Sissy Band 7 - Ein Walzer in Schönbrunn - Marieluise von Ingenheim - E-Book

Sissy Band 7 - Ein Walzer in Schönbrunn E-Book

Marieluise von Ingenheim

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Beschreibung

Ein Salut dem neuen Kronprinzen Erzherzog Franz Ferdinand! Die Mitglieder des prunkvollen Wiener Hofes geben dem Nachfolger des unter tragischen Umständen verstorbenen Kronprinzen Rudolf die Ehre. Aber der junge Kronprinz verbirgt vor Kaiser und Staat ein Geheimnis, das nur Sissy kennt …

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MARIELUISE VON INGENHEIM

Sissy

Ein Walzer in Schönbrunn

Autorin: Marieluise von Ingenheim

Illustration Überzug: M. Pleesz

Copyright der E-Book-Ausgabe von hiStory Publications:© Copyright 2016 by Verlagsbuchhandlung Julius Breitschopf GmbH,A-3420 Klosterneuburg bei WienAlle Rechte vorbehalten.Das Werk ist weltweit urheberrechtlich geschützt.All rights reserved throughout the world.

ISBN: 978-3-7004-4437-4EAN: 9783700444374

Inhalt

Prolog

01 - Der verschwundene Erzherzog

02 - Unter vier Augen

03 - Einsame Tränen

04 - Der Sarg und die Wiege

05 - Lichtenegger Glück

06 - Hofpflichten

07 - Der Großfürst

08 - Auf nach Karlsbad

09 - Die Liebe des Erzherzogs

10 - Heiratssachen

11 - Zwischen Karlsbad und Konopischt

12 - Diskretion Ehrensache

13 - Ein Geständnis

14 - Familienprobleme

15 - Keine Krönungsfeier

16 - In Gödöllö

17 - Der Großwildjäger

18 - Noch eine Abtrünnige

19 - Novembertage

20 - Der Walzerkönig

21 - Zum Klang der Geigen

22 - Der Kaiserwalzer

23 - Einsame Weihnachten

24 - Auf Irrfahrt

25 - Ein Osterfest

26 - Die Reise geht weiter

27 - Hinterlistige Attacken

28 - Augusta verlobt sich

29 - In der Burg zu Ofen

30 - Gefahr auf dem „Greif"

31 - In Sturm und Not

32 - Die schönen Tage von Cap Martin

33 - Erinnerungen an der Riviera

Prolog

Ein Salut dem neuen Kronprinzen Erzherzog Franz Ferdinand! Die Mitglieder des prunkvollen Wiener Hofes geben dem Nachfolger des unter tragischen Umständen verstorbenen Kronprinzen Rudolf die Ehre. Aber der junge Kronprinz verbirgt vor Kaiser und Staat ein Geheimnis, das nur Sissy kennt…

Der verschwundene Erzherzog

„Noch immer keine Nachricht von Erzherzog Johann Salvator?” fragte Sissy und zog gespannt die Brauen hoch; allmählich kam es ihr seltsam vor, dass der Toskaner, auch wenn er aus der kaiserlichen Familie freiwillig ausgeschieden war und sämtlicher Titel und Würden entsagt hatte, so gar nichts mehr von sich hören ließ.

„Nein, Majestät”, schluckte der Obersthofmeister der Kaiserin, Baron Nopcsa, verlegen.

Sissy schüttelte unwillig den Kopf.

„Aber was ist denn passiert?” fragte sie verständnislos. „Es wird ihm doch nicht etwa auf See etwas zugestoßen sein?”

„Ich weiß es nicht, Majestät, wir haben keinerlei Nachricht.”

„Aber hat man denn nicht nachgeforscht?” drängte die Kaiserin stirnrunzelnd. „Schließlich handelt es sich doch nicht um irgendjemanden, der uns gleichgültig wäre... Auch wenn er sich nunmehr Johann Orth’ nennt, so ist er doch nach wie vor ein Verwandter!”

„Gewiss, gewiss... Es ist auch nicht so, dass Seine Majestät alle Brücken abbrechen wollte... Dies tat vielmehr Seine Kaiserliche Hoheit, der Erzherzog - als er es noch war, meine ich. - Sein Verhalten war brüskierend... Erst die Heirat mit dieser Tänzerin - und dann sein Verzicht auf die Zugehörigkeit zum Erzhaus - er hat das Goldene Vlies zurückgeschickt...!”

Der Baron schien entschlossen, alle Missetaten des Erzherzogs aufzählen zu wollen. Doch Sissy unterbrach ihn mit einer schroffen Handbewegung.

„All dies ist mir bekannt”, erklärte sie heftig. „Ich wünsche lediglich zu wissen, wo sich der Erzherzog derzeit aufhält.”

„Herr Johann Orth” - der Baron lächelte maliziös - „der frühere Erzherzog - scheint spurlos verschwunden zu sein. Ich bedaure außerordentlich, mit keinen Informationen dienen zu können.”

Sissys Augen wurden schmal und dunkel. Ihr Gesicht, noch immer schön und ausdrucksvoll, erstarrte zu einer Maske. Hoch aufgerichtet stand sie, wie stets seit dem Tode ihres Sohnes Rudolf in Schwarz gekleidet, vor dem Baron. Rudolf lebte nicht mehr. Nun aber ging es um das Schicksal seines Freundes Johann von Toskana. Dessen Pläne und Streben nach einem Thron auf dem Balkan und die damit verbundenen politischen Aktivitäten waren vielleicht eine der Ursachen für das Drama von Mayerling gewesen, das zwei Menschen das Leben gekostet hatte: das des Kronprinzen und das der jungen Baronesse Mary Vetsera.

Der Baron stand sichtlich wie auf Nadeln. Man merkte ihm an, dass er das Ende dieses unangenehmen Gespräches herbeisehnte. Doch so schnell ließ ihn Sissy nicht ziehen. Zu beunruhigend war diese neuerliche Ungewissheit. Das neue Rätsel, das mit dem geheimnisvollen Geschehen im Jagdschloss Mayerling in ursächlichem Zusammenhang zu stehen schien.

