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Schöner und begehrenswerter denn je kommt Sissy von ihrem Aufenthalt aus England zurück. Franz Joseph gelingt es trotz seiner Liebe zu Sissy nicht, die Ketten des mehrere Jahrhundert alten Hofzeremoniells zu sprengen, das die Zuneigung, die sie füreinander empfinden, bedroht. Von der Wiener Bevölkerung jedoch fliegen der "Rose vom Bayerland" wieder alle Herzen zu.
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Seitenzahl: 292
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MARIELUISE VON INGENHEIM
Sissy
Ein Herz und eine Krone
Autorin: Marieluise von Ingenheim
Illustration Überzug: M. Pleesz
Copyright der E-Book-Ausgabe von hiStory Publications:© Copyright 2016 by Verlagsbuchhandlung Julius Breitschopf GmbH,A-3420 Klosterneuburg bei WienAlle Rechte vorbehalten.Das Werk ist weltweit urheberrechtlich geschützt.All rights reserved throughout the world.
ISBN: 978-3-7004-4433-6EAN: 9783700444336
Prolog
01 - Ferien
02 - Die Königin
03 - Londoner Überraschungen
04 - Lady Dudleys Geschenk
05 - Stürmische Überfahrt
06 - Besuch bei Kaiser Wilhelm
07 - Ein merkwürdiger Bräutigam
08 - Vetter Ludwig ist seltsam
09 - Wiedersehen mit Franzl
10 - Weihnachtsfest in Gödöllö
11 - Der junge Kronprinz
12 - Hofballklänge
13 - Romanze um Marie
14 - Ein gefährlicher Staatsbesuch
15 - Avolo
16 - Der Zirkusstar
17 - Ein böser Sturz
18 - Ein Jahr ging dahin
19 - Hohe Politik
20 - Die Roseninsel
21 - Die Esel von Athen
22 - Auf hoher See
23 - Rose von Baierland
24 - Eine Braut für Rudi
25 - Die Silberhochzeit
26 - Sissy wird Schwiegermama
27 - Der Brand des Ringtheaters
Schöner und begehrenswerter denn je kommt Sissy von ihrem Aufenthalt aus England zurück. Franz Joseph gelingt es trotz seiner Liebe zu Sissy nicht, die Ketten des mehrere Jahrhunderte alten Hofzeremoniells zu sprengen, das die Zuneigung, die sie füreinander empfinden, bedroht. Von der Wiener Bevölkerung jedoch fliegen der „Rose vom Baierland" wieder alle Herzen zu.
Der Sommer des Jahres 1874 war heiß und drückend. Doch über der Isle of Wight wehte eine frische Brise. In den Gängen des Schlosses Osborne herrschte reges Leben. Boten kamen und gingen, Kutschen fuhren vor, und die Lakaien meldeten fortgesetzt Mitglieder des englischen Adels und der britischen Regierung an.
Königin Viktoria, die schon seit 37 Jahren die Geschicke des Landes lenkte, genoss auf diese Weise das, was sie „Urlaub” zu nennen pflegte. Doch hierin unterschied sie sich kaum von anderen Monarchen, die nahezu unausgesetzt ihren Regierungsgeschäften nachzukommen hatten.
Die englische Königin war eine sehr energische, wenn auch rundliche Dame, und ihr galliger Humor war gefürchtet. Seit einigen Tagen trieb sie dies auf die Spitze. Denn auf der Insel war ein hoher Gast eingetroffen, der ihr zusätzliche Pflichten, solche, wie sie die Höflichkeit unter regierenden Häuptern bot, auferlegte.
Der Gast auf der Insel Wight war niemand anders als Kaiserin Elisabeth von Österreich. Die Queen beneidete diese Frau, die es verstanden hatte, jeglicher höfischer Etikette zu spotten und sich tatsächlich einen Urlaub zu gönnen.
Der Flügeladjutant des Herzogs von Wales, der nun schon seit etlichen Jahren nahezu taub war, es sich aber nicht nehmen lassen wollte, die österreichische Kaiserin, die im Ruf großer Schönheit stand, persönlich zu sehen, wartete auf eine Antwort der Queen, die brummiger Miene an ihrem mit Akten vollgeräumten Schreibtisch saß.
„Sie ist vor drei Tagen eingetroffen, Bedford”, erklärte sie. „Sie muss sich erst mit ihrem Hofstaat einrichten. Sie sind gut untergebracht, und so viel ich hörte, möchte die Kaiserin ihre Ruhe haben.”
„Majestät”, schnarrte Bedford, der, lang und hager, wie er war, und mit hochgezogenen Augenbrauen vornehm tuend, einen seltsamen Gegensatz zu seiner Herrscherin bildete. „Majestät, die Kaiserin ist ihrer kleinen Tochter wegen hier. Das Kind ist sehr krank und sucht Erholung.”
„Ein Grund mehr, die Gesellschaft in Ruhe zu lassen. Doch ich werde nicht umhinkönnen, ihr wenigstens einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Darunter wird es kaum abgehen. Große Empfänge scheinen mir nicht angebracht. Elisabeth ist als Privatperson hier und nicht als offizieller Staatsbesuch.”
Bedford zog seine Augenbrauen noch ein Stückchen höher, so dass sie fast bis unter seinen Haaransatz reichten. Die Königin blickte auf und grinste spöttisch.
„Was ist Ihnen in die Krone gefahren, Bedford?” fragte sie ironisch. „Was passt Ihnen daran nicht? Nun, ich denke, Ihre Majestät wird unseren Kavalieren schon noch genügend Gelegenheit geben, sie zu bewundern. Ich hoffe nur, dass sie nicht allen meinen Herren die Köpfe verdreht.”
Bedford wusste hierauf nichts zu sagen. Die Queen schien seine geheimen Gedanken erraten zu haben. Die Anwesenheit der Kaiserin hatte sich in den Schlössern der Herrensitze bis nach Schottland hin als eine kleine Sensation entpuppt und in manchem der lebenslustigen und gastfreundlichen Lords, Counts und Sirs eine plötzliche Reiselust geweckt. Denn Sissy, die österreichische Kaiserin, galt als eine der schönsten und extravagantesten Frauen Europas, was man von der eigenen Queen nicht gerade behaupten konnte.
