Opfergaben annahmen und ihn segneten, wobei sie Vishnu verehrten, der in ihrer Mitte thronte. Der göttliche Herr sah Khudiram liebevoll an, winkte ihn herbei und sagte: „Khudiram, deine große Hingabe hat mich sehr glücklich gemacht. Die Zeit ist für mich gekommen, um erneut auf Erden geboren zu werden. Ich werde als dein Sohn geboren werden.“

Khudiram protestierte. Die Ehre war zu groß für ihn. Er war arm und unwürdig. Aber der Herr meinte: „Khudiram, habe keine Angst. Was immer du mir zu essen gibst, werde ich genießen.“

ABBILDUNG 3: HÜTTE, IN DER RAMAKRISHNA GEBOREN WURDE

Als Khudiram erwachte, war er sich sicher, dass es sich um eine göttliche Offenbarung gehandelt hatte und dass der Herr der Welt tatsächlich in seinem Haushalt geboren werden würde. Er beschloss, niemandem etwas davon zu sagen, verließ einige Tage später Gaya und war gegen Ende April wieder in Kamarpukur.

Er traf Chandra Devi in einer seltsam liebevollen Stimmung an. Sie kümmerte sich um ihre Nachbarn und konnte nicht essen, bevor sie sicher war, dass alle anderen gegessen hatten. Es schien, als könne sie keinen mehr für einen Fremden halten.

Auch sie hatte während seiner Abwesenheit einen ähnlichen Traum und vor dem Shiva-Schrein gegenüber ihrem Haus eine Lichtvision gehabt. Da erzählte ihr Khudiram von seinem Traum. Obwohl sie bereits über fünfundvierzig war, stellt sich heraus, dass sie schwanger war. In ihrer Schwangerschaft hatte sie zahlreiche Visionen von Göttern und Göttinnen.

Nach den Hindusitten ist das Geburtszimmer zehn Tage nach der Geburt unrein. Jeder, der es betritt, muss sich danach waschen. Viele Familien benutzen deshalb einen Raum, der vom Hauptgebäude abgelegen ist. Khudirams Zuhause bestand nur aus vier Zimmern: dem Zimmer, der als Schrein genutzt wurde, Khudirams Schlafzimmer, Ramkumars Schlafzimmer und einem Wohnzimmer. Im Hof gegenüber dem Hauptgebäude lag eine Bambushütte, die als Küche diente. Im rechten Winkel dazu gab es eine weitere Hütte. Dort gebar Chandra Devi ihr Kind.

Am Donnerstag, dem 18. Februar 1836, zwölf Minuten vor Sonnenaufgang, erblickte das Kind das Licht der Welt. Khudiram gab seinem Sohn den Namen Sambhuchandra nach dem Sternenzeichen, in dem er geboren worden war. Dann erinnerte er sich aber an seinen bemerkenswerten Traum in Gaya und gab ihm den Namen Gadadhar (Träger der Keule), was ein Beiname von Vishnu ist. Erst als Gadadhar ein junger Mann war, wurde ihm der Name Ramakrishna gegeben.

1839 gebar Chandra Devi ihr letztes Kind, die Tochter Sarvamangala.

1 Die Grundherren (Zamindare) in den Ortschaften bestimmten das Leben im Dorf und besaßen viel Macht.

2Raghuvir ist eine Form der Gottheit Rama. Jeder indische Haushalt besaß seine Familiengottheit und einen Schrein.

3 In Bodh-Gaya befindet sich der Pipalbaum, unter dem Buddha meditiert und Erleuchtung erlangt hat.

GADADHARS KINDHEIT

Wie es üblich war, wurde für jedes Neugeborene ein Horoskop erstellt, so auch für Gadadhar. Khudiram war ein begabter Astrologe. Das Horoskop war sehr günstig. Es zeigte, dass Gadadhar in einem Tempel leben würde, umgeben von seinen Schülern, und dass er eine neue religiöse Bewegung gründen und noch von späteren Generationen verehrt werden würde.

Khudiram hatte einen Neffen namens Ramchandra, der nicht weit entfernt in Midnapur, südwestlich von Kamarpukur lebte. Als er von Gadadhars Geburt erfuhr, schickte er seinem Onkel eine Kuh als Geschenk, damit das Baby immer frische Milch hatte.

Als Gadadhar etwa sechs Monate alt war, fand die übliche Reiszeremonie statt, ein Fest, bei dem das Kind zum ersten Mal feste Nahrung zu sich nimmt. Dieses Fest ist ein großes Ereignis im Leben des Kindes. Das Kind nimmt jetzt eine eigene Identität an. Ihm wird formal ein Name gegeben. Es wird herausgeputzt, und ein Krönchen wird ihm aufgesetzt. Wenn möglich wird es unter Musikbegleitung in einer Sänfte durchs Dorf getragen. Manchmal wird es in den Tempel gebracht und dazu veranlasst, sich vor den Gottheiten zu verneigen. Zuletzt wird es auf einen Stuhl gesetzt, und ihm wird Reis gegeben.

Diese Zeremonie kann sehr kostspielig sein. Khudiram wollte sie nur im kleinsten Kreis feiern, da seine Mittel nicht mehr zuließen, aber Dharmadas Laha, der Grundherr des Dorfes, mit dem er befreundet war, hatte bereits beschlossen, die Kosten für das Fest zu übernehmen. Er spielte Khudiram jedoch einen Streich und sagte ihm nichts davon. Stattdessen lud er die führenden Brahmanen des Dorfes zu Khudiram ein und bat sie, Gäste bei der Zeremonie zu sein. Khudiram steckte in einem Dilemma. Er konnte die Brahmanen nicht zurückweisen. Da sie eingeladen worden waren, sah er sich gezwungen, auch seine vielen anderen Freunde aus dem Dorf einzuladen. Er wusste, dass ihn das finanziell ruinieren würde. In seiner Verzweiflung wandte er sich an Dharmadas, der ihm jetzt versicherte, dass er alle Kosten übernehmen würde. So wurde Gadadhars Reiszeremonie in großem Stil gefeiert, und viele Gäste, von den orthodoxen Brahmanen bis hin zu den Bettlern, wurden verköstigt.

Gadadhar war lebhaft und gesund. Er hatte ein sonniges Gemüt, und alle liebten ihn sehr, vor allem die Frauen. Khudiram lehrte ihn die lange Liste der Namen seiner Vorfahren, kurze Lieder für die Götter und Göttinnen und schöne Geschichten aus dem Ramayana und Mahabharata. Gadadhar erfasste alles schnell. Was er einmal gehört hatte, konnte er wiederholen, ohne ins Stocken zu geraten.

ABBILDUNG 4: HALDARPUKUR

Doch er war eigenwillig. Wenn ihm etwas verboten wurde, tat er das Gegenteil, bis es ihm jemand so erklärte, dass es ihm zusagte und er es verstand. Seine Eltern begriffen, dass der Junge das Warum und Wieso von allem wissen wollte, und verhielten sich dementsprechend. Wenn Gadadhar etwas anstellte, war sein Vater nicht hart zu ihm, da er sich an die Vorhersage erinnerte, sondern bat den Jungen freundlich, es nicht wieder zu tun.

Der Haldarpukur war der größte Wasserspeicher im Kamarpukur. Alle Dorfbewohner holten dort klares Wasser zum Baden, Trinken und Kochen. Er hatte zwei Ghats, einer für Männer und einer für Frauen. Kleine Jungen wie Gadadhar benutzen oft den Ghat für die Frauen.

