Sissy Band 6 - Im Schloss der Träume - Marieluise von Ingenheim - E-Book

Sissy Band 6 - Im Schloss der Träume E-Book

Marieluise von Ingenheim

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Beschreibung

Aufgewühlt und voller Zweifel an der offiziellen Version versucht Sissy die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes Rudolf herauszufinden. Doch wo auch immer sie ihre Nachforschungen anstellt, eine Mauer des Schweigens umgibt sie. Um den vielen Gerüchten zu entfliehen, um wieder innere Ruhe zu finden, beschließt sie ihre Reise nach Griechenland anzutreten.

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MARIELUISE VON INGENHEIM

Sissy

Im Schloss der Träume

Autorin: Marieluise von Ingenheim

Illustration Überzug: M. Pleesz

Copyright der E-Book-Ausgabe von hiStory Publications:© Copyright 2016 by Verlagsbuchhandlung Julius Breitschopf GmbH,A-3420 Klosterneuburg bei WienAlle Rechte vorbehalten.Das Werk ist weltweit urheberrechtlich geschützt.All rights reserved throughout the world.

ISBN: 978-3-7004-4436-7EAN: 9783700444367

Inhalt

Prolog

01 - Das Geheimnis von Mayerling

02 - Der Hexenkessel

03 - Hoftrauer

04 - Das Staatsgeheimnis

05 - Die geheime Kassette

06 - Im Wienerwald

07 - Johann Orth

08 - Die Beweiskette

09 - Das Leben muß weitergehen

10 - Ein seltsamer Frühling

11 - Die Macht des Bösen

12 - Sissy und das Geheimnis

13 - Der grüne Jäger

14 - Auf der Flucht

15 - In Südtirol

16 - Die Tränen des Herrn Thermojannis

17 - Bei den Trümmern von Karthago

18 - Weihnachten in Miramar

19 - Die Geburt des Achilleion

20 - Träume auf Korfu

21 - Eine Reise in die Vergangenheit

22 - Stürme

23 - Fanny Elßler

24 - Der Freiherr

25 - Die Nacht im Heu

26 - Nausikaa

27 - Die unsichtbare Kette

Prolog

Aufgewühlt und voller Zweifel an der offiziellen Version versucht Sissy die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes Rudolf herauszufinden. Doch wo auch immer sie ihre Nachforschungen anstellt, eine Mauer des Schweigens umgibt sie. Um den vielen Gerüchten zu entfliehen, um wieder innere Ruhe zu finden, beschließt sie ihre Reise nach Griechenland anzutreten.

Das Geheimnis von Mayerling

Die Stadt war voller Gerüchte. Die Zeitungen erschienen schwarz umrandet und brachten Extraausgaben; ausländische Blätter wurden massenweise konfisziert. Doch einige hundert Exemplare entgingen fast immer dem Zugriff der Polizei. Sie wurden heimlich weitergereicht. Ihre Berichte wurden heißhungrig verschlungen, und deren Inhalt verbreitete sich durch Tratsch wie ein Lauffeuer. In Wirtshäusern, Cafés oder sogar von einzelnen Fiakern konnte man solche Blätter auch für gutes Geld leihen. „Unter der Pudel” - das heißt aus ihrem Versteck hinterm Schanktisch - wurden sie hervorgeholt, und man las sie im Hinterstübchen oder im geschlossenen Fiaker bei halb zugezogenen Vorhängen, zahlte und gab sie dann wieder zurück.

Was da drin stand, war zwar nicht alles wahr, doch auf jeden Fall war es sensationell. Der geheimnisvolle Tod des Kronprinzen Rudolf erregte naturgemäß die Gemüter. War er nun einem Jagdunfall oder einem Herzschlag zum Opfer gefallen? So hatte es zumindest in den ersten Zeitungsmeldungen geheißen. Doch diese „Extraausgaben” bezogen ihre Informationen vom k. u. k. Hof-Pressebüro. Konnte man ihnen trauen?

Bald hörte und las man vieles anders. War es ein Giftmord? Loschek, der Kammerdiener des Kronprinzen, der die Leiche zuerst entdeckt hatte, gab an, dass wahrscheinlich Zyankali in einem auf dem Nachttisch des Todeszimmers stehenden Glas gewesen sei. Was war nun wirklich geschehen im Jagdschloss Mayerling? Hatte sich der Kronprinz erschossen, oder war er mit einer Sektflasche erschlagen worden? Diese Vermutung äußerten Leute, die den Leichnam mit einem umwickelten Kopf gesehen hatten; War es eine Liebestragödie oder ein politischer Mord, verübt durch ein ausländisches Killerkommando? Was wusste, was verschwieg der Hof?! - Denn allmählich sickerte durch, dass außer dem toten Kronprinzen in Mayerling noch eine zweite Leiche gefunden worden war. Es handle sich um die junge Baronesse Vetsera, hieß es, kaum siebzehn oder achtzehn Jahre alt, aus dem dritten Wiener Gemeindebezirk. Bei Nacht und Nebel hätte man das arme Mädel heimlich aus dem Jagdschloss geschafft und in nicht minder verdächtiger Eile auf dem Friedhof von Heiligenkreuz begraben. Die Mutter sei halb wahnsinnig darüber geworden, hätte Redeverbot und habe Wien verlassen müssen.

Was hatte es mit dieser geheimnisvollen zweiten Toten auf sich? Wie war sie nach Mayerling gekommen, und wie war die Baronesse gestorben? War sie etwa Zeugin eines grauenhaften Mordes am Sohn des Kaisers gewesen, und musste sie deshalb sterben?