Zur gleichen Stunde, zu der Königin Viktoria beschloss, der von ihr heimlich Beneideten einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, näherte sich Ida Ferenczy, die aus Ungarn gebürtige Hofdame und Vertraute Sissys, einer kleinen Anhöhe nahe dem Inselstrand. Salzig duftend wehte ein kühler Wind von der See her, und die blühenden Magnolien verbreiteten einen betäubenden Duft. Von der grünen Anhöhe herab konnte man bis hinab auf den Strand sehen, vor dem sich die Brandung, in immerwährendem Gleichmaß gegen die Küste donnernd, den Blicken darbot. Sissy lag in einem Liegestuhl auf dem höchsten Punkt der Anhöhe. Doch sie sah das brausende Spiel der Wellen nicht. Sie schlief. Ida Ferenczy bemerkte, als sie sich ihr näherte, dass der Schlaf der Kaiserin unruhig war. Besorgt blieb sie stehen. Sie wagte nicht, näher zu treten und die Kaiserin zu wecken, obwohl es eine wichtige Nachricht war, derentwegen sie kam.
Wie immer, wenn sie die Kaiserin sah - und sie stand nun schon längere Zeit in ihrem Dienst und konnte sich rühmen, ihre Vertraute geworden zu sein -, empfand sie Bewunderung für diese Frau. Bewunderung nicht nur um ihres Aussehens willen. Die Kaiserin zählte nun bereits 37 Jahre. An dem Tag, an dem die Königin von England den Thron bestieg, war Sissy als Tochter des Herzogs Max in Bayern und dessen Gemahlin Ludovika im Sommerschloss Possenhofen am Starnberger See geboren worden. Sissy hatte im Kreise ihrer Geschwister - und angeregt durch ihren lebens- und reiselustigen Papa - eine sonnige, unbeschwerte Kindheit erlebt. Sie war aufgewachsen wie ein kleiner, zauberischer, froher Wildfang, der die Zügel der Etikette nicht kannte.
Ludovika, ihre Mutter, war eine Schwester von Erzherzogin Sophie von Österreich. Die Erzherzogin hatte vor Jahren einen großen und mutigen Schritt getan. In der Krise des revolutionären Jahres 1848, als der Wiener Hof aus Gründen seiner Sicherheit das rebellische Wien verließ und in Olmütz Zuflucht suchte, hatte der Kaiser abgedankt und Sophie ihren Gatten, den Bruder des Kaisers, dazu bewogen, auf seinen Thronanspruch zu verzichten. Damals hätte Sophie die Chance gehabt, die Krone der Kaiserin von Österreich zu tragen. Doch sie war klug genug, auf lange Sicht vorauszudenken. Sie, die schon immer eine weitschauende und kluge Politikerin war, brachte ihren Sohn Franz Joseph auf den Thron.
Natürlich verstand sie es, von Anfang an die Zügel in der Hand zu behalten. Der junge, im Bewusstsein seiner Verantwortung erzogene Kaiser gehorchte den Ratschlägen seiner Mama in einem Punkt jedoch nicht.
Damals in Ischl war es, als er Sissy kennenlernte und sich auf den ersten Blick in sie verliebte. Er war in das Städtchen zur Brautschau gekommen. Doch nicht Sissy war es, um die er werben sollte, vielmehr hatten die beiden Schwestern Sophie und Ludovika ihm Sissys ältere Schwester Helene zur Braut bestimmt. Doch neben Sissys Anblick verblasste deren anmutige Schwester völlig. Der junge Kaiser sah nur noch sie. Er war entzückt und verliebte sich bis über beide Ohren. Voll Staunen erkannte seine Mutter Sophie, dass ihr Sohn diesmal nicht willens war, ihr zu gehorchen. Wohl oder übel stimmte sie der Heirat zu, und als die strahlende Braut im Triumph in Wien einzog, gewann sie auch die Herzen der Wiener im Sturm.
Sissys Liebreiz konnte niemand widerstehen. Dir langes kastanienbraunes Haar, ihre schlanke, ebenmäßige Gestalt, ihr Frohsinn und ihr entwaffnendes Lächeln waren eine Besonderheit am Wiener Hof, der unter den Zwängen des spanischen Zeremoniells zu ersticken drohte.
Die Kaiserinmutter Sophie war auf die Einhaltung höfischer Sitten ebenso bedacht wie auf ihr archaisches Familienprinzip. In dieser Welt strenger Vorschriften fühlte sich freilich die junge Kaiserin von Anfang an nicht wohl. Sie war wie ein schimmernder exotischer Vogel, der sich plötzlich in einem goldenen Käfig gefangen sieht.
Nun zählte sie 37 Jahre, doch sie war immer noch jung und schön. Als Ida Ferenczy sie so vor sich liegen sah, dachte sie an all dies und daran, welches Schicksal ihr wohl noch beschieden sein mochte. Denn das Leben Elisabeths war ungewöhnlich.
Ida Ferenczy hatte recht. Sissy litt unter einem schweren Traum. Sie träumte sich zurück in jene Nacht des Jahres 1872, die sie in der Hofburg zu Wien am Sterbebett ihrer Schwiegermutter verbrachte. Sophie hatte sich während des launischen Aprilmonats eine tödliche Verkühlung zugezogen. Nach einer Vorstellung im überhitzten Saal des Burgtheaters war sie, ihrem Bedürfnis nach frischer Luft entsprechend, auf dem Balkon ihres Schlafzimmers an der Bellaria noch eine Weile sitzen geblieben. Doch dabei war sie eingeschlafen. Die kalte Nachtluft hatte sie nicht geweckt.
Knapp drei Wochen darauf gaben die Ärzte jede Hoffnung auf, ihre Lungenentzündung heilen zu können. In der Nacht zum 26. Mai erschien ein Lakai in Sissys Vorzimmer, um sie abzuholen. Die Erzherzogin verlangte noch einmal ihre Schwiegertochter, mit der sie lange Jahre im Streit gelebt hatte, zu sehen. Die Uhr schlug eben Mitternacht, als Sissy das Sterbezimmer betrat. Sophie lag atemringend mit weit offenen Augen auf ihrem Lager und blickte Sissy fiebrig entgegen.