Eines Tages kam Gadadhar mit einigen Jungen seines Alters zu diesem Ghat und begann, ins Wasser zu springen und zu schwimmen. Die älteren Frauen, die mit ihren Gebeten und Andachten beschäftigt waren, bemerkten, dass hin und wieder etwas Wasser über sie gespritzt wurde. Sie baten die Jungen, damit aufzuhören, aber sie gehorchten nicht. Eine der Frauen beschimpfte sie: „Warum kommt ihr hierher? Könnt ihr nicht den Ghat der Männer benutzen? Hier waschen die Frauen nach ihrem Bad ihre Kleider. Ihr solltet wissen, dass Frauen nicht unbekleidet gesehen werden sollten.“ Gadadhar fragte: „Warum nicht?“ Anstatt es ihm zu erklären, schimpfte sie noch mehr und meinte, dass ihm Übles geschehen würde, wenn er das täte.

Daraufhin benahmen sich die Jungen besser, nur Gadadhar nicht. Er heckte einen Plan aus. Zwei oder drei Tage lang versteckte er sich hinter einem Baum in der Nähe des Wasserspeichers und beobachtete die Frauen, während sie badeten. Als er später die ältere Frau traf, die ihn gescholten hatte, erzählte er ihr: „Vorgestern sah ich vier Frauen baden, gestern sechs und heute acht. Aber mir ist nichts Schlimmes geschehen!“ Lachend ging sie zu seiner Mutter Chandra und erzählte ihr die ganze Geschichte. Chandra erklärte Gadadhar freundlich: „Es stimmt, dass dir nichts Übles geschieht, wenn du die Frauen beim Baden beobachtest. Aber sie mögen es nicht und fühlen sich beleidigt. Auch ich bin eine Frau. Wenn du sie beleidigst, ist es, als würdest du mich beleidigen. Das willst du doch nicht, oder?“ Das konnte der Junge verstehen, und er tat es nicht wieder.

Nach der üblichen Zeremonie wurde Gadadhar zur Schule geschickt, als er fünf war. Die Schule wurde in der geräumigen Theaterhalle vor dem Haus der Grundherren des Dorfes, der Lahas, abgehalten. Sie bestand aus einer erhobenen Bühne, die auf allen Seiten hin offen war, aber ein Dach besaß. Sie wurde für Theateraufführungen und Tanz benutzt. Ein Lehrer, der hauptsächlich von den Lahas bezahlt wurde, unterrichtete ihre Kinder und die Kinder aus der Nachbarschaft. Die Schule befand sich nicht weit von Kudirams Hütte entfernt. Die Kinder hatten morgens zwei oder drei Stunden Unterricht, kehrten zum Essen nach Hause zurück, kamen um drei oder vier wieder und lernten bis zum Sonnenuntergang. Die kleinen Jungen wie Gadadhar mussten nicht die ganze Zeit am Unterricht teilnehmen, aber trotzdem in der Schule bleiben. Sie durften zum Spielen hinausgehen. Die älteren Schüler lernten mit den jüngeren ihre Lektionen. So war es möglich, dass ein Lehrer den ganzen Unterricht bestritt.

ABBILDUNG 5: DIE GRUNDSCHULE DER LAHAS

Gadadhars schulische Leistungen waren nicht schlecht. Er konnte in kurzer Zeit einfache Sätze lesen und schreiben, aber er hatte eine Abneigung gegen das Rechnen. Dafür besaß er ein künstlerisches Talent. Er beobachtete, wie die Töpfer Statuen von Göttern und Göttinnen machten, lernte von ihnen diese Kunst und übte sie zuhause. Es war eines seiner Hobbies. Auch ging er zu den Malern und begann, selbst zu malen. Wenn er hörte, dass jemand im Dorf aus den Puranas vorlas und sie erklärte oder dass ein religiöses Drama aufgeführt wurde, ging er hin und lernte auf diese Weise alle Geschichten und Lieder aus den Schriften. Gleichzeitig beobachtete er, welche Art des Vortrags der Menge am besten gefiel. Er machte die Gesten der Männer und Frauen nach und hatte seinen Spaß daran.

Zudem war er völlig furchtlos. Er ging zu Orten, wohin sich nicht einmal Erwachsene aus Angst vor Geistern, Ghule und ähnlichem trauten. Es muss erwähnt werden, dass Geisterglaube oder die „Besessenheit“ von einer Gottheit und ähnliches durchaus verbreitet waren. So wird berichtet, dass Ramsila, die Schwester von Khudirams Vater, manchmal vom Geist der Göttin Shitala besessen war und dadurch zu einer völlig anderen Person wurde. Einmal geschah dies auch, als sie bei Khudiram zu Besuch war. Jeder im Haus betrachtete sie mit Ehrfurcht und Hingabe. Gadadhar beobachtete jedoch äußerst genau, zwar mit Ehrfurcht, aber ohne jede Angst, wie die Verwandlung sie überkam. Danach sagte er: „Es wäre großartig, wenn der Geist, der meine Tante in Besitz genommen hat, auch mich in Besitz nehmen würde.“

So verging die Zeit. Gadadhar war jetzt sieben. Sein freundliches Wesen machte ihn zum Liebling aller. Jedes Mal, wenn die Frauen im Dorf eine Süßigkeit zubereiteten, wollten sie zuerst ihm eine Portion davon geben. Seine Spielkameraden waren nur glücklich, wenn sie ihr Essen mit ihm teilen konnten. Von Kindheit an war der Junge gesund und robust. Seine Konzentrationskraft war bemerkenswert. Wenn er sich auf etwas konzentrierte, identifizierte er sich so sehr mit dem Objekt, dass er sein äußeres Bewusstsein dabei völlig verlor. Der bezaubernde Anblick eines großen grünen Feldes, das von einer sanften Brise gestreichelt wurde, das stete Fließen eines Flusses, der melodische Gesang der Vögel und vor allem die Magie der sich stets veränderten Wolken verzauberten den Jungen. Er vergaß sich dabei völlig und betrat den unbekannten, fernen Bereich des Geistes.

Diese Neigung zur Kontemplation der Schönheit führte eines Tages für ihn zu einer besonderen Erfahrung. Er berichtete selbst darüber: „Eines Morgens nahm ich gerösteten Reis in einem kleinen Korb mit und aß davon, während ich die schmalen Grate der Reisfelder entlangging. An einer Stelle am Himmel erschien eine wundervolle schwarze Regenwolke. Ich beobachtete sie, während ich den Reis aß. Bald bedeckte die Wolke fast den ganzen Himmel. Dann kam ein Schwarm Kraniche dahergeflogen. Sie waren weiß wie Milch im Kontrast zu der schwarzen Wolke. Es war so schön, dass ich mich in den Anblick verlor. Dann verlor ich das Bewusstsein von allem, was draußen vor sich ging. Ich fiel zu Boden, und der Reis wurde über die ganze Erde verstreut. Einige Leute sahen es, kamen herbei und trugen mich nach Hause.“4

Sobald er sein Bewusstsein wiedererlangte, war er wieder sein altes Selbst. Khudiram und Chandra Devi waren natürlich sehr besorgt deswegen. Sie befürchteten, es könnte der Beginn von Ohnmachtsanfällen sein. Aber Gadadhar sagte ihnen, dass er eine Erfahrung gemacht habe wie nie zuvor. Obwohl er äußerlich bewusstlos gewesen sei, sei er innerlich bei Bewusstsein gewesen und hätte eine einmalige Seligkeit empfunden. Seine Eltern nahmen ihn vorläufig aus der Schule. So war er frei und gab sich noch mehr dem Spiel und Spaß hin. Die Erfahrung wiederholte sich zunächst nicht.