„Ist er tot?” fragte sie gepresst. „Schonen Sie mich nicht, Baron. Sagen Sie mir die volle Wahrheit!”

„Aber ich sage ja die Wahrheit”, verteidigte sich Nopcsa. „Tot? - Wer kann es wissen! Man hofft noch immer, Majestät.”

„Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen. Verschweigen Sie mir nichts, Baron!”

„Wie könnte ich, Majestät! Die letzte Nachricht, welche vom Erz- vom Herrn Johann Orth nach Österreich gelangte, stammt vom 13. Juli vergangenen Jahres.”

„So lange hat man nichts mehr von ihm gehört?”

„So ist es. Majestät befanden sich ja meist auf Reisen und sind daher nicht informiert.

„Nun, ich dachte, es sei alles in schönster Ordnung und der Erzherzog hätte sich längst als Kapitän und Handelsreeder etabliert.”

„Das ist keineswegs der Fall, Majestät. Bei dieser Nachricht, die ich vorhin erwähnte, handelt es sich zwar um einen genauen Bericht des Erzherzogs an seine Frau Mutter, die Erzherzogin, über den bisherigen Verlauf seiner Reise mit der ,St. Margaritha’.”

„Das ist der Segler, den er sich in Hamburg kaufte und auf dem er sich mit einer selbst angeheuerten Mannschaft und seiner Frau, der Tänzerin Milli Stubel, einschiffte?”

„So ist es, Majestät. Er überquerte mit dem Segelschiff den Ozean. Der Brief kam aus Südamerika.”

„Demnach scheint die Überfahrt glatt verlaufen zu sein?”

„Diese ja, Majestät.”

„Und seither keiner Nachricht mehr?”

„Nein, Majestät.”

„Dann muss ein Unglück geschehen sein! Ein Unglück, oder - ein Verbrechen . .

Nopcsa wurde bleich. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. Er machte eine abwehrende, fahrige Handbewegung.

„Das muss man doch nicht annehmen, Majestät!”

„Man war wohl nachlässig, was die Nachforschungen betraf, sonst wüsste man Näheres.”

Dass diese vielleicht auch aus anderen Gründen, die in Zusammenhang mit den Ereignissen in Mayerling stehen könnten und auf Rudolfs und Johanns gemeinsamen Aktionen basierten, nicht sehr erfolgreich waren, erwähnte Sissy nicht. Es war auch unnötig; sie wussten es beide, sie und der Baron.

Mit ihren eigenen Sorgen und dem Bau ihres Schlosses auf

Korfu beschäftigt, hatte sie sich nicht weiter mit dem Problem des aus dem Erzhaus ausgeschiedenen Erzherzogs Johann von Toskana befasst. Nun aber war sie plötzlich mit dem geheimnisvollen Verschwinden eines Mannes konfrontiert, der ihr sehr sympathisch war und den sie gerne wiedergesehen hätte.

Er, der „Grüne Jäger, der sie damals im Lainzer Tiergarten vor dem angriffslustigen Eber gerettet hatte, besaß wohl ein Anrecht auf ihr Interesse, auch wenn sein Name in der Umgebung des Kaisers nicht mehr genannt wurde.

„Der Brief kam, wie gesagt, am 18. August des Vorjahres in Orth an”, wiederholte Nopcsa verlegen. „Dem Schreiben zufolge schien alles in Ordnung. Die ,St. Margaritha’ würde in wenigen Stunden aus dem Hafen von La Plata auslaufen, berichtete der Erzherzog seiner Mutter. Doch an ihrem Zielhafen ist sie nicht angelangt!”

„Johann Salvators Schiff ist vielleicht gesunken? Oder was vermutet man sonst?”

„Es gibt tatsächlich zwei Möglichkeiten, Majestät: entweder, die ,St. Margaritha’ ist, wie eben ausgesprochen, gesunken

„Oder?”

Sissy stampfte ärgerlich auf den Teppich, weil sie das Gefühl hatte, dem Baron jedes Wort abringen zu müssen.

oder der Erzherzog hat seinen Namen neuerlich geändert und ist von La Plata aus ins Landesinnere von Brasilien gegangen. Mit seiner Frau, selbstverständlich.”

„Um seinen Verfolgern zu entgehen, meinen Sie. Ja, dann muss er wohl seine Frau mitgenommen haben.”

„Es spricht nichts dagegen, dass er das getan haben könnte.”

„Ja, gibt es denn irgendwelche Anhaltspunkte in dieser Hinsicht? La Plata ist eine große Stadt; dort muss es doch

Menschen geben, welche die beiden gesehen und gesprochen haben und die doch genauere Aussagen machen könnten.”

„Das wäre anzunehmen”, seufzte Nopcsa.

„Man muss alle Hebel in Bewegung setzen!” verlangte Sissy eindringlich.

„Halten zu Gnaden, Majestät; das hat wohl schon des Erzherzogs Mutter veranlasst. Bedenken Majestät, er ist schließlich ihr Sohn. Majestät können sich die Sorge seiner Mutter vorstellen.”

„Das kann ich wohl, aber sie hat vielleicht nicht die Mittel und Möglichkeiten. Hat Seine Majestät nichts veranlasst?”

„Unser Konsul in La Plata ist in dieser Sache tätig. Es gibt verschiedene Gerüchte, wonach Johann Orth gesehen worden sein soll. Aber nichts Sicheres, keinen konkreten Hinweis.”

„Hm... Und was spricht für die Hypothese des Schiffsuntergangs, Baron? Nur die Tatsache, dass das Schiff nicht an seinem Zielhafen anlangte?”

„Ein Sturm, Majestät, der zur fraglichen Zeit in den Gewässern um Kap Hoorn tobte und dem auch andere Schiffe zum Opfer gefallen sind.”

„Darüber ist man informiert?”

„Zuverlässig, Majestät, leider... Außerdem war die ,St. Margaritha’ nach einer Havarie nur unzureichend ausgebessert worden; es ist daher nicht auszuschließen, dass sie das Unwetter nicht überstanden hat.”

„Und niemand ist gerettet worden? Niemand, der über das Schicksal des Erzherzogs und seiner Mannschaft Auskunft geben kann?”

