Sissy Band 2 - Ein Mädchen wird Kaiserin - Marieluise von Ingenheim - E-Book

Sissy Band 2 - Ein Mädchen wird Kaiserin E-Book

Marieluise von Ingenheim

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Beschreibung

Im Schloss Possenhofen herrscht große Aufregung, Kaiser Franz hat um die Hand von Helene angehalten und nun sollte die Familie dem jungen, schmucken Kaiser im romantischen Kurort Bad Ischl begegnen. Und so beginnt ein Verwirrspiel zwischen junger Liebe und imperialer Heiratspolitik, das für alle Beteiligten ein völlig unerwartetes Ende findet.

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MARIELUISE VON INGENHEIM

Sissy

Ein Mädchen wird Kaiserin

Autorin: Marieluise von Ingenheim

Illustration Überzug: M. Pleesz

Copyright der E-Book-Ausgabe von hiStory Publications:© Copyright 2016 by Verlagsbuchhandlung Julius Breitschopf GmbH,A-3420 Klosterneuburg bei WienAlle Rechte vorbehalten.Das Werk ist weltweit urheberrechtlich geschützt.All rights reserved throughout the world.

ISBN: 978-3-7004-4432-9EAN: 9783700444329

Inhalt

Prolog

01 - Am Starnberger See

02 - Irene und David

03 - Das Tagebuch

04 - Richard

05 - Kotillon mit Sissy

06 - Ball in Ischl

07 - Die Braut des Kaisers

08 - Das Gelöbnis

09 - Weihnacht in Possenhofen

10 - Eine Fahrt in die Zukunft

11 - Einzug in Wien

12 - Flitterwochen

13 - An der Seite des Kaisers

14 - Unerwartetes Glück

15 - Eine Reise inkognito

16 - Ausritt im Prater

17 - Schrammelmusik

18 - Ein ungleicher Kampf

19 - Italien

20 - Venedig

21 - Koffer für Budapest

22 - Ein Engel im Himmel

23 - Der Stammhalter

24 - Liberale Gedanken

25 - Die Rückkehr

Prolog

Im Schloss Possenhofen herrscht große Aufregung, Kaiser Franz Joseph hat um die Hand von Helene angehalten und nun sollte die Familie dem jungen, schmucken Kaiser im romantischen Kurort Bad Ischl begegnen. Und so beginnt ein Verwirrspiel zwischen junger Liebe und imperialer Heiratspolitik, das für alle Beteiligten ein völlig unerwartetes Ende findet.

Am Starnberger See

Ein vorwitziger Sonnenstrahl kitzelte Sissy in der Nase. Mit einem lauten „Hatschi!” erwacht das junge Mädchen, dehnt sich ausgiebig und springt mit einem Satz aus dem Bett. Bloß- füßig tappt Sissy über den weichen Teppich, ein Mitbringsel des Vaters, und schiebt die Vorhänge zur Seite.

Strahlend helles Sonnenlicht überflutet den Raum, am Himmel ist kein Wölkchen zu sehen. Begeistert reißt sie das Fenster weit auf, beugt sich hinaus und atmet tief durch.

Ein herrlicher Tag, denkt sie. Da kann ich den ganzen Tag mit Nené reiten gehen!

Aber gleich darauf verfinstert sich ihr hübsches Gesichtchen. O weh! Baronin Wulften wollte uns doch heute Geschichtsunterricht geben. Da kennt sie kein Erbarmen. Aber ich will nicht den ganzen Tag im finsteren Zimmer sitzen... Ärgerlich stampft sie mit dem Fuß auf. Zum Lernen hat Sissy selten Lust, und an einem Tag wie heute schmeckt die Paukerei überhaupt nicht.

Possenhofen präsentiert sich heute wirklich von seiner allerschönsten Seite. Das Sommerschlösschen der Familie liegt direkt am Starnberger See. Das leicht gekräuselte Wasser blitzt und funkelt in der Sonne. Im dichten Wald zwitschern die Vögel, und auf der satten Wiese balgen sich zwei Stallburschen. Von den nahe gelegenen Stallungen her hört man leises Wiehern. Auch die Pferde freuen sich über das Kaiserwetter und wollen ausgeführt werden.

Mit einem inbrünstigen Seufzer wendet sich Sissy von der herrlichen Aussicht ab und beginnt langsam ihr Haar zu bürsten, das im Morgenlicht wie Gold schimmert. Nachdenklich betrachtet sie sich im Spiegel. Im Vorjahr hat sie noch wie ein Lausbub ausgesehen. Aber nun bekommt ihr Antlitz schon feine, zarte Züge. Erst neulich hat Papa festgestellt, nun sähe sie allmählich wie ein adretter Backfisch aus. Aber was nützt das alles, wenn einem an so einem Sommertag trockene Unterrichtsstunden ins Haus stehen.

„Auf jeden Fall”, beschließt Sissy, „werde ich mein Reitkleid anziehen. Vielleicht kann Papa die Wulften überreden, die Lernerei auf einen Regentag zu verschieben.”

Frohgemut geht sie ins Frühstückszimmer, wo sich die Familie schon versammelt hat. Sissy ist wie immer die letzte. Aber im Salon scheint dicke Luft zu herrschen. Die Geschwister sitzen recht manierlich um den großen Tisch herum, was sonst eher selten der Fall ist. Die Eltern machen finstere Mienen und sehen geflissentlich aneinander vorbei.

„Wahrscheinlich haben sie wieder gezankt”, murmelt sie in sich hinein, „da kann ich wohl nicht mit meiner Bitte kommen. Guten Morgen!” begrüßt sie die Anwesenden bedrückt und blickt fragend auf ihre Schwester Nené, aber die zuckt nur ratlos mit den Schultern.

„Aber Sissy!” dröhnt der Vater fröhlich, „warum machst du an so einem fabelhaften Morgen wie heute ein Gesicht, wie drei Tage Regenwetter? Komm, trink rasch deinen Tee, dann wollen wir einen Ritt unternehmen!”

Ein hastiger Seitenblick zeigt Sissy, dass ihre Mutter die Lippen nur noch fester aufeinanderpresst. Nun weiß sie wirklich nicht, was sie sagen soll.

„Ja schon, aber...stottert sie unbeholfen.

„Was, aber? Ist dir von heute auf morgen die Lust am Reiten vergangen?” Herzog Max in Bayern ist sichtlich darauf aus, seine Frau bis zur Weißglut zu reizen.

Und nun verliert Herzogin Ludowika auch tatsächlich die mühsam aufrechterhaltene Beherrschung. Zornrot, fast den Tränen nahe, macht sie ihrem Herzen endlich Luft.

