Sherlock Holmes - Neue Fälle 44: Der Henkerkeller - Nils Noir - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 44: Der Henkerkeller E-Book

Nils Noir

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Beschreibung

Ein junger Mann wird hingerichtet. Der Henker des Verurteilten nimmt sich kurz darauf das Leben. Offenbar hat er selbst Schuld auf sich geladen. Sherlock Holmes allerdings vermutet etwas anderes.Vier höchst ungewöhnliche Fälle des Meisterdetektivs.

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In dieser Reihe bisher erschienen

3001 Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan3002 Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer3003 Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn3004 Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter3005 Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer3006 Dr. Watson von Michael Hardwick3007 Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)3008 Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz3009 Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi3010 Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick3011 Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler3012 Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer3013 Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer3014 Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt3015 Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson3016 Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson3017 Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt3018 Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle3019 Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn3020 Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler3021 Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter3022 Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel3023 Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von K.P. Walter (Hrsg.)3024 Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers von Michael Buttler3025 Sherlock Holmes und das Urumi-Schwert von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)3026 Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad von Thomas Tippner3027 Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger von Michael Buttler3028 Der Träumer von William Meikle3029 Die Dolche der Kali von Marc Freund3030 Das Rätsel des Diskos von Phaistos von Wolfgang Schüler3031 Die Leiche des Meisterdetektivs von Andreas Zwengel3032 Der Fall des Doktor Watson von Thomas Tippner3033 Der Fluch der Mandragora von Ian Carrington3034 Der stille Tod von Ian Carrington3035 Ein Fall aus der Vergangenheit von Thomas Tippner3036 Das Ungeheuer von Michael & Molly Hardwick3037 Winnetous Geist von Ian Carrington3038 Blutsbruder Sherlock Holmes von Ian Carrington3039 Der verschwundene Seemann von Michael Buttler3040 Der unheimliche Mönch von Thomas Tippner3041 Die Bande der Maskenfrösche von Ian Carrington3042 Auf falscher Fährte von James Crawford3043 Auf Ehre und Gewissen von James Crawford3044 Der Henkerkeller von Nils Noir3045 Die toten Augen des Königshauses von Ian Carrington3046 Der grauenhafte Gasthof von Ralph E. Vaughan

Der Henkerkeller - Und andere blutige Fälle

Basierend auf den Charakteren von Sir Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes - Neue Fälle

Buch 43

Nils Noir

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.

Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

Copyright © 2023 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier 

 Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Mario Heyer

Logo: Mark Freier

Satz: Torsten Kohlwey

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7579-5356-0

3044 vom 09.05.2024

Inhalt

Das kalte Herz der Dorothy Double D

Der böse, böse Baltimore

Tief im Keller von Henker Hellfire

Tilly Toydolls giftige kleine Freundin

Über den Autor

Das kalte Herz der Dorothy Double D

1

Es war bitterkalt. Die Themse sah von oben aus wie ein toter Aal in Gelee, der sich erstarrt durch London schlängelte. Bis in die Stadt hinein war sie zugefroren. Während auf den Häuserdächern die Schornsteine qualmten, wirbelten weiße Flocken durch die Luft. Der Schnee lag knöchelhoch. Ein Bild, das aus einem Dickens-Roman zu sein schien. Doch war dieser Winter, der die größte und wohlhabendste Stadt der Welt fest im Griff hatte, alles andere als idyllisch. Krankheiten und Armut herrschten auf den Straßen. Es wurde geraubt, geplündert und gestohlen. Hinzu kamen massenhaft Tötungsdelikte, von denen die wenigsten aufgeklärt wurden. Meist waren die Getöteten Obdachlose ohne registrierte Identität, die zu Zehntausenden auf den Straßen lebten und Opfer ihresgleichen wurden, die sie töteten. Im besten Falle junge Frauen und Männer mit rotem Schopf, wegen ihres Skalps. Ein Perückenmacher gab bis zu fünf Pfund für gesunde lange rote Haare. Wenn der oder die Tote dann sogar noch ein gutes Gebiss hatte, konnte man bei einem Zahnarzt noch mal genau so viel für einen Satz Zähne bekommen.

