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Als Monika Volker Brand kennenlernt, der sich auf ihrer Station nicht zurechtfindet, glaubt sie zunächst an eine Begegnung von vielen. Erst als sie mit ihm ins Gespräch kommt und von ihm erfährt, wen er sucht, erwacht Interesse in ihr.
Interesse an Volkers Geschichte über sein Leben. Er sucht seine allererste Liebe – und die liegt hier irgendwo im Krankenhaus …
Monika beginnt ihm zu helfen und beginnt zu verstehen, was eine Beziehung wirklich bedeutet. Eine Beziehung, wie die ihre, die kurz davor steht zu zerbrechen.
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SEINE
ALLERERSTE
LIEBE
von
Thomas Tippner
Vollständige Ausgabe 2021
Copyright © Hammer Boox, Bad Krozingen
Lektorat:
Hammer Boox, Bad Krozingen
Korrektorat: Doris E. M. Bulenda
(Fehler sind völlig beabsichtigt und dürfen
ohne Aufpreis behalten werden)
Titelbild: Azrael ap Cwanderay
Satz und Layout: Hammer Boox
Copyright © der einzelnen Beiträge bei den Autoren
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EINE BITTE:
Wie ihr vielleicht wisst, ist HAMMER BOOX noch ein sehr junger Verlag.
Nicht nur deshalb freuen wir uns alle, wenn ihr uns wissen lasst, was ihr von diesem Roman haltet.
Schreibt eine Rezension, redet darüber,
fragt uns, wenn ihr etwas wissen wollt...
Liebe Leserin,
lieber Leser,
was ihr in Händen haltet, ist ein besonderes Buch!
Nun ist HAMMER BOOX ja nicht unbedingt dafür bekannt, Liebesromane (mir fällt es immer noch schwer, das zu schreiben ;) ) zu verlegen. Die dunklen Seiten der menschlichen Seele mit all ihren Abgründen ist da eher unser Metier – und darin sind wir wirklich gut!
Andererseits lautete mein persönliches Motto immer, dass ich die Manuskripte zu Büchern machen will, die mir gefallen.
Und bei dem vorliegenden ist das nun einmal der Fall.
Dabei bin ich dazu gekommen wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kinde:
Ursprünglich bot mir Thomas Tippner den Roman nämlich nicht für HAMMER BOOX an, sondern bat mich, ihn zu lektorieren, er wollte dafür nach einem Verlag suchen, und eine lektorierte Fassung öffnet da eher Türen. Da ich das gelegentlich für Freunde mache und gerade Zeit übrig war, war ich damit einverstanden.
Allerdings merkte ich sehr schnell, dies hier entspricht in keinem Punkt den Liebesroman-Klischees, die ich zuvor in meinem Kopf hatte. Ich lektorierte nicht nur, sondern begann sehr schnell mit dem Lesen, weil es mich interessierte. Keine ChickLit-Schmonzette, auch kein schwülstiges Romance-Geschwafel, sondern anrührend, empathisch und ehrlich.
Eine Geschichte, wie sie genau so passiert sein könnte.
Denn wir wissen doch alle, der größte Horror ist die Realität.
Viel Spaß mit diesem außergewöhnlichen Buch wünscht
Markus Kastenholz
Als Monika Volker Brand kennenlernt, der sich auf ihrer Station nicht zurechtfindet, glaubt sie zunächst an eine Begegnung von vielen. Erst als sie mit ihm ins Gespräch kommt und von ihm erfährt, wen er sucht, erwacht Interesse in ihr.
Interesse an Volkers Geschichte über sein Leben. Er sucht seine allererste Liebe – und die liegt hier irgendwo im Krankenhaus …
Monika beginnt ihm zu helfen und beginnt zu verstehen, was eine Beziehung wirklich bedeutet. Eine Beziehung, wie die ihre, die kurz davor steht zu zerbrechen.
Das Leben, heißt es, schreibe die merkwürdigsten Geschichten.
Geschichten, die man nicht kommen sieht.
Egal, ob es die erste Liebe in einer Disco ist, der unerwartete Anruf eines längst vergessenen Freundes oder die Begegnung mit einem völlig Fremden, der einen dennoch nachhaltig beeinflusst.