„Mein Kind”, presste sie hervor, „ich habe dir vieles abzubitten. Wir waren in vielem nicht einer Meinung. Doch du sollst wissen, dass ich dich ebenso liebhatte wie meinen Sohn. Er liebt dich, und als seine Mutter habe ich stets danach getrachtet, aus dir eine Frau zu machen, die seinen Wünschen und den Anforderungen, die an dich als Kaiserin gestellt werden, gerecht wird. Ich weiß, dass du ein freier Vogel bist, ein Füllen, das man an keiner Krippe halten kann. Wärest du am Wiener Hof erzogen worden und nicht bei deinem Vater in Possenhofen, wo man dich alles gewähren ließ, wäre sicher manches anders gekommen. Doch du musst einsehen, dass man auf diese Art als Kaiserin nicht leben und repräsentieren kann”, schloss sie seufzend und erschöpft. „Oh, Mama”, stieß Sissy hervor und sank kniend an Sophies Lager nieder, während sie deren fieberheiße Hände ergriff. „Mama, verzeih mir bitte, ich weiß, ich habe dir viel Kummer gemacht!”
Sophie lächelte matt. „Was auch immer zwischen uns gestanden haben mag, wir wollen es vergessen. Es darf nicht mehr zwischen uns stehen, nicht in dieser Stunde, hörst du?”
In diesem Augenblick trat der Kaiser ein. Er sah die beiden Frauen, jene Menschen, die er am meisten liebte und die nächst der Arbeit, die ihm die Regentschaft auferlegte, der Inhalt seines Lebens waren.
„Mama - Sissy!” stieß er hervor und eilte näher. Sissy blickte auf. Er sah Tränen in ihren Augen schimmern.
Der Kaiser erkannte, dass in diesem Augenblick ein kleines Wunder geschehen war. Sissy und seine Mutter hatten sich versöhnt. Zugleich aber ahnte er, dass seine Mutter die Nacht nicht überleben würde...
Als ob Sissy den Blick Idas auf sich gerichtet fühlte, wachte sie jetzt auf. Sie sah die schlanke, braunhaarige Ungarin dicht vor sich stehen.
„Majestät haben schlecht geträumt?” fragte Ida besorgt.
„Es war ein schwerer Traum”, nickte Sissy, sich halb im Liegestuhl aufrichtend. „Immer wieder führen mich meine Träume in die Vergangenheit. Es ist fast, als ob es keine Zukunft gäbe.”
„Es gibt aber eine”, lächelte Ida Ferenczy ermunternd. „Und sogar eine sehr nahe! Es kam eben Nachricht von Schloss Osborne. Queen Viktoria kommt zu Besuch!”
Sissy sprang auf. Dir Traum war vergessen. Rasch fand sie in die Gegenwart zurück.
„Du lieber Himmel”, rief sie aus. „Muss das sein?”
„Es muss wohl, Majestät”, nickte Ida lächelnd. „Es ist wohl so Sitte.”
„Wir werden noch mehr solcher Höflichkeitsbesuche über uns ergehen lassen müssen”, seufzte Elisabeth und bückte aufs Meer hinaus. „Doch wenn man glaubt, dass ich sie erwidern werde, so hat man sich geirrt. Empfänge in großer Toilette gibt es in der Hofburg und in Schönbrunn genug. Ich bin nicht hierhergekommen, um hier das gleiche zu erleben!”
„Aber Seine Majestät hat ausdrücklich aufgetragen, die guten Beziehungen zwischen Österreich und England stets zu bedenken”, mahnte Ida.
Unwillig stampfte Elisabeth mit ihren zierlichen Schnürschuhen durch das Gras. Es war, wie wenn ein zum Ausritt gesatteltes Pferd sich nicht mehr bändigen lassen will.
„Ich weiß, ich weiß!” nickte sie. „Wir werden also gehorsam sein, die Queen empfangen und so tun, als ob dies der höchste aller Genüsse wäre.”
„Majestät, es geht vorüber”, meinte Ida Ferenczy. „Wollen Majestät nun nicht nach der Erzherzogin sehen?”
„Gewiss doch, Ferenczy. - Wie geht es meiner Tochter, was sagt der Arzt heute?”
Wenig später waren sie in dem Herrenhaus angelangt, das die Kaiserin mit ihrem kleinen Reisegefolge - zu dem neben Ida Ferenczy und Gräfin Marie Festetics auch die unvermeidliche Friseuse, Frau Feifal, gehörte - bewohnte.
Marie-Valerie war ein zartes, immer kränkliches Kind von sechs Jahren, das der Mutter seines Gesundheitszustandes wegen stets Sorge bereitete. Die Kleine, die ihre Mutter zärtlich liebte und Elisabeths Nesthäkchen war, war der eigentliche Grund für diesen Sommeraufenthalt auf der Isle of Wight.
Zärtlich umschlangen ihre schmalen Ärmchen Sissys Nacken, als diese sie zu ihr emporhob.
„Oh, Mama!” rief sie begeistert, „eben sind die Pferde eingetroffen!”
Denn Sissy, die eine leidenschaftliche Reiterin war, hatte ihre Lieblingsreitpferde nachkommen lassen. Sie wollte auf das Vergnügen ihrer Ausritte nicht verzichten.
„Oh, wie schön!” rief Sissy freudig aus. „Wollen wir gleich in die Stallungen gehen?”
Ida Ferenczy folgte wie ein Schatten. In den hallenden mächtigen Stallgewölben des Herrenhauses standen die Pferde bereits an ihren frischgefüllten Sandsteinboxen, und Reitknechte waren eben dabei, sie zu striegeln - die wunderschönen, prächtigen Lieblingspferde der Kaiserin!
Marie-Valerie sprang furchtlos zu ihnen und tätschelte den Hengsten und Stuten das glänzende Fell. Freudig schnaubend begrüßten die edlen Tiere ihre Herrin. Sissy strich über ihre Mähnen, ließ sich Brot und Zucker geben und fütterte die Tiere liebevoll.
„Wenn du einmal groß bist, wirst du erfahren, dass man mit manchen von ihnen besser reden kann als mit einem von uns”, meinte sie dabei zu Marie-Valerie gewandt. „Und vor allem kann man zu Pferden mehr Vertrauen haben als zu Menschen. Sie verstellen sich nämlich fast nie.”
„Aber, Majestät”, meinte Ida Ferenczy, die es gar nicht gerne hörte, wenn Elisabeth auf diese Weise vor sich hin philosophierte.
Elisabeth lächelte. „Nun, es muss schließlich auch Ausnahmen geben”, meinte sie begütigend, „dazu gehören auch Sie.”