Das Rätsel lastete wie ein Alp auf der im düsteren Schneetreiben eines eiskalten Februars in schwarzem Fahnenschmuck trauernden Stadt. Die Theater- und Vergnügungslokale hielten geschlossen, Bälle waren abgesagt. In den Schaufenstern an den eleganten Boulevards erblickte man hinter spiegelblanken Scheiben umflorte Bilder des toten, jungen Kronprinzen. Es war ein Foto, das ihn bei seiner Aufbahrung in der Hofburg zeigte. Der Schädel war tatsächlich einbandagiert, die Augen waren geschlossen, und die Lippen leicht verkniffen.

In anderen Geschäften wieder sah man den Kronprinzen auf Fotos, die ihn noch lebend zeigten; ein hoffnungsvoller, junger Mann, auf dessen Schultern einst die Geschicke der Monarchie ruhen sollten. Und wieder andere Fotos zeigten ihn gemeinsam mit seiner Gemahlin Stephanie, einer Tochter des belgischen Königs Leopold. Diese hatte man übrigens seit der Nachricht von der Katastrophe nirgendwo mehr zu Gesicht bekommen.

Und auch die Kaiserin nicht, wohl aber den Kaiser, den tief unglücklichen Vater. Er arbeitete weiter, ja, wie manche Leute aus Schönbrunn und der Hofburg zu erzählen wussten, nun geradezu mit Verbissenheit; so, als suche er sich durch seine emsige Tätigkeit für das Reich und seine Völker selbst zu betäuben. Als suche er in seiner Arbeit Stütze und Trost für den unfasslichen Verlust seines einziges Sohnes, dem er die Geschicke der Monarchie einst anzuvertrauen gehofft hatte.

Tatsächlich war die Haltung des Kaisers - wie ausländische Diplomaten über ihre Botschaften berichteten - bewundernswert. Franz Joseph sagte keine einzige Audienz ab, keinen Vortrag seiner Minister, keine Sitzung, keine Konferenz. Er erschien pünktlich in der Reichskanzlei und nahm sich abends noch einen Berg unerledigter Akten mit »nach Hause”, in sein Zimmer, wo er noch bis in die Nachtstunden weiterarbeitete. Er sagte, er habe drei Stützen in dieser schweren Zeit, die seine Hilfe wären: „Meinen Herrgott - der hilft mir im Gebet; meine Arbeit, die lenkt mich ab - und meine Frau.”

Er hatte noch eine vierte Stütze, die er nicht erwähnte und die ihm Sissy verschafft hatte, die ihn oft genug während ihrer weiten Reisen allein ließ: die Schauspielerin Katharina Schratt. Und Kathi half mit ihrer Fürsorge auch Sissy über diese schreckliche Zeit hinweg.

Tatsächlich hatte Sissy nach Rudolfs Tod in einer Nachtinneren Grauens die düsteren, unterirdischen Gewölbe der Kapuzinergruft aufgesucht. Sie hatte die Hofburg durch einen Seitenausgang zu nächtlicher Stunde verlassen; niemand wusste davon, nur der Wachtposten, dem sie zu schweigen befahl. Vor der Augustinerkirche hatte sie einen Fiaker angehalten, doch da sie niemals selbst bezahlte, sondern dies ihrer begleitenden Hofdame, der Gräfin Festetics, Frau von Majlrath oder Ida von Ferenczy überließ, hatte sie vergessen, Geld mitzunehmen. Der Fiaker nahm also „die Fuhre nicht an”, sondern ließ seine Kaiserin im Schneetreiben stehen.

Zu Fuß trippelte Sissy durch die nächtlichen Straßen, mühsam und frierend, bis zum Neuen Markt, wo sie den Pater Guardian vor die Pforte läutete. Der Pater traute seinen Augen und Ohren kaum, wie sie da vor ihm stand und, ihrer Worte kaum mächtig, verlangte: „Ich will zu meinem Sohn . . . lassen Sie mich zu ihm, Pater!”

„Majestät”, erwiderte der Pater entsetzt, „jetzt? Es ist Mitternacht, die Gruft ist unbeleuchtet; Majestät, doch nicht zu dieser Stunde!”

Doch da war es, als raffe Sissy all ihre noch verbliebene Energie zusammen. Ihre schlanke Gestalt straffte sich zu hoheitsvoller Würde, und unter dem dichten schwarzen Schleier, der ihr immer noch so schönes, mädchenhaftes Gesicht völlig verdeckte, erklang der Befehl: „Machen Sie Licht, und treten Sie zur Seite. Ich will da unten allein sein. Verstehen Sie? Lassen Sie mich mit meinem Sohn allein.

Dem Kapuziner lief bei diesen Worten ein kalter Schauer über den Rücken. Doch er hatte den Befehl seiner Kaiserin gehört und musste gehorchen. Was hatte sie vor? Sie kam gewiss nicht nur, um zu beten . . .

Nur Kerzen oder Fackeln konnten die steile Wendeltreppe und die Gruft erhellen. Der in einem schwachen Luftzug schwelende Fackelbrand leuchtete der Kaiserin und dem Pater Guardian über abgetretene Stufen in die Tiefe. Sissy sprach kein Wort. Sie wartete, bis der Pater am Sarg die Kerzen entzündet hatte, die noch von der Beisetzung hier standen - auf Kandelabern aufgesteckt, die in mattem Golde schimmernd aus dem Düster des Gewölbes hervortraten. Es roch nach Staub, Wachs, verbrannten Dochten und vor allem nach welken Blumen. Man hatte auch den Prunk der Kränze und Bukette noch nicht entfernt, die sich rund um den Sarg des Kronprinzen auftürmten.