Ein durchaus lukratives Geschäft, wenn man nur verzweifelt genug und hungrig war. Aber es gab auch Morde außerhalb des East End, deren Motiv vielleicht nicht aus einem Überlebenskampf heraus entstand, die aber nicht weniger grauenvoll waren. Von einer ganzen Serie solcher Gräueltaten möchte ich Ihnen nun in dieser Geschichte erzählen, die sich weit weg von den Slums im East End zugetragen hatte. Sie beginnt auf einer nächtlichen Straße in Chelsea. Genauer gesagt in der spärlich beleuchteten Kings Road, durch die ein Mann mit einem aufgeklappten Mantelkragen stapfte. Ein Mann, der seinen Hut tief ins Gesicht gezogenen trug und einen nach vorn gebeugten Gang hatte, den er mit einem Stock stützte. Das Knirschen seiner Schritte im Schnee war alles, was man hören konnte, als er vorbei am Chelsea Hospital bis rauf zur Sloane Street und von dort weiter in Richtung Hyde Park lief. Niemand sonst schien in dieser Gegend, bei dieser Kälte und zudem um diese Zeit noch auf den Straßen zu sein. Er bewegte sich mutterseelenallein und zügig zwischen den Stadtteilen Chelsea, Belgravia und Knightsbridge. Dabei schienen ihm die Temperaturen nichts auszumachen. Er zeigte keine Anzeichen von körperlichen Verkrampfungen. Allerdings konnte man eine gewisse Anspannung in seinem Gesicht erkennen. Das war das einzig Merkwürdige an diesem Herrn mittleren Alters, der mitten in der Nacht allein durch die finsteren Straßen ging, als hätte er irgendetwas Wichtiges zu erledigen. Völlig in Gedanken versunken, blickte er auf die schneebedeckten Wege, die ihn schließlich an sein Ziel führten.

Es war ein Haus in der Kensington, Ecke Brompton Road. Die Ziegel waren brüchig, die Fassade heruntergekommen. Aber einen gewissen Charme konnte man dem Gebäude nicht absprechen. Der untere Teil war ähnlich einem Ladengeschäft. Große Fenster waren ins Mauerwerk eingelassen und gaben den Blick frei in das schwach beleuchtete Innere. Dort befand sich das Atelier eines Malers. Bilder standen überall herum, lehnten oder hingen an den Wänden. Auf einer Staffelei mitten im Raum konnte man das Porträt einer Frau bewundern. Sie war schön, hatte schulterlanges brünettes Haar und eine üppige Oberweite. Über dem Atelier waren zwei weitere Fenster. Hinter einer der Scheiben flackerte das Licht einer Öllampe. Sie warf ihren Schein hinter sich an die Wand. Schatten, die sich bewegten, waren zu erkennen. Es waren die Schatten zweier sich liebender Künstler. Der Maler und seine Muse, die schöne Brünette von dem Bild auf der Staffelei in dem Atelier. Sie war Schauspielerin in einem kleinen unbedeutenden Theater an der Paddington Station, auf der anderen Seite des Parks, im West End. Wie jeden Samstagabend nach der Probe kam sie her und verbrachte meist die ganze Nacht hier.

Der Mann, der auf der Straße im Schnee vor dem Haus stand, wusste das so genau, weil er nicht zum ersten Mal hier war. Er hatte sich schon häufiger auf den Weg hierher gemacht, um zu beobachten, was hier vor sich ging. Ein halbes Dutzend Male schon, und jedes Mal stellte er sich in die sichere Dunkelheit der gegenüberliegenden Gasse, um von dort unerkannt zum Fenster raufzuschauen. Es gab Nächte, in denen er hier stand, ohne etwas zu sehen zu bekommen. Stunden stand er sich die Beine in den Bauch, bis die Brünette irgendwann am frühen Morgen ihren Geliebten verließ. Erst dann machte auch er sich wieder auf und fuhr mit einer Droschke nach Hause. Es gab aber auch Nächte, wie diese, in denen er den beiden bei ihrem Liebesspiel zusehen konnte. Das waren so Momente, in denen Mortimer, so hieß der Mann unten vor dem Haus auf der Straße, ein seltsames Gefühl spürte. Es war eine Mischung aus Schmerz und unsagbarem Zorn. Auch jetzt spürte er ihn wieder. Doch diesmal war er stärker. Es war kein Zorn mehr, sondern Hass. Er stieg in ihm auf, als er sie lachen hörte. Beide lachten gemeinsam, voller Freude und Glückseligkeit. Während Mortimer dies hörte, entschied er sich, heute nicht nach Hause zu fahren, wenn die Muse den Maler verließ und gegangen war. Diesmal würde er bleiben und dem Ganzen ein Ende setzen. Schließlich war dieses Flittchen da oben in dem Zimmer seine Frau.