„Max, ich kann dich einfach nicht verstehen. Das ganze Jahr lässt du dich nicht blicken, kümmerst dich nicht um deine Kinder - und wenn du schon einmal gnädigerweise auf Besuch kommst, dann bringst du den gesamten Haushalt durcheinander!”

Nun ist es heraußen.

Aber während der Vater ungerührt sein weiches Ei verspeist, senken sich plötzlich sechs schuldbewusste Geschwisternasen ganz tief über die Tassen.

Die Mutter hat ja Recht. Der Papa verbringt die meiste Zeit im Ausland, besucht die Familie nur dann, wenn sie auf Possenhofen residiert, und verwöhnt die Kinder nach Strich und Faden. Wenn die unbekümmerten Kleinen keine Lust zum Lernen haben, dann wird Sissy zum Vater geschickt. Und Herzog Max lässt sich nur allzu leicht um den Finger wickeln. Oft genug kommt er auch unaufgefordert ins Klassenzimmer, klappt vor der verdutzten Erzieherin alle Bücher zu und verkündet lauthals: „Schluss für heute!” Und dann stürmen sie, der Herzog an der Spitze, die Stiegen hinunter. Ab geht's ins Baumhaus, das unter seiner kundigen Anleitung gebaut wurde. Dort erzählt er ihnen abenteuerliche Geschichten von fremden Ländern und Sitten. Sissy kann nie genug hören. Immer wieder bittet sie den Vater, sie doch einmal mitzunehmen, dorthin, wo das ganze Jahr über die Sonne scheint, die Menschen in Lehmhütten hausen und jene eigenartige Sprache sprechen, die wie eine Halskrankheit klingt. Vor ein paar Jahren hat der Vater vier kohlrabenschwarze Jungen aus Kairo mitgebracht. Ganz München ist bei der feierlichen Taufe der verschreckten Jungen dabei gewesen. Hinter vorgehaltener Hand hat man aber allenthalben über die seltsamen Liebhabereien des Herzogs getuschelt. Max kümmert sich wenig um den Tratsch, die Meinung anderer Leute ist ihm herzlich gleichgültig. Aber Ludowika, die auf ihre Stellung im Gesellschaftsleben achtet, ist peinlich berührt, wenn die Sprache auf ihren Gemahl kommt. Oft verlässt sie frühzeitig einen Ball, wenn die sogenannten Freundinnen spitze Bemerkungen anbringen. Manchmal kann Sissy die Mama im Schlafgemach weinen hören.

Wie es scheint, hat es gestern Abend wieder eine fruchtlose Diskussion über Vaters Gewohnheiten gegeben. Sosehr Herzog Max Frau und Kinder liebt - er mag einfach nicht lange bei ihnen bleiben. Empfänge, Theaterbesuche, Bälle oder Soireen sind ihm ein Gräuel. Nach wenigen Wochen packt ihn wieder die Reiselust.

„Los, beeilt euch!” fordert er gerade das junge Volk auf, ohne auf Ludowikas Vorwürfe einzugehen. „Sonst reite ich alleine aus!”

Bei den Kleineren hat Max die Schlacht schon gewonnen. Sie scharren ungeduldig mit den Füßen und rutschen von den Sesseln. Sissy und Nené, die ein schlechtes Gewissen haben, blicken zögernd auf die Mutter. Die fügt sich gottergeben in ihr Schicksal. Schließlich will sie ihren Kindern den schönen Tag nicht verderben.

„Es ist gut, ihr könnt alle laufen”, lächelt sie gequält. „Aber wenn der erste Regentropfen fällt, wird alles nachgeholt. Und zwar ohne Widerrede!”

Sissy atmet auf. Heute ist ja noch einmal alles gutgegangen. Bevor sie geht, drückt sie der Mama noch einen zarten Kuss auf die Stirn, dann läuft sie schnell hinter den anderen her.

Ludovika bleibt alleine zurück. In dem Raum ist es nun ganz still geworden. Ihre Gedanken kreisen noch um den eigenwilligen Gemahl.

Er wird mir die Kinder gänzlich verderben. Wie sollen sie sich je in das Hofleben einfügen, wenn er ihnen nur Flausen in den Kopf setzt, überlegt sie.

Aber insgeheim beneidet Ludovika ihren Max doch ein wenig. In den ersten Jahren der Ehe konnte sie noch mit in die Schweiz fahren oder durch Italien ziehen. Zwar hatte sie Max nicht aus Liebe geheiratet, die Hochzeit war von den Eltern beschlossen worden. Doch der vielseitig interessierte und charmante Mann konnte ihr Herz im Sturm erobern. Die gemeinsamen Erlebnisse mit ihm in der Feme hatten ihr unvergessliche Stunden beschert. Bald allerdings wurde Ludwig, das erste Kind, geboren, und nun war es für Ludovika aus mit dem Vagabundenleben. Herzog Max in Bayern, den keine politischen Verpflichtungen an die Heimat banden, dachte nicht daran, das Wanderleben aufzugeben. Helene kam auf die Welt, dann folgten Sissy, Karl Theodor, Marie, Mathilde, Sophie und Max Emanuel. Aus Sorge um die Zukunft der Kinder musste die Mutter wohl oder übel die Rolle des Familienoberhauptes übernehmen, in der Gesellschaft repräsentieren und die Erziehung der Kinder im Auge behalten.

Wie soll ich die Mädchen verheiraten, wenn sie sich wie Stallburschen benehmen? Für Sissy wäre es fast besser gewesen, denkt sie sich, wenn sie in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen wäre. Das Mädchen wird es einmal schwer haben, wenn es seine Freiheit aufgeben muss. Ich kann sie ja kaum dazu überreden, ein schönes Kleid anzuziehen. Sogar in München hat Sissy nichts anderes im Sinn als Pferde, Zaumzeug und neue Reitkleider.

Ludovika nimmt noch eine Tasse Tee, begibt sich an ihren handgeschnitzten Schreibtisch, den ihr Max aus Spanien mitgebracht hat, und setzt einen Brief an ihre Schwester Sophie in Wien auf. Aber heute schweifen die Gedanken ständig ab.

Eigentlich darf ich gar nicht klagen. Sophie hat es ungleich schwerer als ich. Die Schwester hat Erzherzog Franz Karl von Österreich geheiratet. Die politische Lage fordert ganzen Einsatz: Nach langem, zähem Kampf konnte es Sophie schließlich durchsetzen, dass 1848 nicht ihr willensschwacher Gatte, sondern Franz Joseph, der älteste Sohn, die Thronfolge übernahm. Hinter den ersten Schritten des jungen Kaisers ist deutlich ihre starke Hand zu spüren.

„Die Mutter des Kaisers ist der einzige Mann am Hof, pflegt man in Wien zu sagen.