Der Obersthofmeister zuckte hilflos mit den Schultern: „Wir wissen leider tatsächlich nicht mehr, Majestät.”

„Das kann ich nicht glauben. Da steckt doch wieder etwas dahinter!” rief Sissy und wandte sich um. Sie starrte hinunter durch das Fenster auf den Platz vor der Reichskanzlei, wo eben die Burgwache zur Ablöse aufmarschierte.

Es war wie immer ein prächtiges Bild, das zahlreiche Schaulustige anlockte. Diese Parade der Burgwache demonstrierte die Macht und die jahrhundertealte Tradition der österreichisch-ungarischen Monarchie. Doch dieses Gespräch zwischen der Kaiserin und ihrem Obersthofmeister, das in einem von Sissys Salons stattfand, ließ erkennen, dass es hinter den Kulissen, hinter der Fassade der Hofburg, nicht zum Besten stand. Und Sissy dachte an die Rolle, die der verschwundene Erzherzog bei der Tragödie von Mayerling gespielt hatte. Sekundenlang dachte sie auch an die Kassette, die sie in der Hermes villa in einem Geheimfach ihres Sekretärs aufbewahrte. Diese enthielt ihre Aufzeichnungen, ihre eigenen Wahrnehmungen und die Konfidentenberichte zu dem geheimnisvollen Tod ihres Sohnes Rudolf.

Die Möglichkeit, dass sich der Erzherzog in La Plata abgesetzt hatte, um im Landesinneren Brasiliens unterzutauchen und so einem möglichen Anschlag gegen sein Leben zu entgehen, war nicht von der Hand zu weisen...

Allerdings - irgendwelche gedungenen Mörder hätten es vermutlich während seines Aufenthaltes in Hamburg und später in London, wo er sein Schiff ausrüstete und die Mannschaft der „St. Margaritha” anheuerte, wesentlich leichter gehabt, ihn zu erledigen. Wenngleich man einen Toten vielleicht in Brasilien noch unauffälliger verschwinden lassen konnte. Einen Toten nur? Nein, zwei... Denn dann hätten ja wohl auch die Tänzerin Milli Stubel, die nunmehrige Frau Orth, ihr Leben lassen müssen.

Genau wie Mary Vetsera, fiel es Sissy ein. Eine steile Falte des Grübelns stand auf ihrer Stirn. Sie schien die Anwesenheit ihres Obersthofmeisters vergessen zu haben, bis sich dieser durch ein diskretes Hüsteln in Erinnerung brachte.

Sissy wandte sich ihm wieder zu. Er stand noch immer auf demselben Platz und wartete auf irgendwelche Weisungen. Sein Blick war ergeben auf die Kaiserin gerichtet, und Sissy bemerkte seufzend zu ihm: „Nopcsa, halten Sie mich auf dem laufenden. Ich will sofort informiert werden, wenn sich etwas Neues ergibt.”

„Selbstverständlich, Majestät”, nickte er.

„Es ist gut, Baron, Sie können jetzt gehen.”

Das Gespräch war beendet. Der Obersthofmeister verbeugte sich gemessen und verließ eilig den Salon. Er war froh, sich empfehlen zu dürfen. Nachdenklich folgte ihm Sissy mit den Augen. Sie kannte den Baron seit vielen Jahren; er stand lange genug in ihrem Dienst und schien ihr treu ergeben; doch seit Rudolfs Tod in Mayerling traute sie allerdings niemandem mehr. Sogar ihr Mann Franzl war von diesem Misstrauen nicht ausgeschlossen. Daran war sein verschlossenes Wesen schuld und die abweisende Art ihr gegenüber, wenn sie versuchte, die wahren Ursachen von Rudolfs Tod zu ergründen.

Die Hofburg, in der seit Jahrhunderten die Habsburger regierten, war voller Geheimnisse. Geheimnisse auch für die Frauen der Habsburger. Sissy wusste von Franzl, dass er ihr manches in der besten Absicht verschwieg. Er wollte sie schützen... Doch war es nicht besser, einer Gefahr, die man kannte, offen ins Auge zu sehen...?

War Johann Salvator das zweite Opfer eines Komplotts ihr unbekannter Mächte geworden? War er tatsächlich ins Landesinnere von Brasilien geflüchtet, oder war er samt seinem Schiff und seiner Frau im Sturm um Kap Hoorn untergegangen? Ein Schiff konnte übrigens nicht nur durch einen Sturm zum Sinken gebracht werden, sagte sie sich. Es konnte aber auch unter falschem Namen und geänderter Flagge anderswo wiederauftauchen! - Aber die Mannschaft?!

Sissy zweifelte wohl oder übel daran, dass es Johann Salvator in Hamburg und London gelungen war, zuverlässige Leute anzuheuern, die mit ihm durch. Pech und Schwefel gingen. Dem Erzherzog stand wahrscheinlich eine reichlich bunt zusammengewürfelte Crew zur Verfügung. Solche Leute waren sicher bestechlich und...

Es war allerdings nur ein Verdacht, dass die gleichen Kräfte, welche Kronprinz Rudolf, den künftigen österreichischen Kaiser, nicht an die Macht kommen lassen wollten, nun auch interessiert waren, dessen Freund und Mitwisser, Erzherzog Johann Salvator, beseitigen zu lassen. Und so sah es Sissy auch ein, dass Franzl es vorzog, sie nicht in alles einzuweihen, wovon er wusste. Vielleicht hätte sie sich tatsächlich zu unbedachten Maßnahmen hinreißen lassen, zu denen sie sich als Mutter eines ermordeten Sohnes berechtigt fühlte. Und damit neuerliches Unglück heraufbeschworen. Immer wieder riet ihr Franzl, sich nicht zu engagieren. Auch sah er ihre zahlreichen Reisen ins Ausland nicht gern, wobei er ihr auch den Grund nannte: Sein Arm reiche nicht überallhin, um sie hinreichend zu beschützen, und Europa erlebe unruhige Zeiten.

Noch immer sträubte sich alles in ihr, einfach hinzunehmen, was geschehen war. Den Tod in Mayerling als eine Liebestragödie erscheinen zu lassen. Den Kaisersohn als einen Mörder hinzustellen, der seine Geliebte erschoss, bevor er sich selbst tötete...