Der es sogar schafft, wenn man abends neben seinem Ehe- oder Lebenspartner im Bett liegt, darüber nachzudenken, was er gesagt oder gemeint hat. Dass man in den Momenten merkt, dass er einen Punkt in einem berührte, den man bisher gar nicht bei sich kannte.
Da liegt man dann in der schummrigen Dunkelheit, den Blick zur Decke gerichtet, ein merkwürdig fremdes, einem noch nie aufgefallenes Lächeln auf den Lippen, und denkt bei sich: Er hat recht gehabt. Es stimmt wirklich.
Eben die Gedanken waren es, die einen dazu brachten, über all das nachzudenken, was man bisher erlebt und erreicht hatte oder noch schaffen wollte. Es waren die Gedanken, die einen erahnen ließen, was es bedeutete, am Leben zu sein.
Da war plötzlich keine Angst mehr, man könnte sich irgendetwas nicht leisten. Keine Sorge, man könnte einen Urlaub zu wenig gemacht oder die falschen Menschen kennengelernt haben.
Alles verlor sich irgendwie.
Nur ein Gefühl blieb, das einen zur Seite schauen ließ, dorthin, wo der Mensch schlief, für den man sich entschieden hatte. Mit dem man den Rest seines Lebens verbringen wollte. Der Mensch, der einen dort stärkte, wo man Schwächen hatte. Der einem dort half, wo man nicht weiterkam.
Der Mensch …
… der immer für einen da war, wenn man ihn brauchte.
Dennoch beschlich einen ein merkwürdiger, ein absonderlich nagender Zweifel, der einen darüber nachsinnen ließ, wie es einem ergangen wäre, hätte man sich damals für jemand anderen entschieden. Hätte man auf das Werben des einen, unvergesslich ersten Moments vertraut, den man dann, aus Furcht, sich zu früh zu binden, verstreichen ließ.
Warum Monika, die am Schreibtisch des Stationszimmers saß und damit beschäftigt war, am Computer die Pflegeaktivitäten des Vormittags abzuhaken, eben dieser Gedanke kam, wusste sie selbst nicht. Sie merkte nur, als sie den alten, unsicher aus dem Fahrstuhl tretenden Mann sah, dass in ihr unbewusst auf einen Knopf gedrückt worden war, der sie innerlich abschweifen ließ. Dass der Mann da etwas in ihr bewegte und sie sanft den Kopf schütteln ließ, weil sie diese Art der inneren Zweifel seit Jahren … ach was!, dachte sie, seit Jahrzehnten nicht mehr kannte.
Bisher war alles perfekt gelaufen.
Sie hatte einen liebevollen Mann, drei freche Jungen, aber es waren Kinder, die ihr nie und nimmer hätten besser gelingen können. Im Großen und Ganzen fühlte sie sich in ihrer Haut und in ihrem Leben wohl.
Dennoch schaute sie nun über den Rand der zahlreichen Aktenordner auf dem Tisch hin zu dem älteren Herrn, der vorsichtig, beinahe so, als habe er Angst, den falschen Weg einzuschlagen, aus dem Fahrstuhl gekommen war. Auch jetzt, da er zwei wackelige Schritte auf das Stationszimmer zu machte, mit der linken Hand am Handlauf, wirkte er verloren.
Sie meinte damit weder seinen Gang noch die Schritte, die er langsam, in der einem alten Mann typischen Art machte, sondern vielmehr seine Körpersprache. Sie hatte viel darüber gelesen, interessierte sich brennend dafür, wie man in den Gesichtern, der Mimik und Gesten von Menschen lesen konnte. Und eben weil ihr Interesse so groß war, glaubte sie, bei dem Alten etwas zu erkennen, das sie noch nicht richtig einordnen konnte. Ihr war, als würde er nicht zu jemandem wollen, der ihm vertraut war. Beinahe so, als suche er einen alten Kumpel aus Schulzeiten auf, den er nach dem letzten Ferientag niemals wieder gesehen hatte.
Eben diese Beobachtung ließ Monika darüber grübeln, wieso er solch eine Macht über sie hatte.
