Sissy Band 11 - Und ewig bleibt die Liebe - Marieluise von Ingenheim - E-Book

Sissy Band 11 - Und ewig bleibt die Liebe E-Book

Marieluise von Ingenheim

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Beschreibung

Sissy, die sich Franz Joseph und seiner Liebe immer wieder entzieht, möchte der langjährigen, freundschaftlichen Beziehung zwischen dem Kaiser und Katharina Schrat ein Ende bereiten. Ist sie dafür verantwortlich, dass die intime Vertraute des Kaisers und beliebte Schauspielerin ihre Entlassung aus dem Verband des Burgtheaters verlangt?

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MARIELUISE VON INGENHEIM

Sissy

Und ewig bleibt die Liebe

Autorin: Marieluise von Ingenheim

Illustration Überzug: M. Pleesz

Copyright der E-Book-Ausgabe von hiStory Publications:© Copyright 2016 by Verlagsbuchhandlung Julius Breitschopf GmbH,A-3420 Klosterneuburg bei WienAlle Rechte vorbehalten.Das Werk ist weltweit urheberrechtlich geschützt.All rights reserved throughout the world.

ISBN: 978-3-7004-4441-1EAN: 9783700444411

Inhalt

Prolog

01 - Eifersucht

02 - Alte Briefe

03 - Diana

04 - Die Midlands-Königin

05 - Die Schwestern

06 - Bay zwischen zwei Frauen

07 - Captain und Gentleman

08 - Der Cup Hohenembs

09 - Der Abschied

10 - Briefe und Erinnerungen

11 - Alles ist steter Wandel

12 - Der Naples-Cup

13 - Die heimliche Glut

14 - Jagdzeit

15 - Herbstzeit in Gödöllö

16 - Im grünen Rock

17 - Frauengunst und Ritterehre

18 - Die Lauscherin

19 - Abschied von Gödöllö

20 - Ein Souvenir aus Elfenbein

21 - Das Budapester Geschenk

22 - Die Verlobung

23 - Ein kurzer Besuch

24 - Charlotte

25 - Des Frohsinns Lied

26 - Der Tribut

27 - Der Vogel breitet die Flügel

28 - Die Not der Pächter

29 - Es gab kein Wiedersehen

30 - Das letzte Halali

31 - Was blieb, war nur Rauch

32 - Die Mayerling-Papiere der Larisch

33 - Freiheit

Prolog

Sissy, die sich Franz Joseph und seiner Liebe immer wieder entzieht, möchte der langjährigen, freundschaftlichen Beziehung zwischen dem Kaiser und Katharina Schratt ein Ende bereiten. Ist sie dafür verantwortlich, dass die intime Vertraute des Kaisers und beliebte Schauspielerin ihre Entlassung aus dem Verband des Burgtheaters verlangt?

Eifersucht

Alles schien verworrener denn je. Sissy hatte es zuwege gebracht, einen Keil in die von ihr selbst begründete Freundschaft zwischen Franzl und Kathi zu treiben. Sie verließ Wien mit dem Gefühl, ihnen beiden unrecht zu tun, war aber doch nicht imstande, ihre Empfindungen zu unterdrücken. Das in der Stadt kursierende Gerücht, der Kaiser betrüge sie mit ihrer eigenen Freundin, der Hofschauspielerin, hatte sie zutiefst verletzt und verbittert. Mehr denn je hasste sie jetzt den Hof als eine Brutstätte von Intrigen und böswilligem Klatsch. Ja, sie hasste selbst Wien, die Stadt, in der man sich auf dem Naschmarkt diese Tratschgeschichten weitererzählte und die Kaiserin verlachte.

Zumindest glaubte sie in ihrem wunden Herzen, dass man dies tat. Damit tat sie jedoch den Wienern unrecht. Die hielten zu ihr; aber die Schratt und der Kaiser kamen bei ihnen schlecht weg.

Die Affäre hatte jedenfalls - und hierin hatte Frau von Mikes in ihren Warnungen gegenüber Sissy völlig recht gehabt - höchst unliebsame Auswirkungen in Bezug auf die öffentliche Meinung über das Kaiserhaus. Denn aufgebauscht und entstellt, wie der Tratsch schließlich bis ins letzte Wiener Vorstadtbeisl gelangte, erregte er die Gemüter, obwohl die Wiener allesamt selbst keine Engel waren. Aber der Kaiser hatte nun einmal, wie er selbst immer wieder betonte, ein Vorbild zu sein, nach dem sich auch die übrigen Mitglieder seiner zahlreichen Familie zu halten hatten. Eine Forderung, die allerdings manchmal nicht erfüllt wurde.

Gegen diese Forderung verstieß in seinen Augen auch die Liebe des Thronfolgers Franz Ferdinand zu der Komtesse Sophie Chotek. Eine Liebe, die Franz Ferdinand freilich durch ein bindendes Verlöbnis untermauert wissen wollte. Er war nicht willens, zur Kenntnis zu nehmen, dass nach der geltenden Rechtslage dem künftigen Kaiser von Österreich und König von Ungarn eine Eheschließung mit einem Mädchen, das keinem der regierenden Häuser entstammte, untersagt war. Er wollte weder auf sein Recht auf die Krone verzichten noch auf die geliebte Sophie.

Sissy war die einzige, die zu ihm hielt und ihm zu helfen versuchte. Doch ihre Möglichkeiten waren beschränkt. Gegen das Hausgesetz, dessen Einhaltung Fürst Montenuovo streng überwachte, kam sie nicht an. Dabei war Montenuovo selbst Abkömmling einer „Mesalliance”: Erzherzogin Marie Louise, die geschiedene Gattin Napoleons, hatte in zweiter Ehe einen simplen Grafen Neuberg geheiratet, der vom Kaiser deswegen gefürstet wurde und sich fortan „Montenuovo” nennen durfte - was nichts anderes als eine Übersetzung seines Namens ins Italienische war.

