Sie kam von weit her ... - Anne Alexander - E-Book

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Anne Alexander

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Ist es gestattet einzutreten?« fragte Wolfgang Dihlmann, als ihm auf sein Klingeln hin Cornelia Pasa, eine junge, blonde Frau von siebenundzwanzig Jahren, die Wohnungstür öffnete. Etwas ungeschickt hielt er einen Plastikeinkaufsbeutel und einen riesigen Blumenstrauß in der linken Hand. »Das muß ich mir erst noch überlegen«, erwiderte Cornelia mit einem charmanten Lächeln. Sie trat beiseite, um Wolfgang vorbeizulassen. Wolfgang Dihlmann stellte seinen Plastikbeutel neben den Schuhschrank in der Diele, dann überreichte er Cornelia mit einer leichten Verbeugung die Blumen. »Danke, aber das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte Cornelia. »Iris und Nelken, meine Lieblingsblumen!« Sie sog den Duft der Blüten ein. »Danke, Wolfgang, vielen herzlichen Dank!« Es war eine Ewigkeit her, seit ihr zum letzten Mal Blumen geschenkt worden waren. Tränen stiegen ihr in die Augen. Verlegen wandte sie für einen Augenblick den Kopf ab. Wolfgang Dihlmann sah sich in dem kleinen, nett eingerichteten Korridor um. Er kannte Cornelia jetzt knapp ein Jahr. Sie arbeitete in derselben Firma wie er. Seit einigen Monaten war er ziemlich eng mit ihr befreundet, und doch war es das erste Mal, daß er ihre Wohnung betrat. »Bitte, Wolfgang!«

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Sophienlust – 280–

Sie kam von weit her ...

Sabah, ein Kind aus Anatolien

Anne Alexander

»Ist es gestattet einzutreten?« fragte Wolfgang Dihlmann, als ihm auf sein Klingeln hin Cornelia Pasa, eine junge, blonde Frau von siebenundzwanzig Jahren, die Wohnungstür öffnete. Etwas ungeschickt hielt er einen Plastikeinkaufsbeutel und einen riesigen Blumenstrauß in der linken Hand.

»Das muß ich mir erst noch überlegen«, erwiderte Cornelia mit einem charmanten Lächeln. Sie trat beiseite, um Wolfgang vorbeizulassen.

Wolfgang Dihlmann stellte seinen Plastikbeutel neben den Schuhschrank in der Diele, dann überreichte er Cornelia mit einer leichten Verbeugung die Blumen.

»Danke, aber das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte Cornelia.

»Iris und Nelken, meine Lieblingsblumen!« Sie sog den Duft der Blüten ein. »Danke, Wolfgang, vielen herzlichen Dank!« Es war eine Ewigkeit her, seit ihr zum letzten Mal Blumen geschenkt worden waren. Tränen stiegen ihr in die Augen. Verlegen wandte sie für einen Augenblick den Kopf ab.

Wolfgang Dihlmann sah sich in dem kleinen, nett eingerichteten Korridor um. Er kannte Cornelia jetzt knapp ein Jahr. Sie arbeitete in derselben Firma wie er. Seit einigen Monaten war er ziemlich eng mit ihr befreundet, und doch war es das erste Mal, daß er ihre Wohnung betrat.

»Bitte, Wolfgang!« Cornelia wies in das Wohnzimmer. »Ich gebe nur die Blumen ins Wasser, dann komme ich gleich!«

»Ach, der Wein!« Wolfgang ergriff den Plastikbeutel. »Wie versprochen, zwei Flaschen Mosel.« Er zog die Flaschen aus dem Beutel. »Soll ich sie mit ins Wohnzimmer nehmen?«

»Ja, stell sie bitte auf den Tisch. Den Beutel kannst du mir geben.«

»Da ist er jedenfalls besser aufgehoben als in meiner Hosentasche«, meinte der junge Mann und legte den zusammengeknautschten Beutel in Cornelias ausgestreckte Hand. Danach fuhr er vor dem Spiegel mit dem Kamm rasch durch seine schwarzen Haare.

