Sherlock Holmes - Neue Fälle 31: Die Leiche des Meisterdetektivs - Andreas Zwengel - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 31: Die Leiche des Meisterdetektivs E-Book

Andreas Zwengel

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Beschreibung

Der Tod eines Veteranen führt Doktor Watson nach Cornwall, wo Holmes einen Mordfall vermutet, der mit dem britischen Militäreinsatz in Afghanistan zu tun hat.Im Auftrag Ihrer Majestät muss Mycroft Holmes schweren Schaden vom Empire abwenden.Im dritten Fall steht Doktor Watson fassungslos im Leichenschauhaus von London. Vor ihm liegt die Leiche des Meisterdetektivs.

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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVSSHERLOCK HOLMES

In dieser Reihe bisher erschienen:

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler

3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer

3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer

3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt

3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson

3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson

3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt

3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle

3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn

3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler

3021 – Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter

3022 – Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel

3023 – Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3024 – Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers von Michael Buttler

3025 – Sherlock Holmes und das Urumi-Schwert von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3026 – Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad von Thomas Tippner

3027 – Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger von Michael Buttler

3028 – Der Träumer von William Meikle

3029 – Die Dolche der Kali von Marc Freund

3030 – Das Rätsel des Diskos von Phaistos von Wolfgang Schüler

3031 – Die Leiche des Meisterdetektivs von Andreas Zwengel

Andreas Zwengel

SHERLOCK HOLMES

Die Leiche desMeisterdetektivs

Basierend auf den Charakteren vonSir Arthur Conan Doyle

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: iStock.com/neyro2008Satz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-230-1Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Inhaltsverzeichnis

Tod eines Veteranen
Im Dienst Ihrer Majestät
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Die Leiche des Meisterdetektivs
Fußnoten

Tod eines Veteranen

Von Paddington Station aus machte ich mich mit dem Zug nach Cornwall auf. Mit einigem Widerwillen, wie ich gestehen muss. Die Zugstrecke von London endete in dem kleinen Städtchen Penzance, zu landesweitem Ruhm gekommen durch die komische Oper Die Piraten von Penzance der Erfolgskomponisten Gilbert & Sullivan. Ich hatte die Aufführung bisher nicht gesehen, aber sie soll amüsant sein.

Meine Reise führte mich allerdings noch ein ganzes Stück weiter die Südküste entlang. Glücklicherweise fand ich einen ortsansässigen Kutscher, der sich für eine Fahrt über Land begeistern ließ. Wobei ich annehmen muss, dass es eher die finanziellen Anreize waren, die ihn überzeugten, und nicht die landschaftliche Schönheit. Obwohl diese natürlich unbestreitbar war. Mit seinen langen Sandstränden, dem milden Klima und den wunderschönen Buchten bot Cornwall im äußersten Südwesten Englands den geeigneten Ort, um zur Ruhe zu kommen. Genau aus diesem Grund hatte mein Freund Sherlock Holmes vor einer Woche London verlassen.

In den quälenden Phasen der Untätigkeit versuchte Holmes für gewöhnlich, seinen rastlosen Geist mit Morphium und siebenprozentiger Kokainlösung zu bezähmen, was immer seltener gelang. Mein Freund hatte seinen Körper wahrlich noch nie geschont. Der offenkundige Missbrauch von chemischen Stoffen, die unregelmäßige Nahrungsaufnahme beziehungsweise deren völliger Verzicht, das alles hinterließ Spuren. Er führte seinem Körper Stimulanzen zu, die auf Dauer nicht gesund waren. Als Arzt musste ich ihm von so vielem abraten, aber er hörte nicht auf mich. Sein Lebenswandel konnte zu manchen Zeiten nicht anders als selbstzerstörerisch bezeichnet werden. Deshalb war es wieder einmal Zeit für eine Ruhe-Kur in Cornwall gewesen.