Es war das Jahr 1843 und die Zeit des jährlichen Durga-Festes im Herbst, das in Kalkutta das größte Fest im ganzen Jahr ist. Durga wird als die Weltenmutter und die Shakti Brahmans verehrt. Khudiram war inzwischen achtundsechzig. Er war von seinem Neffen Ramchandra zu diesem achttägigen Fest in Selampur eingeladen worden. Er zögerte, da es ihm in letzter Zeit nicht gut ging und er an der Ruhr und anderen Verdauungsstörungen litt. Schließlich rang er sich jedoch durch hinzugehen. Er hätte gern Gadadhar mitgenommen, aber da er wusste, dass Chandra Devi seit dem Vorfall mit der schwarzen Wolke besorgt um ihn war und ihn nicht mehr aus den Augen lassen wollte, nahm er stattdessen seinen ältesten Sohn Ramkumar mit. Als er in Selampur war und die Feier sich ihrem Ende näherte, wurde er ernsthaft krank. Er wurde schnell schwächer, und jede medizinische Behandlung blieb wirkungslos. Am letzten Tag des Festes konnte er kaum noch sprechen. Gegen Abend halfen ihm Ramchandra und Ramkumar auf seine Bitte hin in eine sitzende Position. Dann sprach Khudiram dreimal den Namen Ramas aus und starb.

Chandra Devis Schmerz über den plötzlichen Tod ihres Mannes war überwältigend. Wie jede fromme Ehefrau in dieser Zeit liebte sie ihren Mann nicht nur, sondern verehrte ihn auch als ihren spirituellen Führer. Ohne ihn fühlte sie sich in der Welt verloren. Gadadhar war sieben Jahre alt, und das kleinste Kind, die Tochter Sarvamangala, war vier. Die ganze Verantwortung für die Familie lag nun auf den Schultern von Ramkumar.

Der Verlust des Vaters machte Gadadhar gedankenvoll. Oft wanderte er allein auf dem Bhutirkhal Einäscherungsplatz, im Mangohain und an anderen einsamen Orten umher. Er fühlte sich nun besonders zu seiner Mutter hingezogen und wollte sie beschützen. Er ging wieder zur Schule. Doch sein Interesse galt mehr den Geschichten aus den Puranas, die öffentlich vorgetragen wurden, und Götterstatuen in Ton herzustellen.

Die Lahas unterhielten am Dorfrand ein Haus für die Pilger, die auf ihrem Weg nach Puri zum Herrn Jagannath durchs Dorf kamen oder von dort wieder zurück nach Hause wanderten. Hier fanden oft fromme Männer Unterkunft. Gadadhar hatte durch den Tod seines Vaters die Vergänglichkeit erfahren. Auch wusste er, dass diese heiligen Männer allem entsagt hatten und sich ganz auf die Erkenntnis Gottes konzentrierten und dass die Gesellschaft mit ihnen zum inneren Frieden führte. Also begann er, dieses Pilgerhaus zu besuchen, wann immer er konnte, und machte mit den Mönchen Bekanntschaft. Er beobachtete sie bei ihrer Verehrung und half ihnen mit einfachen Dingen. So sammelte er für sie Feuerholz oder brachte ihnen Trinkwasser. Er gewann ihre Herzen, und sie lehrten ihn im Gegenzug, wie man beten und den Namen Gottes singen soll. Sie unterrichteten ihn auch in anderen religiösen Dingen und teilten ihr Essen, das sie durch Betteln eingesammelt hatten, mit ihm. Wenn er dann nach Hause kam, hatte er keinen Appetit mehr. Auf Nachfrage erzählte er seiner Mutter alles. Sie schickte durch den Jungen Essen und andere nötigen Dinge zu den Mönchen.

Manchmal kam der Junge mit heiliger Asche beschmiert nach Hause oder mit den religiösen Zeichen auf seiner Stirn. Einmal trug er ein Lendentuch wie die Mönche aus einem Stück seiner Kleidung, das er abgerissen hatte, und rief: „Sieh her, Mutter, ich bin ein Mönch!“ Das machte seine Mutter besorgt, denn sie fürchtete, dass die Wandermönche ihren Sohn eines Tages dazu überreden könnten, mit ihnen fortzugehen. Sie sagte das Gadadhar. Er wollte sie überzeugen, dass sie das nicht tun würden, aber sie war nicht zu beruhigen. Da beschloss er, die Mönche nicht mehr aufzusuchen, und ging zu ihnen, um sich ein für alle Mal von ihnen zu verabschieden. Als sie ihn nach dem Grund fragten, erzählte er ihnen von den Befürchtungen seiner Mutter. Da gingen sie mit ihm zusammen zu Chandra Devi und versicherten ihr, dass sie nie daran gedacht hatten, Gadadhar mitzunehmen, denn einen Jungen seines Alters ohne die Erlaubnis seiner Eltern mitzunehmen, wäre wie Diebstahl und eines frommen Mannes nicht würdig. Das beruhigte Chandra Devi, und Gadadhar durfte sie wie zuvor besuchen.

Zu dieser Zeit machte Gadadhar eine weitere spirituelle Erfahrung. Im Dorf Anur, etwa zwei Meilen nördlich von Kamarpukur gelegen, gab es einen heiligen Platz, der der Göttin Visalakshi (wörtlich: die mit den großen Augen) geweiht war. Der Platz lag in den offenen Feldern und war von keinem schützenden Gebäude umgeben. Und dafür gab es einen Grund. Man glaubte, dass Visalakshi besonders den Armen und umherwandernden Leuten zugetan war. Die Hirtenjungen aus der Nachbarschaft waren ihre Lieblinge. Diese Jungen stibitzten die Kupfermünzen und Süßigkeiten, die wohlhabende Pilger als Opfergaben zurückgelassen hatten. Und das gefiel und amüsierte die Göttin. Doch eines Tages baute ein reicher Mann einen Schrein für Visalakshi. Die Opfergaben wurden jetzt im Schrein eingeschlossen, und die Jungen konnten sie nicht mehr an sich nehmen. Die Göttin machte als Zeichen ihres Missfallens einen großen Spalt in die Umfassungsmauer. Jedes Mal, wenn jemand vorhatte, den Schrein zu restaurieren, erschien Visalakshi ihm im Traum und warnte ihn davor.

Eines Tages wollte eine Gruppe Frauen aus Kamarpukur über die Felder gehen, um diesen Ort zu besuchen und Opfergaben für die Göttin darzubringen. Gadadhar oder Gadai, wie er genannt wurde, wollte mit ihnen kommen. Zunächst bezweifelten die Frauen, dass ein Kind solch einen langen Weg bewältigen konnte, aber sie konnten seiner Bitte dann doch nicht widerstehen, weil er so viele Geschichten zu erzählen wusste und mit solcher Lieblichkeit Lieder sang. Also machten sie sich lachend und singend mit dem kleinen Jungen auf den Weg. Aber plötzlich, inmitten des Singens, verstummte Gadadhar. Sein Körper wurde steif und taub. Tränen strömten ihm aus den Augen. Die Frauen erschraken. Sie dachten, er hätte einen Sonnenstich, brachten im Wasser aus dem nahegelegenen Teich und besprengten ihn damit. Aber es blieb ohne Wirkung.

Unter den Frauen war Prasanna, die verwitwete Schwester des Landbesitzers Dharmadas Laha. Sie war eine der Ersten, die erkannte, dass Gadadhar kein gewöhnlicher Junge war, und meinte, dass es vielleicht die Göttin Visalakshi selbst sei, die den Jungen in Besitz genommen hatte. Sie und die anderen Frauen begannen Gadadhar anzusprechen, als sei er tatsächlich die Göttin, und sagten: „Oh Mutter Visalakshi, rette uns, beschütze uns und schenke uns Dein Erbarmen!“ Da kehrte Gadadhar innerhalb weniger Augenblicke zu seinem normalen Bewusstsein zurück. Es ging ihm gut, er war nicht müde, und die Frauen brachten voller Freude ihre kleine Pilgerreise zu Ende. Wenn Prasanna später zu ihm sagte: „Was immer du auch sagen magst, du bist kein gewöhnlicher Mensch“, lächelte Gadadhar nur und gab keine Antwort, oder er wechselte das Thema.