Sissy blickte den Pater Guardian herausfordernd an; dieser nickte verstehend und entfernte sich mit einer Verbeugung und heimlichem Achselzucken. Er nahm seine Fackel nieder mit und ließ Sissy allein. Sie hörte seinen schlurfenden Schritt, mit dem er unter leisem Ächzen die steile Treppe nach oben wieder erklomm.

Doch Sissy täuschte sich, wenn sie glaubte, er wäre tatsächlich verschwunden. Auf halber Höhe blieb er stehen und lauschte. Und er hatte sich nicht geirrt. Schauernd hörte er die Stimme der Kaiserin, die in dem weiten Gruftgewölbe widerhallte, in dem seit sechshundert Jahren die Särge der toten Habsburger bestattet wurden.

„Rudolf - Rudi. . . sprich! Was ist geschehen! Zeig dich mir!!!”

Eiseskälte durchfuhr den Pater. Was sie da tat, war Frevel in  seinen Augen - sie suchte, den Toten zu beschwören. Doch eines begriff er, während er, von Grauen gejagt, nach oben flüchtete:  Auch sie wusste nichts… Auch für sie war die Todesnacht von Mayerling ein Rätsel, das sie offenbar auf diese Weise zu lösen hoffte.

Es war fast ein Uhr morgens, als Sissy an die Pförtnerstube klopfte und den Pater bat, sie wieder auf die Straße hinauszulassen. Der Pater hatte die ganze Zeit über versucht, in seinem Brevier zu lesen, doch er war nicht imstande gewesen, sich zu konzentrieren.

„Ich möchte wieder gehen”, hörte er sie sagen. Ihre Stimme klang müde, enttäuscht, wie zerbrochen.

Der Pater hingegen fühlte sich erleichtert. Was auch immer da unten in der Gruft vor sich gegangen sein mochte - nun war es vorbei, und sie stand vor ihm, bereit, das Haus zu verlassen. Er hatte gefürchtet, dass etwas geschehen könnte, wie etwa ein Selbstmord der Mutter, die am Sarg ihres Sohnes vom Schmerz übermannt wurde. Sogar der Kaiser war am Sarg weinend zusammengebrochen. Dies war das einzige Mal gewesen, dass er die Beherrschung verloren hatte.

„Sofort Majestät, sofort - soll ich einen Wagen rufen? Majestät können unmöglich zu dieser Stunde und zu Fuß - “, meinte der Pater, und das Gefühl der Erleichterung war in seiner Stimme nicht zu überhören.

„Ich bin ja auch so hierhergekommen”, wehrte Sissy lakonisch ab und hörte gleich darauf, wie sich der Schlüssel des Eingangs zur Kaisergruft knirschend hinter ihr im Schlosse drehte.

Wie betäubt atmete sie die kalte Schneeluft ein. Sie war vergebens hierhergekommen . . .

Ihre Jugendfreundin Irene von Paumgartten war ein begabtes Medium. Dass sie sensitiv veranlagt war, hatte Sissy nicht ahnen können, als sie noch am Ufer des Starnberger Sees in Possenhofen gemeinsam hemmgetollt hatten. Irene war ein Nachbarskind gewesen. Nun lebte sie unverheiratet in München, doch noch immer stand sie mit Sissy in Briefverkehr, und wenn Sissy in Bayern war und sie es beide einrichten konnten, dann trafen sie sich.

Und manchmal setzte sich Irene mit einem Bleistift an der Hand an den Tisch und fiel in Trance.

Eine fremde, unsichtbare Hand bemächtigte sich der ihren, und es entstanden Schriftzüge auf dem Papier, die sich von Irenes Handschrift deutlich unterschieden. Es waren, so behauptete sie, Botschaften aus dem Jenseits, aus einer anderen Welt. . .

Sissy zumindest glaubte fest daran. Und sie war sehr verärgert, dass Franz Joseph, ihr Franzl, die Abhaltung spiritistischer Séancen am Wiener Hof glattweg verbot.

„Das ist abergläubischer Unsinn”, sagte er. „Alles Humbug, mit dem sich ein vernünftiger Christenmensch nicht abgibt. Lass das sein, Sissy, du ruinierst nur deine Nerven damit!”

Alles nur Humbug? Oh, es gab mehr als jene schriftlichen Botschaften. Hatte sie nicht eines Nachts Heinrich Heine an ihrem Bett sitzen gesehen? Und war nicht wenige Wochen vor Rudolf geheimnisvollem Tod die „Weiße Dame” - das Hausgespenst der Habsburger - in der Hofburg von mehreren Leuten gesehen worden?

Dies alles ging Sissy durch den Kopf, als sie hastig heimwärts in die Hofburg strebte, wo sie und Franzl in diesen Wochen auch über Nacht blieben. Ja, sie hatte geglaubt, dass es  ihr möglich sein würde, Rudolf sprechen zu hören – und sei es auch nur in Form einer Antwort, die aus ihrem eigenen Inneren kam.

„Gib Antwort, Rudi - was ist passiert?!” hörte sie sich wieder und wieder rufen.

Der Hexenkessel

Der Tod ihres Sohnes, der einst das Reich regieren sollte, hatte Sissy und Franzl wie ein Keulenschlag getroffen. Sissy schloss sich in ihren Gemächern ein und wollte niemanden sehen und sprechen. Sie quälte sich tagelang mit Selbstvorwürfen.

Ja, sie hatte sich viel zu wenig um Rudolf gekümmert. Sie waren einander entfremdet. Doch das war nicht ihr Verschulden. Schon im Babyalter hatte man ihr den Knaben einfach weggenommen. Er war nicht ihr Kind - er galt als Eigentum der Monarchie. Rudolf war der Kronprinz und somit kein Knabe wie jeder andere, der seine Mutter und ihre Liebe braucht. Und sie hätte ihn ja geliebt - oh, wie sehr, wenn man es ihr nur ermöglicht hätte!