Sie spürte plötzlich, dass sie fror. Wie immer, wenn sie an jenes schreckliche Ereignis dachte. Sie presste ihr Taschentuch vor den Mund und unterdrückte ein aufkommendes Schluchzen. Ja, sie war mit ihren Nerven am Ende. Voll innerer Unruhe wartete sie auf die Mittagsstunde, zu der sie sich mit dem Kaiser an der gemeinsamen Tafel treffen sollte.

Unter vier Augen

Der Tisch des kleinen Speisesaales war nur für zwei Personen gedeckt. Sie würden also unter sich sein, Sissy und Franzl. Und das war ihr sehr lieb; da konnte sie ihm endlich wieder einmal ihr Herz ausschütten.

Vom Turm der Michaelerkirche drang zitternd der Halbstundenschlag herüber. Und mit dem Glockenschlag halb eins trat der Kaiser ein. Er kam aus seinem Arbeitszimmer und sah ein wenig abgespannt aus. Seit vier Uhr früh war er schon auf den Beinen und beschäftigt. Sein Arbeitstag war ausgefüllt von Konferenzen, Audienzen und Vorträgen seiner Minister, die von ihm Entscheidungen verlangten.

Doch seine Augen leuchteten auf, als er Sissy sah. Sie las in seinem Blick noch immer - nach all den vielen Ehejahren - Liebe und Bewunderung. Und dabei hatten sie schon ihre Silberhochzeit hinter sich! Er ging auf sie zu und küsste ihr die Hand.

„Sissy”, begrüßte er sie, „wie schön, dich zu sehen, mein Engel!”

Das war - sie musste es sich beschämt eingestehen - für ihn keine Selbstverständlichkeit. Viele Tage, Wochen, ja Monate eines jeden Jahres, in denen sie fern von Wien auf Reisen war, musste er sie vermissen.

„Grüß dich, Franzl”, lächelte sie und nahm links von ihm Platz.

„Wir sehen einander viel zu selten”, meinte er, während die Lakaien aufzutragen begannen. „Sieht deine Welt jetzt ein wenig freundlicher aus?”

„Nun, Franzl”, begann sie vorsichtig. „Wie ich eben vorhin von Baron Nopcsa hörte, gibt es keinerlei konkrete Nachricht über Johann Salvator?”

Der Kaiser sah unangenehm überrascht auf. Dieses Tischgesprächsthema hatte er nicht erwartet, und es kam ihm offensichtlich auch gar nicht gelegen.

„Nein”, antwortete er pikiert, „aber es besteht leider Grund zur Befürchtung, dass die ,St. Margaritha’ auf der Höhe von Kap Hoorn gesunken ist.”

„Das hörte ich schon von Nopcsa”, nickte die Kaiserin.

„Er sagt die Wahrheit; mehr weiß ich auch nicht, Sissy. Der Erzherzog hat im Übrigen noch vor dem Auslaufen aus La Plata sein Testament gemacht.”

„Ah”, entfuhr es ihr überrascht, „das klingt ja beinahe, als hätte er mit einem baldigen Ende gerechnet...”

Er blickte auf, sah den gespannten Ausdruck in ihrem Gesicht und schüttelte abwehrend den Kopf.

„Nein, nein”, meinte er, „so würde ich das nicht auffassen... Wenn man eine Reise antritt, wie er sie vorhatte, trifft man eben gewisse Maßnahmen. Schließlich hat man ja Verantwortungsgefühl.”

„Du meinst, er machte das Testament im Hinblick auf die Gefahren der Seefahrt, für alle Fälle?”

„So und nicht anders sehe ich das, mein Engel. Wie gesagt, das Testament ist vorhanden und in Händen seiner Mutter. Aber es kann natürlich nicht vollstreckt werden. Denn solange wir nicht sicher sind, ob er nicht vielleicht doch noch lebt, kann keine amtliche Todeserklärung erfolgen.”

„Es besteht also noch Hoffnung?” fragte sie bang.

Franzl schaute angestrengt auf seinen Teller und zuckte müde mit den Schultern.

„Unser Schicksal liegt in Gottes Hand”, antwortete er orakelhaft und wechselte sprunghaft das Thema: „Aus deiner Reise nach Amerika wird nichts, mein Engel!”

Sie hatte in der letzten Zeit Andeutungen gemacht, sie habe Lust, sich die Vereinigten Staaten anzusehen. Große Hoffnung auf das Einverständnis des Kaisers zu dieser Reise hatte sie sich nicht gemacht; doch nun sagte er endgültig „nein”.

„Und warum nicht?” fragte sie kühl.

„Du weißt, mein Engel, dass ich dir in allem und jedem deinen freien Willen lasse”, meinte er gütig. „Aber diesmal muss ich darauf bestehen. Es ist ganz und gar ausgeschlossen.”

Diese letzten Worte betonte er mit Nachdruck. Sissy hob müde und ergeben die Schultern. Ihr Gesicht zeigte Enttäuschung.

„Schon gut, Franzl”, nickte sie. „Vergessen wir’s. Sehr viel lag mir ohnehin nicht daran. Ich fahre eben wieder nach Korfu.”

Es klang lustlos, und das ärgerte ihn.

„Das Achilleion, das neun Millionen Goldfranken gekostet hat”, murrte er, „und dessen du nun schon wieder überdrüssig bist. So geht es wirklich nicht”, meinte er streng.

Sie aß schweigsam, ohne zu widersprechen. Es war besser so. Sie wusste, dass er sie nicht verstanden hätte.

„Nein, mein Engel”, fuhr er dann auch fort, „für eine Weile wirst du dein Korfu-schloss schon noch behalten müssen. Dieses Achilleion war doch dein Traum! Nun steht es, ist eben erst fertiggestellt. Wenn du es wieder verkaufen willst, hält man dich wirklich für verrückt.”

„Verrückt wie meinen Cousin, den König Ludwig von Bayern, seinen Bruder Otto und noch zwanzig andere Leute aus dem Hause Wittelsbach, aus dem ich stamme! Das wolltest du doch sagen, nicht wahr, Franz?!” rief sie und legte klirrend ihr Besteck beiseite.