Vielleicht war es gerade dieser Makel seiner Abkunft, den der Fürst nicht verkraften konnte und der ihn in Sachen Heirat des Erzherzogs so unnachgiebig machte. Mit dem Kaiser befreundet schon von Kindheit an, befürchtete er mit dem Ende der Herrschaft von Franz Joseph die Einbuße seiner Macht. In dieser Hinsicht hatte er übrigens völlig Recht - Franz Ferdinand hasste ihn. Und Sissy empfand ein heimliches, unausgesprochenes Grauen vor diesem Mann, der ihr als die graue Eminenz am Wiener Hof erschien, dessen unheimlicher Schatten ihrer Meinung nach selbst über die Tragödie von Mayerling fiel.

Das Rätsel um den ungeklärten Tod ihres einzigen Sohnes Rudolf, das seltsame Verschwinden dessen Freundes Johann Orth auf offener See vor der Küste Südamerikas sowie geheimnisvolle Warnungen, die Franz Ferdinand zugingen, er werde niemals auf den Thron gelangen, sondern noch vor seiner Krönung sterben, dies alles trieb Sissy zur Flucht aus Wien; sie fühlte sich im Ausland freier und sicherer und missachtete die dem Kaiser auf offiziellen und inoffiziellen Wegen zugehenden Berichte über die Sicherheitsverhältnisse in der Schweiz, die für gekrönte Häupter ein gefährlicher Boden wurde, seit die Anarchisten sie zum Ausgangspunkt für ihre Terroraktionen in den benachbarten Monarchien gewählt hatten.

„Eines Tages wird sie für ihren Dickschädel noch büßen”, prophezeite Franzl dem Fürsten.

„Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf - die Frau Mutter hatte Recht. Eure Majestät hätten besser ihre Schwester heiraten sollen. Sissy ist für Eure Majestät bloß eine permanente Kalamität. In den letzten Jahren kamen von ihr nichts anderes als Rechnungen, Rechnungen, Rechnungen... Und Scherereien! Und das Volk bekommt sie fast überhaupt nicht mehr zu Gesicht. Höchstens noch auf einem Bahnhof, wenn sie gerade wieder einmal wegfährt.”

„Ich liebe meine Frau”, knurrte Franzl verweisend und setzte eine Unterschrift unter einen Akt, den ihm der Fürst in seinem Arbeitszimmer vorgelegt hatte.

„Ich weiß. Aber Eure Majestät sind nicht der einzige. Da gibt es doch den Andrassy. Oder diesen englischen Pferdeknecht Middleton - ganz England mokierte sich darüber!”

„Es war kein Pferdeknecht. Sie übertreiben. Es war nichts zwischen ihnen.”

„Sagt sie”, entgegnete Montenuovo, und der Zweifel in seiner Stimme war unüberhörbar.

Franzl blickte beharrlich durch das Fenster; unten marschierte eben das Wachregiment der Deutschmeister zur Ablöse auf, und Tschinellenklang und Marschmusik unterbrachen die gefährliche Stille im Arbeitszimmer des Kaisers in der Hofburg.

Montenuovo bemerkte die sich vertiefenden Zornesfalten auf der gerunzelten Stirn, und er sah das unheilverheißende Zittern von Franz Josephs ergrautem Backenbart. Er hielt es klugerweise für angezeigt, jetzt besser doch zu verschwinden. Denn es gab Grenzen - auch für ihn.

Er nahm daher die unterschriebenen Blätter, tat sie in seine Mappe, verbeugte sich leicht und ging. Die Tapetentür klappte hinter ihm ins Schloss. Er war, wie so oft, „durch die Kammer” gekommen, und der Adjutant wusste nichts von seiner kurzen Anwesenheit. Dieser beruhigte vielmehr die draußen wartenden Audienzwerber: Seine Majestät habe wohl für einen Augenblick unterbrechen müssen und werde gleich wieder zur Verfügung stehen.

Tatsächlich hatte Montenuovos Besuch nicht lang gedauert - aber lang genug, um Franz Josephs ohnedies auf den Tiefpunkt stehende Laune noch weiter zu verderben. Der nächste, der beim Kaiser vorgelassen wurde, blickte dann auch erschrocken in ein gar nicht gnädiges Gesicht und wusste nicht, was er verbrochen haben sollte.

„Sie sind der Herr Alois Dorfmoser aus Hinterbuchs?”

„Jawohl, Majestät, gnädigst zu dienen...”

„Aber Sie wollen mir ja gar nicht dienen, lieber Herr. Wie ich aus Ihrem Gesuch ersehe, beantragen Sie die Freistellung Ihres Sohnes vom Dienst beim Militär?”

„Majestät, ich bin nimmer der Jüngste, und meine Frau ist krank - wer soll den Hof bewirtschaften? Ich hab' nur den einen Sohn; die zwei anderen sind verunglückt, bei den Pionieren... sind eingerückt und nimmer wiederkommen. Wenn jetzt der Letzte auch noch —”

Franzl nickte ernst und sog nachdrücklich an seiner Zigarre. Fremde Probleme halfen ihm mitunter, mit seinen eigenen leichter fertig zu werden oder sie zumindest zu ertragen.

„Guter Mann”, versuchte er seinem Besucher klarzumachen, „ich mach' die Gesetze nicht. Ich muss mich selber an sie halten. So wie jeder andere auch! Noch mehr sogar... Aber ich seh' immer wieder, die lieben Lent' halten mich für allmächtig.”

„Ja, zu wem soll man denn sonst gehen, wenn nicht zum Kaiser?” meinte der Dorfmoser ratlos.

„Natürlich soll man zum Kaiser kommen”, lächelte Franzl. „Es ist schon recht, dass Sie zu mir 'kommen sind. Ich werde Ihren Fall überprüfen lassen. Wir werden schauen, dass Sie Ihren Buben zumindest für die Ernte daheim haben.”

„Tausend Dank, Majestät!”

„Na, warten Sie's erst einmal ab”, gab Franzl das Entlassungszeichen.

Den ganzen Nachmittag über empfing er. Es hatten sich an die zweihundert Leute angemeldet, die den Kaiser sprechen wollten, um ihm ihre Anliegen vorzutragen; das war normal, mitunter waren es noch mehr.

Sein Mittagessen stellte ihm der gute, alte Ketterl auf den Schreibtisch: zwei Buttersemmeln und einen Teller mit Rindsuppe, die Franzl im Stehen löffelte.