Und sie dachte zurück an Laxenburg, an damals. Und als sie über jene schmerzvollen Stunden seiner Geburt grübelte, erinnerte sie sich, dass sich das Unheil schon damals angekündigt hatte. Niemand hatte darauf geachtet - man hatte es für einen dummen, unliebsamen Zufall gehalten. Doch Sissy glaubte längst nicht mehr an Zufälle. Es war kein Zufall, sagte sie sich jetzt, nun ist es gewiss. Rudolfs Schicksal hat sich schon damals offenbart, doch niemand wusste das Zeichen zu deuten.

Nun, vielleicht hätte es ihr und ihrem Verhältnis zu Rudolf gutgetan, wenn sie ein bisschen mehr Sinn für die Wirklichkeit aufgebracht hätte. Doch war das keine Realität gewesen, dass der große Lüster im Schönbrunner Zeremoniensaal unter lautem Krachen auf dem Parkettboden zersplittert war, während draußen in Laxenburg der kleine Kronprinz erwartet wurde? Wer hatte den Riesenlüster von der Decke gestürzt? Die „Weiße Dame”?!

Die Geburt war wirklich schwer. Um zehn Uhr abends wand sich Sissy in unsäglichen Schmerzen, während Schwiegermama Sophie und die Obersthofmeisterin Esterházy auf den Knien liegend beteten und sich die Hebamme um Sissy kümmerte. Fünfzehn Minuten später, in der Nacht des 21. August des Jahres 1858, stieß der kleine Kronprinz seinen ersten, heiseren Schrei aus.

Doch das Glück einer jungen Mutter, die ihr Kind stillen und an ihr Herz drücken, die es Wärme und Liebe fühlen lassen kann, wurde Sissy verwehrt. Der kleine Knabe, der so selten die dunklen Augen seiner Mutter auf sich gerichtet fühlte, kannte bald seine Aja - seine Kindsdame - besser als die Frau, die ihn geboren hatte! Da half kein Aufbegehren gegen die Schwiegermama, Tante Sophie, die auch die Schwester von Sissys eigener Mutter war und sie doch als Tante voll und ganz verstehen hätte müssen . . .

Oh, welche Bitternis fühlte sie, wenn sie an jene Wochen, Monate, Jahre der Entfremdung dachte.  Nur ihr jüngstes Kind, ihre Tochter Marie-Valerie, das „Nesthäkchen”, hatte sie sich nicht nehmen lassen. Um dieses Kind hatte sie gekämpft wie eine Löwin, und sie hatte gesiegt. Marie-Valerie stand ihrem Herzen nahe und auch Gisela, die ältere Tochter, doch Rudolf wurde ihr unverständlich und fremd.

Und war nun tot. Ebenso unbegreiflich gestorben, wie er in ihren Augen gelebt hatte. Sie fühlte aus den Blicken ihrer Schwiegertochter Stephanie deren Vorwürfe. Und auch Rudolfs Schwiegereltern, der König und die Königin der Belgier, die zur Beisetzung des Toten nach Wien gekommen waren, meinten, Rudolfs Tod wäre zu verhindern gewesen, wenn...

Wenn was?! Ja, das fragte sich Sissy in selbstquälerischer Weise unentwegt. Unterdessen glich die Hofburg einem brodelnden Hexenkessel. Das Pressebüro wurde von in- und ausländischen Journalisten förmlich belagert. Trotz ihrer Trauer sah Sissy die Ironie dieser Situation: Rudi, der heimliche Finanzier der „Neuen Freien Presse” und Journalist unter Pseudonymen, der so sehr um gute Pressekontakte bemüht war und in der Presse das künftige Sprachrohr des Kaiserhauses sah, hatte nun eine Publicity, die er sich wohl kaum gewünscht hätte. Rund um das hermetisch abgeriegelte Jagdschloss Mayerling, in dem noch immer eine Hofkommission die Vorgänge um den Tod des Kronprinzen zu klären suchte, machten die Journalisten Jagd auf alle und jeden, von dem sie vermuteten, dass er mehr gehört und gesehen habe, als den offiziellen Verlautbarungen zu entnehmen war.

Der einzige, der in diesen schrecklichen Tagen bewundernswerte Haltung bewahrte, war wirklich der Franzl, musste sich Sissy eingestehen. Zum Tod seines Sohnes nahm er nur ein einziges Mal offiziell Stellung, und inoffiziell ließ er sich keine Silbe entlocken. Nicht einmal von ihr.

Irrte sie sich, oder ging er ihr wirklich aus dem Weg? Ihr und sogar Frau Schratt, die in geradezu rührender Weise bemüht war, die unglücklichen Eltern durch kleine Aufmerksamkeiten zu trösten und ihnen beizustehen? Die Audienzwerber, die in der Reichskanzlei darauf warteten, zum Kaiser vorgelassen zu werden, hatten es offenbar leichter, in sein Zimmer zu kommen und mit ihm zu reden als sie.

Denn trat sie bei Franzl ein und schaute in seine stahlblauen Augen, in das wie zu Stein erstarrte Gesicht, wenn er von seinen Akten wortlos und fragend aufblickte, dann fühlte sie ihre Kehle wie zugeschnürt.

»Sissy, sei mir nicht bös - du siehst, ich habe zu arbeiten”, pflegte er zu murmeln.

Und bei Kathi Schratt ließ er sich sogar durch seinen Kammerdiener Ketterl entschuldigen.