Zwei weitere Jahre verstrichen. Gadadhar freundete sich mit Gayavishnu, einem Sohn der Lahas, an. Die beiden steckten immer zusammen, sei es in der Schule oder in der Freizeit.

Als er neun wurde, erhielt er die heilige Brahmanenschnur (Upanayama). Bei dieser Zeremonie wird dem Jungen das Gayatri beigebracht und die Brahmanenschnur umgelegt. Damit wird er zum vollen Mitglied der Hindu-Gemeinschaft. Danach ist es üblich, dass der neu Eingeweihte drei Tage lang mit der Bettelschale umhergeht, um sein Essen zu erbetteln. Normalerweise erhält er sein erstes Almosen von einem Verwandten oder einer gleichgestellten Person, die der Brahmanenkaste angehören muss.

Seine Kinderfrau Dhani, die der Kaste der Schmiede angehörte, hatte einmal gesagt, sie würde sich gesegnet fühlen, wenn er bei seiner Einweihung ein Almosen von ihr annehmen und sie „Mutter“ nennen würde. Der Junge war von ihrer Liebe so sehr berührt, dass er es ihr versprach. Die arme Frau sammelte Geld und die dafür nötigen Dinge und erwartete ungeduldig das glückliche Ereignis. Gadadhar erwähnte sein Versprechen seinem ältesten Bruder gegenüber, aber Ramkumar erhob Einwände, weil es gegen die Familientradition verstieß. Gadadhar argumentierte damit, dass er sein Versprechen einlösen müsse, denn wenn er es bräche, wäre er nicht würdig, die heilige Schnur anzulegen. Daraufhin wurde Dharmadas Laha zurate gezogen. Er gab dem Jungen recht, und so ging Dhanis großer Wunsch in Erfüllung.

Fortan durfte Gadadhar den Gottesdienst für die Familiengottheit Raghuvir im Schrein abhalten. Das erfüllte ihn mit großer Freude. Er wusste, wie sehr sein Vater diese Staute immer verehrt hatte, betrachtete sie als den lebendigen Gott und war oft in Verehrung versunken.

Etwa zu dieser Zeit wurde ein Treffen von Pundits (Gelehrten in den heiligen Schriften) im Haus von Dharmadas Laha abgehalten. Die Gelehrten waren aus Anlass einer Sraddha-Feier, dem Ritual einer Gedenkfeier, die auf den Tod eines Verwandten folgt, eingeladen worden. Sie begannen, über ein Thema zu diskutieren, was schließlich in einen hitzigen Streit ausartete. Die Gelehrten argumentierten mit ausgeklügelten theologischen Argumenten. Es hörte nicht nur fast das ganze Dorf zu, sondern auch die Jungen und auch Gadadhar. Die anderen Jungen konnten kaum etwas von der Diskussion verstehen und kicherten miteinander, wobei sie die aufgeregten Gesten der Gelehrten nachahmten. Doch Gadadhar hörte aufmerksam zu. Nach einer Weile wandte er sich an einen der Gelehrten und sagte: „Aber ist das nicht die Antwort, nach der ihr sucht?“ Und zum Erstaunen aller schlug der zehnjährige Junge eine Lösung vor, die überzeugend und klar war. Der Gelehrte wandte sich zu den anderen Gelehrten und sagte ihnen, was Gadadhar vorgeschlagen hatte. Alle waren mit dieser Lösung einverstanden. Erstaunt und ehrfürchtig sahen sie den Jungen an. Einige setzten ihn sich auf den Schoß und segneten ihn.

Dieser Vorfall wurde von einigen als nicht authentisch bezeichnet, da er so sehr an den Vorfall des jungen Jesus erinnerte, der mit den Schriftgelehrten im Tempel von Jerusalem diskutierte. Aber die Quelle ist eindeutig. Ramakrishna selbst hatte die Geschichte seinem Schüler, dem späteren Swami Saradananda, erzählt, und auch die Dorfbewohner aus Kamarpukur berichteten davon.

An Shivaratri5 sollte im Haus eines Nachbarn von einer Schauspieltruppe aus der Nachbarschaft ein Drama über Shiva aufgeführt werden. Gangadhar hatte den ganzen Tag gefastet, wie es üblich war, und war in Andacht über Shiva versunken. Der Junge, der Shiva spielen sollte, war plötzlich erkrank, und der Direktor der Truppe konnte keinen Ersatz finden. Einige ältere Dorfbewohner Kamarpukurs berieten sich und waren der Meinung, dass Gadadhar den Part übernehmen könnte. Obwohl er so jung war, war er geeignet, und er kannte viele Lieder über Shiva, die gesungen werden sollten. Zunächst lehnte Gangadhar ab, weil er seine Andacht nicht unterbrechen wollte. Aber seine Freunde argumentierten damit, dass er ja die ganze Zeit an Shiva denken müsse, wenn er diesen Part übernehmen würde, und dass das so gut wie eine Andacht sei. Auch würden die Zuschauer, die den ganzen Tag gefastet hatten und nachts das Drama sehen wollten, sonst enttäuscht sein. Also stimmte Gangadhar zu. Er wurde als Shiva verkleidet. Mit langsamen Schritten stieg er auf die Bühne und stand bewegungslos da. Seine Haare waren verfilzt, er trug Rudraksha-Perlen, und sein Körper war mit Asche beschmiert. Als die Zuschauer ihn so sahen, wurden sie von einer seltsamen Ehrfurcht ergriffen, denn das Gesicht des Jungen trug ein unendlich schönes Lächeln, und sein Blick war starr, als wäre er in Meditation versunken. Unwillkürlich begannen einige Zuschauer, den Namen Gottes auszusprechen, während andere einander zuflüsterten: „Wie schön Gadai aussieht! Wer hätte gedacht, dass er diese Rolle so gut spielen kann?“ Aber Gadadhar blieb unbeweglich stehen, und es war jetzt zu erkennen, dass Tränen aus seinen Augen strömten. Der Direktor und einige andere gingen zu ihm hin und sahen, dass er scheinbar das Bewusstsein verloren hatte. Die Zuschauer riefen ihnen einige Ratschläge zu wie: „Sprenkle Wasser in sein Gesicht! Fächle ihm! Wiederhole den Namen Shivas!“ Einige murrten: „Der Junge hat alles verdorben – jetzt muss die Aufführung abgebrochen werden!“ Den Zuschauern blieb nichts anderes übrig, als sich allmählich zu zerstreuen. Einige Männer trugen Gadadhar auf ihren Schultern heim. Aber trotz aller Anstrengungen konnten sie ihn nicht zur Besinnung bringen. Er blieb bis zum nächsten Morgen in diesem Zustand.

Von jetzt an erlebte Gadadhar von Zeit zu Zeit diese Art von Ekstase. Er vergaß sich selbst und seine Umgebung, wenn er meditierte oder Liedern oder Musik zuhörte, die die Gottheiten rühmten. Dann war er eine kurze oder längere Zeit so sehr nach innen gekehrt, dass er nicht auf äußere Stimuli reagierte. Wenn dieses Versunkensein sehr tief war, erschien er wie eine leblose Statue.

Wenn er aus diesem Zustand auftauchte, sagte er, wenn er danach gefragt wurde, dass er eine wundersame Freude erfuhr, die mit göttlichen Visionen einherging, während er über Götter oder Göttinnen meditierte oder den Liedern zuhörte. Chandra Devi und die anderen Familienmitglieder waren alarmiert. Aber sie beruhigten sich, da sie sahen, dass seine Gesundheit davon nicht beeinträchtigt wurde und dass er so freundlich und lebhaft war wie zuvor. Gadadhar war nun so häufig in diesem Zustand, dass er sich allmählich an in gewöhnte und ihn willentlich kontrollieren konnte. Er nahm lebhaft an den verschiedenen religiösen Zeremonien im Dorf teil. Die reiche religiöse Tradition des Dorfes, in dem Vishnu- und Shiva-Verehrer ohne Zwietracht beieinander wohnten, kam ihm dabei sehr entgegen.