Zum Kaiser gehört auch eine Kaiserin. Zwischen den Schwestern Sophie und Ludovika ist es bereits beschlossene Sache, dass Franz Joseph mit Sissys Schwester Helene vermählt werden soll. Nené weiß davon noch überhaupt nichts, aber seit dieser Plan existiert, wird Nené strenger erzogen als ihre Geschwister. Eine künftige Kaiserin soll schließlich nicht in Baumhäusern aufwachsen.

In dem Brief, den Ludovika heute nach Wien schreibt, ist aber hauptsächlich von Sissy die Rede. Anscheinend hat Karl Ludwig, Franz Josephs jüngerer Bruder, an seiner Cousine Gefallen gefunden. Die Kinder haben einander einmal in Innsbruck gesehen. Franz Joseph, ganz erfüllt von kommenden Aufgaben, hatte sich wenig um seine Verwandten gekümmert. Aber Karl Ludwig ist nicht von Sissys Seite gewichen. Regelmäßig schreibt er aus Wien, beschenkt sie mit Zuckerwerk und gepressten Blumen. Unlängst hat er seiner kleinen Freundin sogar einen Ring geschickt. Sissy antwortet natürlich auf diese Schreiben, aber von Zuneigung ist recht wenig zu bemerken.

Einen Augenblick lang überlegt Ludovika. Soll sie ihre beiden Töchter wirklich in Vernunftehen treiben? Der Verstand gewinnt den Kampf. „Liebe Sophie”, beginnt sie also, „mit Freuden vernehme ich, dass Karl Ludwig von Sissy schwärmt.”

Für Sissy vergeht der Tag wie im Flug. Beim Abendessen bemerkt sie, dass Ludovika den Streit von heute Morgen offenbar vergessen hat und viel freundlicher gestimmt ist. Deswegen beschließt sie, der Mama vor dem Schlafengehen ein Geheimnis anzuvertrauen.

„Mama”, flötet sie mit ihrer süßesten Stimme, „kannst du dich an Irene Paumgartten erinnern?”

„Freilich. Ihre Mutter, die Gräfin, hat mich vor wenigen Tagen besucht. Sie hat gleich in der Nähe Verwandte und will den Sommer über mit ihren Kindern am See bleiben.”

„Sag, dann weißt du ja auch, dass Irene einen Bruder hat?”

Erschrocken hält die Herzogin den Atem an. Was wird da auf sie zukommen?

Sissy gerät ein wenig ins Stocken. Wie soll sie der Mutter sagen, dass sie Irenes Bruder David von Herzen heb hat, ganz anderes als ihren Bruder Karl Theodor, den sie zärtlich „Gackel” nennt. Und instinktiv spürt sie, dass diese Freundschaft der Mutter nicht recht sein wird.

„Nun, was ist denn, Sissy?”

, Ja, weißt du, ich wollte... ich wollte fragen, ob Irene und David vielleicht mit uns ausreiten dürfen?”

Sissy ist der Mut vergangen, ihr Geheimnis preiszugeben. Die Mutter ahnt sehr wohl, was ihr Töchterchen in Wahrheit sagen wollte, hält es aber für besser, die Sache nicht zur Sprache kommen zu lassen. So geht sie bereitwillig auf die rasch erfundene Frage ein.

„Doch, doch, du kannst Irene einladen, so oft du willst. Aber du weißt doch, dass du sie dann in München nicht immer sehen solltest. Die Paumgarttens sind nicht der rechte Umgang für dich.”

Mit diesen Worten verlässt die Herzogin das Zimmer. Sissy hat ihren Wink gut verstanden. Sie wartet noch ein Weilchen, bis die Schritte auf der Treppe verhallt sind, dann schlüpft sie leise aus dem Bett, entzündet eine Kerze und kramt in einer Kommode nach ihrem Tagebuch, einem sorgsam versteckten Schatz. Gedankenversunken blättert sie in den Eintragungen der letzten Tage.

Irene und David

In Sissys Tagebuch ist viel von Irene und David zu lesen. Gerade in diesem Sommer sind die drei unzertrennlich. Diese Spielkameraden sind ganz anders als die Freunde, mit denen Sissy in München auf Wunsch ihrer Mutter zusammenkommt. Gerne verstecken sich die drei im Wald. Dann liest ihnen Sissy ihre selbstverfassten Gedichte vor, Irene bastelt wunderliche Tiere aus Wurzeln und Blättern, und David phantasiert von den Abenteuern, die er als Erwachsener bestehen wird. Sissy gefällt die verträumte Art ihres kleinen Freundes. Sie kann stundenlang zuhören, wenn er erzählt, wie er sie vor wilden Tieren retten, über stürmische Meere geleiten und in ferne Oasen entführen wird. Manchmal, wenn Irene gerade wegsieht, streicht David über Sissys dichtes Haar und lächelt sie dabei zärtlich an.

Ein wenig erinnert er sie an den Vater. Schade nur, dass David eine so angegriffene Gesundheit hat. Oft muss er das Bett hüten, weil er sich am Vortag beim Spielen überanstrengt hat.

Auch Irene hat schon gemerkt, dass ihr Bruder ungeduldig darauf wartet, bis Sissys Blondschopf auftaucht. „Ihr dürft mich aber nicht alleine lassen, wenn ihr heiratet”, flüstert sie Sissy einmal zu. Die errötet zwar heftig, nickt aber zustimmend: „Abgemacht, wir nehmen dich überallhin mit.” Aber jetzt blickt Sissy traurig in das Kerzenlicht. Warum wohl hat die Mama eben gemeint, David und Irene seien nicht der richtige Umgang? Die Paumgarttens sind zwar nicht sehr reich, aber in der Familie geht es immer sehr fröhlich zu. Wenn sie da an die Tanten aus Sachsen und Preußen denkt - die hat sie noch nie richtig herzlich lachen gesehen. Sissy nimmt sich vor, die Angelegenheit morgen mit ihrem Vater zu besprechen.

Das hat auch Ludovika vor, aber sie verschiebt die Aussprache nicht auf den nächsten Tag. Herzog Max ist etwas verstimmt, schließlich war er gerade auf dem Weg zu seiner Tafelrunde, der er als „König Artus” vorsteht. Aber Ludovika lässt ihn nicht gehen.

„Weißt du, dass unsere Sissy offenbar in den kleinen Paumgartten verliebt ist?” fragt sie strafend, als wäre Max an dem Dilemma schuld.

„Nein, das ist mir noch nicht zu Ohren gekommen. Aber Sissy ist ja bald 15 Jahre alt. Da können schon die ersten Gefühle erwachen. Du warst ja auch nicht viel älter, als wir geheiratet haben.”

„Das ist mir alles klar”, unterbricht sie ihn ungeduldig. „Aber die Paumgarttens sind kein standesgemäßer Umgang. Ich hätte gute Lust, Sissy zu verbieten, mit diesen Kindern zu spielen.”