Ja, er ging seiner Arbeit nach, mit gefurchter Stirn und trotziger Miene, wie es Sissy schien. Was ging in diesen Tagen hinter seiner hohen Stirn vor? Was wusste er, was erfuhr er und was verschwieg er ihr über den Tod von Rudolf und den der armen, kleinen Baronesse? Welche Rolle hatte diese überhaupt in dem Drama gespielt? - Denn dass sie Rudolf vergiftet hatte, wie man im ersten Moment, dem Bericht des Kammerdieners Loschek zufolge, geglaubt hatte, das stand ja nun nicht mehr zur Debatte.

Wenn sie zu den Mahlzeiten zusammenkamen - Sissy, Franzl und die beiden Töchter Gisela und Marie-Valerie -, blieb jetzt Rudolfs Stuhl an der Familientafel leer. Und auch die Schwiegertochter Stephanie kam erst nach einigen Tagen, nachdem sie der Kaiser ausdrücklich dazu auffordern ließ, wieder an den gemeinsamen Tisch.

Stephanie blieb bei den Mahlzeiten schweigsam. Sie gab nur einsilbige Antworten, wenn man das Wort an sie richtete, und ließ erkennen, dass es ihr lieber wäre, ganz in Ruhe gelassen zu werden. Am allerliebsten wäre sie wohl wieder zu ihren Eltern nach Belgien heimgekehrt.

Auch ihr gegenüber fühlte sich Sissy schuldig. Sie hatte am Zustandekommen dieser Ehe mitgewirkt, die so wenig glücklich verlaufen war.

»Der einzige Lichtblick in all den Jahren”, gestand ihr Stephanie erst vor wenigen Tagen, „ist für mich die Nähe von Louise.”

Tatsächlich war Stephanies ältere Schwester Louise gleichfalls in Wien verheiratet, und zwar mit dem Prinzen Philipp von Sachsen Coburg-Gotha. Rudis Schwager gehörte mit zu den Entdeckern der grausigen Tragödie.

Rudi hatte ihn und den Grafen Hoyos für den 30. Jänner 1889 zur Jagd nach Mayerling eingeladen. An jenem Unglücksmorgen hatten Philipp, von Rudi stets scherzhaft „der Dicke” genannt, und der Graf vergeblich auf den Aufbruch zur Jagd gewartet. Es war mittlerweile schon neun Uhr morgens, als endlich der Kammerdiener Loschek ganz aufgeregt erschien und verlauten ließ, er versuche nun schon die längste Zeit vergeblich, seinen Herrn zu wecken. Alles Trommeln gegen die Schlafzimmertür nütze nichts - da drin bliebe es still. . .

„Da stimmt was nicht!” hatte „der Dicke” gemeint, und voll Besorgnis waren daraufhin er und Graf Hoyos dem Diener hinüber ins Jagdschloss gefolgt.

Vor Rudolfs Schlafzimmer angelangt, versuchten die drei Männer nochmals vergeblich, sich bemerkbar zu machen.

„Können Sie was durchs Schlüsselloch sehen?” fragte Philipp den Diener.

Der drückte sein rechtes, dann sein linkes Auge gegen die kleine Öffnung und meinte dann bedauernd: „Es ist alles dunkel; die Vorhänge und die Fensterladen sind zu. Ich kann nichts erkennen, doch es kommt mir so vor, als ob seine Hoheit am Bettrand sitzt.”

„Sitzt?” rief Graf Hoyos. „Das ist doch ganz unmöglich - dann müsste er uns doch hören!”

„Aber er bewegt sich nicht”, ergänzte der Diener, wieder durch das Schlüsselloch spähend.

„Brechen Sie die Tür auf”, verlangte Prinz Philipp.

Loschek nickte, entfernte sich hastig und kehrte bald darauf mit einer Hacke zurück, mit der er die eichene Türfüllung einzuschlagen begann.

Die solide Tür gab lange nicht nach. Loschek und Hoyos versuchten auch, sich dagegenzustemmen, vergeblich. Endlich splitterte das Holz, und Loschek stieg durch die entstandene Öffnung in das dunkle Zimmer, in dem man nur die Konturen der Möbel und der gewölbten Decke halbwegs wahrnehmen konnte. Loschek tastete sich zu einem Fenster und stieß die Läden auf. Im Morgenlicht bot sich ihnen ein schreckliches Bild.

Im blutdurchtränkten Bett lagen der Kronprinz und die mit Blumen überstreute, leblose Baronesse.

Sissy sah das grauenvolle Bild vor sich und schloss wie immer die Augen, wenn sie daran dachte. Sie musste auch an ihre kleine Enkelin denken, an Rudis Tochter Elisabeth; sie war erst vier Jahre alt und schon Halbwaise. Stephanie hatte sie an das Bett in der Hofburg geführt, in welches man den toten Vater gelegt hatte, und mit dem Finger ein Kreuzeszeichen auf die kleine Stirn gemacht; das Kind begriff noch nichts. Auch Stephanie selbst sah zum ersten Mal in ihrem Leben einen Toten, ihren Mann, an dessen Seite sie acht Jahre ihres Lebens, wie sie sagte, vergeudet hatte . . .

Sissy blickte durch das Fenster ihres Zimmers hinab ins Freie und sah den Platz voller Menschen. Noch immer kamen und drängten sich Neugierige. Die Nachricht von Rudolfs Tod war während eines Militärkonzerts in die Hofburg gelangt, zu dem sich trotz der eisigen Kälte die schau- und vergnügungslustigen Wiener drängten. Man hatte eben Gin Potpourri aus der Oper „Die Hugenotten” von Meyerbeer gespielt, als der Dirigent plötzlich abklopfte und die Musik zu spielen aufhörte. Unter dem Kopfschütteln der Zuhörer, die nicht begreifen konnten, weshalb dies geschah, hatten die Musiker ihre Instrumente eingepackt. Man hatte nur bemerkt, dass eine Ordonnanz aus der Reichskanzlei gekommen war und dem Dirigenten etwas zugeflüstert hatte . . .