Auf seinem Stehpult, auf dem er die Akten der Audienzwerber erledigte, häufte sich die Arbeit. Über jeden Audienzwerber und sein Anliegen ließ er sich peinlich genau Bericht erstatten und machte nach dessen Vorsprache schriftliche Notizen, wie die Sache zu erledigen sei. Manche Akten begleiteten ihn auch noch am Abend hinaus nach Schönbrunn. Oft lag er schon in seinem Eisenbett und arbeitete noch daran. Und war doch am nächsten Morgen, geweckt vom Kammerdiener Ketterl, um halb vier Uhr früh schon wieder auf den Beinen.

War es da ein Wunder, dass er Sissy gegenüber Bitternis empfand? Nicht ohne Grund hatte ihn der Fürst an die Ausgaben erinnert, die ihre Reisen verursachten, und ihn da bei an ihre aufwendigen Jagdbesuche in England erinnert, die noch dazu peinliche Verstimmungen seitens der um ihre eigene Popularität besorgten Königin Viktoria zur Folge hatten.

Denn Sissy war in den Midlands wie selbst in Irland buchstäblich vergöttert worden. Und gerade ihr Erfolg in Irland schmerzte den englischen Hof, von dem sich längst niemand mehr auf die aufmüpfige Grüne Insel wagte.

Doch das hatte Sissy wenig gekümmert. In den Midlands hatte sie einen Herrensitz gemietet - für die Kleinigkeit von sechshundert Pfund pro Monat. Ihr „bescheidenes Gepäck” war mit einem eigenen, dem Hofzug folgenden Lastzug dort hingebracht worden. Es wog - alles in allem - vierzig Tonnen. Sie hatte in England die teuersten Pferde kaufen lassen und brachte noch zusätzlich welche aus Gödöllö mit. Doch da der Bahnhof in den Midlands bloß ein Geleise hatte, musste für den Hof- und den Güterzug der Kaiserin noch eine zusätzliche Gleisanlage samt Weichen verlegt werden. Und schließlich erschien Herrn Linger, dem Sekretär der Kaiserin, der kleine Provinzbahnhof nicht repräsentativ genug; deshalb ließ er gleich noch auf Kosten der kaiserlichen Privatschatulle eine Empfangshalle dazu bauen.

Als Sissy ankam, fand sie alles riesig nett und die zweihundertfünfzig geladenen Gäste charmant und nobel. Dementsprechend musste die tägliche Bewirtung ihrer Gäste einer Kaiserin würdig sein. Würdig waren auch die Pokale, die sie spendete, und ebenso die Honorare der Ärzte, die diverse Knochenbrüche nach misslungenen Sprüngen zu behandeln hatten. Und die Preise für die Pferde, welche sie anschaffen ließ, stiegen gleich um hundert Prozent, als bekannt wurde, wer die „Gräfin von Hohenembs”, die Käuferin, in Wirklichkeit war...

Als Sissy seinerzeit in England zwei Monate im Jahre ihrem Jagdvergnügen gefrönt hatte, hatte Franzl nachher in der Regel Rechnungen in der Höhe von stattlichen hundertfünf- zigtausend Gulden und mehr bekommen.

Doch dies alles hatte ihm nicht so viel ausgemacht wie der Argwohn, der an seinem Herzen noch immer nagte und seinerzeit durch Gerüchte, ja sogar durch Zeitungsartikel in der Boulevardpresse Englands genährt worden war. Und in denen immer wieder von einem Mann die Rede war, den Fürst Montenuovo einen „Pferdeknecht” genannt hatte.

Er kannte diesen Mann und hatte ihn um die Gesellschaft seiner Frau beneidet, die er selbst so oft und so lange entbehren musste. Und weil er Sissys Wirkung auf Männer aus eigener Erfahrung zur Genüge kannte, erschien ihm unglaubhaft, dass der Brite „cool” geblieben war, wie ihm Sissy in ihren Briefen glauben hatte machen wollen. Es sei nichts als eine Sportskameradschaft, hatte sie ihm geschrieben und zudem berichtet, was sich bei jeder Fuchsjagd, bei jedem Steeplechase zugetragen hatte. Durfte er ihr glauben?

Sie und dieser Mann schienen ein Herz und eine Seele. Er war stets an ihrer Seite, arrangierte alles, begleitete sie auf jeder Jagd, machte sie mit der einheimischen Gesellschaft bekannt und stand selbst als Englands angeblich bester Reiter oft genug im Mittelpunkt. Er war um neun Jahre jünger als Sissy. Aber nach allgemeinem Urteil sah sie selbst um zehn Jahre jünger aus, als sie wirklich war. Die beiden waren ein Paar, das sich sehen lassen konnte - und das taten sie auch.

Oh, Sissy...!

Der Fürst hätte Franzl lieber nicht an jene Zeiten erinnern sollen.

Zwar waren sie längst dahin, doch der Brand der Eifersucht schwelte noch in seinem Herzen...

Sissy... geliebter Engel, so hatte er sie in jedem seiner Briefe genannt, die damals nach England gegangen waren. Er hatte ihr täglich geschrieben, sie jedoch nur sporadisch geantwortet. Denn sie war ja so mit ihrer Gesellschaft und der Jagd beschäftigt gewesen.

Nach Jahren noch fühlte er die Bitternis dieser Tatsache. Hatte seine Mutter recht gehabt, wie Montenuovo meinte? Der Mann in England hieß William George Middleton.

Alte Briefe

An diesem späten Winterabend des Jahres 1897 wollte es in den Zimmern des Kaisers, die an der Westfront des Schlosses Schönbrunn lagen, nicht warm werden. Der verschneite Kammergarten mit seinen kunstvollen Lauben lag in dichtem Nebel. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte die zehnte Stunde.

Franz Joseph war müde, aber nicht müder als sonst. Er hatte das Gefühl, so weit wie möglich seine Pflicht getan zu haben; es allen recht zu machen, war freilich unmöglich, und dass die Arbeit niemals abriss, dafür wurde schon gesorgt. In seinem ganzen Leben hatte er keinen Tag gekannt, an dem er über Langeweile zu klagen gehabt hätte.

Ketterl fragte, ob Seine Majestät noch irgendwelche Befehle hätte.