Seine Worte hatten sie tief getroffen und ihre geheimsten Ängste bloßgelegt. Die Angst vor dem, was sie die „Wittelsbachsche Krankheit” nannte. Die Furcht davor, in geistige Umnachtung zu fallen, was angeblich in ihrer Familie erblich war. Ja, allein die Verdächtigung, verrückt zu werden, versetzte sie schon in Panik.

Was hat die Zeit, haben die Jahre, hat mein Schicksal aus mir gemacht, fragte sie sich zitternd, während er rasch die Hand beruhigend auf ihren Arm legte. Sie hatte aufstehen und den Raum verlassen wollen, doch er zwang sie mit dem stahlharten Blick seiner graublauen Augen, sitzen zu bleiben.

Der Druck seiner Finger tat ihr weh; doch seine Stimme war seltsam weich, als er sagte: „Es sind uns doch nur so kurze Augenblicke gegönnt, mein Engel. Und du weißt, wie sehr ich dich liebe.”

Sie seufzte und spürte plötzlich ihre Augen feucht werden.

„Ich weiß, du hast es schwer mit mir, Franzl”, gestand sie.

„Es ist dennoch schön, mein Engel”, schüttelte er leise den Kopf. „Und Gott möge uns einander erhalten.”

Streichelnd fuhren seine Finger zärtlich über ihre schmale Hand. Dann legte er abrupt Messer und Gabel beiseite, nahm noch einen Schluck Wein und winkte dem Lakaien ab, der die Nachspeise servieren wollte.

„Ich habe keine Zeit mehr”, entschuldigte er sich, „man erwartet mich schon wieder.”

Damit war die Tafel aufgehoben. Sissy hatte kaum etwas gegessen, aber sie verspürte keinen Hunger. Ein schwerer Druck lag auf ihren Schläfen.

Auf dem Weg in ihr Appartement begegnete Sissy einem Lakaien, der ihr ein Billett ihrer Schwiegertochter, der Kronprinzessin-Witwe Stephanie, überbrachte. Mit wenigen Zeiten bat sie um Sissys Besuch. Das geschah selten. Stephanie wohnte noch immer in der Hofburg, doch seit Rudolfs Tod waren die beiden Frauen einander aus dem Weg gegangen. Jede gab der anderen einen Teil der Schuld an dem Drama. Mangelnde mütterliche Fürsorge für das Kind, urteilte Stephanie, und mangelnde Gattenliebe, fand Sissy, hätten zu der Katastrophe mit beigetragen.

Sissy war beunruhigt. Sie folgte dem Lakaien zu dem Schweizertrakt der Burg, ins Kronprinzenappartement, das Stephanies Zuhause war.

Die schlanke, blonde Tochter des Königs der Belgier empfing Sissy mit sichtlicher Erleichterung über deren Erscheinen. Sie wirkte nervös, ja verstört.

„Ich danke dir für dein Kommen, Mama”, eilte sie Sissy entgegen.

„Stephanie, was ist denn los?” fragte Sissy verwundert.

„Oh, Mama, ich muss weg. Ich halte es hier nicht mehr aus”, eröffnete Stephanie und fuhr sich mit den Händen an den Kopf.

„Du hast Migräne”, stellte Sissy fest.

„Migräne? Ja, das auch. Doch das ist es nicht, Mama. Ich - ich kann einfach in Wien nicht mehr bleiben. Und du bist die einzige, von der ich annehmen darf, dass sie mich versteht. Denn dir geht es ja immer wieder ebenso.”

„Stephanie, ich –“

„Mama, man kann mich doch nicht hier in der Hofburg wie eine Gefangene festhalten. Rudolf ist tot; was soll ich noch hier? Hier ist doch alles zu Ende!”

„Stephanie”, versuchte Sissy den Wortschwall ihrer Schwiegertochter zu unterbrechen. Doch vergebens. Die Kronprinzessin fuhr fort in einem Tonfall, der fast einen Anfall von Hysterie befürchten ließ.

„Mama, hör mich an: Ich habe eine Einladung von Tante Viktoria. Du weißt, dass ich ihre Lieblingsnichte bin. Sie möchte, dass ich zu ihr nach Windsor-Castle komme. Ich könnte dort, in England, bei ihr und ihrer Familie bleiben! Oh, ich möchte fort von hier, aus diesen schrecklichen Wänden, in denen mich alles an die bisher schlimmste Zeit meines Lebens erinnert!”

„Und mein Enkelkind?!” fragte Sissy stirnrunzelnd.

„Wie?” fragte Stephanie, wie aus einem unheilvollen Rausch erwachend. „Was sagtest du?”

„Ich erinnerte dich an mein Enkelkind. An deine und Rudis Tochter! Die möchtest du doch wohl mitnehmen, oder...?”

Stephanie schien sich zu besinnen. Sie dachte angestrengt nach. Da war das Kind, „die arme Kleine”, wie Rudolf sie in seinem Abschiedsbrief an Stephanie genannt hatte. Die kleine Prinzessin Elisabeth. Sie war auf den Vornamen der Kaiserin getauft...

„Ich denke schon”, murmelte sie ernüchtert. „Ja, natürlich nehme ich sie nach England mit”, sagte sie nun entschlossen.

Sissy aber schüttelte den Kopf.

„Der Kaiser würde niemals einwilligen, dass Elisabeth nach England mitkommt”, erklärte sie hart und bestimmt. „Das wirst du doch wohl einsehen, liebe Stephanie!”

„Mama, ich habe auch noch andere Gründe, wegzufahren”, drängte jedoch die Kronprinzessin weiter. „Das Verhältnis meines Schwagers, des Prinzen Coburg, zu meiner Schwester Louise verschlechtert sich von Tag zu Tag. Er ist rasend vor Eifersucht, und ich fühle mich da mit hineingezogen.”

„Unsinn, Stephanie.”