Nun wussten die Wiener, und nicht nur sie, weshalb die Musik abgebrochen worden war; ja, weshalb überall die Musik in der Musikstadt Wien verstummte.

Graf Hoyos hatte die Nachricht vom Tod des Kronprinzen nach Wien gebracht. Zu seinem Erstaunen traf er in Mayerling den Fiaker Bratfisch und forderte ihn auf, so schnell wie möglich mit ihm nach Baden zu fahren. Bratfisch weigerte sich vorerst; er sei „für eine Fuhre” bestellt, von Seiner Hoheit, dem Kronprinzen persönlich. Doch Hoyos sagte nur kurz: „Der Kronprinz ist tot - fahren Sie los, nach Baden, zum Bahnhof!”

Im Bahnhof befahl der Graf dem Stationsvorstand, den sonst durchfahrenden Schnellzug Triest-Wien anzuhalten, so dass Hoyos zusteigen konnte.

„Wer soll es Seiner Majestät beibringen?” fragte Hoyos den Grafen Paar, als er in der Hofburg angekommen war und von der Katastrophe berichtet hatte.

„Am besten wohl die Kaiserin”, entschied Paar.

Und dann kam einer der schlimmsten Augenblicke ihres Lebens. Ahnungslos war Sissy beim Griechischunterricht gesessen, als Hoyos und Paar erschienen und sie baten, Thermojannis, den Griechischlehrer, fortzuschicken.

„Fassen Sie sich, Majestät”, leitete Graf Paar das Kommende ein, „Graf Hoyos bringt aus Mayerling schlimme Nachricht. . .”

Sie war noch starr vor Schmerz, als Franzl eintrat -ahnungslos und in bester Laune; denn Frau Schratt hatte sich zu einem Plausch mit ihm und Sissy angesagt.

Guter Gott, hilf mir, dass ich es ihm sagen kann... so hatte sie um Kraft gefleht und dann gesprochen.

„Franzl, nimm dich zusammen. Rudi - ist tot. . .”

„Ein Jagdunfall?” rief Franzl erschrocken.

„Ohm nein, der Kammerdiener glaubt, dass ihn eine fremde Frauensperson vergiftet hat.”

Jetzt erst sahen sie, dass Marie-Valerie und Frau Schratt im Türrahmen standen. Sie hatten alles gehört.

„Mein Gott - Mama, Papa!” rief Marie-Valerie und lief erschrocken zu ihren Eltern.

Sissy aber starrte nur in Franzls eben noch so fröhliches Gesicht; er schien in wenigen Augenblicken um Jahre zu altern. Als drücke plötzlich eine schwere Last auf seine Schultern, beugte er sich unter dem Keulenschlag des Schicksals.

Wortlos eilte Frau Schratt herbei und schob ihm einen Stuhl hin.

„Setzen Sie sich doch, Majestät.”

Immer wieder ließ Sissy jene Bilder vor ihren Augen Revue passieren. Zu immer neuen Mustern fügte sie das Mosaik. Und immer neue Einzelheiten traten plastisch vor ihr inneres Auge, ohne dass sie deswegen Klarheit erlangte.

Was war wirklich geschehen in Mayerling?!

Hartnäckige Fragen machten manches noch verworrener: So erklärte Franzl, der Schlüssel im Todeszimmer sei innen gesteckt. Loschek habe infolgedessen gar nichts durchs Schlüsselloch sehen können. Er habe die Tür neben dem Schloss eingeschlagen, nach innen gegriffen und den Schlüssel umgedreht; er sei nie durch die eingeschlagene Tür gestiegen, sondern habe einfach die Klinke niedergedrückt und aufgemacht.

Auch hätte Coburg nicht in Mayerling übernachtet. Er sei eben erst angekommen, als Hoyos vom Schlosswart Zwerger und nicht, wie ursprünglich berichtet wurde, von Loschek ins Schloss geholt worden.

Und Rudolf sei auch nicht durch Gift gestorben. Das kleine Mädchen habe niemanden umgebracht. Rudi und Mary Vetsera seien erschossen worden . . .

Es gab immer neue Versionen; die Gänge der Hofburg schwirrten davon, und die absurdesten Gerüchte tauchten auf.

Ob an manchen etwas Wahres war? Oder an den Berichten der Reporter in den konfiszierten ausländischen Zeitungen?

Der Baronin Vetsera, der Mutter des Mädchens, gelang es, zu allem Unglück auch noch an jenem Schreckensmorgen bei Sissy vorgelassen zu werden. Sie war schon beim Polizeipräsidenten gewesen, ja sogar bei Graf Taaffe, dem Ministerpräsidenten. Sie suchte ihre Tochter, die seit Tagen spurlos verschwunden war. Doch überall hatte man sie bloß abgewimmelt, als sie von ihrem Verdacht erzählte, dass Mary und der Kronprinz . . .

Und das ging nun schon fast über Sissys Kraft, ihr sagen zu müssen, dass Mary nicht mehr lebte.

Zwei Mütter, die beide in einer Nacht ihre Kinder verloren hatten, so standen sie sich gegenüber, von der gleichen Frage gequält:

Wieso?!

Hoftrauer

Baronin Helene Vetsera, Marys Mutter, war Witwe. Ihr Mann - im Kreise des österreichischen Adels als „neureich” eingestuft - hatte seinerzeit ein Palais im dritten Wiener Gemeindebezirk in der Salesianergasse Nr. 8 gemietet, das dank der Aktivitäten der Brüder der Baronin - sie war eine geborene Baltazzi - nun immer mehr Leute „vom Stand” in seinen Räumen sah, darunter auch die Nichte Sissys, die Gräfin Larisch-Wallersee. Einer von Sissys Brüdern hatte trotz des Protestes von Mama Ludowika - aber mit Zustimmung des weit weniger strengen Papas - eine Münchner Schauspielerin geheiratet; aus dieser „Missehe” stammte diese Nichte.