Der Aufenthalt in dem Sanatorium war äußerst kostspielig. Zu kostspielig für die Börse eines Beratenden Detektivs, doch seine Rechnung war bereits beglichen, da ihm ein reicher Gönner und ehemaliger Klient den Aufenthalt vermittelt hatte. Sollten es die Fachleute versuchen, einen ruhelosen Geist wie den von Holmes zum zeitweiligen Nichtstun zu verurteilen. Zu meiner Überraschung war es mehrere Tage gut gegangen, bis mich am Vortag seine Nachricht erreichte, in der er mich aufforderte, sofort zu ihm nach Ennet House zu reisen. Das Telegramm entbehrte aller weiteren Informationen und enthielt nur eine weitere Anweisung.

Bei meiner Ankunft stellte ich fest, dass es sich bei Ennet House um ein beeindruckendes Anwesen handelte. Das dreigeschossige Herrenhaus besaß einen H-förmigen Grundriss und verfügte über mehrere Türme, die noch an die mittelalterliche Festungsarchitektur erinnerten. Die Hauptfassade imponierte mit säulengerahmten Portalen, Ziergiebeln und Balustraden. Ennet House war ein elisabethanischer Landsitz mit ummauerten Gartenflächen, Gewächshäusern und Sportanlagen. Wer sich den Aufenthalt leisten konnte, besaß zumindest keine finanziellen Sorgen.

Sportliches Training, lange Spaziergänge oder musische Betätigung sollten das Wohlbefinden und die Gesundung der Gäste fördern. Sie konnten sich aber auch in den Gewächshäusern betätigen, ausreiten oder an einem nahen Teich angeln. Hauptsächlich Tätigkeiten, die Stille und Ruhe versprachen oder wenigstens für Zerstreuung sorgten. Hektik und Lärm waren in Ennet House verpönt und wurden mit mahnenden Blicken bedacht.

Das gewaltige Anwesen endete an einer Steilküste. Dort stand eine lange Reihe weißer Liegestühle, von denen man aufs Meer blicken und die Seeluft genießen konnte. Der Blick über den Ärmelkanal war atemberaubend. Ein geeigneter Ort, um zur Ruhe zu kommen und Entspannung zu finden, aber ich bezweifelte ernsthaft, dass es ihm gelingen konnte, seine wohltuende Kraft auf Holmes zu entfalten.

Ich stellte meine Reisetasche vor den Treppenstufen der Eingangstür ab und hielt nach Holmes Ausschau. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich auf der Türschwelle erwartete, wenn ich eintraf, aber er hätte immerhin auffindbar sein können.

Ich wollte meinen Freund unterstützen, auch wenn er meine Hilfe für gewöhnlich nicht wünschte. Weder bei seinen Fällen noch in seinem übrigen Leben.

„Haben Sie meine Zigaretten dabei, Watson?“, fragte eine vertraute Stimme hinter mir. Ich gab ihm nicht die Genugtuung, zusammenzuzucken. Betont langsam drehte ich mich zu ihm um. Holmes trug sportliche Kleidung und machte den Eindruck, sich vor Kurzem körperlich betätigt zu haben. Seine Gesichtsfarbe war normal, er atmete ruhig, aber an den Schläfen und im Nacken sah sein Haar aus, als habe er dort stark geschwitzt und es sei nun wieder getrocknet. Die Aktivität durfte also bereits mehrere Minuten zurückliegen. Ich ging davon aus, dass es sich um Fecht- oder Boxtraining gehandelt hatte. Doch obwohl ich sehr zufrieden mit meinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen war, erwähnte ich sie gegenüber Holmes nicht. Ich würde ihn damit nicht beeindrucken können, sondern eher dazu animieren, mich übertreffen zu wollen.

Ich zog das Etui aus meiner Tasche und hielt es in die Höhe. „Ganz wie gewünscht, habe ich Ihnen Ihr bevorzugtes Gift mitgebracht.“

„Ein sehr hilfreiches Gift. Die Hausleitung folgt strengen Regeln in Bezug auf Genussmittel, aber wie soll man sich denn ohne Tabak entspannen?“

Ich reichte ihm seine Rauchutensilien. „Sie haben mich aber nicht nur kommen lassen, um Ihnen Ihre Zigaretten zu bringen? Ich hoffe jedenfalls sehr, dass dies nicht der einzige Grund ist.“

„Sind Sie der Meinung, dass ich zu verschwenderisch mit Ihrer Zeit umgehe?“, erkundigte sich Holmes amüsiert.