„Man soll noch ein bissl nachlegen, Ketterl. Es ist kalt. Und dann gehen S' schlafen. Wecken morgen früh wie immer.”

„Sehr wohl, Majestät. Wünsche gut zu ruhen, Majestät, gute Nacht!”

Franzl nickte der treuen, alten Seele wohlwollend zu, und Ketterl verneigte sich und verließ den Raum. Ein Diener, der zu besonderen Anlässen die Orden an seiner Brust trug, die ihm - zu Recht - verliehen worden waren. Oder doch nicht zu Recht? - Kathi zweifelte daran.

„Er schaut viel zu wenig auf Sie, Majestät”, rügte sie stets. „Aber er ist halt ein Mannsbild! Da gehört eine Frau ins Haus; sonst könnt's nicht passieren, dass Majestät noch immer den alten Uniformrock tragen, an dem schon die Ellbogen ganz abg'scheuert sind...”

„Aber der Ketterl weiß, dass ich mich grad' in dem Rock so kommod fühl'“, pflegte Franzl dann seinen Kammerdiener gegen solche weibliche Vorwürfe zu verteidigen.

Franzl trank seine heiße Milch aus und knabberte noch an einem Kipferl, lustlos und in Gedanken weit weg. Ketterl hatte beim Verlassen des Raumes das Gaslicht abgedreht, aber Franzls Lämpchen auf dem Nachttisch brannte noch und verbreitete einen unruhigen Lichtschimmer.

Er fühlte, er könne nicht einschlafen. Er warf die Tuchent zurück, fuhr zornig in seine Pantoffeln und schlurfte über Teppich und Parkettboden zu einem Wandschrank, dessen Schlüssel er im Schloss drehte. Knarrend öffnete sich die Tür; aber das Licht des Lämpchens war so schwach, dass Franzl fast nichts erkennen konnte.

Mit einem Laut des Unwillens kehrte er nochmals zurück und holte das Nachtlicht herbei. In dem Schrank pflegte er persönliche Sachen aufzubewahren. Notwendiges und - wie manchen Leuten erscheinen mochte - auch sehr viel, von dem nur Gott und er selbst wussten, warum es aufgehoben wurde.

Und da waren auch Sissys Briefe aus Cheshire; sie stammten aus dem Jahre 1881 - jenem Jahr, in dem Alexander II., Russlands reformfreudiger Zar, bei einem Bombenattentat ums Leben kam. Damals ging auch Rudi seine unglückliche Ehe mit der belgischen Königstochter Stephanie ein. Eine Ehe übrigens, an deren Zustandekommen Sissy nicht unbeteiligt war. Doch Rudis Verlobung ein Jahr zuvor kam selbst für sie überraschend. Sie jagte gerade in Irland irische Füchse an der Seite jenes Mister Middleton. Und diese Jagden in Irland kamen beinahe noch teurer als die horrenden Ausgaben für Cheshire.

Aber damals, als sie in Cheshire war, hatte er endlich ein Machtwort gesprochen... und es gab ein vorzeitiges Halali!

„Das hätte ich schon früher tun sollen”, murmelte er und nahm beim Schein des Lichtes das verschnürte Päckchen alter Briefe aus dem Fach. Sie lagen in einem Karton, der sauber zugebunden und beschriftet war; Franzl konnte selbst in diesen Dingen seine Beamtenseele nicht verleugnen. Was immer er auch aufbewahrte und wo immer es auch war - es herrschte Ordnung.

Befriedigt, dass er nicht hatte suchen müssen, kehrte er mit den Briefen in sein Bett zurück. Hier war es wärmer.

Die Uhr auf dem Sims des Kamins schlug mit leisem, melodischem Bimmeln die zehnte Stunde dieser Nacht. Flüchtig dachte er an die Adventnächte seiner frühen Kindheit, an seine Mutter Sophie und seinen Vater Erzherzog Karl, an die vorweihnachtliche Stimmung im Schloss, in dem sich die Kinder schon auf das Weihnachtsfest freuten. Wohin war das alles...! Seine Eltern ruhten in der Kapuzinergruft, in der sie auch seinen Leib eines Tages beisetzen würden, in einem Sarg mehr zu all den prunkvollen Särgen, die vergangenes Leben und vergangene Zeiten umschlossen. Und jeder, der dort ruhte, war zugleich auch ein Stück Geschichte Österreichs...

Was aber würden die Geschichtsschreiber eines Tages über Sissy zu sagen haben...? — „Sie ist bloß eine permanente Kalamität”, hatte Montenuovo gesagt. Ganz Unrecht hatte er nicht. Den Pflichten einer Kaiserin entzog sie sich fast ständig. Und es war ihr egal, wen sie damit vor den Kopf stieß und verletzte. In ihrem politischen Desinteresse provozierte sie auch bei ihren Auslandsreisen durch ihr Verhalten Schwierigkeiten am laufenden Band, und das Außenamt hatte alle Hände voll zu tun, um die Gemüter zu beruhigen.

Er überlegte, wo wohl der Hofzug jetzt ungefähr sein mochte, der sie in den Süden, an die Riviera, brachte. Er dachte intensiv an Sissy mit einem wehen Gefühl im Herzen, einer Mischung aus Sehnsucht und Trotz, Mitleid und ärgerlicher Verstimmung. Denn sie tat ihm ja auch leid, diese unruhevolle Seele, die nirgends Ruhe fand, als würde sie von unsichtbaren Furien gehetzt. Das war so seit jenem grauenvollen Jännermorgen, an welchem Graf Hoyos aus Mayerling kam...

Es fröstelte Franzl. Er kroch tiefer unter die Tuchent, rückte seine Kopfpolster zurecht und das Licht möglichst nahe heran. Dann setzte er seinen Zwicker auf die Nase, denn seine Augen waren längst nicht mehr die besten. Die vielen Stunden eines jeden Tages, an denen er irgendwelches Geschreibsel lesen musste, waren daran schuld. Seufzend löste er das Band, das um die Briefe der Kaiserin geschlungen war. Noch immer entströmte den Blättern ein leiser Duft nach Veilchen, ihrem Parfüm. Und wieder erweckte dieser Duft seine Sehnsucht nach ihr.