Sie wurde eine Freundin der Baronin und ihrer beiden Töchter. Besonders Mary trat zu ihr in ein enges Vertrauensverhältnis. Die Mädchen waren wie alle „Höheren Töchter” unter strenger Aufsicht. Spazierengehen durften sie nur in Begleitung einer eigens dafür engagierten „Promeneuse”. Nur wenn Marie Larisch Mary gelegentlich zu einer großen Ausfahrt oder einem Einkaufsbummel mitnahm, genoss diese heimliche Freiheiten. Oder auf dem Rennplatz, wo die hübsche junge Mary bald die Blicke der jungen Herren auf sich zog und den Spitznamen „Turfengel” bekam, weil sie bei fast keinem Rennen fehlte.

Doch das war kein Wunder. Denn ihr Onkel ließ bei diesen Rennen meist seine besten Pferde laufen, die auch manchen Preis gewannen. Und da musste Mary natürlich mit dabei sein. Beim Rennen aber zeigte sich gelegentlich auch der Kronprinz. Ihre Blicke trafen sich und ließen bald gegenseitiges Interesse erkennen. Die Gräfin Larisch, nicht nur Marys Vertraute, sondern auch Rudolfs Cousine, glaubte, beiden gefällig zu sein, als sie Mary und Rudolf miteinander bekannt machte.

Sie konnte nicht ahnen, wie diese Bekanntschaft enden und in welch schiefes Licht sie selbst nach dem unbegreiflichen Tod des Kronprinzen und Mary Vetseras geraten würde.

Mary hatte die Gräfin Larisch auch am 27. Jänner zu einem Einkaufsbummel in die Innenstadt begleitet. Doch schon bald kam die Gräfin ganz aufgeregt ins Palais Vetsera zurück und eröffnete der erschrockenen Baronin, dass sie Mary unterwegs, auf dem Kohlmarkt, nahe dem Graben, „verloren” habe. Während sie, die Gräfin, sich in einem Juweliergeschäft aufgehalten hätte, wäre Mary aus dem Fiaker ausgestiegen und im Gewühl der Passanten verschwunden.

Dass Mary für den Kronprinzen schwärme, war der Baronin nicht verborgen geblieben. Und als man Marys Sachen durchsuchte, fand man ein Foto mit einer Widmung von ihm. Außerdem zeigte zwei Tage zuvor der Kronprinz beim Ball der deutschen Botschaft ein allzu auffallendes Interesse für Mary; und zuletzt gestand die Larisch auch noch, Mary beim Kauf eines Geschenks für Rudolf - eines Zigarettenetuis - behilflich gewesen zu sein.

„Sie ist bei ihm!” rief die Baronin. „Gräfin, Mary ist so gut wie verlobt; wo ist sie? In der Hofburg? In Schönbrunn oder einem seiner Schlösser?”

Die Gräfin beteuerte, keine Ahnung zu haben. Marys Mutter, in höchster Sorge um den Ruf ihrer Tochter, verlor die Fassung noch mehr, als die Gräfin einen Zettel hervorkramte, den sie im Fiaker gefunden haben wollte:

Sucht nicht nach mir.

Ich gehe in die Donau.

Mary

Doch die Larisch meinte, das sei wohl absurd; ein so lebenslustiges junges Ding trage sich doch nicht ernstlich mit Selbstmordgedanken!

Die Baronin aber ließ sich nicht davon abhalten, ins Polizeipräsidium zu fahren. - Zwei Tage qualvollen Wartens vergingen, ohne dass Mary heimkehrte. Alles, alles hätte ihr die Mutter verziehen, wenn sie nur wiedergekommen wäre! Doch es kam weder sie selbst noch irgendeine Nachricht von Mary.

In ihrer Sorge und Not drang die Baronin selbst bis zum Ministerpräsidenten vor. Doch überall bekam sie nur zu hören, dass man kein Recht besäße, in den Privatgebäuden der kaiserlichen Familie Nachforschungen anzustellen und dort nach Mary zu suchen.

Erst an jenem schrecklichen 30. Jänner fand ihr Suchen ein Ende, als es ihr gelungen war, zu Sissy vorzudringen . . .

Noch glaubte man an die Version des Kammerdieners Loschek und nahm allen Ernstes an, dass Mary sich und den Kronprinz aus unglücklicher Liebe vergiftet habe.

Franzl schwieg düster und überließ es Sissy, der Baronin zu antworten.

„Sie verlangen Unmögliches von mir”, sagte sie. „Wir beide, Sie und ich, haben in der vergangenen Nacht unsere Kinder verloren - Sie die Tochter und ich den Sohn, Baronin. Sie sind tot. Doch nun gilt es, jeden Skandal zu vermeiden. Niemand darf erfahren, dass Ihre Tochter bei Rudolf in Mayerling war - Sie müssen schweigen!”

Die Baronin wurde bleich, begann am ganzen Leib zu zittern und fragte fassungslos: „Wie - Mary ist tot?”

Jetzt endlich ergriff Franzl das Wort.

„Sie hören es ja. Und möglicherweise ist sie sogar schuldig an Rudolfs Tod, verstehen Sie?”

„Nein, nein, das kann nicht sein!” stammelte die Baronin entsetzt, währen die letzte Farbe aus ihren Wangen wich.

„Es muss dabei bleiben: Rudolf ist an einem Herzschlag gestorben”, erklärte Sissy beschwörend.