„Für gewöhnlich vermitteln Sie mir das Gefühl, dass es umgekehrt ist, weil ich so begriffsstutzig bin und Sie regelmäßig zu unnötigen Erklärungen zwinge. Wenn Sie mich also so direkt fragen, würde ich diese Annahme wohl bestätigen.“

„Zu Ihrer Beruhigung, Watson, Sie sind nicht nur deshalb hier, um mir meinen Tabak zu bringen.“ Holmes zündete sich eine Zigarette an und winkte mich mit sich. „Im Übrigen handelte es sich um Fechttraining“, erklärte er beiläufig. „Mir stehen hier erfreulich viele ehemalige Soldaten als Trainingspartner zur Verfügung.“

Selbstverständlich hatte er meine Beobachtungen bemerkt und kannte die Schlüsse, die ich daraus gezogen hatte. „Also? Weshalb sollte ich diese Reise auf mich nehmen?“

„Wie es der Zufall so will, bin ich hier im Haus auf einen Fall gestoßen.“

„Tatsächlich?“

„Der Tod eines Bewohners war in Wahrheit ein Mord, auch wenn dies niemand außer mir bemerkt hat.“

Ich war erstaunt. „Sie haben es keinem erzählt?“

Holmes blieb stehen. „Wozu? Damit mir hier die Polizei im Weg herumsteht?“

Er erzählte mir von seinem kurzen Gespräch mit einem Constable vom nächstgelegenen Polizeiposten. Der gute Mann hatte sich die Leiche angesehen und nach weniger als zwei Minuten der vorherrschenden Annahme angeschlossen: Der Mann sei friedlich entschlafen. Der Dorfarzt des nächsten Ortes und gleichzeitig Hausarzt des Sanatoriums hatte den Totenschein ausgefüllt und die Leiche abtransportieren lassen.

„Wen haben Sie im Verdacht?“, erkundigte ich mich. „Einen anderen Patienten, jemanden vom Personal oder einen Täter von außerhalb?“

„Momentan sind noch alle drei Möglichkeiten denkbar.“

Auf der Vorderseite von Ennet House gab es einen Blumengarten, der für Spaziergänge genutzt wurde. Hinter dem Haus befanden sich zahlreiche Obstbäume, deren Früchte den gesunden Speiseplan bereicherten. Momentan dienten sie allerdings Holmes als Sichtschutz vor dem Personal, während er seiner Nikotinsucht frönte.

Hinter uns erklang ein dezentes Räuspern. Holmes schnippte unauffällig die Zigarette davon, bevor er sich umwandte. Ich betrachtete die dunkelhäutige junge Frau in der Schwesternuniform, die meinem Freund einen tadelnden Blick zuwarf.

„Sara, darf ich Ihnen Doktor John Watson vorstellen?“, kam er ihren Worten zuvor. „Mein Mitbewohner aus London, der mir einen Besuch abstattet.“

Und Sie mit Tabak versorgt, hätte Schwester Sara hinzufügen können, doch stattdessen lächelte sie nur. Ich wollte nicht nach ihrer Herkunft fragen, tippte aber auf den Vorderen Orient.

„Ich hoffe, Holmes bereitet Ihnen nicht zu viele Umstände“, sagte ich.

„Aber ich bitte Sie, Doktor Watson. Mister Holmes ist ein mustergültiger Gast und ein Vorbild für alle anderen Gäste.“ Ihr Akzent ließ keine Rückschlüsse auf ihre Herkunft zu, da sie das Englische nahezu perfekt beherrschte.

Ich sah meinen Freund an und hob die Augenbrauen. „Ach, tatsächlich? Sie können also auch anders?“

Sara lachte, und es klang bezaubernd, weil sie versuchte, ihre Heiterkeit zu unterdrücken. Sie blickte sich schnell um, ob jemand beobachtet hatte, wie sie mit den Gästen privat plauderte, was ihr mit Sicherheit untersagt war, und verabschiedete sich dann mit einem freund­lichen Lächeln.