„Aber, Mama! Begreife doch! Ich fühle mich nicht nur deswegen davon betroffen, weil Louise meine Schwester ist, sondern weil Prinz Philipp auch der Freund meines Mannes war. Er und Rudolf Sissy wandte sich brüsk von ihr ab und begann nervös auf und ab zu laufen.

„Verstehst du nicht, Stephanie”, sagte sie plötzlich hart und blieb vor ihr stehen, „dass jedermann annimmt, dass du mehr über die Pläne meines Sohnes weißt, als du zugibst?”

„Aber ich weiß doch wirklich nichts Näheres, Mama”, verteidigte sich Stephanie erregt. „Rudolf hat mich ja kaum ins Vertrauen gezogen!”

„Das glaubt dir doch niemand, Stephanie! Du weißt vielleicht sogar mehr über Rudolfs Tod als ich. Du kannst unmöglich nach England gehen, Stephanie! Das kann dir der Kaiser gar nicht erlauben!”

Stephanie starrte sie entgeistert an. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und begann hysterisch zu schluchzen.

„Dann brenne ich mit meinem Kind einfach durch, Mama!” rief sie außer sich. „Ihr werdet schon sehen!”

„Nichts werden wir sehen, Stephanie. Beruhige dich und überlege vernünftig. Schreibe an Königin Viktoria, dass es dir Leid tut, ihre Einladung ablehnen zu müssen. Ich bin sicher, du brauchst ihr gar nicht zu erklären, warum. Die dicke, alte Tante Viktoria ist nicht auf den Kopf gefallen... Ich kenne sie. Und Franzl kennt sie auch. Und du solltest sie eigentlich gleichfalls kennen... Im Übrigen musst du Geduld haben. Du bist die Mutter meiner Enkelin, Stephanie, meine Liebe. Das solltest du niemals vergessen.”

Einsame Tränen

Als sie den Hafen von Gasturi näher kommen sah, wurde ihr leichter ums Herz. Wieder einmal hatte sie es in Wien nicht ausgehalten. Hals über Kopf war Sissy abgereist, nach Miramar und von dort weiter mit der Jacht nach Korfu.

Das Achilleion grüßte bereits von luftiger Höhe, weit über das Land schauend, und nun war auch das Heine-Denkmal, das sie im Park aufstellen ließ, endlich fertiggestellt. Baron Nopcsa hatte diese überraschende Reise organisiert. Mit von der Partie war die unvermeidliche Festetics und - die ganze Jacht mit einer Parfumwolke vernebelnd - der kleine Christomanos.

Er hatte beinahe geheult vor Glück, als er die Nachricht bekam, die Kaiserin wolle ihn wieder als Griechischlehrer mitnehmen. Er hatte alles liegen- und stehenlassen, seine Barschaft in frische Garderobe investiert und war in Miramar an Bord gekommen. Er schwamm förmlich in Seligkeit, war er doch noch immer bis über beide Ohren in Sissy verliebt.

Beim Anblick des Achilleion vergaß Sissy all die Sorgen, die sie in Wien geplagt hatten: das Schicksal des Erzherzogs Johann Salvator, von dem man noch immer keine Nachricht hatte, die Thronfolgerfrage und die Probleme der Politik, mit denen sich Franzl herumschlagen musste. Da ging es, die immer wieder auflodernden, von den Nationalisten in Ungarn, Böhmen und den italienischen Provinzen geschürten Flammen halbwegs zu bändigen. Und der noch immer im Amt befindliche Ministerpräsident Graf Taaffe machte dabei nicht die beste Figur.

Die Jacht ging im kaiserlichen Privathafen vor Anker. Im Laderaum des Schiffes ruhte das ganze Gepäck, das Sissymitgenommen hatte - Briefpapier mit dem Signet des blauen, gekrönten Delphins hatte sie noch in Wien drucken lassen. Aus Venedig kam wunderschönes, handgeschliffenes Kristall: Gläser und Karaffen, gleichfalls mit Sissys Korfu-Signet versehen. Herrliche Porzellanservice für alle Gelegenheiten, Silberbestecke, Bettzeug für ihr eigenes und für Gästezimmer - und überall musste der gekrönte, blaue Delphin zu sehen sein.

So gab es eine Menge auszupacken. Sissy, ganz Feuer und Flamme, überwachte alles selbst und begrüßte völlig außer Atem kaum Herrn von Bucovich, der berichtete, der Bildhauer Professor Hesselried, der Schöpfer des Heine-Denkmals, sei gleich selbst mitgekommen, um die Aufstellung seines Werkes zu überwachen.

„Wie, der Professor ist hier?”

„Selbstverständlich, Majestät; das hat er sich doch nicht nehmen lassen, zu erleben, wie sein Heine-Denkmal ein wunderschönes Plätzchen bekommt. Und außerdem die Gelegenheit, Majestät zu begegnen...”

Es war ein lautes Treiben um die Jacht. Nur der kleine Christomanos, dessen Schneider sich alle Mühe gegeben hatte, durch geschicktes Wattieren seiner Anzüge seinen Höcker zum Verschwinden zu bringen, stand, in Sissys Anblick versunken, selig in ihrer Nähe und starrte glänzenden Auges vor sich hin.

Doch als Sissy das Achilleion betrat, das sie mit so viel Enthusiasmus hatte bauen lassen, beschlich sie wieder die alte Enttäuschung.

Wie ein Schatten fiel es über ihr schönes Gesicht.

„Oh, Majestät”, sorgte sich Christomanos, ergeben näher tretend, „ist etwas? Fühlen sich Majestät nicht wohl?”

Sissy lächelte: „Es ist nichts weiter, Konstantin. Man sollte eben Träume nicht verwirklichen wollen. Ich bereue es, das Achilleion gebaut zu haben!”

„Aber, Majestät”, staunte Christomanos, „dieses herrliche Schloss - alle Welt beneidet Majestät um dieses Bauwerk!”

„Das verstehen Sie nicht, Konstantin. Dieser Fleck Erde, diese herrliche Insel, sie hat mich fasziniert. Ich dachte, hier würde ich leben können. Ja, hier wäre es schön, einst zu sterben und begraben zu werden... Ich träumte einen Traum, Christomanos... Ein Traum, der nicht Wirklichkeit werden konnte, der es niemals werden kann, und würde ich hundert Denkmäler auf diese Insel schleppen. Ich darf es dem Professor gar nicht sagen - ich fürchte nämlich, dass alles, was Menschenhand schaffen kann, den Zauber dieser Landschaft nur entweiht.”