Es kam einmal vor, dass Gadadhar wie eine Gottheit verehrt wurde. Shrinivas gehörte einer niederen Kaste an. Er liebte Gadadhar sehr und unterhielt sich oft angeregt mit ihm über das Bhagavata. Eines Tages wand er eine Girlande und kaufte Süßigkeiten auf dem Markt, die er unter seiner Kleidung verbarg. Dann führte er Gadadhar zu einem abgelegenen Platz unter einem Baum. Er sah sich um, ob niemand sie beobachtete. Dann verehrte er ihn, indem er ihm die Girlande umhing und die Süßigkeiten zu essen gab. Mit Tränen in den Augen sagte er: „Ich bin alt geworden und fühle mein Ende nahen. Ich werde nicht das Glück haben, die vielen wundervollen Dinge zu sehen, die du in der Welt tun wirst. Ich bitte dich nur, dass du deinen wertlosen Diener immer mit Barmherzigkeit betrachtest.“

Gadadhar war der Büchergelehrsamkeit von Jugend an abgeneigt, denn die Gelehrten streben mit ihrem Wissen oft nach Wohlstand, weltlichem Vergnügen und Ansehen, was den Jungen abstieß. Trotzdem ging er weiterhin zur Schule, obwohl Ramkumar es ihm ab seinem zehnten Lebensjahr freistellte, weil er fürchtete, dass sein jüngerer Bruder mit seinen häufigen Ekstasen eine Neigung zur Krankheit hatte. Auch seine Lehrer zwangen ihn zu nichts.

Gadadhar begann, das Ramayana und Mahabharata und andere religiöse Bücher zu lesen. Er las sie den ungebildeten Dorfbewohnern gern vor und wurde von verschiedenen Familien dazu in ihre Häuser eingeladen, wo er Geschichten aus dem Leben Praladas, Dhruvas und andere Erzählungen vorlas. Auch kam er mit den Dichtungen der Dorfpoeten in Kontakt und lernte durch Zuhören viele Gedichte von ihnen auswendig oder schrieb sie ab.

Zwei weitere Jahre vergingen, und Gadadhar wurde zwölf. Sein mittlerer Bruder Rameswar war inzwischen zweiundzwanzig und seine kleine Schwester neun. Beide wurden verheiratet.

4 Isherwood: Ramakrishna, S. 28f

5 Die Nacht Shivas, ein wichtiger Feiertag Ende Februar, Anfang März. Vor dem Fest wird gefastet, und die Nacht wird mit Gebeten und Singen durchwacht.

AUF DER SCHWELLE ZUM JUGENDLICHEN

Als Ramkumars Frau in älteren Jahren ihr erstes Kind erwartete, veränderte sich ihr Charakter so sehr, dass ständig Streit im Haus herrschte. Auch verringerte sich Ramkumars Einkommen. Rameswar war nicht gut darin, Geld zu verdienen, obwohl er sehr gebildet war. Zudem hatte er erst kürzlich geheiratet. So gab es weniger Einkommen für eine größere Zahl an Familienmitgliedern, und die bislang angenehme Lebenslage war bedroht. Als Ramkumars Frau schließlich einen Jungen (Akshay) gebar, starb sie.

Ramkumars Elend verstärkte sich nach dem Tod seiner Frau noch. Er musste Schulden machen, die täglich mehr wurden. Auf Rat seiner Freunde beschloss er schließlich, Kamarpukur zu verlassen, um anderswo sein Glück zu versuchen. Seine Freunde meinten, in Kalkutta hätte er die besten Aussichten, Geld zu verdienen. In der wohlhabenden Stadt lebten viele Reiche und Leute der Mittelschicht, deren Kinder er unterrichten und denen er in religiösen Dingen mit seinem Rat zur Seite stehen konnte. Also übergab er Rameswar die Verantwortung für die Familie und ging nach Kalkutta. Er eröffnete eine Sanskritschule im Stadtteil Jhamapukur und unterrichtete einige Jungen. Es war das Jahr 1850, und er war bereits fünfundvierzig.

Für Chandra Devi, die inzwischen achtundfünfzig war, bedeuteten die neuen Umstände, dass sie fortan den ganzen Haushalt, bei dem Ramkumars Frau ihr bislang geholfen hatte, selbst erledigen und zudem ihren Enkel Akshay aufziehen musste. Die Frau von Rameswar war noch zu jung, um sie zu unterstützen. Zudem war sie für den Gottesdienst für Raghuvir verantwortlich.

Rameswar unterstützte die Wandermönche, obwohl er kein gutes Einkommen erzielen konnte. Er war immer finanziell in Bedrängnis, führte aber trotzdem ein unbeschwertes Leben und dachte, dass Raghuvir schon für die Familie sorgen würde. Er kümmerte sich nicht sehr um Gadadhars Fortschritte in der Schule. Gadadhar war somit sich selbst überlassen. Er konnte tun, was er wollte.

Gadadhar beobachtete die Menschen und erkannte, dass der Erwerb von Gelehrsamkeit nur dem Zweck diente, viel Geld zu verdienen. Keiner konnte der Wahrheit hingegeben sein oder Charakterstärke erwerben und Gott erkennen, der seine Kraft darauf verwandte, sich um weltliches Vergnügen zu kümmern. Er beobachtete, wie einige Familien im Dorf Land und Besitz vor Gericht erstritten und der Tod sie forttrug, kaum hatten sie gewonnen. Zudem erkannte er durch die Todesfälle in seiner Familie, wie unbeständig das Leben ist. Dadurch kam er zur Einsicht, dass Geld und der Wunsch nach Vergnügen die Ursache für viel Elend im menschlichen Leben sind, was später seine Lehre prägte. Dagegen erkannte er das erste Ziel des menschlichen Lebens im Erwerb von Liebe zu Gott und war wie sein Vater mit dem Notwendigsten zufrieden. Er half seiner Mutter viel im Haushalt und verehrte Raghuvir. Auch wurde er seinem Neffen Akshay sehr zugetan. Um seine Mutter zu entlasten, nahm er das Kind auf den Schoß und spielte mit ihm.

Da Gadadhar die meiste Zeit zuhause verbrachte, ergriffen die Frauen des Dorfes die Gelegenheit, ihn zu besuchen. Wenn sie frei von Haushaltspflichten waren, gingen sie zu Chandra Devi und baten Gadadhar, für sie zu singen oder religiöse Geschichten vorzulesen. Wenn er dabei war, seiner Mutter zu helfen, halfen sie mit, damit er später Zeit hatte, ihnen aus den Puranas vorzulesen oder zu singen. Das wurde fast zur täglichen Routine. Auch spielte er den Frauen religiöse Dramen vor und veränderte seine Stimme je nach der Rolle, wobei er auch weibliche Rollen übernahm und Frauenkleider und Schmuck trug, die die Frauen ihm gaben. Immer wieder geriet er bei seinen Vorträgen oder beim Singen in Ekstase, was die Hingabe der Frauen an ihn nur noch verstärkte. Da die älteren Frauen die Umstände von Gadadhars Geburt kannten, verehrten sie ihn als Gopala, und die jüngeren verehrten ihn als Krishna. Gadadhar liebte Scherze und erschien manchmal vor den Männern als Frau verkleidet am Haldarpukur, mit einem Krug in der Hand, um Wasser zu schöpfen, und keiner vermutete, dass er keine Frau war. Oder er machte die Stimmen und Gesten anderer Leute nach, sodass alle in Gelächter ausbrachen.