„Hübsches Kind“, sagte ich, als ich ihr nachblickte. Die prächtigen malvenfarbenen Uniformen sollten den zahlenden Gästen wohl auch etwas fürs Auge bieten, denn sie ähnelten nicht der schlichten Bekleidung in öffentlichen Hospitälern.

„Tatsächlich? Ist mir überhaupt nicht aufgefallen“, erwiderte Holmes. „Aber sie ist ausgesprochen sympathisch, da muss ich Ihnen zustimmen.“

„Falls sie nicht bei der Hausleitung petzt, dass Sie im Besitz von Tabakwaren sind.“

„Das wird Sie nicht“, sagte Holmes zuversichtlich. „Sara ist meist aufseiten der Gäste.“

Ich fragte mich, woher sein großes Interesse an dieser Frau stammte. Für gewöhnlich schenkte er Angestellten nicht so viel Aufmerksamkeit, es sei denn, sie hatten unmittelbar mit einem Fall zu tun. Da er mir eine solche Frage garantiert nicht beantworten würde, wechselte ich zu einem Thema, das mich mindestens genauso sehr interessierte. „Ich weiß immer noch nicht, weshalb ich hier bin. Von den Zigaretten einmal abgesehen.“

Holmes hob den eilig weggeworfenen Zigarettenstummel auf und ließ ihn in einem Blumenkasten ­verschwinden. Er verstand sich nicht nur darauf, verräterische Spuren zu entdecken, sondern auch darauf, sie verschwinden zu lassen. „Sie werden den Grund erkennen, wenn Sie das Zimmer des Toten sehen. Folgen Sie mir, Watson!“

Zuerst führte er mich auf sein eigenes Zimmer, damit ich mich nach der langen Reise etwas frisch machen konnte. Der Raum war klein und spartanisch. Angesichts der Kosten für seinen Aufenthalt hätte ich gerade in diesen Bereichen des Hauses etwas mehr Komfort erwartet. Aber vielleicht gehörte dies auch zum Heilungsprozess. Die Konzentration auf das Notwendigste konnte den Menschen helfen, zur Ruhe zu kommen. Oder aber die Betreiber von Ennet House bemühten sich, ihren Gewinn auf jede erdenkliche Weise zu steigern.

Holmes befand sich seit einer Woche hier und schien sich in dem Gebäude besser auszukennen als mancher Angestellte, der dort bereits seit Jahren seinen Dienst versah. Ich vermutete, dass er in Ermangelung anderer Beschäftigungen in diesen sieben Tagen das getan hatte, was er mit jeder fremden Umgebung tat: Er machte sie sich zu eigen. Dies geschah für gewöhnlich innerhalb weniger Minuten, doch nachdem ihm hier eine ganze Woche zur Verfügung gestanden hatte, gab es wohl keine Personen und keinen Raum im ganzen Gebäude, die ihm nicht vertraut waren.

Das feine Interieur schlug mich sofort in seinen Bann. In den öffentlichen Bereichen hatte man an keiner Stelle gespart. Ich sah mächtige Kamine, kunstvoll strukturierte Decken und Einrichtungsgegenstände aus vergangenen Jahrhunderten. Über dem Speisesaal befand sich eine Galerie, auf der im Mittelalter die Musiker saßen, die bei den Mahlzeiten ihrer Herrschaft musizierten.

Wir erreichten einen Flügel des Gebäudes, der wesentlich luxuriöser ausgestattet war als jener, in dem Holmes untergebracht wurde. Entlang des Ganges gab es nur sehr wenige Türen, was auf die Größe der Unterkünfte dahinter schließen ließ. Holmes’ Gönner hatte zwar den Aufenthalt bezahlt, aber im preiswerten Bereich gebucht.