Sissy hatte in ihrer Umgebung manche schlimme Enttäuschung erlebt. Die klatschsüchtigen Damen des Wiener Hofes, das Intrigenspiel Mächtiger und solcher, die es werden wollten, hatte sie aus nächster Nähe kennengelernt, durchschaut und ihr Verhalten danach eingerichtet. Und es hatte nicht zur Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Wiener Beziehungen beigetragen, die manchmal, sehr zum Missfallen des Kaisers, einem Tiefpunkt nahe waren. Dies war eine der Ursachen der häufigen Spannungen zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter gewesen.
Noch immer nicht vermochte sie sich daran zu gewöhnen, dass es Menschen gab, die charakterlich nur an der Oberfläche lebten und für die Äußerlichkeiten, wie Würden, Titel, Bälle und Tratsch, den Lebensinhalt bilden konnten. Sissy war anders veranlagt. Sie beurteilte niemand nach der Anzahl der Orden, die er trug, oder dem Schnitt kostbarer Roben und nach funkelndem Geschmeide. Sie fand oft Gefallen an ganz einfachen Leuten aus dem Volk, deren Herzlichkeit und Aufrichtigkeit sie viel mehr zu berühren schienen. Immer wieder schockierte sie damit die Wiener höfische Gesellschaft, die sich brüskiert fühlte, und immer mehr zog sich auch Sissy von diesen Kreisen zurück.
So war denn die schöne Sissy, die seufzend die Last ihrer Krone trug, in ihrem Herzen einsam. Doch die Liebe zu ihrem Gatten Franz Joseph half ihr über vieles hinweg. Die Liebe auch zu ihrer kleinen Tochter Marie-Valerie, während der junge Kronprinz Rudolf ihr innerlich entglitten war.
Die Anfänge der Erziehung Rudolfs fielen noch in die Zeit der Erzherzogin. Sophie und ihr Sohn Franz Joseph gedachten, aus Rudolf einen soldatischen künftigen Kaiser zu machen, doch Rudolf hatte viel mehr vom Wesen seiner Mutter geerbt, als dass dies solchen Plänen entsprochen hätte. Doch immerhin hatte Sophie erreicht, dass der Kronprinz dem Einfluss seiner Mutter entzogen wurde, und es war eine von Sissys schmerzlichen Erfahrungen, dass er sich ihr auch innerlich völlig entfremdete und schließlich seine eigenen Wege ging.
Der mit seinen Amtsgeschäften völlig überlastete Kaiser und die das Hofleben meidende Kaiserin hatten wenig Kontakt zu ihrem Sohn. Sie hatten ihn seinen Erziehern überlassen und glaubten ihn damit in guten Händen zu wissen. Sissy konnte nicht ahnen, dass dies in einer Katastrophe enden würde. Auch jetzt, im Stall des Herrenhauses, dachte Sissy nicht an ihn. Für kurze Augenblicke war sie wieder glücklich bei ihren Pferden und Marie-Valerie. Sie dachte auch nicht mehr daran, dass ihr der Besuch der Queen bevorstand, der sie bald in einige Aufregung versetzen sollte. Vom Türmchen des Herrenhauses klang der Mittagsglockenschlag. Sissy hoffte, dass es ein schöner, erholsamer Sommer werden würde.
„Sie kommt, sie kommt, Majestät!” Gräfin Festetics, die ebenso wie Ida Ferenczy in der Gesellschaft Sissys einen bevorzugten Platz einnahm, zog sich schnell vom Fenster zurück.
Das Getrappel der Pferde im Vorhof des Herrenhauses war unüberhörbar. Schnell warf Sissy noch einen Blick in den mannshohen Spiegel und prüfte sich. Sie konnte mit ihrem Anblick zufrieden sein. Auch Franzl wäre es, dachte sie, denn sie wusste, dass all dies, was sie jetzt zu tun und zu sagen hatte, den Wünschen ihres Gatten entsprechen musste. Unsichtbar stand der ferne Kaiser und Gatte an ihrer Seite und führte sie an der Hand.
Sissy stand schon auf der Freitreppe, als sich die Queen seufzend aus ihrer Kutsche zwängte. Sissy bekam große runde Augen, als sie die Leibesfülle der englischen Königin sah. Du lieber Himmel, dachte sie, wie kann man nur so dick sein! Ich glaube, das hielte ich gar nicht aus!
Unter Beachtung des sogenannten kleinen Zeremoniells begrüßten die beiden Damen einander. Die Queen betrachtete forschend ihren Gast.
„Ich hoffe, Majestät werden schöne Tage hier haben”, sagte sie huldvoll und reichte Sissy die Hand. Und gestand sich dabei ein, dass man ihr von Sissys Schönheit nicht zu viel versprochen hatte.
„Majestät sind zu gütig”, antwortete Sissy, „ich schätze mich glücklich, in Ihrem Land weilen zu dürfen.”
Die Queen wies auf ihr Gefolge, in dem sich auffallend viele Herren zu Pferde zeigten.
„Ich habe die besten Reiter Englands mitgebracht”, erklärte sie. „Die Herren wollen es sich nicht nehmen lassen, mit Eurer Majestät um die Wette zu reiten.”
„Ich bin entzückt!” rief Sissy begeistert. „Die Herausforderung nehme ich gerne an. Meine Pferde sind bereits eingetroffen. Ich weiß nicht, wie Majestät denken, aber für mich ist das höchste Glück dieser Erde nun einmal auf dem Rücken der Pferde.”
„Sie sprechen fast wie eine Engländerin”, lobte die Queen, „sowohl, was Ihr Englisch als auch Ihren Sinn für Pferde betrifft. Doch was mich angeht, so werden Sie mir wohl zugutehalten, dass ich mich lieber auf kein Pferd wage. Sie haben ein Herz für diese Tiere, sagt man, und Sie werden deshalb auch verstehen, warum.”
Sissy konnte ihr Lachen kaum verbeißen, zwang sich jedoch eine ernsthafte Miene ab.
„Majestät übertreiben”, wiegte sie den Kopf, konnte sich aber beim besten Willen die Queen bei keinem Parforceritt vorstellen. „Wenn ich Majestät zu einer kleinen Erfrischung bitten dürfte?”