In der Nachbarschaft war ein Händlerviertel, das aus der Großfamilie der Pynes bestand, wo es viele Frauen gab. Nicht allen Frauen war es gestattet, das Haus zu verlassen und zu Chandra Devi zu gehen, um dort Gadadhars Vorführungen zu sehen. Deshalb wurde er oft in ihre Häuser eingeladen. Sitanath, das Familienoberhaupt, liebte Gadadhar sehr. Auch die anderen Männer des Viertels kannten seinen moralischen Charakter, weshalb sie keine Einwände hatten. Die einzige Person aus dem Händlerviertel, die etwas dagegen hatte, war Durgadas Pyne, der die Frauen strikt auf den inneren Wohnbereich beschränkt sehen wollte. Er prahlte vor Sitanath und anderen Verwandten damit, dass keiner jemals die Frauen seines Haushalts oder den inneren Wohnbereich gesehen habe. Eines Tages hörte Gadadhar ihn damit vor einem Verwandten angeben und sagte: „Können Frauen durch diese Abschirmung geschützt werden? Sie können nur durch gute moralische Erziehung und Hingabe an Gott geschützt werden. Ich kann jeden in deinem Haus sehen und alles vom inneren Wohnbereich wissen, wenn ich will.“ Da wurde Durgadas noch überheblicher und sagte: „Das möchte ich sehen.“ „Gut“, erwiderte Gadadhar, nahm die Herausforderung an und ging.

Einige Tage später verkleidete sich der Junge als arme Weberin, zog einen groben, schmutzigen Sari an, legte unter anderem billigen Schmuck einen Silberarmreif an und ging vor der Abenddämmerung aus Richtung des Marktes kommend zu Durgadas Haus. Er trug einen Korb im Arm und einen Schleier, der sein Gesicht verbarg. Durgadas saß mit einigen Freunden im Wohnzimmer seines Hauses. Gadadhar stellte sich als eine Weberin vor, die zum Markt gekommen war, um Garn zu verkaufen, aber unglücklicherweise durch ein Missverständnis von ihren Gefährtinnen zurückgelassen worden war. Er bat deshalb um Unterkunft für die Nacht. Durgadas stellte ihm Fragen, aber da er mit seiner Antwort zufrieden war, sagte er: „Nun gut, geh zu den Frauen in den inneren Wohnbereich und bitte sie, dich unterzubringen.“ Gadadhar verneigte sich dankbar und ging in den inneren Wohnbereich. Er wiederholte seine Geschichte vor den Frauen und amüsierte sie mit seinem Geschwätz. Da er so jung war und sie mit seinen süßen Worten zufrieden waren, erlaubten sie ihm, bei ihnen zu bleiben. Sie wiesen ihm einen Schlafplatz zu und gaben ihm süßen Reis. Gadadhar setzte sich und beobachtete alles in jedem Zimmer und alle Frauen ganz genau, während er aß. Er hörte nicht nur ihrer Unterhaltung zu, sondern beteiligte sich daran und stellte sogar Fragen. Den ganzen Abend verbrachte er auf diese Weise.

Da Gadadhar nicht nach Hause gekommen war, schickte Chandra Devi Rameswar auf die Suche nach ihm ins Händlerviertel, weil sie wusste, dass er oft dorthin ging. Rameswar suchte ihn zuerst in Sitanaths Haus, erfuhr aber, dass er nicht dort war. Dann ging er in die Nähe von Durgadas Haus und rief laut nach ihm. Als Gadadhar die Stimme seines Bruders hörte, wusste er, dass es spät war, antwortete aus dem inneren Wohnbereich: „Ich komme, Bruder!“ und rannte hinaus. Da dämmerte Durgadas die Wahrheit. Zunächst war er etwas beschämt und verärgert, weil Gadadhar ihn hereingelegt hatte, aber dann begann er zu lachen, da er erkannte, wie gut der Junge seine Rolle gespielt hatte. Daraufhin durften auch die Frauen aus seiner Familie in Sitanaths Haus gehen, wenn Gadadhar dort war.

Bis zu seinem vierzehnten Geburtstag besuchte Gadadhar täglich eine Zeit lang die Schule, weil er die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen mochte. Aber jetzt verstärkte sich sein Wunsch nach Kontemplation so sehr, dass er sich sicher war, dass er keine Verwendung für eine Ausbildung hatte, die nur dem Broterwerb diente, wie sie in der Schule erfolgte. Er spürte, dass sein Leben einem höheren Zweck diente und dass er seine ganze Energie darauf verwenden musste, Gott zu erkennen. Wenn immer sich ihm die Frage nach seiner Zukunft stellte, kam ihm der Gedanke an Entsagung und völliger Abhängigkeit von Gott, an ein Leben als Sadhu, von Almosen zu leben und als Wandermönch von Ort zu Ort zu wandern. Doch zugleich dachte er auch an seine Mutter, seine Familie und die Leute im Dorf, die ihn so sehr schätzten. So gab er den Wunsch nach diesem Weg wieder auf und überließ sich Gottes Führung.

In dieser Zeit schlugen einige seiner Freunde ihm vor, eine Theatergruppe zu gründen, und baten ihn, er möge sie ausbilden. Er war damit einverstanden. Gadadhar wählte den Mangohain als Bühne aus. Die Freunde kamen überein, dass täglich einige von ihnen die Schule schwänzen und herkommen sollten. Dieser Plan wurde ausgeführt. Unter Gadadhars Anleitung lernten die Jungen Rollen und Lieder, und der Mangohain verwandelte sich in eine lebhafte Bühne, wo Stücke aus Ramas und Krishnas Leben aufgeführt wurden, wobei Gadadhar die Hauptrollen spielte. Seine Lieblingsthemen waren die Vorfälle aus dem Leben Krishnas, besonders sein neckisches Spiel mit den Kuhhirten und Gopis in Vrindavan. Höhepunkt dieser Schauspiele war, wenn er die Lieder über die Heldentaten Krishnas oder den Trennungsschmerz Radhas sang, während die anderen Jungen andere Kuhhirten spielten. Wenn Gadadhar Krishna oder Radha spielte, wurde er von den Gefühlen dieser Themen überwältigt. Oft geriet er dabei in Ekstase. Manchmal hallte der ganze Mangohain vom Kirtan wider, das die Jungen im Chor sangen.

Bald fand der Lehrer heraus, dass die Jungen die Schule schwänzten, um ihre Zeit mit Singen und Frohsinn zu verbringen. Eines Tages zitierte er sie alle herbei und fragte sie, wer der Anführer sei. Alle zeigten auf Gadadhar. Der Lehrer bat ihn, ihm zu zeigen, was er mit seinen Freunden im Mangohain tat. Mutig sang er ein Lied, das dem Lehrer so sehr gefiel, dass er es unterließ, sie zu bestrafen.

ABBILDUNG 6: MANGOHAIN IN KAMAPUKUR

Auch Gadadhars Gabe zu malen entfaltete sich. Als er einmal seine jüngste Schwester Sarvamangala in Gaurhati besuchte, beobachtete er, wie sie freudig ihren Mann bediente. Kurz darauf malte er ein Bild mit dem glücklichen Paar, und alle Familienmitglieder waren überrascht, wie wirklichkeitsgetreu es war.

So vergingen drei glückliche Jahre. Gadadhar lebte in einer Welt aus Freundschaft, Spaß und Spiel, und dennoch nahmen seine spirituelle Erkenntnis und Hingabe an Gott zu. Im einen Augenblick war er der Lebhafteste seiner Gruppe, im nächsten war er tief in sich selbst versunken.