Sissy...

Einst war sie mit leisem, vergnügtem Jauchzen in seine offenen Arme geeilt. Einst hatte er sie voll heißer Liebe an seine Brust gedrückt, bis sie sich lachend darüber beklagt hatte, dass die goldglänzenden Knöpfe seiner Uniform sie schmerzten. Und manches verschwiegene Plätzchen im Park von Laxenburg war Zeuge ihrer Seligkeit.

Doch das war lang schon und für immer dahin. Kaiserin zu sein hatte sich Sissy ganz anders vorgestellt. Sie war durchaus willens, ihrem geliebten Franzl in allem und jedem zur Seite zu stehen. Doch da war seine Mutter, Erzherzogin Sophie, ihre Schwiegermama...

Als Kaiser Ferdinand I. am 2. Dezember 1848 in Olmütz, wohin sich der Hof wegen der revolutionären Unruhen aus Wien geflüchtet hatte, abdankte, wäre der Erbfolge nach Erzherzog Franz Karl der nächste österreichische Kaiser geworden, der Vater Franz Josephs und Gatte der bayrischen Prinzessin Sophie von Wittelsbach, Franz Josephs Mutter. Doch in kluger Voraussicht bewog Sophie ihren Gatten zum Verzicht und brachte sich damit selbst um die von ihr ersehnte Würde des Throns. Sie wusste, dass die blutige Revolution in beiden Reichshälften - in Österreich wie in Ungarn - nur von einem politisch „unbeschriebenen Blatt” besänftigt werden konnte, von einem jungen Mann wie ihrem Sohn, an dem auch die fortschrittlich gesinnten Freigeister ihre Hoffnungen knüpfen konnten.

Doch die Jugend und Unerfahrenheit ihres Sohnes würden es ihr ermöglichen, dass sie selbst, im Hintergrund bleibend, die wahre Frau auf dem Thron sein würde. So war es nicht sein, sondern ihr Wunsch und Wille, dass am 6. Oktober 1849 die Köpfe des Aufstands in Ungarn hingerichtet wurden - darunter Baron Kiss, ein Onkel des späteren Mannes von Kathi.

Franzls Mutter Sophie war die Schwester von Ludovika, Herzogin in Bayern - Sissys Mama. Franzl und Sissy waren einander zum ersten Mal in Innsbruck begegnet, im Juni jenes schlimmen Jahres 1848. Sophie hatte damals schon seine Zukunft als Kaiser im Auge und bereits in Innsbruck die zu ihrem Sohn passende Kaiserin gewählt: ihre Nichte Helene; denn damals waren auch die Schwestern Sophie und Ludovika in Innsbruck zusammengekommen. Sophie hatte ihren Sohn zur Seite, den künftigen Kaiser. Und Ludovika hatte ihre Tochter mitgebracht.

Nach Montenuovos Meinung war die Wahl richtig, die Sophie für ihren Sohn über dessen Kopf hinweg schon insgeheim traf. Sissys Schwester Helene ließ schon damals ein damenhaftes, dem Repräsentieren zugeneigtes, dabei aber zugleich fügsames Wesen erkennen. Zudem war zu bemerken, dass Nené, wie Helene zärtlich genannt zu werden pflegte, eines Tages eine Schönheit sein werde. Und Helene würde auch keinen Gedanken daran verschwenden, dass ihr lediglich die Rolle eines Aushängeschildchens zugedacht war; vielmehr würde sie diese Rolle vorbildlich spielen.

Damals in Innsbruck war auch schon Sissy mitgekommen: ein rundliches, unansehnliches, vergnügtes Mädchen, das nichts im Kopf zu haben schien als Ponys, Papageien und Kaninchen. Zumindest so lange, bis das Auge von Franzls Bruder auf sie fiel. Der entdeckte in ihren bernsteinfarbenen Augen etwas, was Franzl damals noch übersah.

Karl Ludwig hatte den „Wildfang” Sissy für sich erwählt und sie offenbar auch ihn; sie tauschten Ringe und Geschenke und schrieben einander in der Folge zärtliche Briefe.

Als Franzl sich fünf Jahre später in Ischl in Sissy verliebte, trug ihm das Karl Ludwig lange nach. In seinen drei Ehen war keine der Frauen imstande, Sissys Bild aus seinem Herzen zu verdrängen, nicht einmal die so rührend liebliche arme Maria Annunziata, die Mutter Franz Ferdinands, die an Schwindsucht starb.

Und Sissy wusste das wohl. Sie hielt ihn auf Distanz und flirtete doch ein wenig mit ihm. Es schmeichelte ihr einfach, von beiden Brüdern geliebt zu werden...

Und es schmerzte Franzl und empörte seine Mutter Sophie. Es mag sein, dass sich Sissy nichts dabei dachte - sie war eben „ein unreifes, vom Vater verzogenes Kind”, wie seine Mutter meinte. In der Tat hatte sie von ihrem Vater, dem Herzog Max in Bayern, viele seiner Eigenschaften geerbt: seinen Freigeist, seine Ungezwungenheit im Benehmen, seinen Wandertrieb und seine Liebe zur Natur, die schließlich in eine Pferdenarrheit ausartete - und Sissy folgte auch hierin seinem Beispiel nach.

Es war Franzls Mutter nicht gelungen, den „Wildfang” zu zähmen. Übersensibel, wie sie war, kapselte sich Sissy vielmehr ab. Sie reagierte, innerlich verletzt, auf ihre Weise und begann, den Hof zu meiden. Alle späteren Versuche Franzls, sie wieder an seine Nähe zu binden, schlugen fehl - auch nach dem Tod seiner Mutter.

Und während eine seltsame, tief innerliche Neigung diese beiden Menschen noch immer aneinander band, war Sissy ihm dennoch entglitten. Es war ihm, als wolle er ein Irrlicht greifen, dessen Leuchten ihn immer wieder verlockte. Aber sie war heute so fern wie damals im Reich der Königin Viktoria, aus dem ihn diese Briefe erreicht hatten. Sie waren als Trost gedacht für ihre Abwesenheit. Als Versicherung ihrer Treue. Er begann zu lesen, aber - las er nicht damals zwischen den Zeilen anderes heraus, anderes, das seinen schmerzenden Argwohn erregte?