An diesem Nachmittag fand es die Queen bei Sissy ausgesprochen gemütlich. Sie hatte auch vor, sie zu einem Gegenbesuch einzuladen. Doch die Sympathie war nicht auf beiden Seiten vorhanden. Sissy nahm sich vor, bei ihrem Entschluss zu bleiben und Englands Hofleben ebenso zu meiden wie das in Wien. Seite an Seite mit der Queen musste sie freilich den Adel der unmittelbaren Nachbarschaft empfangen und Hände von Menschen schütteln, die sie nicht kannte. Wie immer wurde ihr dies zur Qual, doch die Aussicht auf die bevorstehenden Reiterjagden war ihr ein Trost.
Als die Queen wieder nach Osborne aufbrach, waren zahlreiche Termine vereinbart. Nicht nur auf der Isle of Wight, sondern auch in anderen Grafschaften des Inselreiches sollte es hoch zu Ross über Hürden und Hecken gehen. Fast vergaß Sissy darüber auf Marie-Valerie, die sich in diesem Sommer ja gründlich erholen sollte.
Erleichtert atmete Sissy auf, als die Queen mit ihrem Gefolge aufbrach, nicht ohne eine Einladung zu einem Gegenbesuch deponiert zu haben. Sissy stand wieder auf der Freitreppe, Marie-Valerie und die Damen ihres Gefolges neben sich. Sie sah die Kutsche der Queen mit ächzenden Achsen aus dem Vorhof rollen, und Marie Festetics bemerkte manchen bewundernden Reiterblick, der auf der Kaiserin ruhte. Mit gezogenen Hüten ritten die Herren der Queen an der Freitreppe vorbei und nahmen jetzt schon Abschied auf Reiterart.
Auch Sissy blickte ihnen nach. Sie glaubte, dass sie unter ihnen einige gleichgesinnte Seelen finden würde. Die Queen hatte nicht Zuviel gesagt. Diese Männer gehörten nicht nur Englands Adel an. Sie waren auch als Reiter Spitzenklasse.
Ob sie sich mit Sissy würden messen können? Sicher erwarteten sie es. Jeder Mann fühlte sich im Sattel einer Frau überlegen. Sissy lächelte. In ihr sollten sie sich getäuscht haben!
Als sie wenig später die Gästeliste jenes Nachmittags durchflog, stellte sie zu ihrem Erstaunen fest, dass sie auch zwei Herren empfangen hatte und mit ihnen vereinbart hatte zu reiten, ohne sich ihrer Namen so recht bewusst zu werden. „Das sind die Brüder Baltazzi, Majestät”, erklärte Gräfin Festetics. „Eigentlich wundert es mich nicht, dass sie hier aufkreuzten. Sie drängen sich überallhin, wo Majestät sind. Majestät sollten sie eigentlich bereits kennen. „Baltazzi - Baltazzi? Ich glaube, den Namen habe ich schon irgendwo gehört. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Festetics, Sie wissen, wie viele Gesichter ich zu sehen bekomme. Nein, ich bin sicher, dass ich mich dieser Leute nicht entsinnen kann!”
Die Gräfin wiegte den Kopf. Auch sie stammte aus ungarischem Adel und war nur wenig älter als Ida Ferenczy. Sah man die beiden zu Pferd, fiel einem eine kleine Ähnlichkeit auf. Doch sie waren weder verwandt, noch hatten sie ähnliche Eigenschaften. Was sie verband, war ihre Anhänglichkeit und Treue zu Sissy, und diese hatte schon lange ihr Herz für die gesamte ungarische Nation entdeckt. Sie liebte die Art der Ungarn, ihren Freiheitswillen, ihr Temperament und ihre Musikalität und die Weite ihres schönen Landes. Das Schlösschen Gödöllö, nahe der Hauptstadt Budapest gelegen, hatte die Kaiserin im Zustand einer Ruine gekauft, liebevoll restauriert, und es war einer ihrer liebsten Aufenthalte geworden.
„Aber sicher erinnern sich Majestät an die junge Baronin Vetsera”, erklärte die Gräfin mit Nachdruck.
„Vetsera, wer ist denn das nun wieder?” fragte Sissy verblüfft. In diesem Augenblick betrat Ida Ferenczy den Raum. Als sie den Namen hörte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Überrascht blickte Sissy auf. „Was haben Sie, Ferenczy?” fragte sie. „Was ist los mit Ihnen?”
„Ich hörte eben den Namen dieser unangenehmen Person”, antwortete Ida Ferenczy. „Sie ist nicht hoffähig und drängt sich trotzdem bei Hofe ein.”
„Sie wissen doch, wie ich darüber denke. Ob jemand hoffähig ist oder nicht, zählt bei mir nicht”, versetzte Sissy. „Für mich ist nur entscheidend, dass es sich um einen anständigen Menschen handelt.”
„Niemand kann der Baronin etwas Schlechtes nachsagen”, meinte die Gräfin. „Doch es macht keinen sehr guten Eindruck, wie sich diese Familie überall vordrängen will.”
„Aber was hat diese Baronin Vetsera mit den Brüdern Baltazzi zu tun?” fragte Sissy. „Sie ist ihre Schwester!” antwortete die Gräfin. „Sie heiratete den Baron Vetsera. Die Baltazzis kommen aus der Levante, sie sind steinreich. Man weiß nur, dass einer von ihnen die Aufsicht über die Heizung der Öfen im Palast des Sultans hatte.”
„Das ist sicher kein leicht verdientes Geld”, meinte Sissy. „Der Palast muss viele hundert Öfen haben, und die Männer zu beaufsichtigen, die für eine gleichmäßige Temperatur zu sorgen haben, ist gewiss nicht einfach.”
„Nun lebt keiner von ihnen mehr in Konstantinopel”, fuhr Gräfin Festetics fort. „Die Baltazzis leben nun in Wien und Pardubitz, sie haben prächtige Pferde und sind passionierte Reiter wie Eure Majestät. Doch sie sind eben nicht voll gesellschaftsfähig.”
„Darauf kommt es nicht an”, beharrte Sissy auf ihrem Standpunkt. „Und ich kann nicht verstehen, weshalb Sie vorhin so erschrocken sind, Ferenczy.” Fragend blickte sie auf Ida.
„Ich kann es auch nicht genau beschreiben, Majestät”, gestand diese verlegen. „Es ist ein seltsames Gefühl, das mich befällt. Eine innere Stimme, wenn Majestät wissen, was ich meine.”