Wobei Macht sehr hoch gegriffen war.
Vielleicht, und mit dem Wort fühlte sie sich gleich viel wohler, bedeutete es auch nur Faszination ihrerseits.
Weil ich Krankenschwester bin und ein Auge für alte Menschen habe?, kam ihr eine unangenehme, eine kalt wirkende Stimme in den Sinn, die sie stets verabscheut hatte. Eine Stimme, die all ihre Gefühle, Emotionen und Empfindungen beiseiteschieben und sie kontrollieren wollte. Die ihre eben gemachten Beobachtungen rational und ohne nervendes Gedanken-Sperrfeuer erklären wollte. Eine beschissene, unangenehme Logik, die immer dann in ihr emporstieg, wenn sie merkte, emotional unsicher zu werden.
So wie damals, als sie Mark kennenlernte.
Da war sie auch zurückgeschreckt, als wäre sie gegen eine Mauer geprallt.
Alles in ihr hatte laut »VORSICHT!« gerufen und sie wegen den Tausenden Bildern schwindelig werden lassen, die ihr durch den Kopf geschossen waren.
Bilder, die ihr völlig abstrakte und kaum zu beschreibende Szenarien vorgaukelten, wie ihr Leben ab sofort verlaufen würde, wenn sie sich hier und jetzt in diesen wirklich attraktiven und ausgesprochen freundlichen Kerl verlieben würde.
Szenarien, wie sie heute wusste, die lächerlicher nicht sein konnten.
Aber damals waren sie so prägnant gewesen, so unausweichlich und wie in ihrem Kopf festgetackert, dass sie sich wirklich auf einer Müllhalde nach Essen suchen sah. Und nur deshalb, weil sie den vielen Ideen und Träumen Marks immer wieder nachgegeben hatte, anstatt auf ihren Wünschen zu bestehen.
Oder das andere, das ihre Seele bis heute erschütternde Drama, alleine zuhause sitzen zu müssen, mit fünf oder sechs Kindern, von ihrem Kerl verlassen, weil er fand, dass sechs Kinder eindeutig zu viel waren, und er ihren inzwischen fetten Arsch und ihre bis zum Bauchnabel hängenden Brüste nicht mehr anziehend fand.
Was wiederum lächerlich war, da ihre Brüste so klein und handlich waren, dass sie niemals, selbst nach zwanzig Kindern, bis zu ihrem Bauchnabel gereicht hätten.
Damals aber hatte sie eben genau diese Bilder im Kopf gehabt, und sich ernsthaft gefragt, wie sie nur immer wieder auf solch einen Blödsinn kam.
… Was wiederum dazu geführt hatte, dass sie sich den ersten Abend, an dem sie Mark kennenlernte, wie ein Trottel benommen hatte, wie es ihn kein zweites Mal auf Erden gab – sah man einmal von Jerry Lewis in seinen Filmen ab.
So aber hatte sie Mark unabsichtlich ein Glas aus der Hand geschlagen, hatte sich lässig auf einer nassen und mit Alkohollachen bedeckten Tischplatte abstützen wollen, um dann davon abzurutschen. Oder sie war so heftig gegen ihn geprallt, als sie ihn locker mit der Hüfte anstupsen wollte, dass er ins Straucheln geriet und fast zu Boden gestürzt wäre.
Bei dieser Erinnerung musste sie schmunzeln und begriff, dass es eben genau der alte Mann war, der ihr diese Gedanken in den Kopf katapultiert hatte.
Gedanken, wie sie jetzt feststellte, die von ihrer ekelhaften Logik gar nicht beeinflusst werden brauchten – nicht beeinflusst werden mussten, weil es etwas Gutes hatte. Es zeigte ihr, und davon war sie überzeugt, als sie sich von ihrem Stuhl erhob, dass man im Leben niemals die beste aller Entscheidungen treffen konnte, aber doch die beste für sich.
Deswegen trat sie an das Schwesternzimmer heran, lehnte sich gegen den Türrahmen und fragte ihn noch nicht, ob sie ihm helfen konnte. Nein, sie stand einfach nur da und ließ seine ganze Erscheinung noch einmal auf sich wirken.