„Was soll denn das?” fragt Max entrüstet. Nun ist auch er an dem Gespräch interessiert und legt den Überrock wieder ab. „Die Familie ist anständig und viel freundlicher als gewisse Herrschaften am Hof. Jedes Mädel erlebt eine erste Liebe, und ich bin froh, dass sich meine Sissy diesen netten David ausgesucht hat.”

Ludovika kennt die Abneigung ihres Gemahls gegen die Gesellschaft in München, die - das muss sogar sie zugeben - wirklich recht ermüdend sein kann.

„Damm geht es doch nicht. Du weißt ganz gut, dass Sissy dem Bruder von Franz Joseph so gut wie versprochen ist. Die Hochzeit wird wahrscheinlich in zwei Jahren stattfinden. Sophie erkundigt sich in ihren Briefen immer nach Sissys Fortschritten. Soll ich ihr etwa schreiben, dass ihre zukünftige Schwiegertochter mit verwahrlosten Burschen turtelt?”

Nun legt sich Max aber ordentlich ins Zeug. Über seine Lieblingstochter darf niemand schlecht reden. „Erstens ist David kein dahergelaufener Niemand. Und zweitens kann Sissy von mir aus auch einen Bauernjungen heiraten, wenn sie nur glücklich wird. Oder willst du ihr etwa eine Ehe zumuten, wie wir sie führen?”

Ludovika ist sprachlos: „Was willst du damit sagen?”

„Wir haben einander doch erst ein halbes Jahr vor der Eheschließung kennengelernt. Und weder deine noch meine Eltern haben lang nach unseren Wünschen gefragt. Willst du behaupten, dass du mit dieser Entscheidung glücklich warst? Nein, nein, solange ich noch in Possenhofen bin, werde ich dafür sorgen, dass Sissy ihren David so oft wie möglich zu sehen bekommt.”

Mit diesen Worten nimmt Max seinen Umhang und verlässt grußlos das Schlösschen. Ihm, dem liberal denkenden Mann, sind die Vernunftehen in guten Kreisen schon längst ein Dom im Auge. Ludovika bleibt wieder einmal alleine und verärgert zurück. Nicht genug damit, dass ihr Gatte sie mit seinem Lebenswandel vor den Kopf stößt - nun fallen ihr auch noch die Kinder in den Rücken. Auch Ludwig, der älteste Sohn, ist häufig in schlechter Gesellschaft zu finden. Er verbringt mehr Zeit im Theater als bei der Familie. Wenn er einmal bei Tisch erscheint, äußert er recht radikale Ansichten und wirft der Herzogin vor, dass sie mit Standesdünkel behaftet sei. Insgeheim beschließt Ludovika, die beiden Töchter so schnell wie möglich zu verheiraten.

Der nächste Tag ist grau und verregnet. Sissy richtet ergeben ihre Hefte her, gleich wird wohl Baronin Wulften zum Unterricht rufen. Da klopft es auch schon an der Zimmertür. Herzogin Ludovika tritt ein. „Sissy, ich habe einen Brief an Tante Sophie geschrieben. Möchtest du nicht einige Zeilen an Karl Ludwig beilegen? Du hast dich noch gar nicht für seinen Ring bedankt!”

Auf Karl Ludwig hat Sissy schon längst vergessen. „Ich weiß gar nicht mehr, wie er aussieht. Was soll ich ihm denn schreiben?”

„Dir wird schon etwas Nettes einfallen, mein Kind. Außer dem müsstest du dann auch nicht in die Schulstunden gehen. Ich möchte die Briefe schon gerne zu Mittag wegschicken.”

„Also gut, ich mache mich an die Arbeit”, antwortet Sissy, bemüht, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. Wenn sie der Erzieherin ein Schnippchen schlagen kann, schreibt sie gerne an den Cousin in Wien.

Auch Ludovika lächelt still vor sich hin. Gegen Mittag will sie nach München aufbrechen, einen hübschen Ring aussuchen und Sissys Brief an Karl Ludwig beilegen.

Sissy sucht ihr hellblaues Papier mit den Blümchen heraus und kaut am Federhalfter. „Wo ist eigentlich dieser Ring hingekommen?” Erschreckt fährt sie hoch. Sie hat ihn kein einziges Mal über den Finger gestreift und achtlos beiseite gelegt. In der Schmuckschatulle ist er nicht.

Wenn ich den Ring verloren habe, ist Mama sicher böse, überlegt sie. Aus irgendeinem Grund achtet sie darauf, dass ich alle Geschenke von Karl Ludwig aufhebe. Vielleicht ist er hinter den Schreibtisch gefallen.”

Hastig rückt sie das schwere Möbelstück beiseite. Da ist er auch nicht. Vielleicht in der Kommode? Sissy wühlt zwischen den Wäschestücken und richtet ein heilloses Durcheinander an. Der Ring bleibt verschwunden.

Ächzend richtet sie sich auf und blickt sich suchend um. Da fällt ihr Blick aus dem Fenster. Was ist denn das? Weit entfernt erkennt sie David, der mit einem großen Jungen am Seeufer Fangen spielt. „O weh, er wird sich sicher erkälten und muss dann tagelang in seinem Zimmer bleiben!” Kopfschüttelnd und besorgt beginnt Sissy nun, die Teppiche umzudrehen. Endlich findet sie das zierliche Schmuckstück unter dem Himmelbett. Erleichtert begibt sie sich wieder an ihren Tisch, um den Brief aufzusetzen. In ihrer Jungmädchenschrift bedankt sie sich artig für das Geschenk, erzählt von den kleinen Lämmern, die ihr der Vater gebracht hat, über den Fortschritt, den sie beim Reiten macht, und schließt mit den kühlen Worten „Deine Cousine Sissy”. Ohne auf die Unordnung in ihrem Zimmer zu achten, läuft sie mit dem Werk zur Mutter.

Ludovika liest das Briefchen mit deutlichem Missfallen. „Hättest du nicht einen freundlicheren Ton anschlagen können? Und warum erkundigst du dich überhaupt nicht nach seinem Befinden?”

Schön langsam hat Sissy ihren Wiener Verwandten satt.

„Mama, was hast du denn nur mit Karl Ludwig? Er interessiert mich überhaupt nicht. Außerdem habe ich ihn nur ein einziges Mal gesehen, und das ist bestimmt vier Jahre her!”

„Sissy, hör zu, dein Cousin ist immerhin der Bruder des Kaisers von Österreich. Und er schreibt dir doch so oft und so nett.”

„Soll ich den Brief noch einmal schreiben?” mault Sissy.

„Nein, für heute muss es genügen. Ich bin schon in Eile, denn ich fahre nach München.”