2

Leland Longlove wurde am 4. Januar 1866 in Dublin, Irland, geboren. Er war der Sohn von dem Bildhauer Lawrence Longlove, der sich bei einem Sturz von einer seiner Skulpturen am 26. Juni 1874 das Genick brach. Für Leland ein Schock, von dem er sich als Kind schwer erholte, war sein Vater doch stets ein großes Vorbild für ihn gewesen. Er hatte ihm vorgelebt, wie schön es doch war, ein Künstler zu sein, und Leland schließlich dazu gebracht, seinem Vater nachzueifern. Schon früh fing Leland an, Bilder zu malen und davon zu träumen, eines Tages von der Malerei leben zu können. Diesen Traum verfolgte er unablässig und ging schließlich nach London, wo er an der South Kensington School of Art sowie an der Royal Academy studierte. Seine stimmungsvollen, mit Öl gemalten Straßenszenen von Londons Nachtleben waren dem Realismus zuzuordnen. Ebenso wie seine Akt-Porträts, auf denen meist Frauen mit großer Oberweite die Leinwände zierten.

Anerkennung gab es für Lelands Werke allerdings bisher wenig. Er war wahrscheinlich einer dieser Künstler, die erst sterben mussten, um zu leben. Am besten auf eine ganz grausame Weise. Vielleicht, indem er Suizid beging oder umgebracht wurde? Wie auch immer, bald würden wir es wissen, ob Lelands Tod ihn berühmt werden ließ, unmittelbar nach dieser Nacht, in der er sich mit Dorothy Double D vergnügte, als ob es kein Morgen gäbe und sie alle möglichen Stellungen des altindischen Kamasutra durchgingen, ohne die geringsten Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. Selbst wenn sie mal kurz in den Kissen ruhten, dann nur, um sich eine weitere stimulierende Spritze Kokain in den Arm zu drücken. So trieben sie es bis in die frühen Morgenstunden, bevor sie sich voneinander lösten und Dorothy ihn verließ, um wieder nach Hause zu ihrem Ehemann zu gehen.

Leland begleitete seine Spielgefährtin noch zur Tür und fing gleich darauf an, weiter an ihrem Porträt zu arbeiten, als er auf einen kleinen rundlichen Mann aufmerksam wurde, der an seinem Ausstellungsfenster stehen blieb und seine Bilder betrachtete. Nach seiner Kleidung her zu urteilen, war dieser Herr von gehobener Klasse, also jemand, der Geld besaß, dachte Leland und winkte dem Mann hinter der Scheibe freundlich zu. Dieser erwiderte den Gruß und signalisierte Leland, dass er sich für ein Bild interessieren würde. Dabei zeigte er auf ein Gemälde und rieb seinen Daumen am Zeigefinger. Leland verstand sofort, was der Mann meinte. Er wollte den Preis des Bildes erfahren und es sicherlich kaufen. Leland wartete keine Sekunde, sondern öffnete prompt dem adretten Herrn mit dem hervorragenden Kunstverständnis.

»Treten Sie ein, verehrter Herr«, sagte er an den Besucher gewandt und machte dabei eine ausladende Geste ins Innere seines Ateliers. Der Mann erhob dankbar seinen Bowler und folgte der Einladung des Künstlers, der nicht im Geringsten ahnte, dass er kurz davor stand, das Zeitliche zu segnen.

»Good morning, Mister Longlove. Ich muss gestehen, ich fühle mich geehrt«, erwiderte der Mann, als er eintrat und begann, sich im Atelier umzuschauen. Nach einem kurzen Rundgang, bei dem er jedes einzelne Bild genau in Augenschein genommen hatte, sagte er: »Ihre Bilder sind eins wie das andere von phantastischer Farbe. Sie wirken ausnahmslos echt, beinahe, als ob sie lebten.« Dabei blickte er auf das Porträt der Frau, das auf Leinwand gemalt auf einer Staffelei mitten im Raum stand.

»Wie wäre es mit einem Brandy?«, fragte Leland überaus euphorisiert. Anscheinend rechnete er mit einem Verkauf seiner Bilder. Dazu kam, dass er noch gar nicht geschlafen hatte und von seiner leidenschaftlichen Nacht mit Dorothy und dem vielen Kokain völlig high war.