„Ein warnendes Empfinden also”, sagte Sissy nachdenklich. „O ja, ich verstehe Sie vollkommen, und ich glaube auch daran. Es gibt so etwas wie eine innere Stimme, die einen vor Personen oder Ereignissen warnen kann. Und so etwas empfinden Sie beim Anblick der Brüder Baltazzi?”
„So ist es Majestät”, bestätigte Ida Ferenczy bedrückt. „Vielleicht ist es Unsinn. Es ist kein erkennbarer Grund vorhanden. Wahrscheinlich bin ich ganz einfach verrückt, Majestät, entschuldigen Sie!”
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen”, wehrte Sissy ab. „Ich kann Ihnen nur raten, den Brüdern Baltazzi und der Baronin Vetsera aus dem Wege zu gehen.”
Damit ließ man es an diesem Abend bewenden. Die Zukunft sollte jedoch zeigen, dass es nicht Ida Ferenczy war, der Gefahr drohte, sondern vielmehr dem Kaiserhaus. Doch Sissy konnte das nicht wissen, und Ida Ferenczy schwieg sich aus. Sie wollte die Kaiserin nicht weiter beunruhigen, umso weniger, als sie sich tatsächlich das warnende Gefühl nicht erklären konnte.
Die folgenden Tage auf der Isle of Wight verliefen in ruhiger Harmonie. Sissy unternahm ausgedehnte Spaziergänge, bei der ihre Begleiterin, die Gräfin Festetics, einigermaßen außer Atem kam.
„Uff, nicht so schnell, Majestät!” japste sie dann verzweifelt. „Halten zu Gnaden, ich kann keine Luft mehr kriegen!”
„Dann schnüren Sie sich nicht so eng”, lachte Sissy und holte unbarmherzig mit Riesenschritten weiter aus.
Die Isle of Wight war ein gottgesegnetes Stück Land. Hier dufteten Blumen über Blumen. Eichen wuchteten gegen den Himmel und Zedern, und manchmal verschwand Sissy übermütig hinter einem Lorbeergebüsch, wo Marie-Valerie und sie mit einem lustigen Versteckspiel begannen.
Das Kind erholte sich prächtig.
Nach einer Woche rückte der Termin näher, zu dem die Kaiserin ihren Gegenbesuch bei der Queen auf Schloss Osborne hätte erwidern sollen. Doch sie ließ den Termin verstreichen und sandte bloß eine Entschuldigungsbotschaft, da sie glaubte, auch Königin Viktoria damit einen Gefallen zu tun.
„Auch sie wird wohl froh sein, wenn ich ihr erspare, mit mir wieder zusammenzutreffen”, meinte sie, als sie das Billett abschickte. Doch sie irrte sich. Die Königin hatte ihre Einladung ernst gemeint.
„Kommt der Berg nicht zum Propheten, so muss wohl der Prophet zum Berg kommen”, sagte sich deshalb die Queen und kündigte einen zweiten Besuch bei Elisabeth an.
Das war einigermaßen ungewöhnlich. Die englische Königin schien wirklich Gefallen an der so andersgearteten und wesentlich jüngeren Sissy gefunden zu haben. Wenn man sie so nebeneinander sah, die schöne und gertenschlanke Sissy und die ältliche und schon fast einer Kugel gleichende Viktoria, dann konnte man keinen größeren Gegensatz finden als diese beiden Frauen. Teilnehmend erkundigte sich die Queen nach dem Befinden von Marie-Valerie und ob Sissy wohl Nachricht vom Kaiser habe.
Diese hatte Sissy wohl. Sie stand mit Franz Joseph in regem Briefwechsel. Der Kaiser war über fast alles informiert, was Sissy dachte und tat, und er hatte sie auch fürsorglich mit einer hinlänglichen Reisekasse ausgestattet, so dass es ihr und dem Kind sowie Sissys Gefolge an nichts fehlen konnte. In jedem seiner Briefe gab er ihr zärtliche Ratschläge und rief sich in ihrer Erinnerung wach. „Komm bald, mein Engel, ich sehne mich nach Dir”, war der Tenor seiner Briefe an Elisabeth.
Sie war sich seiner Liebe sicher - und seltsam, immer, wenn sie lange und weit fort von ihm war, verspürte sie Sehnsucht nach ihm. Es war ein merkwürdiger Zwiespalt. Kaum in Wien, trieb es sie in die Ferne; doch schon auf Wight hätte sie sich in manchen Stunden wieder gern in Franzls Armen gewusst.
Die Queen wiederholte auch bei diesem Besuch ihre Einladung und dachte nicht im Traum daran, dass Sissy sie auch diesmal nicht annehmen würde.
„Sicher werden Majestät auch London besuchen wollen”, meinte die Queen. „Vergessen Sie dann nicht das Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud. Es ist eine interessante Sehenswürdigkeit.”
„Davon habe ich schon gehört”, meinte Sissy, „ich werde es mir sicher nicht entgehen lassen, doch was mich am meisten interessiert, ist das Irrenhaus. Man sagt, es sei das größte der Welt.”
„Das ist es wirklich”, nickte die Queen verwundert. „Die Bedauernswerten, die dort ihr Leben verbringen müssen, sind aber kein erfreulicher Anblick!”
„Ich weiß, sie sind es nirgendwo. Ich kenne auch die Irrenhäuser von München und Wien. Es ist ein schreckliches Schicksal, geistig umnachtet zu sein!”
Die Queen fragte nicht weiter. Sie las in Elisabeths Augen, dass diese tatsächlich das Irrenhaus von London besuchen wollte.
Irrenanstalten schienen eine magische Anziehungskraft auf Sissy auszuüben. Und das hatte seinen Grund. In der Familie der Wittelsbacher, aus der Sissy stammte, waren schon mehrere Fälle von Wahnsinn vorgekommen. Besonders das bayerische Königshaus schien davon betroffen. Der Bruder des bayerischen Königs war bereits umnachtet, und Sissy fürchtete auch ein Zusammentreffen mit König Ludwig, der ihr gleichfalls in letzter Zeit merkwürdig erschien.
Manchmal fürchtete sie sogar um ihren eigenen Verstand. Und diese Furcht hatte sie, das war gewiss, auch ihrem Sohn Rudolf vererbt.
Sissy blieb nachdenklich zurück, als sich die Queen von ihr verabschiedete.
Marie-Valerie war auf der Isle of Wight unter der Aufsicht des Leibarztes, der Gouvernante und einiger Bediensteter zurückgeblieben, während Sissy mit kleinem Gefolge nach London fuhr.