Ich tue ihr unrecht, sagte er sich immer wieder. Er selbst war ein feiner, nobler Charakter. Sein ritterliches Empfinden war ererbt und lag ihm im Blut. Er wollte niemals gelten lassen, was böse Zungen behaupteten. Und doch - es schmerzte, der Stachel blieb. Ja, es schmerzte, nach so vielen Jahren, noch heute.

Was war damals wirklich in England passiert? Wahrscheinlich würde es nie jemand mit Sicherheit erfahren. Nur eines stand fest: dass der Mann an ihrer Seite dort und damals nicht Franz Joseph hieß. Vielmehr war es Captain William George Middleton. Ein Mann ohne Adel. Ein „Pferdeknecht”, wie der Fürst ihn jetzt noch nannte.

Aber dieser Middleton war ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, hieß es. Und er war der beste Reiter Englands.

Durch und durch Frau hingegen war Franzls „geliebter Engel” Elisabeth, Sissy, das Irrlicht, geliebt und ungreifbar - etwa nur für ihn?

Franzl nahm ein anderes Paket Briefe zur Hand und löste dessen Seidenband. Er blätterte in den noch immer nach ihrem Parfüm duftenden beschriebenen Blättern. Eine vergangene Zeit, ihre Freude und ihr Leid, schien wieder lebendig zu werden.

„Mein lieber Franzl,

hier im Reich der Queen ist es wunderschön, und ich wünsche lebhaft, Du könntest bei mir sein, wenn auch nur für zwei, drei Wochen...”

Franzl las; seine vom vielen Aktenstudium müden Augen begannen zu schmerzen, doch er merkte es nicht.

Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, wenn er damals auch mit dabei gewesen wäre...

Diana

März 1876. Der Frühling kündigte sich an. Die Luft war noch rau, aber der Himmel hell und wolkenfrei, und es zeigten sich bereits grüne Spitzen auf Baum und Strauch. England ist schöner, als man auf dem Kontinent glaubt.

„Linger, ich bin sehr zufrieden!” rief Sissy beim Anblick von Easton Neston entzückt und erging sich in Worten des Lobes für den Sekretär, der den schönen, alten Herrensitz für sie und ihre Jagdgesellschaft gemietet hatte.

Linger war ein Praktiker. Er hatte früher als Koch gearbeitet, doch hatte er es verstanden, Karriere zu machen. Als Sekretär der Kaiserin versah er sein Amt in einer Weise, die ihm von vielen Seiten Anerkennung einbrachte. Und das wollte viel heißen, denn es war wirklich kein leichtes Amt!

„Es freut mich, dass ich den Geschmack von Majestät getroffen habe”, sagte er respektvoll. „Und hoffentlich sind Majestät auch mit meinen anderen Arrangements ebenfalls einverstanden.”

„Aber Linger, da bin ich ganz sicher”, lachte Sissy.

Sie war schön und fühlte sich jung und wohl. Wien mit all seinen Problemen war fern. Hier, in England, atmete sie Freiheit!

Linger hatte das schöne Landschloss, dessen Besitzer den Winter in London verbrachten, bis Ende März gemietet; Zeit genug für eine „schöne Jagd”, wie Sissy sie liebte.

Queen Viktoria war von Sissys Anwesenheit wenig erbaut. Die schöne Kaiserin aus Österreich lockte die Neugierigen, wo immer sie sich auch zeigte, in Scharen an, und man jubelte ihr zu. Die Queen sah sich von Sissy in der Gunst der Menge ausgestochen, und das behagte ihr nicht. Im Übrigen war die alte Dame so dick, dass wohl jedes Pferd unter ihr zusammengebrochen wäre.

Sissy war zur Fuchsjagd nach England gekommen. Als Viktoria noch jung war, jagte sie selbst gern und kannte daher aus Erfahrung die Tücken solcher wilder Ritte hinter einer Hundemeute. Nicht auszudenken, wenn sich die Kaiserin von Österreich in England das Genick gebrochen hätte... Selbst unter dem Inkognito einer Gräfin Hohenembs!

„Lord Spencer”, befahl sie daher, „ist mir für die Empress verantwortlich!”

Der Lord war selbst ein guter Jäger und bewohnte ein herrliches Schloss in der Nähe von Easton Neston. Er lud Sissy ein, und sie kam mit ihrem Gefolge und bewunderte die herrliche Gemäldegalerie des Lords, dessen Schloss mit seinen Kunstschätzen faszinierte.

Doch er hatte sie nicht kommen lassen, um zu renommieren. Beim Dinner eröffnete er ihr: „Majestät, Ihre Majestät, die Königin von England, hat mich beauftragt, für das Gelingen Eurer Jagd zu sorgen...”

„Hoffentlich”, lachte Sissy, „bringen Sie jetzt nicht die Füchse, die ich jagen möchte, aus dem Tiergarten an!”

„Keine Sorge”, schmunzelte der vollbärtige Lord, „wir haben hier Füchse genug, schnelle Füchse, schlaue Füchse... und die besten Meuten. Aber Majestät kennen unser Gelände nicht. Es ist viel schwieriger als das Jagdgebiet von Gödöllö. Selbst erfahrene Reiter haben da oft Mühe, im Sattel zu bleiben.”

„Lord, ich sitze seit meiner Kindheit im Sattel!”

„Aber nicht in England, Majestät. Majestät benötigen einen Vorreiter.”

„Ich fürchte bloß, dass dieser Herr bald hinter und nicht vor mir reiten wird”, meinte Sissy übermütig.

Auch der Lord lachte über den Scherz; beim Dessert eröffnete er ihr, dass er für den kommenden Tag einen „Byeday” vorschlage. Das sei kein Jagdtag, sondern einer fürs „Einreiten”, damit Pferde und Reiter sich aneinander gewöhnen könnten.

Sissy hatte Pferde aus Gödöllö mitgebracht. Man stellte ihr aber auch einige einheimische Tiere, von denen bereits alle Pokale errungen hatten, zur Verfügung. Die Gräfin Larisch, Sissys Nichte, sowie die Brüder Baltazzi, die gleichfalls mit nach England gekommen waren, sollten auch daran teilnehmen und ihre Pferde auf dem Gelände ausprobieren.