»Um diese Zeit?« Der Mann kicherte vergnügt und hielt sich dabei vornehm die Hand vor den Mund. Leland stimmte in das Lachen des Herrn ein, dessen Miene sich plötzlich ganz unerwartet verfinsterte. Er funkelte Leland bösartig an und fauchte: »Du elender kleiner Gossenpinsler. Deine grausamen Machwerke sind nicht weniger schäbig wie dein überhebliches Getue.«

»Bitte?« Leland war verwirrt. Er glaubte erst, sich verhört zu haben. Vielleicht, so dachte er, war dies ein Spuk seines benebelten Gehirns. Doch als er die lange Klinge sah, die der Mann aus dem Knauf seines Gehstocks zog, wurde ihm bewusst, dass er es mit einem Größenwahnsinnigen zu tun bekommen hatte. Leland wandte sich zur Tür, um raus auf die Straße zu laufen. Er wollte um Hilfe schreien, doch er kam nicht mehr dazu. Der erste Hieb mit dem Messer traf ihn zwischen den Halswirbeln. Sofort brach er auf dem Boden zusammen. Er konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen. Seine Beine waren taub. Als er seinen Körper unter großer Anstrengung auf die Seite drehte, sah er den Mann über sich. Er stand da mit erhobenem Arm, die blutige Klinge seines Messers fest mit seiner Hand umschlungen.

»Bitte, nein. Nicht!«, winselte Leland Longlove, bevor die Klinge mit voller Wucht mehrmals nacheinander in seinen Körper stieß. Bewegungslos lag er da und sah zu, wie er verblutete.

3

Als Dorothy zu Hause eintraf, rief sie nach ihrem Mann.

»Oh, Mrs. Fairwind«, sagte ihr Dienstmädchen schüchtern, während sie Dorothy den Mantel abnahm. »Ihr Mann ist nicht im Hause. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, es wäre Ihnen etwas zugestoßen. Die Betten oben im Schlafzimmer sind unberührt. Waren Sie auf einem Ausflug?«

»Nein, nein. Ist schon gut, Rebecca. Wir waren nur bei Bekannten in Covent Garden und bei ihnen über Nacht geblieben. Wahrscheinlich ist Mortimer von dort direkt zur Werft gefahren. Ich hatte etwas länger geschlafen als er. Darum weiß ich es nicht.«

»Waren Sie bei den Liptons?«

»Ja, ja. Richtig. Bei den Liptons«, antwortete Dorothy abwesend. Sie war in Gedanken verloren. Wo zum Teufel steckte Mortimer? Dass er nicht hier war, kümmerte sie eigentlich wenig. Aber dass ihr Mann über Nacht fortblieb, war sehr ungewöhnlich.

»Bringen Sie mir bitte einen Earl Grey, Rebecca. Ich werde mich im Wintergarten etwas ausruhen.«

Dorothy war richtig erledigt von ihrem Liebesspiel mit Longlove. Dieser exzentrische kleine Träumer hatte zwar nicht für einen Shilling Talent, was die Malerei anging, aber ein Stehvermögen wie ein Hengst aus den Stallungen der königlichen Reitergarde.

Sie blickte von ihrem Platz, umgeben von Blumen und Palmen, inmitten des Wintergartens ihres Hauses, raus auf den verschneiten Battersea Park. Kahle Bäume umringten eine karge ebene Fläche, auf der starr ein See ruhte. Sie hatte diesem Park nie etwas abgewinnen können. Nicht einmal im Frühling, wenn es blühte. Dorothy langweilten Spaziergänge in der Natur. Ehrlich gesagt, langweilte sie alles. Auch Sex. Das Einzige, für das Dorothy sich wirklich interessierte, war die Schauspielerei. Sie wollte einmal in einem bedeutenden Theater wie dem Globe auf der Bühne stehen und Shakespeares Julia oder Lady Macbeth spielen. Das Zeug dazu hatte sie, nur nicht die richtigen Angebote. Wie auch? Sie war Teil einer Laiendarstellergruppe und musste sich mit absoluten Amateuren abgeben. Nun gut, das war vielleicht auch üblich in einer Gruppe von Laien. Aber diese Dilettanten konnten noch nicht einmal richtig sprechen, geschweige denn einen Saal in der Größe eines Plumpsklos einnehmen mit ihrer nicht vorhandenen Präsenz. Dorothy hatte diese kleine Rolle in dem Stück, das bald im Empty Place Theatre an der Paddington Station aufgeführt wurde, nur angenommen, weil sie nicht einrosten wollte. Es war wichtig, als Schauspielerin zu spielen. Nur dann war man auch eine Schauspielerin.

Dorothy schreckte aus ihren Gedanken. Die Haustür wurde zugeschlagen. Es war ohne Zweifel Mortimer, denn Dorothy konnte das aufgeregte Gequassel des Dienstmädchens hören. Rebecca war verrückt nach ihrem Herrn. Das lag mit Sicherheit daran, dass sie keine Eltern gehabt hatte und im Waisenhaus aufwuchs. Mortimer ersetzte in gewisser Weise ihren Vater, fürsorglich, wie er mit Rebecca umzugehen pflegte.