Sie stieg in der österreichischen Botschaft ab, und man konnte sie bald darauf mit dem Botschafter Beust im Hyde Park spazierenreiten sehen.
„Die Stadt ist um diese Zeit wie ausgestorben”, versicherte der Botschafter. „Wer kann, fährt aufs Land. Die Umgebung von London ist schön! Die Themse aufwärts gibt es zauberhafte Plätzchen. Doch in der Stadt ist jetzt nicht viel los. Selbst das Opernhaus ist geschlossen. Majestät haben für Ihren Besuch keinen günstigen Zeitpunkt gewählt!”
„Ich will auch nicht in die Covent Garden Opera, sondern nach Bedlam”, erklärte sie dem erstaunt aufhorchenden Beust.
„In das Irrenhaus?!” staunte er. „Majestät erschrecken mich! Was wollen Sie bei den Irren?”
„Sie werden mich dorthin begleiten”, erklärte Sissy.
„Doch nicht im Ernst, Majestät”, rief Beust entsetzt.
„Als Diplomat müssten Sie doch eigentlich an Irre gewöhnt sein”, lachte Sissy ironisch. „Keine Angst, man wird schon dafür sorgen, dass Ihnen nichts geschieht. Im Übrigen, falls alle Stricke reißen, bin ich auch noch da.”
„Majestät belieben zu scherzen! Selbstverständlich werde ich meinen männlichen Schutz angedeihen lassen, falls dieser Besuch in Bedlam unabwendbar ist”, seufzte der Botschafter gottergeben.
Der Besuch war unabwendbar...
Beust hatte so etwas noch nie gesehen. Ohne Sissys ausdrücklichen Befehl hätte er auch nie im Leben einen Fuß über die Schwelle der Irrenanstalt gesetzt. Begleitet von einem ganzen Gefolge von Ärzten und stämmig aussehenden Pflegern gelangten sie in einen wunderschönen weitläufigen Park, in welchem viele Geistesgestörte sich der Ruhe des Sommernachmittags hingeben sollten. Der Chefarzt wies auf einige besonders interessante Fälle hin, und Sissy sprach mit den Kranken, während Beust sich höchst beunruhigt an ihrer Seite hielt.
Der Anblick eines jungen Mädchens, das im Grase saß und sich aus Blüten einen Kranz flocht, wobei es unhörbare Worte vor sich hin zu murmeln schien, beeindruckte Sissy. Sie blieb stehen und rührte sich nicht vom Fleck. Ihr ganzes Inneres schien aufgewühlt, und Beust bemerkte, wie sie plötzlich zu zittern begann.
„Gehen wir doch weiter, Majestät”, riet er dringend.
In diesem Augenblick torkelte ein Mann auf die Gruppe zu. „Helfen Sie mir, helfen Sie”, stammelte er verzweifelt.
„Womit kann ich Ihnen helfen?” fragte die Kaiserin und fasste sich.
„Ich werde hier zu Unrecht festgehalten”, jammerte der bleiche, hagere, gebückt gehende Mann. „Der Bischof behauptet, ich hätte dem heiligen Petrus den Himmelsschlüssel gestohlen! Das ist eine glatte Verleumdung, liebe Frau. Das ist doch völlig unmöglich!”
Erstaunt blickte Beust den Chefarzt an.
„Der Mann spricht ganz vernünftig, Herr Doktor. Eine solche Beschuldigung ist doch wirklich absurd!”
Der Chefarzt grinste, während der bleiche Mann eifrig rief: „Eben, nicht wahr?! Wie kann ich den heiligen Petras bestohlen haben, wenn ich doch selbst Petrus bin!”
Der Botschafter war heilfroh, nach einer halben Stunde wieder dieses Haus verlassen zu haben.
Am nächsten Tag ging Sissy mit Ida Ferenczy und der Gräfin Festetics in das Wachsfigurenkabinett. Trotz des drückenden Sommertages war der Besuch hier lebhaft. Die Kaiserin hatte den Schleier von der Krempe ihres schicken Hutes herabgezogen, da sie fürchtete, erkannt zu werden. Die unheimliche Stimmung, die von den täuschend echt wirkenden Wachsfigurengruppen ausging, war anderer Art als das Grauen, das sie für kurze Zeit in Bedlam befallen hatte. Hier wusste sie, dass es sich nur um kunstvoll verfertigte Puppen handelte, nicht aber um lebende Menschen und deren Schicksal. Hier köpfte auf einem Podest der Henker Sanson Marie Antoinette, die unglückliche französische Königin, die eine Blutsverwandte ihres Gatten war. Dort starb Anna Boleyn unter dem Schwert des Henkers, dem Heinrich der VIII. den grausamen Befehl gegeben hatte. Auch sah man den großen Kean, wie er den Hamlet spielte. Aber nicht nur die Vergangenheit war hier in ihren Persönlichkeiten in Wachs konserviert.
„Franzl!” rief Sissy fast erschrocken aus, als sie plötzlich ihrem Gatten gegenüberstand, und nur der Umstand, dass eine leichte Staubschicht Nase und Bart bedeckte, ließ sie erkennen, dass er nicht wirklich nach London gekommen war, um sie hier bei Madame Tussaud zu überraschen.
„Nein, so etwas”, meinte die Gräfin Festetics pikiert, „ist denn das überhaupt erlaubt? Seine Majestät sind hier ausgestellt, um gegen Eintrittsgeld besichtigt zu werden!”
„Ich finde es amüsant”, meinte Sissy, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte. „Im Übrigen bin ich zufrieden, dass ich hier in dieser stummen Gesellschaft fehle.”
Sie verließen die kühlen, von einem unangenehmen Paraffingeruch erfüllten Räume der Madame Tussaud und waren froh, als sie wieder auf der Straße standen.
Den Abend beschloss ein Pflichtbesuch bei der Herzogin von Teck, einer Tochter Zar Alexanders des II.
„Nun bleibt wohl nichts übrig, als uns auch im Buckingham-Palast zu melden”, seufzte Sissy. „Die Queen ist schon wieder dort, und nun müssen wir ihr wohl oder übel unseren Gegenbesuch machen.”
Doch Königin Viktoria war beleidigt. Sissy hatte zweimal ihre Einladung ausgeschlagen, und nun war sie nicht willens, Sissy zu empfangen. Soeben von ihrem Urlaub nach London zurückgekehrt, ließ sie wissen, sie sei nun derart von Arbeit überhäuft, dass sie keine Zeit erübrigen könne.