„Bei dieser Gelegenheit”, meinte der Lord sich verabschiedend, „werden Majestät den Mann kennenlernen, den ich als Vorreiter vorschlagen möchte - Ihre Zustimmung vorausgesetzt.”

„Und wer ist dieser Herr?” fragte Sissy gespannt, „ein Prinz, ein Lord?”

„Nichts von alledem. Er ist ein einfacher Captain und heißt Middleton. Aber er ist der beste Reiter Englands! Sein Pferd ,Bay' ist einfach unschlagbar, und deshalb nennen wir ihn selber Bay. Bay Middleton! Ich hoffe nur, dass er überhaupt einwilligt.”

„Wie?” staunte Sissy.

Lord Spencer schmunzelte: „Dieser Mann lässt sich nichts befehlen, nicht einmal von der Königin. Er weiß, dass er der Beste ist, und lässt sich bitten . . . und geht einfach, wenn es ihm nicht passt. Majestät können das an ihm erleben - aber eines sicherlich nicht, nämlich, dass

„Das werden wir ja sehen”, blitzte Sissy ihn an.

„Fordern Sie ihn lieber nicht heraus, Majestät... Er macht keinen Unterschied zwischen arm und reich, hoch oder niedrig. Er ist zwar wohlhabend, aber kein Edelmann - auch nicht in Bezug auf sein Benehmen. Ein Raubein ist er! Und die Frauen laufen ihm nach - oh, pardon, das hätte ich lieber nicht sagen sollen!”

Der Lord war entsetzt über die Äußerung, die ihm unbedachterweise entfahren war.

„Majestät können ihn selbstverständlich ablehnen, für den Fall, dass er sich danebenbenimmt”, beeilte er sich zu versichern, machte das Malheur aber nur noch schlimmer.

„Wie meinen Sie das?” fragte Sissy spitz. „Ich werde ihm gewiss nicht nachlaufen. Nicht einmal nachreiten werde ich ihm!”

Aber bei der Heimfahrt war sie recht gespannt auf den Mann, den sie am nächstem Morgen kennenlernen sollte.

Sie war schon früh auf den Beinen und brauchte für ihre Toilette eine volle Stunde. Die Reitergesellschaft wartete bereits. Auch Bay Middleton, der empört immer wieder auf seine Uhr guckte.

„Noch zehn Minuten”, erklärte er wütend, „und die hochgeborene Empress kann mich vergessen! Ich bin schließlich nicht hier, um mir die Beine in den Leib zu stehen!”

Die Gräfin Festetics, die Sissy auf dieser Reise als Hofdame begleitete, saß bereits in ihrer Kutsche, in welcher sie dem Ausritt folgen wollte. Sie hatte die Bemerkung gehört. Neben ihr saß, anmutig und jung, Sissys Nichte Marie Larisch im Damensitz auf dem Rücken eines Braunen aus Gödöllö.

„Unerhört”, empörte sich die Gräfin, „was dieser Mensch sich herausnimmt. Einfach empörend von Lord Spencer, dass er glaubt, einen solch ungehobelten Patron der Kaiserin empfehlen zu können!”

„Nun”, meinte Marie Larisch, „wenn meine Tante auch dieser Ansicht ist, wird dieser Mister Middleton bei uns nicht alt werden.”

Bay Middleton war ein hochgewachsener, drahtiger Geselle, dessen von Wind und Wetter gebräuntes Gesicht ein unternehmungslustiger Bart auf der Oberlippe zierte. Er war dreißig, und wie geschmeidig er war, zeigte sich in all seinen Bewegungen. Er trug den üblichen Sportdress jener Zeit, Hosen mit Gamaschen, eine Reiterjacke und ein beschirmtes Seidenkäppi. Es war nicht die farbenfrohe Reitergala, und es war ja nur ein Byeday; offensichtlich legte er auch gar keinen Wert darauf, auf die „Empress” einen besonderen Eindruck zu machen.

Übellaunig machte er geringschätzige Bemerkungen über die kaiserlichen Pferde aus Gödöllö.

„Wenn sie kommt - falls sie überhaupt noch die Gnade hat –, setzen wir sie besser gleich auf eines der Pferde aus Lord Spencers Stall, die ich mitgebracht habe.”

Endlich erschien Sissy, und bei ihrem Anblick verstummte alles. Bay gab es förmlich einen Ruck. Er starrte sie an; sie genoss es, und ein spitzbübisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

Sie trug ein eng geschnittenes braunes Reitkleid und ein Hütchen, unter dem ihre braunen Locken hervorquollen. Ihr Haar war noch immer hüftlang, wie in ihrer Jugend, und sie war sehr stolz darauf. Zierlich kam sie näher, in der Rechten die Gerte leicht bewegend, in der Linken den unvermeidlichen Fächer.

Linger, der ihr folgte, beeilte sich, vorzustellen: „Das ist Mr. Middleton, Majestät, den Lord Spencer als Vorreiter vorschlägt...”

„Vorausgesetzt, dass er nichts dagegen hat”, lächelte Sissy. „Hat er oder hat er nun nicht?”

Middleton bewegte seine buschigen Augenbrauen auf und nieder. Er hatte sich gefasst und nahm den Kampf auf - „The battle of sexes”, wie seine Landsleute zu sagen pflegten.

„Das wird sich zeigen, Madam”, knurrte er. „Sitzen Sie auf. Und noch eins: Die Verantwortung für Ihren Hals trage ich nur, solange Sie tun, was ich sage!”

„All right, Sir”, nickte Sissy unter spitzbübischem Lächeln.

„Unerhört”, zischte die Festetics. „Das sollte bloß Seine Majestät, der Kaiser, hören!”

Marie Larisch beobachtete die beiden aus zusammengekniffenen Augen und sagte gar nichts. Ihr imponierte dieser Bay Middleton. Er hatte das „gewisse Etwas” raubeiniger Männer, das Frauen einfach gefällt, und die Geschmeidigkeit eines Panthers, als er sich jetzt in den Sattel seines Vollblüters schwang.