Holmes blieb vor einer Tür stehen und drückte die Klinke. Die unverschlossene Tür schwang auf. Dahinter lag ein großer Wohnraum. Er ließ mir den Vortritt, und ich trat ein. Rechts von mir befanden sich das Bett sowie die Tür zu einem separaten Badezimmer. Gegenüber stand ein Kleiderschrank zwischen den beiden Fenstern und in der Raummitte eine Chaiselongue mit zwei Sesseln als Sitzgruppe arrangiert. Eine Überraschung bot die linke Seite des Raumes, wo ein großer Schreibtisch stand, direkt vor der Wand, die über und über mit Zeitungsausschnitten, gerahmten Fotografien, Zeichnungen und Andenken aller Art geschmückt war. Ich entdeckte Dolche und Pistolen, Teile einer Uniform, Flaggen und traditionelle Kleidung, die mir vertraut vorkam. Es war weit mehr, als man mit einem Blick erfassen konnte. Die schiere Fülle verursachte mir Schwindelgefühle.

Holmes blieb neben der Tür stehen und ließ mir Zeit, die prall gefüllte Wand auf mich wirken zu lassen.

Ich entdeckte schnell den gemeinsamen Hintergrund dieser Sammlung. Es ging nicht um die Erinnerungen an eine lebenslange Militärkarriere, sondern ganz speziell um den Konflikt zwischen Afghanistan und dem Empire. Genauer gesagt den zweiten Anglo-Afghanischen Krieg, an dem auch ich teilgenommen hatte. Allein der Gedanke daran weckte die Erinnerungen an vergangene Schmerzen in meinem Körper. Ich hatte im 66th Regiment of Foot bei Maiwand gekämpft und dort meine Verwundung erhalten, die mir selbst heute noch zu schaffen machte. Aus verständlichen Gründen wollte ich nicht alles noch einmal im Geiste durchspielen: die Schlacht, die Verletzung, die Infektion und das Hospital. Ich drängte meine persönlichen Erlebnisse zur Seite und konzentrierte mich allein auf die dargebotenen Gegenstände. Eine Haltung, die Holmes sehr entgegenkommen dürfte, da ihm Gefühlsäußerungen immer unangenehm und auch ein wenig suspekt waren.

„Was halten Sie davon?“, erkundigte sich Holmes.

„Wo ist die Leiche?“

„Im örtlichen Leichenschauhaus. Sie braucht Sie nicht zu interessieren.“ Holmes hatte die Leiche untersucht und wusste bereits alles, was es zu wissen gab. Ich begriff, dass er nicht an meinem Wissen als Mediziner interessiert war, sondern meine Erinnerungen an den Krieg nutzen wollte. Ich sollte mich wieder an Dinge erinnern, die ich am liebsten vergessen hätte. Mein Aufenthalt in Afghanistan war ein so großer Einschnitt in meinem Leben gewesen, dass ich nur ungern daran ­erinnert ­werden wollte. Ich gehörte nicht zu den ehemaligen Soldaten, die den Rest ihres Lebens in Erinnerungen an alte Kriegsgeschichten schwelgten. Meiner Erfahrung nach erzählten diejenigen am meisten von der Front, die den Schlachten am weitesten ferngeblieben oder nicht einmal in ihre Nähe gekommen waren. Zu welcher Sorte mochte wohl der Tote gehört haben?

„Mit wem haben wir es zu tun?“, wollte ich von Holmes wissen. „Oder muss mich das auch nicht interessieren?“

„Der Verstorbene war Major Reginald Fitzgerald.“

Ich überlegte kurz, ob ich jemals die Bekanntschaft des Mannes gemacht hatte, aber der Name sagte mir nichts. Ich widmete mich wieder der Wand.

„Der Major interessierte sich sehr für den Konflikt in Afghanistan und hat dort auch gedient“, stellte ich rasch fest. „Er war an der Schlacht in Maiwand beteiligt.“

„So wie Sie.“

„So wie ich“, bestätigte ich und sah mir die einzelnen Bildunterschriften an. Ich wusste sofort, was der Major in Afghanistan erlebt hatte. Holmes verhielt sich ruhig, während ich mir die Fotografien ansah, schließlich tat ich genau das, wofür er mich hatte kommen lassen. Ich fuhr mit der Hand über die ausgehängten Urkunden und Medaillen. Überflog die zahlreichen Zeitungs­ausschnitte, die sich mit den Hintergründen des Konfliktes beschäftigten.

„Können Sie mir schon etwas über den Toten sagen?“, fragte Holmes, der langsam ungeduldig wurde. Er war es nicht gewohnt, auf die Erkenntnisse von anderen warten zu müssen, und ich musste gestehen, ihn unnötig auf die Folter gespannt zu haben.