Cornelia ging mit Blumen und Plastikbeutel in die Küche, während Wolfgang Dihlmann das Wohnzimmer betrat. Er hörte die junge Frau leise mit Wasser, Töpfen und Geschirr hantieren. Es roch verlockend nach Gebratenem. Als Junggeselle hatte er nicht oft Gelegenheit, außerhalb eines Restaurants oder der Betriebskantine zu essen, aber nicht allein deshalb hatte er sich schon die ganze Woche über auf diesen Samstag gefreut. Er liebte Cornelia und glaubte, obwohl er noch nie mit ihr darüber gesprochen hatte, doch zu wissen, daß seine Liebe von ihr erwidert werde.

Das Wohnzimmer war sehr geschmackvoll eingerichtet. An den Wänden hingen Bilder. Eines davon stach besonders hervor. Es zeigte ein kleines Mädchen mit einem dunklen Lockenkopf und fast schwarzen Augen.

Wolfgang hielt das Bild im ersten Moment für die Reproduktion eines Gemäldes, doch gleich darauf stellte er fest, daß es sich um ein echtes Ölbild handelte.

»Das ist Sabah«, sagte Cornelia hinter ihm.

Er wandte sich um. »Deine Tochter?«

Cornelia nickte. »Ich habe das Bild nach einer Fotografie malen lassen. Eine Bekannte von mir verdient damit ihren Lebensunterhalt.«

»Ein bildhübsches Kind«, mußte Wolfgang Dihlmann zugeben. Anfangs hatte Cornelia ziemlich oft von ihrer Tochter gesprochen, aber dann schien sie gemerkt zu haben, daß er sich nicht für ihr Kind interessierte. Es war das erste Mal seit Wochen, daß Sabah jetzt wieder zwischen ihnen erwähnt wurde.

»Danke«, sagte Cornelia mit einem wehmütigen Blick auf das Bild. Sie hatte ihre Tochter seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Sabah lebte bei ihrem geschiedenen Mann in Divhir, einem kleinen Dorf in Anatolien.

Cornelia riß sich gewaltsam von dem Bild los. »Warum setzt du dich nicht, Wolfgang?« fragte sie. »Das Essen ist in zehn Minuten fertig.«

»Es duftet ganz köstlich«, gestand Wolfgang und nahm in einem der Sessel Platz. »Eine hübsche Wohnung hast du. Sie ist ja gar nicht zu vergleichen mit meiner Junggesellenbude.«

»Es war nicht leicht, sie zu bekommen. In den ersten Wochen nach meiner Rückkehr nach Deutschland lebte ich in Untermiete.« Cornelia lachte auf. »Ich stellte allerdings bald fest, daß Untermiete nichts für mich ist. Ich wollte wieder frei und ungebunden sein und konnte das ewige Schnüffeln meiner Wirtin nicht ertragen. Ich war lange genug tyrannisiert worden.«

»Von deinem Mann?« fragte Wolfgang.

»Von ihm selbst weniger, aber von seiner Familie. Ich mußte über jeden Schritt, den ich tat, meiner Schwiegermutter Rechenschaft ablegen. Ich weiß nicht, ob du dir die Zustände in einem anatolischen Dorf überhaupt vorstellen kannst.« Cornelia schaute wieder zu dem Bild empor. »Als ich Mustafa in die Türkei folgte, glaubte ich noch, es würde nicht so schlimm werden. Ich nahm an, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden und mich auch gegen seine Familie behaupten zu können. Doch ich mußte sehr bald lernen, daß dies unmöglich war.« Sie setzte sich auf die Lehne eines Sessels. »Ich hatte von Anfang an verloren, denn ich war allein. Mustafa, so westlich er sich hier auch gegeben hatte, wurde in der Türkei wieder ein gehorsamer Sohn seines Vaters.«

»Es muß sehr schlimm für dich gewesen sein«, meinte Wolfgang.

»Ja, das war es auch«, sagte Cornelia. »Und trotzdem, manchmal frage ich mich, ob ich nicht einen Fehler gemacht habe. Es wäre meine Pflicht gewesen, bei Sabah zu bleiben. Ich hätte nicht auf sie verzichten dürfen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich muß wieder nach dem Essen sehen.«

Cornelia sah ihren Besucher nicht an, als sie aufstand und das Wohnzimmer verließ. Wolfgang war überzeugt, daß sie Tränen in den Augen hatte.