Der ganzen österreichischen Gesellschaft, die während der nächsten vierzig Minuten teils selbst reitend, teils als bloße Zuschauer die Übungen im Sattel verfolgte, war nur eines nicht recht klar: die Stellung dieses merkwürdigen Mannes, der so selbstsicher auftrat und doch nichts weiter als ein einfacher Captain Middleton war. Wenn auch, wie versichert wurde, Inhaber eines fetten Bankkontos, das er allem Anschein nach durch Rennwetten und Wettsiege erworben hatte und weiter erwarb.

Wie sollte man sich zu ihm stellen? Er war ja nicht „standesgemäß”. Wie mit ihm reden? Wo ihn an der Tafel placieren? Gehörte er nicht besser in den Speiseraum der Domestiken?

Mister Middleton

Und war Bay Middleton - vielleicht aus einem nur zu natürlichen Opportunismus heraus - gewillt, jedem gegenüber erkennen zu lassen, dass auch ihm Titel und Würden grundsätzlich egal seien, dann trafen sich Sissys und seine Einstellung zumindest in einem Punkt: Nur ein guter Reiter verdiente Respekt.

Gegen Ende dieser Reiterübungen legten sie beide los, und Sissy sprang über Hürden und Hecken, die sie nicht kannte, auf einem Pferd, das sie noch nie geritten hatte und das sie dennoch sicher zu beherrschen verstand. Eines war ihr klar: Middleton wollte sie testen, ihre Grenzen erkennen, ihren Mut erproben. Und das forderte ihren Ehrgeiz heraus, und es kam zeitweilig umgekehrt: Sie testete ihn!

Ja, sie waren gleichwertige Partner. Middleton hatte ihr nur eines voraus: Er kannte das Gelände wie seinen Hosensack. Und dieses Gelände, diese Hindernisse waren anders beschaffen als in Gödöllö, da hatte Lord Spencer völlig Recht. Bei einer echten Jagd hinter der Meute, die sich über Kilometer erstreckte, war ein verlässlicher Vorreiter notwendig, und Middleton war der beste Mann. Danke, Lord Spencer, sagte sie insgeheim und hatte vor, dies auch in aller Form zu tun.

Die Kutsche der Gräfin kam bei dieser Jagd nicht mit. Über Stock und Stein verschwanden Bay und Sissy im hohen Gebüsch. Andere Reiter stürzten; die österreichischen Pferde, obwohl hoch im Blut, waren dem Gelände nicht gewachsen und ihre Reiter überfordert. Einzig und allein Marie Larisch preschte noch hinter den beiden Reitern eine Zeitlang her, bis ihr vom Hute wehender Schleier an einem Ast hängen blieb.

„Hilf Himmel”, stöhnte die Festetics und schlug die Hände entsetzt vors Gesicht, „Ihre Majestät wird sich noch alle Knochen brechen!”

„Is' was, Madame?” wandte sich der englische Kutscher ungerührt nach ihr um.

„Das fragen Sie noch, Sie Unmensch!” fauchte die Festetics. „Aber natürlich, es ist ja nicht Ihre Königin!”

„Wollen wir nun hier bleiben oder kehren wir um?” kam es gleichmütig zurück.

Die Gräfin wusste es selbst nicht.

„Machen Sie, was Sie wollen. It's horrible!” knurrte sie, während die fürchterlichsten Vorstellungen durch ihre Gedanken jagten.

„Na, dann umkehren”, meinte der Kutscher vorsichtshalber und setzte das Gespann gleichmütig in Trab.

Als man zum Herrenhaus kam, traute die Gräfin ihren Augen kaum. Da kamen, aus der genau entgegengesetzten Richtung, Seite an Seite wie ein Liebespaar, Sissy und Bay Middleton, zufrieden lachend und ihre schweißbedeckten Pferde zärtlich tätschelnd, gemächlich angetrabt.

„You are Diana, Madame”, hörte sie Middleton anerkennend sagen. Und es klang nicht wie Lob, eher wie eine sachliche Feststellung. „Sie sind Diana - die Göttin der Jagd!”

Die Midlands-Königin

Schon für den nächsten Morgen war die erste Fuchsjagd angesetzt. Und es sollte in der Folge fast täglich eine geben. Zwei der berühmtesten englischen Meuten waren bereitgestellt worden, die Huntsmänner ausgesuchte Leute, und der kleinen Jagdgesellschaft Sissys - dazu zählten auch Fürst Kinsky und die beiden Brüder ihrer Nichte Marie sowie der Fürst Rudolf Liechtenstein - stand ein erlesenes Jagdvergnügen bevor. Baron Nopsca, Sissys Hofmeister, und ihr Sekretär Linger hatten alles bestens vorbereitet und mit allen zuständigen Stellen Kontakt. Bloß mit dem Inkognito der Gräfin von Hohenembs wollte es nicht so recht klappen. Nach dem Byeday sprach sich in der ganzen Gegend herum, dass eine bildhübsche Ausländerin mit dem berühmten Bay Middleton die Gegend unsicher machen werde. Bald genug aber kam es heraus, wer die angebliche Gräfin Hohenembs in Wirklichkeit war, und nun rückten die Neugierigen in Scharen an. Linger hatte alle Mühe, mit den Journalisten fertig zu werden, die alle ein Interview haben wollten.

Sissy nahm auf ihren Reisen immer einen zusammenlegbaren Hausaltar mit, den Kardinal Rauscher persönlich geweiht hatte. Diese kleine Andachtsstätte hatte sie in einem stillen Raum von Easton Neston aufstellen lassen. Weitaus öfter als sie selbst aber holte sich die arme Gräfin Festetics davor Trost und Stärkung, denn ihr war angst und bange vor jedem neuen Reittag, den Sissy im Sattel zu verbringen gedachte.

„Festetics, ich bitte Sie, Sie müssen ja nicht reiten”, versuchte Sissy sie zu beruhigen. „Und mir passiert doch nichts, das müssten Sie eigentlich wissen.”

„Nur nichts verschreien, Majestät”, flehte die Festetics entsetzt, „bei diesen wilden englischen Rössern und diesem fürchterlichen Mister Middleton kann man das nicht wissen! Oh, womit habe ich das verdient - Majestät, schonen Sie Ihre Knochen und meine Nerven!”