Darüber war Sissy nicht böse. Doch der Kaiser zeigte sich in seinem Schreiben ungehalten, nachdem ihm Sissy von dieser Absage berichtet hatte. Sie vertrete Österreichs Interessen schlecht, tadelte er, wenn sie solche Verstimmungen hervorrufe.
Sissy nahm das dennoch auf die leichte Schulter. So unlieb ihr ein steifer Besuch im Buckingham-Palast auch gewesen wäre, so sehr freute sie sich auf die bevorstehenden Reitertreffen.
Die Reise ging nach Belmore Castle. Der Herzog von Meltom hatte dort bereits eine Jagdgesellschaft versammelt, welche die Ankunft der Kaiserin schon mit großer Spannung erwartete. Das wunderschöne alte Schloss war erfüllt von lebhaftem Treiben. In den Koppeln bellten die Hunde, die schon ahnten, was sie erwartete. Die Pferde der Gäste und die des Herzogs schnaubten unruhig in den Ställen. In der Küche duftete es nach frischem Lammfleisch, und würziger schottischer Whisky feuchtete die durstigen Kehlen der Herren.
Das Jagdfieber erfasste auch Sissy, sobald sie eintraf. Sie fühlte sich in Belmore Castle vom ersten Augenblick an wohl, und als sie dem Herzog, der sie galant begrüßte, gegenübertrat, war sie fast versucht, ihren Besuch über die ganze Jagdsaison auszudehnen.
Wie groß aber war ihre Überraschung, als sie in der Jagdgesellschaft eine ganze Reihe von Kavalieren aus der österreichisch-ungarischen Heimat vorfand, die eigens zur Jagd mit der Kaiserin angereist waren. Die Gräfin Festetics begrüßte ihren Schwager Tassilo, auch Tisza war hier, und die beiden Brüder Baltazzi, die schon nahezu unvermeidlich schienen, hatten sich eine Einladung zu verschaffen gewusst. Man speiste im Saal des Schlosses zu Abend und ging dann früh zu Bett, denn die Jagd sollte schon um vier Uhr früh am nächsten Morgen beginnen.
Frau Feifal bürstete Sissys langes Haar wie immer mit größter Sorgfalt vor dem Zubettgehen. Unter ihrer Schürze trug sie einen Klebestreifen, und sooft sie bemerkte, dass ein Haar der Kaiserin an Kamm oder Bürste hängenblieb, ließ sie es heimlich mit Hilfe des Klebestreifens verschwinden.
Sissy wachte eifersüchtig über ihre Haarpracht, und immer war sie verstimmt, wenn sie auch nur den geringsten Haarausfall zu bemerken glaubte. So hatte sich die Feifal diese List ausgedacht und hielt damit ihre Herrin bei guter Laune.
Noch einmal trat Frau von Festetics bei Sissy ein. „Kann ich Majestät noch mit etwas dienlich sein?” fragte sie. „Die Nachrichten von der Isle of Wight sind sehr günstig. Majestät können sich unbesorgt in den nächsten Tagen Ihrem Vergnügen hingeben.”
„Festetics, diese Baltazzis sind wieder da”, meinte die Kaiserin, „die Ferenczy muss also vorsichtig sein, wenn sie auf ihre warnenden Stimmen hören will. Diesmal sind mir die Brüder selbst aufgefallen. Allmählich merke ich mir ihren Anblick. Sie haben ein gutes Benehmen und scheinen mir recht intelligent; ich glaube, dass sie ganz angenehme Gesellschafter sind.”
„Mein Schwager Tassilo hat sich nach ihnen erkundigt”, berichtete die Gräfin. „Nur einer von ihnen war im Topkapi tätig. Der andere betreibt Bankgeschäfte. Ihre Schwester lernte den Baron Vetsera in der österreichischen Gesandtschaft kennen. Der Baron war dort Diplomat.”
„Jetzt weiß man also über sie Bescheid”, lächelte Sissy mokant. „Und ist das geeignet, die Gemüter zu beruhigen?”
„Offensichtlich ist es das nicht, Majestät”, gab die Gräfin zur Antwort. „Solche Streber, die sich auf alle möglichen Arten in unsere Kreise einschleichen wollen, ohne ihnen durch Geburt anzugehören, sollte man sich lieber vom Leibe halten.”
„Vielleicht sehen Sie dazu schwarz”, meinte dazu Sissy. „Emporarbeiten will sich schließlich jeder. Der Ehrgeiz dieser Leute ist zu verstehen. Es drängt sie höher und höher, doch wer ganz oben ist wie ich, weiß, dass es gar kein so schönes Los ist, an der Spitze zu sein. So ist eben keiner zufrieden!”
„Majestät sehen das philosophisch”, lächelte die Gräfin. „Doch es ist ein Problem unserer Zeit. Die ganze Gesellschaft scheint sich zu wandeln. Man sieht doch, das Bürgertum hält schon fast alles in Händen, was früher die Domäne des Adels war. Und jetzt drängt sogar schon die Arbeiterschaft nach!”
„Der Wandel begann schon mit der Französischen Revolution”, erwiderte Sissy. „Man muss mit der Zeit gehen, ein Stillstand führt zu nichts. Es wird sich noch vieles verändern!”
Ein Glück, dass Erzherzogin Sophie das nicht mehr hören kann, dachte die Gräfin, während die Kaiserin sie entließ.
Die Sonne ging eben auf, als Belmore Castle erwachte. Die Jagdhörner riefen die Jagdgesellschaft zusammen.
Bald donnerte der Boden unter den Hufen der stürmisch dahinjagenden Pferde. Sissy saß wie Göttin Diana im Sattel. Bewundernd folgten ihr die Blicke der mutigen Reiter, während sie wie der Teufel jede Hürde nahm. Sie flog förmlich dahin. Dem Vorreiter, der das Feld anführte, war sie dicht auf den Fersen, und die kläffende Meute jagte den Fuchs.
Sissys Pferd setzte über einen morschen Stamm. Sie hörte, wie ihr die anderen folgten. Da - ein Schrei! Einer der Reiter war gestürzt. Sissy wandte sich kaum um, sie hetzte ihr Pferd weiter. Das glänzende Fell des Tieres war schweißbedeckt.