Bald darauf saßen die beiden an dem reizend gedeckten Eßtisch. Mehr als einmal hatte Wolfgang schon das exzellente Essen gelobt. Er fand, Cornelia war eine hervorragende Köchin. Jetzt hob er sein Glas und prostete ihr zu.

Lächelnd nippte auch Cornelia an ihrem Glas. Sie wollte eben etwas sagen, als es an der Wohnungstür klingelte.

»Erwartest du Besuch?« fragte Wolfgang enttäuscht.

»Mein Besuch ist schon da«, sagte Cornelia und stand auf. »Vielleicht der Postbote. Samstags verspätet er sich immer. Entschuldige bitte, Wolfgang!«

Es war tatsächlich die Post. Der Beamte stand mit einem Paket vor der Tür. Bereits auf den ersten Blick erkannte Cornelia, daß es sich um das Paket handelte, das sie vor einigen Wochen an Sabah geschickt hatte. Nur mühsam die Tränen zurückhaltend, bezahlte sie die Postgebühr. Dann nahm sie das Paket in Empfang und trug es in die Küche.

»War es die Post?« fragte Wolfgang gutgelaunt, als Cornelia zurückkam und sich stumm an den Tisch setzte. Erst jetzt bemerkte er, daß sie völlig verstört war. »Was ist denn, Conny?« Fürsorglich legte er seine Hand auf ihren Arm. »Ist etwas passiert?«

Cornelia schüttelte stumm den Kopf. »Nein, es ist nichts passiert, Wolfgang«, sagte sie nach einigen Sekunden. »Ich habe nur wieder einmal ein Paket zurückbekommen. Briefe, Päckchen, Pakete, alles, was ich nach Divhir schicke, kommt kommentarlos zurück. Es ist, als wollte man Sabah jede Erinnerung an mich nehmen.«

»Ich möchte mich zwar nicht in deine Angelegenheiten einmischen, Cornelia, aber wäre es nicht besser, wenn du deine Tochter vergessen würdest?« fragte Wolfgang. »Es mag herzlos klingen, aber es erscheint mir als die beste Lösung. Du tust deiner Tochter nichts Gutes, wenn du sie immer wieder an dich erinnerst.« Er ahnte, daß er nicht die richtigen Worte gewählt hatte, aber er nahm sie dennoch nicht zurück.

»Das darf doch nicht dein Ernst sein, Wolfgang«, sagte Cornelia entsetzt. »Sabah ist meine Tochter, mein Kind! Sabah ist alles, was ich habe!«

»Aber sie wurde deinem geschiedenen Mann zugesprochen.«

»Von einem türkischen Gericht.«

»Aber der Spruch dieses Gerichtes gilt auch hier.« Sanft streichelten seine Finger ihren Arm. »Es hat keinen Sinn, wenn du dir etwas vormachst.«

Cornelia schüttelte den Kopf. »Ich werde weiter um Sabah kämpfen, Wolfgang. Und wenn ich hundert Rechtsanwälte bemühen müßte. Ich werde den Kampf nicht aufgeben.«

Zornig preßte sie die Lippen zusammen.

»Cornelia, sei vernünftig! Du wirst einen Haufen Geld in eine Sache stecken, die von vornherein verloren ist«, versuchte Wolfgang sie umzustimmen. Er liebte Cornelia, er wollte sie heiraten, aber er dachte nicht daran, ein türkisches Kind in seine Familie aufzunehmen. Er wollte eigene Kinder haben. Mit Freuden wollte er ihretwegen auf alles verzichten, aber eines fremden Kindes wegen? Nein, es mußte ihm gelingen, Cornelia davon zu überzeugen, daß Sabah dort, wo sie jetzt war, besser aufgehoben war als hier.

»Vernünftig?« Cornelia blickte zu ihm empor. »Ich bin vernünftig. Ein Kind gehört zu seiner Mutter.«

Wolfgang sah ein, daß er im Moment nichts ausrichten konnte. Es war auch nicht der richtige Tag, um sich mit Cornelia auf ein Streitgespräch einzulassen. Sie war bis in ihr Innerstes aufgewühlt, weil das Paket zurückgekommen war. Er mußte etwas finden, was sie ablenkte.

»Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie wir den Nachmittag verbringen werden?« fragte er mit einem Lächeln. »Ich dachte daran, nach Ludwigsburg ins Blühende Barock zu fahren.«

»Eine gute Idee«, sagte Cornelia, dankbar dafür, daß er das Thema Sabah fallenließ. Sie wollte sich nicht mit Wolfgang Dihlmann streiten. Dazu hatte sie ihn viel zu gern. Sie liebte es, Arm in Arm mit ihm spazierenzugehen, sie hörte ihn gerne reden. Sie war überzeugt davon, daß er sich nur deshalb so gegen Sabah sträubte, weil er die Kleine nicht kannte. Sabah war ein bezauberndes Kind. Sie hatte noch keinen Menschen getroffen, der sie nicht augenblicklich in sein Herz geschlossen hatte. Selbst Dhalia, Mustafas Mutter, hatte ihr nicht widerstehen können.

»Sei nicht mehr traurig, Conny. Ich möchte heute ein fröhliches Gesicht sehen.« Wolfgang hob sein Glas. »Auf uns beide!« sagte er und blickte Cornelia fest in die Augen.

»Auf uns beide, Wolfgang!« Cornelia nippte an ihrem Glas und stellte es dann wieder auf den Tisch. »Ich hole den Nachtisch.«

»Nachtisch gibt es auch noch, Cornelia? Du verwöhnst mich!« Wolfgang stand auf. »Ich helfe dir beim Abräumen. Du wirst sehen, auch ein Junggeselle verfügt über manche hausfraulichen Qualitäten.«

»Fragt sich nur, wie weit sie reichen«, meinte Cornelia, amüsiert über seinen Eifer.

»Lache nicht, aber ich bin ein geübter Abwäscher. Wir waren daheim vier Kinder, alles Buben. Meine Mutter ging arbeiten. Also, wer sollte sich da des schmutzigen Geschirrs erbarmen, wenn nicht ich, der Jüngste?«

»Freiwillig?«

»Teils, teils«, gab der junge Mann zu. »Mein Vater und meine Brüder haben meiner Freiwilligkeit gewöhnlich durch handfeste Ermahnungen nachgeholfen.«

»Also handfeste Ermahnungen brauchst du bei mir nicht zu befürchten«, sagte Cornelia und hielt ihm die Tür auf, da er in beiden Händen Geschirr trug. »Wenn du es nicht unbedingt willst, brauchst du mir nachher nicht beim Abwaschen zu helfen. Ich tu’s auch gern allein.«

»Soll ich etwa so lange einsam im Wohnzimmer sitzen und Däumchen drehen?« fragte Wolfgang. »Nein, da wasche ich lieber zusammen mit dir ab. Wo geht’s zur Küche?«

»Die erste Tür rechts!«

»Wird gemacht!« Wolfgang blickte sich kurz nach Cornelia um, eine scherzhafte Bemerkung auf den Lippen, und im selben Moment geschah es: er stolperte über die Läuferkante. Er versuchte sich noch zu fangen, aber es war bereits zu spät. In hohem Bogen flog das Geschirr durch den Korridor. Er selbst konnte sich gerade noch am Schuhschrank festhalten.

»Hast du dir etwas getan?« fragte Cornelia erschrocken. Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Conny!« Betreten schaute er auf seine leeren Hände.

Cornelia ließ ihren Blick über das zerbrochene Geschirr gleiten. Es war ihr bestes Service gewesen. Sie atmete tief durch und sagte dann: »So kann man natürlich auch abwaschen.«

*

»Ich mache einen Ausflug! Ich mache eine Ausflug!« Vergnügt vor sich hin trällernd, sprang die kleine Heidi Holsten die Freitreppe hinab. Lustig wippten ihre blonden Rattenschwänzchen auf und ab. Auf dem Rasen angekommen, streckte sie ihre Arme aus und wirbelte im Kreis herum.