Gadadhar war inzwischen sechzehn. Durch Ramkumars Anstrengung war die Anzahl der Schüler in seiner Schule in Kalkutta angewachsen, und er verdiente jetzt mehr als zuvor. Einmal im Jahr besuchte er für einige Wochen seine Familie in Kamarpukur, um nach dem Rechten zu sehen. Als er in diesem Jahr kam, war er besorgt, als er sah, dass Gadadhar sich um keinerlei Ausbildung kümmerte und sich stattdessen mit seinen Freunden im Dorf herumtrieb. Er frage, wie er seine Zeit verbrachte, und nachdem er sich mit seiner Mutter und Rameswar beraten hatte, beschloss er, Gadadhar mit nach Kalkutta zu nehmen. Er brauchte einen Assistenten und dachte, Gadadhar könne ihm in der Schule helfen, sich um die größer werdende Schülerzahl zu kümmern. Also wurde beschlossen, dass er seinem großen Bruder helfen und bei ihm zusammen mit den anderen Schülern weiterlernen sollte. Gadadhar hatte dagegen keinerlei Einwände vorzubringen, da er seinen ältesten Bruder wie seinen Vater respektierte. An einem glückverheißenden Tag erwiesen Ramkumar und Gadadhar Raghuvir die Ehre, nahmen den Staub von den Füßen ihrer Mutter und machten sich nach Kalkutta auf den Weg.

GADADHAR KOMMT NACH KALKUTTA

ABBILDUNG 7: KALKUTTA IM 19. JH.

Das 19. Jahrhundert bedeutete für Indien eine Zeit spiritueller Krise und die Erschütterung seiner Jahrtausende alten Traditionen durch die britische Fremdherrschaft. Eine Welle materialistischer Vorstellungen überschwemmten das Land. Besonders die gebildete Schicht wurde davon überwältigt. Alles Indische wurde fortan mit Verachtung betrachtet, und alles aus dem Westen begehrt. Nichts war mehr akzeptabel, außer es wurde vom rationalen Verstand für richtig erachtet. Die atheistische und agnostische Sichtweise vieler westlicher Denker gewann an Einfluss. Die Wissenschaft wurde als die Erlösung von überholten religiösen Vorstellungen betrachtet.

Der traditionelle Hinduismus musste sich mit dieser neuen Strömung auseinandersetzen. Viele Hindus wurden Skeptiker, Atheisten oder Agnostiker, und einige konvertierten zum Christentum. Sie genossen die westliche Lebensweise mit ihrer materiellen Sichtweise, und in den Schulen wurde auf westliche Art unterrichtet. Die englischen Missionare verachteten den Hinduismus als polytheistische Religion mit primitiven Kulten und Götzendiensten. Als Reaktion darauf entstanden mehrere Erneuerungsbewegungen, von denen besonders der Brahmo Samaj und der Arya Samaj Erwähnung finden müssen.6

Kalkutta war damals der Hauptsitz der britischen Herrschaft in Indien, und so waren diese westlichen Einflüsse überall gegenwärtig. Die Stadt besaß prunkvolle europäische Gebäude mit hohen Säulen und großen, luftigen Zimmern. Das soziale Leben war elegant und sehr formell. Auf den Straßen gab es Kutschen. Die Familien gingen zur Kirche und in die Oper, die Söhne spielten Cricket und genossen eine englische Erziehung. Einen größeren Kontrast als zum Dorfleben in Kamarpukur konnte es kaum geben.

Damit wurde Gadadhar konfrontiert, als er 1852 nach Kalkutta kam, wo er drei Jahre verbrachte, wenn er auch zunächst kaum mit der gebildeten englischen Schicht in Berührung kam. Erst später kamen viele Bengalen, die englische Schulen und Universitäten besucht hatten, mit ihm in Kontakt. Er besaß keine Bitterkeit gegen die Briten, nur einen spielerischen Humor. So konnte er sagen: „Wenn ein schwacher Mann hohe Stiefel anzieht, beginnt er zu pfeifen und die Treppe wie ein Engländer hinaufzugehen, indem er von einer Stufe auf die nächste springt.“ Er sprach von seinen Freunden, die von westlichen Gedanken beeinflusst waren, gern als „Engländer“ und konnte sagen: „Sieh dir diese Engländer an – sie machen sich die Mühe herzukommen! Das bestätigt mich darin, dass meine Visionen nicht nur Einbildungen sein können.“

Gadadhar war sechzehn, als er zu seinem ältesten Bruder nach Kalkutta ins Viertel Jhamapukur zog. Ramkumar hatte viel zu tun, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wie es Brauch war, durfte der Lehrer an einer Sanskritschule keine feste Gebühr verlangen, sondern nur freiwillige Spenden von seinen Schülern annehmen, und die waren dürftig. Der einzige Ausgleich, auf den er hoffen konnte, kam von der Regierung, wenn die Schüler ihre Prüfungen ablegten. Für jeden Schüler, der bestand, gab die Regierung dem Lehrer eine bestimmte Summe, die größer oder kleiner ausfallen konnte, je nach der Note des Schülers.

Ramkumar ging deshalb noch einem zweiten Beruf nach, dem des Familienpriesters. Da nur Brahmanen den vollen Ritus für die Gottheit ausführen durften, was nicht nur die Tempel, sondern auch die Familienschreine betraf, stellten die wohlhabenden Mitglieder anderer Kasten einen Priester ein, der zweimal täglich kam, und bezahlten ihn für seine Dienste. Aber die Ausführung dieser Riten dauerte ihre Zeit, die Ramkumar kaum hatte. Deshalb überließ er sie Gadadhar.

Die Familien mochten Gadadhar sehr und sahen ihn gern bei sich. Seine Art, den Gottesdienst zu feiern, unterschied sich sehr von seinen Vorgängern, die es damit eilig hatten. Er feierte ihn mit großer Sorgfalt und Verehrung und verbrachte Stunden damit, die Götterstatuen zu schmücken und fromme Lieder zu singen. Nach den Gottesdiensten unterhielt er sich mit den Familienmitgliedern. Obwohl er jetzt ein junger Mann war, hatten die Frauen keine Scheu vor ihm, und er wurde von allen geliebt wie in Kamarpukur. Aber was das Lernen betraf, konnte er auch hier keinen bemerkenswerten Fortschritt erzielen.

Ramkumar beobachtete das zunächst stillschweigend. Eines Tages ermahnte er Gadadhar mild und bat ihn, sich seinem Studium zu widmen, denn irgendwann musste er selbst für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen. Wenn er jetzt nicht lernte, sich um die weltlichen Dinge zu kümmern, würde er es später noch tun? Da erklärte ihm Gadadhar seine Sichtweise von der Unbeständigkeit der Welt und seine Einstellung, indem er sagte: „Bruder, was soll ich mit einer Ausbildung anfangen, die nur dem Broterwerb dient? Ich würde viel lieber diese Weisheit erlangen, die mein Herz erleuchtet und mich für immer zufriedenstellt.“ Doch Ramkumar konnte es nicht verstehen. Er dachte, dass der Junge von seinen Eltern verwöhnt worden war und deshalb auf diese Weise antwortete. Er malte ihm die Perspektiven des leichten und glücklichen Lebens des Gebildeten in einer Stadt wie Kalkutta mit den leuchtendsten Farben aus. Doch Gadadhar rückte nicht von seiner Position ab. Da ließ ihn Ramkumar sein eigenes Leben führen, in der Hoffnung, dass er eines Tages den Weg der Pflicht erkennen würde.

Auf diese Weise vergingen drei Jahre. In der Folge war Ramkumar mit seiner Schule weniger erfolgreich und dachte sogar daran, sie zu schließen und sich andere Arbeit zu suchen. Doch was sollte er tun? Er hatte nichts anderes gelernt als zu unterrichten, den Gottesdienst abzuhalten und die Opferhandlungen auszuführen.