„Aber, Majestät –“

„Nein, nein, Christomanos. Das geht nicht gegen den Professor, das geht gegen mich selbst! Ich war vermessen. Jeder Halm, der hier wächst, jede Distel, die hier blüht, ist schöner als mein ganzes Achilleion!”

Christomanos begriff nicht, was sie meinte. Er schaute sie nur todtraurig an, weil erfühlte, wie sie litt. Und Sissy bereute den Bau tatsächlich. Sie sehnte sich zurück nach diesem Fleck Erde, so, wie er war, bevor er verbaut wurde.

Im Haus begrüßte sie nun den Bildhauer; das Denkmal stand schon auf seinem Platz im Park, in einer Art kleinem, griechischem Tempelchen. Es war noch verhüllt. Seine Umrisse schimmerten zwischen den Säulen hervor; Sissy war neugierig, obwohl sie den Entwurf genau kannte.

„Wir werden es heute Nachmittag feierlich enthüllen”, freute sie sich. „Alle müssen zu der kleinen Feier kommen! Herr von Bucovich wird das arrangieren.”

Zu Mittag prunkte zum ersten Mal, frisch geputzt und poliert, das kostbare Silberbesteck auf der geschmückten Tafel, und das Essen wurde auf Tellern serviert, welche der Delphin mit der Krone zierte. Der Delphin, das heilige Meerestier, in das sich Meergott Neptun verwandelt hatte...

Am Nachmittag versammelten sich alle um den kleinen, offenen weißen Tempel, und Sissy nahm persönlich die Enthüllung vor. Der Bildhauer hatte den Dichter an einen Stuhl gelehnt dargestellt, ein von ihm beschriebenes Blatt in Händen. Alles klatschte dem gelungenen Werk Beifall, und die Kaiserin drückte dem Bildhauer ergriffen die Hand.

Als die Dämmerung über die Insel fiel, kehrte die Kaiserin von einem Spaziergang zurück. Müde setzte sie sich mit der Festetics auf eine Steinbank, und beide betrachteten das Heine-Denkmal.

„Es stimmt melancholisch”, fand Marie.

„Heines Gedicht von den einsamen Tränen”, erklärte Sissy, „hat den Professor zu diesem Standbild inspiriert. ,Was will die einsame Träne? Sie trübt mir ja den Blick...’ Hesselried hat versucht, die Stimmung darzustellen, in der Heine dies geschrieben hat...”

„Majestät umgeben sich mit zu viel Melancholie.”

„Es passt zu meinem schwarzen Kleid, Festetics... Das Leben ist nicht immer heiter.”

„Eben! Wozu dann sich auch noch so einen traurigen Dichter in den Garten stellen”, rügte die Festetics. „Majestät sollten an fröhliche Dinge denken... An den kleinen Enkel etwa, der wohl bald ankommen wird. Und an die junge Mutter Marie-Valerie, Euer liebstes Kind...”

„Wie fern sie doch alle sind”, meinte Sissy sinnend und ein wenig nervös.

Sie erhob sich, und die beiden Frauen kehrten ins Haus zurück. Vielleicht hatten die Leute Recht, die von ihr sagten, sie mache sich selbst das Leben schwer. Seit Rudolfs Tod war vieles anders geworden. Oh, sie begriff Stephanie, als sie an ihr letztes Gespräch in Wien zurückdachte. Sie wollte doch selbst vor all dem davonlaufen, das ihr als Schuld dünkte, doch sie konnte es nicht. Und Stephanie würde es ebenso wenig können.

Sissy nahm an diesem Abend nur wenig zu sich. Die anderen gingen bald schlafen, doch sie fand keine Ruhe. Angespannt wanderte sie in ihrem Schlafgemach auf und ab; durch die offenen Fenster drang das Rauschen der Palmen, klang von irgendwoher eine ferne Flötenmelodie. Das war wohl ein Hirt bei seiner Herde, der auch keine Ruhe fand.

Sie warf sich einen Mantel über und verließ auf leisen Sohlen das Haus, ging hinaus in den Park. Es zog sie wieder zu Heine, der einst, im Schloss der Königin Carmen Sylva, versucht hatte, ganz von ihr Besitz zu ergreifen . . .

Seither hatte Sissy keine Feder mehr angerührt, um zu dichten. Er stand still im Mondlicht, kein Geist wie damals auf Sinaia, sondern ein Standbild, unbeweglich und schweigsam. Dann aber wandte sie sich still um und kehrte ins Haus zurück. Sie hatte wohl die Lust verloren, ihren nächtlichen Spaziergang fortzusetzen.

Unten, an der Mole, schaukelte die weiße kaiserliche Jacht „Miramar” im sanften Wellengang. Sie war wie ein Traumschiff im flutenden Silberlicht des Mondes anzusehen.

Der Matrose Kernstock, ein Mann aus der Steiermark, der gerade auf Deck Wache hielt, dachte, dass daheim in seinem Heimatdorf jetzt vielleicht Schnee auf die Dächer fiele. Das Plätschern der Wellen an der Bordwand wurde plötzlich von einem anderen, leisen Geräusch übertönt. Es war das

Ticken des Morsetelegraphen in der Telegraphenstation, aus der ein schwacher Lichtstrahl auf die Deckplanken schimmerte.

Wahrscheinlich eine Nachricht für die Kaiserin, dachte sich Kernstock. Vielleicht vom Kaiser aus Wien . . . Wenn es etwas Wichtiges ist, muss man es noch hinauf ins Schloss bringen. Auf dem steilen, in den Fels gehauenen, halb verwachsenen Steig von der Mole zum Schloss ist das bei Nacht eine halsbrecherische Angelegenheit...

Und in der Tat kletterte auch bald ein übernächtiger Matrose den gefährlichen Steig hinauf.

Baron Nopcsa fuhr ärgerlich aus den Federn, als es an die Tür seines Schlafzimmers pochte.