»Was ist denn mit dir los, Heidi?« fragte Fabian Schöller und sprang kurz vor dem kleinen Mädchen von seinem Fahrrad. Er war ein etwas schmächtiger Junge von elf Jahren, mit mittelblonden Haaren und graugrünen Augen, die jetzt belustigt aufblitzten.

»Tante Isi nimmt mich nach Stuttgart mit«, erzählte Heidi freudestrahlend und stand still. »Sie hat gerade Tante Ma angerufen und gesagt, daß sie in zehn Minuten hier sein wird.

»So’n Zappelphilipp wie dich nimmt sie bestimmt nicht mit«, neckte der Junge die Fünfjährige.

»Ich bin kein Zappelphilipp«, verteidigte sich Heidi. »Und außerdem hat Tante Isi versprochen, mich mitzunehmen, und sie hat noch nie ein Versprechen gebrochen.« Sie steckte einen Finger in den Mund. »Ob Schneeweißchen und Rosenrot auch mitkommen dürfen? Sie stören bestimmt nicht.«

»Du kannst doch die Kaninchen nicht nach Stuttgart mitnehmen, Heidi«, meinte Fabian kopfschüttelnd und dachte, was für Ideen doch so ein kleines Mädchen haben konnte. Er wies zum Tor. »Da kommt Tante Isi schon.«

Der Wagen Denise von Schoeneckers fuhr die Auffahrt entlang. Kurz vor der Freitreppe des Kinderheims kam er zum Stehen.

Denise war kaum ausgestiegen, als Heidi auch schon in ihren Armen lag.

»Na, womit habe ich eine so freudige Begrüßung verdient?« fragte Denise und fuhr der Kleinen über den blonden Schopf. »Laß dich einmal anschauen, Heidi!« Sie hielt das Mädchen etwas von sich ab. »Richtig fein gemacht hat dich Schwester Regine.«

»Die Jeans sind ganz neu, Tante Isi. Ich hatte sie noch nie an«, prahlte Heidi stolz. »Und gekämmt hat mich Schwester Regine auch noch einmal. Ich hatte es schon selbst gemacht, aber das war nicht sehr schön.«

»Du wirst es schon mit der Zeit noch lernen, Heidi«, sagte Denise überzeugt. Sie wandte sich an Fabian. »Henrik und Nick werden in etwa einer halben Stunde kommen. Sie haben mir erzählt, daß ihr heute nachmittag etwas ganz Besonderes vorhättet, wollten mir aber nicht verraten, was es ist.«

»Es ist eine Überraschung!« Das blasse Gesicht des Jungen wurde von einer leichten Röte überflogen.

»Was für eine Überraschung?« erkundigte sich Heidi neugierig. »Sag, Fabian, was für eine Überraschung?« Bettelnd schlug sie die Hände zusammen.

»Das wird nicht verraten!« Fabian schwang sich wieder auf sein Fahrrad. »Tschüs, Tante Isi!« rief er. »Tschüs, Heidi!« Er winkte den beiden zu und radelte dann um das Haus herum in den hinteren Teil des Parks von Sophienlust.

»Warum verrät Fabian nicht, was für eine Überraschung es ist, Tante Isi?« fragte Heidi. »Du hättest ihm sagen sollen, daß er sie verraten muß.«

»Aber dann ist es ja keine Überraschung mehr«, meinte Denise von Schoenecker. Sie umfaßte Heidis rechte Hand und stieg mit ihr die Freitreppe empor. »Warte hier auf mich, Heidi! Ich bin gleich wieder zurück.«

»Gut!« Heidi setzte sich auf die oberste Stufe der Treppe und schlang ihre Arme um die Knie. Grübelnd zog sie die Stirn in Falten. Was mochte das nur für eine Überraschung sein, von der Fabian gesprochen hatte? Daß ihr die Großen aber auch nie etwas verraten wollten! Schon beim Mittagessen hatten Irmela und Pünktchen so geheimnisvoll getan, und Angelika und ihre Schwester Vicky hatten auch dauernd miteinander getuschelt. Groß müßte man sein!

Heidis sehnlichster Wunsch war es, endlich einmal zu den Großen zu gehören, frühmorgens mit ihnen in den Bus einsteigen und mit zur Schule fahren zu können. Sie stellte sich die Schule als etwas ganz Wunderbares vor.