Sie sah da einen älteren Mann, der noch immer wusste, wie man sich gut anzog. Da war nichts von einer hässlichen, grünen Cordhose, einem rosa schimmernden Hemd oder einer alten, abgetragenen Regenjacke zu erkennen, so wie bei vielen anderen.
Obwohl das Alter deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hatte und seine Knie nicht mehr richtig wollten, hatte er bei seiner schiefen Körperhaltung doch noch immer etwas Adrettes. Es wirkte charmant, so wie er seine Jeans trug und den schwarzen Pullover locker über den Saum seiner Hose fallen ließ. Und er hatte, ungeachtet der tiefen Falten und den rissig gewordenen Lippen, noch immer den letzten Hauch seiner einst jugendlichen Attraktivität. Was, wie sie meinte, wohl auch daran lag, dass sein graues Haar nicht sämtliche Dunkelheit von einst verloren hatte.
Außerdem, und das war ihr das Wichtigste, konnte man in seinen braunen Augen noch immer all die Freude und Lebenslust von einst erkennen.
Auch wenn sie jetzt ein wenig gedämpft war, von einer Spur Unsicherheit durchzogen und …
… und das verwirrte Monika zusätzlich …
… Trauer!
Sie fand, dass man sich schnell darin verlieren konnte. Ja, dass man in ihr versank und man gar nicht genug davon bekam.
Sie musste schmunzeln, als sie seine Blicke bemerkte, die suchend durch den Gang streiften. Für ein ungeübtes Auge befanden sich dort allerhand merkwürdige Dinge. Ganz gleich, ob es der Pflegewagen war, das abgedeckte Bett mit dem »Galgen«, das gleich in ein Zimmer geschoben werden sollte, wo es gebraucht wurde, oder der Verbandswagen, der noch inmitten des Flurs stand, weil zwei von Monikas Kollegen hinunter auf die Geriatrie mussten, um dort zu helfen, eine aus dem Bett gefallene ältere Dame zu stabilisieren.
Erst als der Mann wieder aufsah, nachdem er kurz stehen geblieben war, fragte sie:
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Verwundert – oder war es doch eher ein Schreck? – blieb er stehen, schaute sie an und blinzelte mehrmals, bevor er lächelte. Ein Lächeln, voller Freundlichkeit, aber auch einem Hauch Kummer. So, als habe er sämtliche Hoffnung verloren, jemals denjenigen zu finden, den er suchte.
Was sie wiederum dazu brachte, einen weiteren Gedanken zu spinnen, der ehrlich und schonungslos fragte:
Kann er nicht auch dement sein? Ich meine, hier laufen immer wieder Demente weg. Alleine letzten Monat wurde dreimal auf Station angerufen, dass wieder einer der Bewohner aus dem Michael-Kretschmer-Seniorenzentrum weggelaufen ist und möglicherweise durchs Krankenhaus irrt, in dem du arbeitest. Vielleicht ist der Alte auch so ein Fall?
Nur, um im nächsten Moment zu denken: Quatsch. Der gute Herr da ist alles, nur nicht dement. Er hat wache Augen … so unendlich klare, wache Augen.
»Oh, das können Sie ganz bestimmt«, sagte er und richtete sich auf. »Ich weiß nämlich nicht, ob ich richtig bei Ihnen bin.«
»Wen suchen Sie denn?«
»Inge Hornbach«, antwortete er, schluckte und wischte dann mit der Hand durch die Luft, beinahe so, als wolle er seine eben ausgesprochenen Worte beiseite wischen, um sie durch neue zu ersetzen. »Seibel. So heißt sie. Inge Seibel.« Um dann leise zu lachen und zu sagen: »Ich kenne sie nur als Inge Hornbach. Inge-Lisa Hornbach.«
Während er den Namen aussprach, leuchteten seine Augen, und seine faltigen Lippen wurden zu einem seligen, zufriedenen Lächeln, das Monika glauben ließ, ihr würde das Herz aufgehen.
Es war eines jener Lächeln, das sie nur zu gut kannte. Das sie selbst einst auf den Lippen getragen hatte, als sie sich – nach ihren Eskapaden in der Disco – zu ihrer eigenen Verwunderung mit Mark getroffen hatte. Es war eines jener tiefen Lächeln, zu denen Menschen nur dann fähig waren, wenn sie sich an den Menschen erinnerten, den sie von ganzem Herzen liebten.