„Und jetzt gehen Sie, lassen Sie uns allein”, verlangte Franzl hart. „Sie werden weitere Weisungen erhalten.” Wie betäubt wankte Baronin Vetsera zur Tür. In diesem Augenblick tat die Frau Sissy leid; doch der Schmerz der Mutter überwog in ihr, und sie konnte Franzls schroffe Art verstehen.

Und die „Maßnahmen”?

In der darauffolgenden Nacht ließ man Marys Verwandte, Aristide Baltazzi und den Grafen Stockau - ein Onkel väterlicherseits - in das Jagdschloss ein. Sie fanden Marys Leiche versteckt in einer Wäschekammer. Sie wuschen und bekleideten sie mit den Sachen, in denen sie nach Mayerling gekommen war, um mit dem Kronprinzen ein paar Stunden des Glücks zu verleben. Dann setzten sie das tote Mädchen aufrecht zwischen sich in die Kutsche, mit der sie gekommen waren.

Heimlich schaffte man sie aus dem Haus und wollte sie ebenso heimlich in Heiligenkreuz begraben. Doch die Kunde von der zweiten Leiche in Mayerling hatte sich schon herumgesprochen, und es gab Neugierige auf dem Friedhof, mit denen man nicht gerechnet hatte . . .

Diese Details aber erfuhr Sissy erst später, nach und nach, von Franzl. Er wich allen ihren Fragen aus. Er redete sich auf die Untersuchungskommission aus, deren Bericht man erst abwarten müsse.

Als Marie-Valerie, „das Nesthäkchen”, an diesem Morgen nach Mama fragte, hörte sie von der Hofdame Sarolta von Majlrath, Ihre Majestät befände sich im Garderobenzimmer. Tatsächlich stand Sissy vor ihrem Kleiderschrank und musterte deprimiert seinen Inhalt.

„Ach, du bist es, Kind”, sagte sie, kaum aufblickend. „Siehst du, dies alles werde ich nun nicht mehr tragen dürfen.”

„Aber Mama, in drei Monaten ist die Hoftrauer ja vorbei.”

„Für mich nicht, Kind. Ich denke, dass es sich für mich von nun an schickt, schwarz gekleidet zu gehen.”

„Das ist doch nicht dein Ernst, Mama!”

„Doch, das ist es. Im Übrigen ahne ich, weshalb du kommst. Es geht um deine Heirat, nicht wahr?”

Denn Marie-Valerie war seit dem vergangenen Weihnachtsfest offiziell mit dem jungen Erzherzog Franz von Toskana verlobt.

Verlegen senkte sie den Kopf. Spontan wandte sich Sissy jetzt zu ihrer Tochter um und drückte sie an sich.

„Du weißt nicht, wie sehr ich dich jetzt nötig habe, da Rudi tot ist”, presste sie hervor. „Ja, es ist richtig, wir waren einander fast fremd, doch nun, da er tot ist, fehlt er mir entsetzlich! Ich glaube stets, er kommt durch irgendeine Türe herein . . .”

Marie-Valerie löste sich von Sissy.

„Was sagt denn nun Papa?” forschte sie, bei ihrem Thema bleibend.

„Wegen der Heirat? - Ich glaube, er hat jetzt ganz andere Dinge im Kopf, Kind. Doch wahrscheinlich ist während des Trauerjahres eine Hochzeit ganz unmöglich.”

Dem Mädchen traten fast die Tränen in die Augen; Sissy sah es, und es tat ihr weh.

„So gern möchtest du mich verlassen?” fragte sie traurig.

„Dich verlassen? Aber nicht doch, Mama. Wir werden einander doch sehen, sooft wir nur wollen! Du fährst doch auch nach Possi, zu Oma, wenn du magst!”

„Aber ich lebe nicht mehr auf Possenhofen, Kind. Das ist ein großer Unterschied. - Nein, ich kann dir keine Hoffnungen machen, dass ihr bald heiraten könnt. Ein Jahr werdet ihr euch schon noch gedulden müssen.”

Marie-Valerie war unglücklich darüber, doch sie sah ein, dass sie sich wohl fügen müsse.

„Wie geht es Stephanie?” fragte Sissy.

„Sie kümmert sich um die kleine Elisabeth.”

„Ich werde auch nach dem Kind sehen”, sagte Sissy mit einem plötzlichen Entschluss.

Marie-Valerie ging nicht mit ihr, wie sie gehofft hatte. Sissy fand Stephanie im Kinderzimmer des Kronprinzenappartements. Die kleine Elisabeth, Sissys Enkelkind, schlief. Stephanie deckte sie eben sorgsam zu. Gemeinsam verließen die beiden Frauen den Raum, in dem nur das Kindermädchen blieb.

„Sie ist verkühlt”, erklärte Stephanie. „Sie hat eben heiße Milch bekommen, und nun schläft sie. Sie fragt immer wieder nach ihrem Papa. Sie scheint nicht verstehen zu können, dass sie ihn nie mehr wiedersehen wird.”

In ihrem Arbeitszimmer angekommen, zog Stephanie einen Briefumschlag aus ihrem kleinen Schreibtisch und legte ihn vor Sissy hin.

„Das ist von ihm”, sagte sie bitter. „Alles, was er für mich hinterlassen hat. Nun, ich werde seinen letzten Wunsch erfüllen.”

Sissy öffnete den Brief und las:

Liebe Stephanie!

Du bist von meiner Gegenwart und Plage befreit. Werde glücklich auf Deine Art. Sei gut zu der armen Kleinen, die das einzige ist, was von mir übrigbleibt. Ich gehe ruhig in den Tod, der allein meinen guten Namen retten kann. Dich herzlich umarmend,

Dein Dich liebender Rudolf