Sissy wundert sich. Seit wann schickt ihre Mutter die Briefe selber ab? Nun, ihr soll es recht sein. Sie beschließt, den Rest des Tages möglichst unsichtbar zu bleiben, um der Baronin nicht in die Hände zu fallen.

„Ich werde mein Zimmer aufräumen und dann ein Bild von Possi malen.”

Am späten Nachmittag ist Sissys Zimmer noch immer im gleichen chaotischen Zustand. Eine flüchtige Skizze vom Park liegt zerknüllt am Boden. Sissy widmet sich einer wenig schmeichelhaften Zeichnung von Baronin Wulften. Die Erzieherin bekommt eine lange spitze Nase mit einer großen Warze, die sie wie eine mittelalterliche Hexe aussehen lässt. Mit erhobenem Zeigefinger versucht sie ihren Schützlingen, die sich unter den Bänken versteckt haben, Anstand und Sitten beizubringen. „Das muss ich David und Irene zeigen...”

Irene schenkt der lustigen Karikatur allerdings keinen Blick, als Sissy einige Tage später auf Besuch kommt.

„David ist schrecklich krank”, erklärt sie mit verweinten Augen. „Er ist ins Wasser gefallen und hat sich eine Lungenentzündung geholt”, berichtet sie der nun zutiefst erschrockenen Freundin.

Da kommt auch schon Gräfin Paumgartten mit einem Tablett aus dem Krankenzimmer. „Du darfst einen Moment lang hineingehen, Sissy. Aber bleib nicht zu lange. David ist recht müde, und der Doktor hat gesagt, er solle viel schlafen, damit er rasch zu Kräften kommt.”

Schüchtern betritt Sissy Davids Zimmer. Wie anders ist diese kleine Kammer im Vergleich zu ihren prächtig ausgestatteten Räumen daheim! Ein kleiner Schrank an der Schmalseite des Zimmers quillt über vor Büchern. Was mag David wohl lesen? Sissy nimmt sich vor, ihn danach zu fragen, sobald er wieder ganz gesund ist. An den Wänden hängen viele bunte Bilder und Figuren, die Irene angefertigt hat. Neben dem Fenster steht Davids Bett.

„Sissy, wie nett, dass du gekommen bist!” David reicht seiner Freundin matt die Hand. Sie fühlt sich heiß und trocken an. Sissy weiß nicht recht, wie sie sich verhalten soll. „Ich habe dir etwas mitgebracht, schau einmal!” Sie reicht ihm die Karikatur.

„So sieht also eure Erzieherin aus! Die muss aber streng sein. Und das hier bist wohl du?” David lächelt ein wenig und versucht, sich aufzurichten. Da schüttelt ein krampfartiger Husten den schmalen Körper.

„Komm mir nicht zu nahe, sonst stecke ich dich noch an...”

„Was ist denn geschehen?” Sissy nimmt einen Sessel und zieht ihn näher an Davids Liegestatt heran.

„Vor einigen Tagen hat es geregnet, und ich habe mich aus dem Haus geschlichen, obwohl es die Mutter verboten hat. Dann habe ich am Ufer Johannes getroffen und mit ihm Nachlaufen gespielt. Aber dabei bin ich auf dem nassen Gras ausgerutscht und ins Wasser geplumpst. Tja, es hat keine Stunde gedauert, da habe ich Fieber bekommen, und seitdem warte ich darauf, dass du mich besuchen kommst.”

„Du musst schnell gesund werden, David. Mutter hat erlaubt, dass du zum Reiten kommen darfst, und das Wetter ist ja auch so wunderschön.”

Die Tür öffnet sich einen Spalt. „Sissy!” mahnt Davids Mutter. „Es ist Zeit!”

Sofort erhebt sich Sissy. „Auf Wiedersehen, und erhole dich rasch.”

„Nur Geduld, Sissy, ich bin bald wieder auf den Beinen.”

„Stell dir vor”, schluchzt Irene, als die Mädchen alleine sind, „ich habe den Doktor gestern belauscht. Er hat den Eltern gesagt, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Was kann er bloß gemeint haben? Sie sahen alle so ernst aus.”

„Wahrscheinlich heißt das, dass er besser auf sich aufpassen muss. Er wird doch immer so schnell krank, das weißt du doch. Aber wir drei werden wohl nicht um die Welt segeln können, wenn sich David schon nach einem kurzen Plumps ins Wasser verkühlt”, versucht Sissy die Freundin von ihrem Kummer abzulenken, obwohl ihr Böses schwant. Vor wenigen Monaten ist ein Freund ihres Vaters, ein robuster Kerl, der noch nie krank war, an einer Lungenentzündung gestorben. Wie soll David dieses Leiden überstehen, wenn ihn schon der leiseste Windhauch umwirft?

Betrübt macht sie sich auf den Heimweg. Langsam wandert sie am Ufer entlang und versucht, sich selbst zu beruhigen. „Er wird es auch diesmal schaffen. Aber wenn er zu uns zum Reiten kommt, werde ich darauf achten, dass er sich nicht überanstrengt.”

In dieser Stimmung stößt sie auf ihren Vater, der zum Angeln geht. „Nanu, Sonnenscheinchen, so still heute? Welche Laus ist denn dir über die Leber gelaufen? Komm mit mir auf den See!”

Schweigend hilft Sissy dem Papa, das Boot klarzumachen. Nachdem Max weit genug draußen ist, zieht er die Ruder ein, wirft die Angeln aus und widmet sich dann seinem Töchterchen.

„Erzähl einmal!” fordert er Sissy auf.

Erst stockend, dann immer flüssiger berichtet Sissy von Davids Krankheit und von ihren Befürchtungen. Dann gesteht sie dem Vater auch noch, wie gern sie ihren Kameraden hat.

„Tja, eine Lungenentzündung ist keine Angelegenheit, die man auf die leichte Schulter nehmen soll. Da kann man nur abwarten, ob sich der Patient wieder fängt. Aber dass du David lieb hast, viel lieber als deine Brüder, ist ganz natürlich. Wenn Mädchen und Jungen alt genug sind, dann beginnen sie, sich füreinander zu interessieren, und diese Zuneigung empfindet man eben ganz anders als Geschwisterliebe.”

„Aber ich glaube, die Mama kann den David nicht so recht leiden”, wendet Sissy ein, die Vaters letzte Worte nicht so genau verstanden hat.

„Ich weiß, ich weiß!” seufzt Herzog Max. „Sie will eben, dass du einmal jemanden heiratest, der dir ein standesgemäßes Leben bieten kann. Du weißt doch, dass sie es nicht gerne sieht, wenn ich mich mit meinen Freunden treffe. Die können leider keine hochherrschaftliche Abstammung vorweisen. Mir sind diese Menschen aber tausendmal lieber als die eingebildeten Kaiser und Könige, mit denen man kein vernünftiges Wort sprechen kann. Meine Freunde verstehen Spaß und sind herzensgute Männer. Das zählt für mich viel mehr als ihre Stellung bei Hof.”