„Wie viel wissen Sie über den Krieg in Afghanistan?“, fragte ich ihn.

„Nur das, was ich von Ihren bisherigen Kriegsgeschichten nicht vergessen habe.“

Eine typische Holmes-Antwort, um keine Wissenslücken eingestehen zu müssen. Außerdem war ich, wie bereits erwähnt, sehr sparsam mit den Berichten meiner Kriegserlebnisse. „Ich werde einen knappen Abriss geben, und Sie sagen mir einfach, an welchen Stellen ich mehr ins Detail gehen soll.“

Er machte eine auffordernde Handbewegung.

„Der Konflikt mit Afghanistan begann vor etwa fünfzig Jahren, als Russland und das Empire koloniale Interessen an diesem Gebiet entwickelten. Das Zarenreich wollte bis an den Indischen Ozean vordringen, aber das mussten wir unbedingt verhindern, um unsere Vormachtstellung zu sichern und die Expansionsbestrebungen des Russischen Reiches zu bremsen. Es ging schließlich um das weitere Bestehen des Britischen Weltreichs.“

„Ich glaube, Sie können die Vorgeschichte überspringen, Watson. Seit meiner Ankunft habe ich viele Mitglieder des Militärs kennengelernt, die hier versuchen, ihre Erlebnisse in Afghanistan oder anderen Orten zu bewältigen. Wobei kennengelernt wohl der falsche Begriff ist, da die meisten von ihnen jeglichen Kontakt mit anderen Bewohnern meiden. Aber über die Ursachen des Konfliktes wurde ich dennoch ausreichend informiert.“

„Sind Sie dem Major vor seinem Tod begegnet?“, fragte ich.

„Ich habe Fitzgerald nur einmal aus der Ferne gesehen, da machte er keinen allzu scheuen Eindruck. Er hat gerne mit dem Personal und anderen Bewohnern gesprochen. Nur kurz und wohl auch lediglich oberflächliche Konversation, aber es bereitete ihm wohl keine Schwierigkeiten.“

„Sie hatten also keinen anderen Veteranen zur Hand, der Ihnen Ihre Fragen beantworten konnte?“

„Für mich ist es komfortabler, mit einem vertrauten Informanten zu arbeiten, bei dem ich die Qualität seiner Antworten einschätzen kann.“

Ich seufzte. „Ich nehme an, das ist so eine Art Kompliment gewesen. Die Reise hierher war sehr aufwendig, deshalb beruhigt es mich, zu erfahren, dass Sie es sich gründlich überlegt haben, bevor Sie mich kommen ließen.“

Holmes machte eine ungeduldige Handbewegung, als handele es sich um lästige Phrasen, die seine Zeit vergeudeten. Die Ironie meiner Bemerkung entging ihm entweder oder er ignorierte sie einfach.

„Wenden wir uns dem Teil zu, der auch unseren Major betrifft“, drängte er.

Wie gewünscht fuhr ich fort. „1878 sind unsere Truppen über den Khaiberpass in Afghanistan einmarschiert und haben Kabul sowie einige andere Städte besetzt. Der amtierende Emir floh nach Russland und wir setzten einen neuen ein. Fortan bestimmte das Empire die ­Außenpolitik des Landes, bis zwei Jahre später im Westen, genauer in der Stadt Herat, Truppen zusammen­gezogen wurden, um Richtung Kandahar zu marschieren.

Brigadier George Burrows erwartete mit über zweieinhalbtausend Soldaten den Angriff. Zu seiner Unterstützung waren 6.000 Männer der afghanischen Armee abgestellt, von denen aber ein großer Teil desertierte, um sich dem Gegner anzuschließen. Burrows wollte der gegnerischen Streitmacht entgegenziehen und ihre Vorhut ausschalten. Er glaubte nicht an die gemeldeten Zahlen von 8.000 Infanteristen und 3.000 Reitern, die auf dem Weg zu ihm waren.“

„Die typische Überheblichkeit in diesen Kreisen“, sagte Holmes abfällig, und ich mochte ihm nicht widersprechen.