„Ein Telegramm für Ihre Majestät”, meldete ein Diener. „Es wurde soeben von der Jacht heraufgebracht.”

Fluchend fuhr Nopcsa in seine Lederpantoffeln und schlurfte zur Tür. Er öffnete diesen einen Spalt, ließ sich das Telegramm hereinreichen und überflog im Licht der elektrischen Wandampel, die er hastig angeknipst hatte, die wenigen Zeilen:

HERZOGIN LUDOVIKA IN BAYERN SCHWER ERKRANKT.

ANWESENHEIT WÄRE ZU EMPFEHLEN.

FRANZ JOSEPH

las er erbleichend.

„Du lieber Himmel”, kratzte er sich den Schädel, „soll ich damit bis morgen früh warten? Sie ist imstande und lässt uns noch diese Nacht abdampfen. Besser, sie kriegt es zum Frühstück. Oder doch nicht? Am Ende stirbt die Herzogin, bevor sie in Possenhofen eintrifft. . . Nein, die Verantwortung will ich nicht übernehmen. Dann noch lieber bei Nacht und Nebel die Anker lichten!”

Sissy schlief tief und traumlos. Aber sie war rasch hellwach, als ihr das Telegramm überbracht wurde.

„Mama schwer erkrankt”, rief sie aus. „Und Franzl meint, ich müsse gleich nach Possenhofen... Wahrscheinlich hat er Recht. Sie sah ja schon bei meinem letzten Besuch aus, dass mir ganz Angst um sie wurde...”

Wenige Minuten später glich das Achilleion einem aufgescheuchten Bienenschwarm. Und die kaiserliche Jacht lichtete im Morgengrauen ihre Anker.

Der Sarg und die Wiege

Der Sonderzug der Kaiserin ratterte über die hohen Viadukte der Semmeringstrecke in Richtung Wien. Der Morgen dämmerte über tief verschneiten Tannenwäldern. Nebel hing in den Schluchten. Die Lokomotive ließ schrille Warnpfiffe hören, und dichte Dampfwolken entstiegen dem Rauchfang. Eintönig ratterten die Räder der Waggons über die Geleise.

In Graz war Frau von Mikes zugestiegen; sie hatte Verwandte besucht und ergriff die Gelegenheit, den Sonderzug für die Rückfahrt zu benutzen und der Kaiserin Gesellschaft zu leisten und behilflich zu sein.

„Ich dachte mir, Majestät können jetzt ein wenig Ermunterung gebrauchen”, erklärte sie bei der überraschenden Begrüßung. „Seine Majestät hat schon den Leibarzt nach Possenhofen geschickt. Der Doktor wird es nicht zum Äußersten kommen lassen.”

„Meine Mutter ist bereits im vierundachtzigsten Lebensjahr”, versetzte Sissy ernst und voll Besorgnis.

„Gott, wie schön”, seufzte Frau von Mikes und verdrehte die Augen himmelwärts. „Das ist doch ein gottgesegnetes Alter, Majestät! Ich wollte, ich würd’ auch einmal vierundachtzig. Doch mich holt wahrscheinlich schon früher der Krampus.”

„Es ist ein Alter, in dem man mit allem rechnen muss”, meinte jedoch Sissy ernst. „Aber wenn ich meine Mutter verlieren sollte . . . was bliebe mir dann noch auf der Welt?”

„Majestät tun sich versündigen”, tadelte die Mikes resolut. „Majestät haben den Herrn Gemahl, den Kaiser. Haben liebe Kinder; und ein Enkerl kommt auch demnächst, hab’ ich mir sagen lassen.”

„Oh”, horchte Sissy auf, „hat man etwa Nachricht aus Wels?”

„Man hat”, grinste die Mikes vielsagend. „Die Frau Tochter ist pumperlg’sund. Nur der künftige Herr Papa hat’s bereits mit den Nerven.”

„Ja, ist es denn schon bald soweit?” rief Sissy.

„Offenbar”, lachte Frau von Mikes.

„Und ich sitz’ hier im Zug”, rief Sissy ärgerlich, „und kann nicht weg!”

„Im Zug sitzen ist in so einem Fall das gescheiteste, was man tun kann - im Zug sitzen und hinfahren, mein’ ich”, erklärte Frau von Mikes. „Fragt sich nur: wohin. Das ist nämlich Ihr Dilemma, Majestät. Majestät können unmöglich zugleich nach Possenhofen und nach Schloss Lichtenegg bei Wels. Majestät aber würden an beiden Stellen gebraucht. In Lichtenegg beim Zurweltkommen und in Possenhofen, in Possenhofen...”

Sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippen. Beinahe hätte sie „zum Sterben” gesagt.

Sissy hatte sie auch so verstanden. Die Lebhaftigkeit, die sie bei der Nachricht von der bevorstehenden Geburt ihres Enkelkindes überkommen hatte, wich blitzartig der Depression.

„Das ist aber jetzt wirklich ein Problem”, fand sie bedrückt. „Aber nein, da gibt es gar keinen Zweifel, dass ich auf schnellstem Weg nach Bayern muss. Wenn mein Enkelkind gesund zur Welt kommt, werde ich - so Gott will - es noch oft genug sehen. Meine arme Mutter aber sehe ich vielleicht nie mehr wieder.”

„Ist ja schon recht, Majestät. Ich an Ihrer Stell’ tat’ auch nix anderes machen. Ich fahre auch nach Possenhofen. Und mir ging’s auch zu langsam, grad’ so wie Ihnen jetzt. Aber den Semmering, den muss sich der Zug halt schön langsam hinaufschnaufen, da hilft alles nix. Auf der anderen Seit’ geht’s dann dafür ein bisserl schneller hinunter.”

„Sooft ich diese Strecke fahre, bewundere ich den Baumeister, den Karl Ghega, den mein Mann zum Ritter geschlagen hat; es ist ja wirklich eine einmalige Bahn... Fünfzehn Tunnels und sechzehn Viadukte, davon der mit zweihundertachtzig Metern Länge über das Schwarzatal! Österreich kann schon stolz sein auf seine Südbahn von Wien nach Triest.”