6 s. Kapitel über den Brahmo Samaj

RANI RASMANI UND DIE TEMPELANLAGE VON DAKSHINESWAR

ABBILDUNG 8: TEMPELGARTEN VON DAKSHINESWAR

vom Ganges aus gesehen mit den zwölf Shiva-Tempeln links, der offenen Säulenhalle dazwischen, Ramakrishnas Zimmer am Ende der Reihe der Shiva-Tempel links, die beiden Nahabats jeweils ganz rechts und links, im Hintergrund der Kali-Tempel

In Janbazar, in der Nähe des Zentrums von Kalkutta, lebte eine berühmte Frau namens Rani Rasmani (1793-1861). Sie war die Mutter von vier Töchtern und wurde mit vierundvierzig Witwe. Von ihrem Mann Rajchandra Das, der der Zamindar (Großgrundbesitzer) von Janbazar gewesen war, erbte sie einen großen Grundbesitz. Sie verwaltet ihn selbst und war den Leuten in Kalkutta wohl bekannt. Sie war nicht nur wegen ihrer Fähigkeit, den Grundbesitz zu verwalten, berühmt und beliebt, sondern auch, weil sie unzählige andere Tugenden besaß und gute Werke tat, für ihren Glauben an Gott, ihre Energie, ihren Mut, ihre Intelligenz, ihre Geistesgegenwart und vor allem für ihr Mitgefühl mit den Armen. Obwohl sie nur der Kaste der Fischer angehörte, wurde sie „die Rani“ genannt. (Sie war nicht wirklich eine Rani, also die Frau eines Rajas, sondern es war der Spitzname, den ihre Mutter ihr als Kind gegeben hatte. Wegen ihrer Vornehmheit und Güte wurde der Name später beibehalten.)

ABBILDUNG 9: RANI RASMANI

Wie durchsetzungsfähig diese Dame war, wird durch folgenden Vorfall deutlich: Die britische Regierung hatte eine Steuer auf alle Fische, die im Hugli, der wirtschaftlich bedeutendsten Gangesmündung, gefangen wurden, eingeführt. Viele Fischer, denen dadurch die Armut drohte, lebten auf dem Land, das der Rani gehörte. Deshalb gingen sie zu ihr und beschwerten sich. Die Rani beruhigte sie und erwarb sich für eine große Summe das Monopol der Fischereirechte. Die Briten waren mit dieser Vereinbarung einverstanden, da sie davon ausgingen, dass die Rani vorhatte, einen Fischereibetrieb zu eröffnen und ihnen so Steuereinnahmen verschaffen würde. Kaum hatte sie jedoch das Recht erlangt, ließ sie den Fluss an mehreren Stellen mit Ketten absperren, sodass die Schiffe nicht mehr durchkamen. Als die Briten protestierten, antwortete sie: „Ich habe die Fischereirechte von euch teuer erworben. Wenn ich jetzt die Schiffe auf dem Fluss hin- und herfahren lasse, werden die Fische verschreckt, und ich werde viel Geld verlieren. Wenn ihr jedoch damit einverstanden seid, eure neue Steuer abzuschaffen, bin ich bereit, meine Rechte aufzugeben. Wenn nicht, werde ich euch vor Gericht verklagen, und ihr werdet mir Schadensersatz zahlen müssen.“ Die Briten erkannten, dass sie es ihnen heimgezahlt hatte, und erließen die Steuer.

Die Töchter der Rani waren alle verheiratet. Ihre dritte Tochter war gestorben. Diesen Schwiegersohn namens Mathurnath, der im Folgenden eine bedeutende Rolle spielten wird, verheiratete sie daraufhin mit ihrer jüngsten Tochter Jagadamba, um die Familie zusammenzuhalten.

Rani Rasmani verehrte die Göttin Kali. Sie hegte den Wunsch, nach Benares auf Pilgerreise zu gehen, um den Herrn Visvesvara und die Göttliche Mutter Annapurna zu verehren, doch da ihr Mann plötzlich gestorben war, konnte sie es nicht mehr ausführen und ihren Besitz nicht alleine lassen. Ihre Schwiegersöhne lernten jedoch allmählich, ihr bei der Verwaltung zu helfen. Der Jüngste, Mathur, wurde zu ihrer rechten Hand. Da beschloss sie, jetzt die Reise zu unternehmen, weil sie ihm die Verwaltung überlassen konnte, und traf 1848 alle Vorbereitungen dafür. Doch in der Nacht vor der Abreise hatte sie eine Vision der Göttin, die zu ihr sagte: „Du brauchst nicht nach Benares zu gehen. Baue mir hier in Kalkutta am Ufer des Ganges einen Tempel und stell darin meine Statue auf. Sorge dafür, dass ich dort täglich verehrt werde und mir Essen dargebracht wird. Ich werde mich in dieser Statue manifestieren und deine Verehrung annehmen.“

Die fromme Rani freute sich sehr über diese Anweisung. Sie verzichtete auf ihre Reise nach Benares und beschloss, das Geld, das sie dafür beiseitegelegt hatte, für dieses heilige Unterfangen zu verwenden. Sie kaufte am Gangesufer in Dakshineswar ein Stück Land von zwanzig Morgen von einem Herrn Hastie, einem Anwalt am Hohen Gericht von Kalkutta, und ließ darauf einen großen Tempel mit neun Kuppeln bauen. Hinzu kam eine schöne Gartenanlage. Der Bau dauerte sieben Jahre und war 1855 fertig.

Dakshineswar liegt etwa sieben Meilen nördlich des Zentrums von Kalkutta. Auf der westlichen Seite des Tempelgartens fließt der Ganges vorbei. Der Besucher, der mit dem Boot ankommt, steigt zuerst die Stufen des Bade-Ghats hinauf und betritt eine große offene Säulenhalle (Chandni), die in der Mitte von einer Reihe von zwölf kleinen Shiva-Tempeln liegt, in denen jeweils ein Shiva-Lingam mit Gesängen, Vilvablättern, Reis, Buttermilch, Honig oder Joghurt verehrt wird. Diese zwölf Tempel sind identisch und repräsentieren die zwölf Jyotir-Lingams Indiens.7

ABBILDUNG 10: KALI-TEMPEL IM BAU ZWISCHEN 1847 UND 1855; FOTO VON FREDERICK FIEBIG

Dann kommt der Besucher auf einen großen Innenhof, in dem der Kali-Tempel und der Radhakanta-Tempel sowie die Musikhalle (Natmandir) liegen. Der größere Kali-Tempel steht in der Mitte. Er besitzt neun Kuppeln und ist im Neun-Türme-Stil errichten, der in der alten bengalischen Architektur üblich war. Er ist ein großes Gebäude, aber der Schrein, in dem sich die Statue von Kali befindet, ist ziemlich klein und bietet nur Platz für den Priester und einige Verehrer.8 Die Übrigen müssen sich auf der offenen Terrasse vor dem Schrein oder auf den Marmorstufen, die von ihr herunterführen, versammeln.

ABBILDUNG 11: GHAT IN DER MITTE DER ZWÖLF SHIVA-TEMPEL, DAHINTER DIE SÄULENHALLE (CHANDNI)

Die Statue der Kali, die als Bhavatarini, die Retterin der Welt, verehrt wird, ist klein und weniger als drei Fuß hoch. Kali steht auf dem ausgestreckten Körper Shivas, der auf einem silbernen Lotus aus tausend Blütenblättern liegt. Die Figur Shivas besteht aus weißem Marmor, die Kalis aus schwarzem Basalt. Kali trägt ein Seidengewand und ist reich mit Schmuck verziert. Zudem trägt sie einen Gürtel aus Menschenarmen und eine Halskette aus Menschenschädeln. Sie streckt ihre Zunge heraus und besitzt vier Arme. Eine ihrer linken Hände hält einen abgeschlagenen Kopf, die andere ein blutiges Schwert. Eine ihrer rechten Hände macht die segnende Geste, die