Da kann Sissy nur beipflichten. „Stimmt genau, Papa, wenn ich da an die Arenbergs denke...”

Sie schüttelt sich beim Gedanken an die hochnäsigen Kinder, die nichts von Pferden verstehen und nur die Nase rümpfen, wenn Sissy von ihren Kaninchen erzählt. „Aber”, wendet sie ein, „ich will ja noch gar nicht heiraten. Ich möchte bei meinen Pferden bleiben. Und wenn ich alt genug bin”, fügt sie mutig hinzu, „dann kannst du mich und David einmal auf eine Reise mitnehmen.”

Herzog Max schüttelt sich vor Lachen bei dem Gedanken an das Gesicht, das Ludovika machen würde, wenn sie ihre Tochter hören könnte. Hoffentlich wird Sissy kein allzu schweres Schicksal haben, denkt er, ernster geworden. Sie hat viele von meinen Eigenschaften geerbt. - „Du darfst der Mama deine Pläne nicht verraten! Sie würde dich nicht verstehen und sich nur unnötige Sorgen machen. Dafür sollst du aber immer zu mir kommen, wenn du etwas auf dem Herzen hast.”

„In Ordnung, Papili.”

Und dann gehen beide daran, den Fischbestand im Starnberger See zu dezimieren.

Das Schicksal meint es in diesem Sommer aber nicht gut mit Sissy. Kurz nach ihrem Besuch bei David stirbt der zarte Bursche an der heimtückischen Krankheit. Sissy ist untröstlich. Tagelang schließt sie sich in ihrem Zimmer ein und vergießt bittere Tränen.

Nur der Vater darf sie besuchen. Stunden um Stunden sitzt er bei ihr und wiegt sie in seinen Armen. Aber auf die Frage, die seine Tochter immer wieder stellt, weiß auch er keine Antwort.

„Warum hat David sterben müssen, Papa? Er war doch noch so jung.”

Die Geschwister schleichen bedrückt durch das Schloss. Sogar Ludovika fragt sich, ob sie nicht zu streng mit Sissy umgegangen ist.

Stundenlang verbringt Sissy nun an ihrem Schreibtisch und vertraut dem Tagebuch ihren Kummer an. Als der erste Schmerz vorbei ist, dichtet sie einen Vers auf den dahingegangenen Freund:

„Du bist so jung gestorben

Und gingst so rein zur Ruh';

Ach, war' mit dir gestorben,

Im Himmel ich wie du.”

Das Tagebuch

Als die Familie im Herbst wieder nach München fährt, ist Sissy ganz verändert. Aus dem Sausewind, dem beständig der Schalk in den Augen blitzte, ist ein ernstes Mädel geworden...

Im Innenhof des herzoglichen Palais in der Münchner Ludwigstraße herrscht geschäftiges Treiben. Ein Dutzend Arbeiter hämmert und zimmert an einem kuppelähnlichen Bau. Zimmerleute sägen und hobeln, und inmitten des Trubels richtet sich Herzog Max gerade ächzend von seiner Arbeit auf. Obwohl es schon spät im Herbst ist, haben die Bäume noch kein Blatt verloren, und die Sonne brennt noch mit voller Kraft auf die Männer nieder. Max, der sich wie alle anderen die Hemdsärmel hochgekrempelt hat, wischt sich mit einem fleckigen Taschentuch über die Stirn.

„Schluss jetzt, Mittagspause!”

Lärmend steigen die Arbeiter von den Gerüsten, packen ihre mitgebrachten Brote aus und setzen sich im Kreis auf eine Holzbank rings um Max. Für den Herzog zu arbeiten ist ein wahres Vergnügen. Ganz im Gegensatz zu anderen Bauherren verbringt er die meiste Zeit bei ihnen, scheut sich auch nicht, kräftig zuzupacken und dehnt die Pausen über das übliche Maß aus.

Mit seinem neuesten Projekt hat Max wieder einmal für Gesprächsstoff in München gesorgt: Im Hof des Palais wird ein Zirkus eingerichtet. Obwohl man allerortens diese Idee verächtlich belächelt, ist man dennoch auf die Eröffnung der Privatmanege gespannt. Niemand will sich die Gelegenheit entgehen lassen, dem Spektakel beizuwohnen.

Die wunderlichen Einfälle des Herzogs haben den Münchnern schon manch köstlichen Abend beschert. Nach einem Besuch in Paris hat Max im Erdgeschoß des herzoglichen Sitzes eine Art Varieté nach französischem Vorbild eingerichtet. Dort treten Künstler aus dem Ausland auf und geben Volksweisen aus ihrer Heimat zum Besten. Max ist ein großzügiger Gastgeber. Die Tische biegen sich unter der Last erlesener Leckerbissen, der Wein fließt in Strömen, und selten verlässt ein Gast vor Mittemacht das Fest. Wenn die Damen nicht mehr anwesend sind, kommt es oft genug vor, dass der Herzog selbst zu seinem Lieblingsinstrument, der Zither, greift und recht freche Liedchen vorträgt. Da ist er dann ganz in seinem Element. Bis in die frühen Morgenstunden wird gespielt, gelacht und getanzt.

Ludovika lässt sich bei solchen Festivitäten nie blicken. Sie hält es unter ihrer Würde, dieses Varieté zu betreten. Im Stock darüber befindet sich ein riesiger Tanzsaal, in dem an die hundert Paare Platz finden. Auch dort werden Feste gefeiert, über die ganz München noch Tage später spricht. Ludovika hat ihren Gatten schon oft gebeten, auf den guten Ruf ihres Hauses zu achten. Bei den Gesellschaften soll es allzu turbulent zugehen. Sogar Schwester Sophie in Wien hat von dem Treiben schon Nachricht bekommen und sich unmissverständlich dazu geäußert. Wenn Sophie wüsste, dass ihr Schwager sein Mittagmahl mit Bauarbeitern teilt...

Sissy steht lächelnd an einem Fenster und beobachtet ihren Vater, der gerade dröhnend lacht und sich vor Vergnügen auf die Schenkel klopft. Da hat er sie auch schon erblickt.

„Komm doch herunter, Sissy, und sieh dir an, was wir heute alles geleistet haben!” ruft er zu ihr hinauf.