Und sie liebte Mark …
… so sehr, dass es wehtun konnte.
Weswegen sie sich auch jetzt, da doch eigentlich alles perfekt lief, manchmal fragte, ob Mark sie denn auch noch so anhimmelte, wie sie es bei ihm tat.
Selbst jetzt, da ihr Ältester zwölf wurde und Mark und sie in das vierzehnte Jahr ihrer Ehe gingen und in das siebzehnte ihrer Beziehung, liebte sie ihn ebenso doll wie an dem Tag, wo sie ihn kennengelernt hatte.
Wenn nicht sogar mehr.
Er aber …
Nun ja, da war sie sich manchmal unsicher, er schien das Interesse an ihr verloren zu haben.
Nicht, dass er unhöflich zu ihr war oder sich für andere Frauen interessierte. Aber manchmal, eben dann, wenn sie alleine neben ihm im Bett lag, zur Decke starrte und nicht schlafen konnte, war es ihr, als begehrte er sie gar nicht mehr.
Natürlich, ihr Körper hatte sich verändert – schließlich hatte sie drei Kinder zur Welt gebracht, und seit letztem Jahr hatte sie auch die Vierzig erreicht.
Trotz all dieser Umstände und der Tatsache, dass Mark ordentlich zugenommen hatte und nicht mehr der athletische und sportliche Sunnyboy war, wie sie ihn damals kennengelernt hatte, begehrte sie ihn ebenso wie damals. Ja, sie liebte es, sich in seinen Arm zu kuscheln und dabei mit der Hand über seine vorwiegend haarlose Brust zu streicheln. Selbst nach all der Zeit spürte sie dann noch immer das unersättliche Verlangen, ihn zu küssen oder mit ihm zu schlafen.
Was sie von Mark nicht behaupten konnte – oder glaubte, nicht behaupten zu können.
Dass er wirklich einmal ihre Nähe suchte, sie küsste, sie in den Arm nahm oder ihr ein ehrliches: »Ich liebe dich, mein Schatz« ins Ohr hauchte, war in letzter Zeit ausgesprochen selten vorgekommen, um nicht sagen zu müssen: gar nicht mehr.
Alles war perfekt …
… eigentlich.
Und so genoss sie das Leuchten in den Augen des alten Mannes, der sie auffordernd ansah und fragte: »Liegt sie hier bei Ihnen?«
»Wer?«, wollte sie verwundert wissen, lachte dann viel zu laut, viel zu schrill und viel zu aufgesetzt, um die plötzliche Unsicherheit zu überspielen. »Nein, tut sie nicht.«
»Oh …«, sagte der alte Mann, fasste sich an den Kopf und schien ein vorhin geführtes Gespräch insgeheim noch einmal Revue passieren zu lassen, um dann zu murmeln: »Mir wurde gesagt, ich solle in den Fahrstuhl steigen, in den zweiten Stock fahren und nach vorne hin aussteigen, um dann nach rechts zu gehen, in den ersten Gang hinein. Das ist der erste Gang.«
»Auf welcher Station soll sie denn liegen?«, kam Monika ihm zu Hilfe.
»Der 11.«
»Hmm«, machte sie. »Auf der sind Sie, Herr …?«
»Brand«, stellte er sich vor. »Volker Brand.«
»… Herr Brand. Aber eine Frau Seibel haben wir hier nicht. Wo haben Sie diese Information denn her, wenn ich fragen darf?«
»Von der Information natürlich«, lächelte er verschmitzt und schien sie das erste Mal richtig zu mustern. Nicht, dass es ihr unangenehm war, aber sie hatte das Gefühl, als würde sie jetzt das erste Mal im tatsächlichen Dunstkreis des Mannes auftauchen. So, als wäre sie vorher nur eine im Nebel verlorene Gestalt gewesen, deren Konturen man zwar erahnte, aber doch nur weitestgehend erraten konnte.