Aber schon bald hatte Heidi ihre trüben Gedanken vergessen. Sie saß im Fond von Denises Wagen und starrte aufgeregt durch das Fenster auf die vorbeifliegende Landschaft. Ab und zu machte sie Denise auf Hunde, Traktoren und Straßenbaumaschinen aufmerksam. Sie winkte den Arbeitern einer Baukolonne zu und strahlte über das ganze Gesichtchen, als diese ihren Gruß erwiderten. Nun fand sie, eigentlich war die Welt doch schön, auch wenn man erst fünf Jahre alt war und ungerechterweise von den Geheimnissen der Großen ausgeschlossen wurde.

Denise von Schoenecker nahm ab und zu eines der Kinder von Sophienlust mit, wenn sie Besorgungen zu machen hatte oder eine der Familien besuchen mußte, die mit Sophienlust in Verbindung standen. Sie wollte, daß die Heimkinder so normal wie möglich aufwuchsen und außer dem Kinderheim auch die Welt draußen kennenlernten.

Kurz vor Stuttgart fuhr Denise auf den Parkplatz eines Gasthauses. »Na, Heidi, hast du Appetit auf ein Eis?« fragte sie und zeigte auf den Eisstand, der vor dem Eingang des Gasthauses aufgebaut war.

Heidi leckte sich die Lippen. »Auf ein riesengroßes Eis«, sagte sie und sprang aufgeregt vom Sitz. »Kaufst du mir ein?«

»Nein, das wirst du selber tun!« Denise reichte Heidi ein Geldstück.

»Magst du auch eins, Tante Isi?« Heidi schaute auf das blanke Geldstück in ihrer kleinen Hand.

»Nein!«

»Oh, dann kann ich mir ja ein ganz großes Eis kaufen«, jubelte Heidi. Sie öffnete die Fondtür des Wagens und rannte zum Eisstand. Lächelnd blickte Denise ihr nach.

Zwei Minuten später kam Heidi mit einer riesigen Eistüte zurück. Ordentlich hatte sie das Einwickelpapier in den neben dem Eisstand stehenden Papierkorb geworfen.

Denise stieg aus und öffnete die Fondtür. »Rein mit dir!«

»Möchtest du nicht einmal lecken, Tante Isi?« fragte Heidi großzügig, als sie wieder im Wagen saß.

»Nein, Kleines, das Eis gehört dir ganz allein.« Denise reichte Heidi ein Papiertaschentuch nach hinten. »Paß auf, daß du keine Flecken machst. Und wisch dir dann hinterher schön die Hände ab.«

»Mach ich!« Mit dem Eis in der Hand lehnte sich das kleine Mädchen im Sitz zurück. Es war restlos zufrieden. Viel schöner als alle Geheimnisse der Welt war es, mit Tante Isi fortzufahren. Nur schade, daß es immer so lange dauerte, bis sie wieder einmal an die Reihe kam.

Eine halbe Stunde später hielt Denise vor der Einfahrt eines hübschen Reihenhauses in der Norbert-Hoffmann-Straße. Ein kleiner Junge, der im Garten gespielt hatte, rannte zum Zaun. »Mutti, sie kommt!« schrie er zum Haus zurück. »Und die Heidi hat sie auch mitgebracht.«

An der Hand von Denise ging Heidi auf den Zaun zu. Ihr Gesichtchen glänzte vor Freude. Sie machte gern Besuche und benahm sich dann auch immer sehr brav.

Denise drückte eben die Gartentür auf, als aus dem Haus eine hübsche junge Frau von etwa achtundzwanzig Jahren kam. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid, das ihrer Figur besonders schmeichelte. Man hätte sie für ein junges Mädchen halten können.

»Schön, daß du da bist, Tante Isi!« Der Junge warf sich in die Arme der Gutsbesitzerin. »Ich habe schon den ganzen Tag auf dich gewartet, obwohl meine Mutti gesagt hat, daß du uns erst nach dem Essen besuchst. Warum bist du nicht zum Mittagessen gekommen? Es gab Kaiserschmarren und einen ganzen Haufen Himbeeren.«