Das lässt sie sich nicht zweimal sagen. In Windeseile fliegt Sissy die Treppe hinunter und läuft auf den Papa zu. Max nimmt sie bei der Hand und macht mit ihr einen Rundgang. Er ist sehr erleichtert, dass Sissy den Tod ihres Jugendfreundes David offenbar endlich überwunden hat. Nun lacht sie wieder so fröhlich wie eh und je und heckt Streiche aus, die Ludovika zur Verzweiflung bringen. Nur manchmal huscht ein Schatten über ihr Gesichtchen. Dann wirkt sie still und verträumt. Max hat seine gewohnte Herbstreise nicht nur verschoben, um die Bauarbeiten zu überwachen, sondern auch, um auf seine geliebte Tochter achtzugeben.

„Schau, hier in der Mitte ist die Arena. Dort werden die Logen aufgebaut. Die Arbeit ist im Sommer so zügig vorangegangen, dass wir schon in zehn Tagen fertig sind. Ich habe schon eine fahrende Zirkustruppe engagiert. Sie haben zwar nur alte Klepper, aber die Reiterkunststückchen kann ich allein vorführen.”

„Darf ich bei der ersten Vorstellung dabei sein?” bettelt Sissy.

„Ich weiß nicht, ob es deine Mutter erlauben wird. Das Schauspiel fängt spätabends an. Aber wir können vielleicht einmal eine Vorführung am Nachmittag geben. Du dürftest dann deine Freunde einladen, was meinst du?”

„Das wäre eine feine Sache, Papi. Zeigst du mir nun die Pferde, die gestern angekommen sind?”

„Natürlich, wir können zu den Stallungen gehen. Ich will nur Graf Schattenstein bitten, uns zu begleiten. Warte hier auf mich.”

Bei der Erwähnung des Namens Schattenstein errötete Sissy heftig. Glücklicherweise hat der Vater nichts bemerkt. Graf Richard Schattenstein steht seit wenigen Wochen in herzoglichen Diensten. Er stammt aus einer völlig verarmten Familie und muss sich seinen Lebensunterhalt als Sekretär verdienen. Dieser Umstand hat Richards Lebenslust aber keineswegs beeinträchtigt. Der Zwanzigjährige, eine große, sportliche Erscheinung, hat ständig gute Laune, versteht sich bestens mit der strengen Ludovika und kann sogar die finstere Baronin Wulften zum Lächeln bringen.

Und Sissy, die voller Trauer nach München gekommen ist, hat sich von seinem heiteren Wesen beeinflussen lassen. Schneller, als jeder erwartet hat, ist der Schmerz von ihr gewichen. Noch weiß niemand in der Familie, wie sehr sich Sissy von Richard angezogen fühlt. Wenn sie in ihre Träumereien versinkt, dann sieht sie seine schlanke Gestalt vor sich. Richards große dunkle Augen haben es ihr besonders angetan. Wieder hat sie ihrem Tagebuch ein Gedicht anvertraut:

„Oh, ihr dunkelbraunen Augen,

Lang hab ich euch angesehen,

Und nun will mir euer Bildnis

Nicht mehr aus dem Herzen gehen.”

Diesmal hat Sissy aber nicht vor, sich ihrer Mutter mitzuteilen. Wenn sie es schon nicht gerne gesehen hat, dass David Paumgartten zu Sissys besten Freunden zählte, wie soll sie da erst auf eine Freundschaft mit Richard Schattenstein reagieren? Ludovika findet zwar, dass der Vertraute ihres Gemahls einen vernünftigen Eindruck macht, aber sie behandelt ihn eben doch wie einen Dienstboten.

Sissy hütet ihr Tagebuch noch sorgsamer als früher und versteckt es in der untersten Lade ihres Kleiderschranks.

„Sissy, was ist denn, du träumst schon wieder mit offenen Augen!” Die Stimme ihres Vaters lässt das Mädchen zusammenzucken.

„Guten Morgen, gnädiges Fräulein!” Artig verbeugt sich Graf Schattenstein vor Sissy.

Ihre Stimme versagt. „Guten Morgen”, bringt sie stotternd heraus und würde sich am liebsten hinter dem Papa verstecken. Max wundert sich über Sissy. Was ist denn in seine Tochter gefahren? So schüchtern kennt er sie gar nicht. Auch er ahnt nicht, dass sie für den jungen Mann an seiner Seite schwärmt.

Die drei wandern langsam zu den Stallungen. Während Max die Qualität der Pferde preist, lugt Sissy vorsichtig zu Richard hinüber. Wie gerade er sich hält, welch freundliches Lächeln seine Lippen umspielt! Am liebsten hätte Sissy ihre Hand auf Richards Arm gelegt und sich von ihm führen lassen.

Graf Schattenstein ahnt wohl, dass er Sissys junges Herz entflammt hat. Auch er ist von der Tochter seines Dienstherrn beeindruckt. Er bewundert das dichte Haar, die schneidige Haltung, wenn sie auf ihrem Reitpferd sitzt. Von einer möglichen Verbindung wagt er natürlich nicht zu träumen. Er hat schon gehört, dass Ludovika ihre Töchter an den Wiener Hof verheiraten will. Also begnügt er sich damit, Sissy freundlich zuzulächeln und verbietet sich alle weiteren Gedanken. Wenn herauskommt, dass er versucht, der Herzogstochter schöne Augen zu machen, ist es ja auch mit seiner Stellung vorbei.

Man ist bei den Stallungen angelangt. Da stehen zwei edle Rösser, die unruhig mit den Hufen scharren. Die Stallburschen sind gerade dabei, die Pferde zu striegeln und haben Mühe, die ungeduldigen Tiere zum Stillhalten zu überreden.

Schon hat sich der Herzog Sattel und Zaumzeug geholt und besteigt eines der Pferde. „Richard, kommen Sie!” fordert er seinen Sekretär auf. „Es ist eine Freude, auf dem Tier zu sitzen!” Voller Übermut beschließt Richard, ebenfalls ein ausgemachter Pferdenarr, auf den Sattel zu verzichten, hält sich an der Mähne des zweiten Tieres fest und schwingt sich aufs Pferd. Sissy ist hingerissen. Begeistert sieht sie den beiden Männern zu, die nun mit den Pferden auf und ab traben. Wie gerne würde sie mit Richard einmal einen Ausritt unternehmen! Das wird aber die Mutter nie und nimmer erlauben.

Gerade jetzt achtet sie unerbittlich darauf, dass sich ihre Tochter nicht zu oft im Stall herumtreibt...

„O weh!” Bestürzt blickt Sissy den Papa an. „Ich habe ganz vergessen, dass ich nach dem Mittagessen im Haus bleiben sollte. Was mache ich nun? Die Mama wird schrecklich schimpfen! Papa, hilf mir!”

„Tja, was machen wir da? Ich weiß es schon! Graf Richard begleitet dich zurück und sagt der Mama, dass ich dich aufgehalten habe. In Ordnung?”