»Ich schau mal in den Computer. Warten Sie hier bitte, ja?«
»Für Sie mache ich doch fast alles«, meinte er und ließ Monika lächeln.
Nicht so, wie sie sonst meist pflichtbewusst lächelte, wenn sie in ein Patientenzimmer trat und von einem der dort liegenden Herren ein schmieriges Kompliment zu hören bekam, weil ihr noch immer runder Hintern sich unter dem blassen Stoff ihrer Krankenschwesteruniform deutlich abzeichnete.
Nein, dieses war eines jener charmanten und ehrlichen Komplimente gewesen, die nicht dafür gedacht waren, sie zu beeindrucken.
Das war eines jener Komplimente, das ihr mitteilte, dass hier jemand stand, der es ehrlich mit ihr meinte. Jemand, der genau wusste, wieso und weshalb er es sagte. Nicht, weil er glaubte, solch ein Spruch sei hier angebracht.
»Dann will ich mal so freundlich sein«, gab sie ihm zur Antwort und war schon im Stationszimmer verschwunden.
Als sie sich gerade an den Computer setzte, hörte sie das nervenzerreißende und abgrundtief echtes Missfallen auslösende Piepen der Patientenklingel. Nicht, weil sie es hasste, in die Patientenzimmer zu gehen, um zu fragen, was denn los war, sondern deshalb, weil sie dieses Klingeln seit mehr als zwanzig Jahren hören musste.
Wieder und wieder.
Es hatte nichts Hilfsbedürftiges mehr, sondern etwas, das sie von der Arbeit abhielt.
Natürlich, sie war Krankenschwester geworden, weil sie Menschen helfen und ihnen zur Seite stehen wollte. Aber wie es im Leben nun einmal war, verloren sich einige selbst gesteckte Ideale, und man fand neue.
Das Klingeln war eindeutig ein verlorenes.
Deswegen war sie ganz froh, als sie mit einem Seitenblick auf die elektronische Anzeigentafel, die im genauen Blickfeld zu ihrem gläsernen Stationszimmer lag, sah, wo genau Hilfe benötigt wurde. Was ihren Unmut dämpfte, war, dass ihre beiden eben noch im Laufschritt verschwundenen Kolleginnen den Gang hinauf geeilt kamen.
Zum Glück, dachte sie, als sie beobachtete, wie Denise abbog, um in den Flur zu gehen, aus dem der Hilferuf erschollen war, so kann ich dann doch einmal nach Inge-Marie Seibel geb. Hornbach schauen.
Sie wusste nicht wieso, aber der Name hatte eine tiefere Bedeutung.
Er stand für ein Leben.
Und so bewegte sie die Maus, um den schwarz gewordenen Bildschirm wieder mit Farbe zu füllen. Noch bevor sie den Cursor auf die Suchfunktion zog, war ihre Belegungsmaske aktualisiert worden.
Da las sie, im unteren Drittel des Bildschirms: Inge-Marie Seibel.
Na toll, dachte sie und nahm sich vor, in ihrer freundlichen, bestimmenden und vor Krankenschwestersüffisanz überschäumenden Art, die Notaufnahme darum zu bitten, vorher anzurufen und die Pflege über den Zugang zu informieren, bevor er im System erschien.
»Sie kommt zu uns«, sagte sie, ihren Zorn herunterspielend, als sie vor Herrn Brand stand – der nun gar nichts dafür konnte, dass die internen Abläufe hier im Haus alles andere als optimal liefen. »Liegt aber wohl noch in der Notaufnahme.«
»Ah«, sagte der alte Herr, und lehnte sich gegen die Wand. »Wie geht es ihr denn?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich habe noch keine Übergabe bekommen«, meinte Monika, während sie Volker Brand taxierte.
Ihre vorhin spontan gemachte Überlegung, er komme ihr vor, als würde er trauern, kam ihr wieder in den Sinn. Mit solch einem Schwung, solch einer Macht, dass sie merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
Er wirkte auf sie wie ein Mann, der etwas verloren und nach unendlich langer Suche nun endlich wieder gefunden hatte.
Nur um dann bemerken zu müssen, dass er wieder ganz weit entfernt von seinem Ziel war, obwohl er sich ihm Schritt für Schritt näherte.