»Ach Liebes, da bist du ja«, sagte Mortimer herzlich zur Begrüßung, als er in den Wintergarten trat. »Hattest du eine erfolgreiche Probe gestern? Es war wohl wieder einmal sehr spät geworden. Du siehst etwas müde aus.«

»Ja, das ist richtig«, berichtete Dorothy. »Wir haben bis spät in die Nacht geprobt und nachher noch mit William Winterman auf unsere bevorstehende Premiere angestoßen.«

»William Winterman?« Mortimer machte einen angestrengten Gesichtsausdruck. Wie es schien, kannte er niemanden mit solch einem Namen.

»Der Regisseur und Intendant vom Empty Place Theatre«, sagte Dorothy genervt.

»Ach, ja. Entschuldige bitte, Liebes«, sagte Mortimer mit gespielter Betroffenheit. »Natürlich.«

Er küsste seine Frau flüchtig auf die Wange und setzte sich mit seiner Zeitung in den großen Ohrensessel vor das Fenster.

»Und?«, fragte Dorothy ihren Mann nun.

»Und?«, fragte der zurück. »Und was, Liebes?«

»Wo warst du die ganze Nacht?«

»Ach, hatte ich dir davon gar nichts erzählt?«

»Wovon?«

»Na, von diesem schrecklichen neuen Auftrag?«

»Nein, hast du nicht«, sagte Dorothy, die eigentlich auch nichts davon hören wollte. Aber so tat, als würde es sie interessieren.

Also klärte Mortimer seine Frau darüber auf, was er für einen wichtigen Auftrag mit seiner Fairwind Shipbuilding & Engineering Company zu erledigen hatte und wie unglaublich viel Zeit der Bau der Fregatten in Anspruch nahm. Allein aus diesem Grund, erklärte er weiter und musste dabei etwas über den minderbemittelten Gesichtsausdruck seiner Gattin schmunzeln, wäre er gestern Nacht auf dem Blackwall-Yard-Gelände geblieben, auf dem sich die Werfthalle seines Unternehmens befand.

»Aber Liebes, ich möchte dich nicht weiter mit meiner Arbeit langweilen«, sagte er nach seinen Ausführungen. »Du möchtest dich sicherlich ein wenig hinlegen. Richtig?«

»Ja, das sollte ich. Diese Rolle, die ich in dem Stück spiele, nimmt mich wirklich sehr ein und kostet mich viel Kraft.«

»Das glaube ich gern«, sagte Mortimer leise und verdrehte versteckt hinter seiner Zeitung die Augen. »Was genau für eine Rolle spielst du noch mal in diesem Stück ... Wie hieß es doch noch?«

»Jack the Ripper jagt leichte Mädchen«, antwortete Dorothy empört auf die Frage ihres Mannes. Es schockierte sie wirklich sehr, dass Mortimer auch nicht das geringste Interesse an dem zeigte, was sie tat.

»Ein toller Titel«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen. »Und du spielst eines der leichten Mädchen. Richtig?«

»Ja, richtig. Dies hatte ich dir bereits erzählt.« Dorothy verschränkte eingeschnappt die Arme vor der Brust. »Ich spiele die Dirne, die im Schlussakt von Jack the Ripper umgebracht wird. In der letzten Szene des Stücks.«

»Na, das ist doch toll, Dorothy. Das Stück wird mit Sicherheit ein Erfolg«, sagte Mortimer ungerührt von den bösen Blicken seiner Frau. »Allerdings frage ich mich, warum sie gerade dich eine Dirne spielen lassen. Du bist doch zu viel Größerem bestimmt. Ich meine, zu einer größeren Rolle.«

Dorothy ließ ihre Arme sinken. Ihre Gesichtszüge entspannten sich.

»Meinst du das wirklich«, fragte sie Mortimer.

»Aber natürlich«, sagte er und ließ die Zeitung auf seinen Schoß sinken. »Ohne dich, was wäre dieses Theater? Sie können dankbar sein, eine solch herausragende Künstlerin in ihren Reihen zu haben.« Dorothy sprang vor Freude von ihrer Schaukel auf und umarmte ihren Mann.

»Aber, aber! Dorothy. Du hast doch nicht etwa einen Moment daran gezweifelt, dass ich dein größter Fan bin, oder etwa doch?«, fragte Mortimer seine Frau und sagte weiter: »Ich werde der Erste sein, der an der Kasse steht und sich ein Logenticket für eure Premiere kauft.«

»Oh, Logen hat das Theater keine«, erklärte Dorothy. »Der Saal ist bestuhlt und ganz klein.«