Diese Lösung lässt Sissys Herz schneller schlagen, aber nun, da sie mit Richard alleine sein könnte, hat sie doch etwas Angst vor der ungewohnten Situation. „Kannst du nicht mit mir kommen?”

„Nein, Sissy, ich möchte jetzt mit den Pferden einige Dressurakte üben. Und nun läuft mir schon die Zeit davon, das siehst du doch ein?”

„Ist gut”, murmelt Sissy. Sie wartet, bis Graf Schattenstein vom Pferd heruntergestiegen ist, und eilt dann mit Riesenschritten auf das Palais zu, ohne sich umzusehen, ob Richard ihr folgen kann.

Tatsächlich, am Tor steht die Mutter, und ihre Miene verheißt nichts Gutes. „Wo warst du so lange?” begrüßt sie Sissy, die kein Wort herausbringt, sosehr ist sie außer Atem. „Habe ich dir nicht verboten, auszugehen?”

Da taucht auch schon Graf Schattenstein unter den Bäumen auf. „Der Herzog bittet vielmals um Entschuldigung. Aber in der Freude über die neuen Pferde hat er vollkommen auf Ihre Anordnungen vergessen. Gehen Sie mit dem Kind nicht zu hart ins Gericht”, versucht er die aufgebrachte Herzogin zu besänftigen.

„Wie ich meine Kinder erziehe, ist ausschließlich meine Sache”, erwidert Ludovika brüsk und lässt den verwirrten Fürsprecher ohne ein weiteres Wort stehen.

Die Mama ist aber heute eigenartig. So böse ist sie ja sonst auch nicht, wenn ich mich ein wenig verspäte. Habe ich etwas angestellt? überlegt Sissy, während sie gehorsam ihrer Mutter in den Salon folgt.

Ludovika hat sich vorgenommen, ihrer Tochter den breiten bayrischen Dialekt auszutreiben, koste es, was es wolle. So übt sie nun höchstpersönlich jeden Nachmittag eine Stunde mit Sissy. Das Ergebnis ist allerdings mager. Sissy mag sich noch sosehr bemühen, beim Reden gerät sie unversehens in ihre gewohnte Sprechweise. Doch die Mutter lässt nicht locker. Schließlich will sie ihrer Schwester Sophie eine bestens erzogene Schwiegertochter übergeben.

Doch das ist nicht der Grund ihrer schlechten Laune. Ludovika hat Sissy nach dem Mittagmahl gesucht und ist dabei auch in das Zimmer ihrer Tochter gekommen. Dort hat wie immer die übliche Unordnung geherrscht, und Ludovika hat sich darangemacht, einige Kleider in den Schrank zu hängen. Dabei entdeckte sie etwas, das ihr den Atem verschlug. In einer Rockschürze hat sich das Bild des Grafen Schattenstein befunden. Ludovika war wie vom Donner gerührt.

Wo kann Sissy dieses Bild bekommen haben? überlegt sie jetzt noch, als sie ihrer Tochter ein Buch zum Vorlesen in die Hand drückt. Was hat sie mit diesem Grafen zu schaffen? Tausend Fragen schießen ihr durch den Kopf. Vor Sissy will sie aber kein Wort von dem Bild verlauten lassen. Diese Sache muss anders geregelt werden.

Auch Sissy ist mit ihren Gedanken weit weg, während sie mechanisch vorliest. Sie erforscht ihr Gewissen nach Schandtaten. Aber sosehr sie sich das Hirn zermartert, sie kann sich an keinen Ungehorsam erinnern.

Auf einmal wird Sissy ganz heiß. „Das Tagebuch? Vielleicht hat Mama das Tagebuch gesehen und darin geblättert. Aber das geht ja nicht, ich habe es doch vor wenigen Tagen in ein Kästchen, zusammen mit Richards Bild, eingesperrt und mir den Schlüssel an einer Kette um den Hals gehängt. Mama kann es einfach nicht gefunden haben, das ist unmöglich.”

Sissy liest weiter. Auf einmal poltert das Buch zu Boden, Ludovika springt erschrocken auf.

„Sissy, was ist denn, du bist ganz bleich!”

„Nichts, Mama, nichts, ich glaube, ich weiß nicht...” Sissy weiß nicht, was sie sagen soll, um das plötzliche Zittern ihrer Hände zu erklären. „Mama, mir ist nicht gut. Darf ich auf mein Zimmer gehen?”

„Ja, ja, natürlich, geh nur. Aber was hast du denn?”

„Ich weiß es nicht, mir ist auf einmal schwindlig geworden. Ich werde mich ein wenig hinlegen.”

Mit bebenden Knien steigt Sissy die Treppe hinauf, schließt die Zimmertür hinter sich und lauscht eine Minute, ob ihr die Mutter folgt. Aber alles bleibt still. Fieberhaft durchwühlt Sissy den Kleiderschrank. Beim Lesen ist es ihr auf einmal eingefallen: Gestern Nacht hat sie Richards Bild aus seinem Versteckt geholt und beim Mondenschein lange betrachtet. Später, viel zu müde, das Bild wieder wegzuschließen, hat sie es in eine Schürzentasche gesteckt und nicht weiter daran gedacht.

Da hängt auch die Schürze im Schrank, aber die Taschen sind leer. „Ich weiß ganz genau, dass ich es in die linke Tasche gesteckt habe. Und die Schürze ist auf dem Stuhl hier gelegen. Du lieber Gott, deswegen war Mama also so böse! Sie hat es sicher entdeckt, während ich mit Papa spazieren gegangen bin. Was wird jetzt wohl geschehen?”

Nun wird Sissy wirklich schwindlig. Ermattet lässt sie sich aufs Bett sinken und beginnt leise zu weinen. „Ich habe gar kein Glück im Leben”, schluchzt sie in sich hinein. „Alles läuft schief. Ach, wäre ich doch auch tot wie David!”

Ludovika lässt unterdessen ihren Gemahl zu sich bitten. Max merkt sofort, dass wieder einmal eine lange Aussprache droht, und wappnet sich mit Geduld.

„Nun, was gibt es schon wieder? Vergiss nicht, dass du dich bereits im Sommer mit dem Zirkus einverstanden erklärt hast.”

„Aber darum geht es mir gar nicht”, unterbricht in Ludovika ungeduldig. „Schau dir das an!” Und sie reicht ihm Richards Bild.

„Ach, du hast es! Ich habe das Bild schon vermisst. Es ist mir vorige Woche beim Reiten aus dem Rock gefallen, und dann konnten Sissy und ich es nicht mehr finden. Aber wie kommst du denn zu dem Bildnis? Gefällt dir der junge Mann so gut?” scherzt Max, der noch nicht begreift, worum es geht.

Richard