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Im Jahr 1896 ist Budapest, ja ganz Ungarn, Schauplatz eines glanzvollen Festes. Sissy und Franz Joseph feiern gemeinsam mit allen Ungarn ein einzigartiges Ereignis – 1000 Jahre ungarische Königswürde, 1000 Jahre Stephanskrone – doch nicht allen Bewohnern des Reiches ist nach feiern zumute …
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Seitenzahl: 317
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MARIELUISE VON INGENHEIM
Sissy
Krone und Rebellen
Autorin: Marieluise von Ingenheim
Illustration Überzug: M. Pleesz
Copyright der E-Book-Ausgabe von hiStory Publications:© Copyright 2016 by Verlagsbuchhandlung Julius Breitschopf GmbH,A-3420 Klosterneuburg bei WienAlle Rechte vorbehalten.Das Werk ist weltweit urheberrechtlich geschützt.All rights reserved throughout the world.
ISBN: 978-3-7004-4440-4EAN: 9783700444404
Prolog
01 - Millennium
02 - Der Engel Ungarns
03 - Nikolaus und Alexandra
04 - Sissys Letzter Wille
05 - Des Kaisers Geburtstag
06 - Franz Joseph, hoch!
07 - Begegnungen
08 - Bevor der Schnee fällt
09 - An der Biskaya
10 - Weder Achilleion noch Gödöllö
11 - Halb hier, halb drüben
12 - An der Jahresschwelle
13 - Wohin die Kugel rollt
14 - Die Tage von Cap Martin
15 - Am Genfer See
16 - Petersburger Erinnerungen
17 - Die Spaziergängerin
18 - Ein Drama an der Seine
19 - Die Kurpromenade
20 - Ischler Intermezzo
21 - Die schwere Last
22 - Seltsame Beziehungen
23 - Süße Trauben in Meran
24 - Jagdschloßgäste
25 - Wilhelm in Budapest
26 - Wallsee
27 - Die Herzgruftkammer
28 - Abendleuchten
29 - Allianzen
30 - Das neue Burgtheater
31 - Abschied und Weihe
32 - Das Zerwürfnis
33 - Rebellen
Im Jahr 1896 ist Budapest, ja ganz Ungarn, Schauplatz eines glanzvollen Festes. Sissy und Franz Joseph feiern gemeinsam mit allen Ungarn ein einzigartiges Ereignis -1000 Jahre ungarische Königswürde, 1000 Jahre Stephanskrone - doch nicht allen Bewohnern des Reiches ist nach feiern zumute…
In diesen Maitagen des Jahres 1896 lebte ganz Budapest in einem Rausch der Festesfreude. Die Hotels und Pensionen waren zum Bersten voll mit auswärtigen Gästen, die Privatzimmer seit Monaten ausgebucht, und wer nicht einmal mehr in einer Herberge unterkommen konnte, schlief in den Parkanlagen oder auf den Bänken der Uferpromenade der Donaustadt. Denn es war ein schöner, warmer, sonniger Mai, es herrschte „Kaiserwetter”. Und das Millennium, die Jahrtausendfeier, das Fest aller nationalen Feste, sollte alles bisher Dagewesene übertreffen.
Das Königreich und der Budapester Magistrat ließen sich's auch was kosten. Kein Wunder, dass die Schaulustigen aus ganz Europa in Budapest zusammenkamen. Umzüge, Ausstellungen, Festvorstellungen und -konzerte in Sälen und auf öffentlichen Plätzen, vor allem aber die offiziellen kirchlichen und weltlichen Feierlichkeiten, die sich bis in den Monat Juni hinein erstrecken würden, waren wohl die Reise wert. Alle, die am Fremdenverkehr verdienten - und das war in diesen Budapester Tagen selbst der kleinste Würstelstand und die „Gulyashütte” in der Vorstadt -, sie rieben sich die Hände.
Zwar war die Heilige Stephanskrone, welche die tausendjährige Macht über Ungarn symbolisierte und sie der Satzung nach auf ihren Träger übertrug, der Glanz- und Mittelpunkt des Millenniums; doch das Verlangen, einen Blick auf dieses sagenhafte Heiligtum zu werfen, hielt sich in Grenzen. Hauptsächlich galt die Neugierde der kaum mehr zu Zählenden in den Straßen Budapests dem Königspaar; und hier vor allem „Erszebeth, der geliebten Königin”, wie man auf unzähligen Transparenten lesen und deren blumengeschmücktes, wunderschönes Bild man in jeder Geschäftsauslage betrachten konnte.
Es waren Fotografien älteren Datums, Stiche oder mehr oder weniger kunstvolle, oft sogar von Laien angefertigte Gemälde. Selbst die kleinen Greißler und Gemüseläden verzichteten nicht auf ein Bild von Erszebeth. Und auf den Marktständen lächelte sie zwischen Paprikaschoten und Kartoffeln, aus Zeitungen ausgeschnitten und auf Pappe geklebt. Noch nie war in Ungarn eine Frau geliebt und verehrt worden wie sie!
Doch ihren wahren Anblick hatte man lange genug und schmerzlich entbehren müssen. Und überall fragte man nach dem Grund ihres Nichterscheinens. Aus der Hofburg in Wien kamen besorgniserregende Gerüchte, die aufgebauscht und in den Zeitungen von den Journalisten noch mehr entstellt wurden. Und es war kein Wunder, wenn sich daraufhin im Parlament Abgeordnete zu Wort meldeten und Aufklärung verlangten. Denn sie war das geliebte Kleinod aller Ungarn.
War sie wirklich so krank? War sie geistesgestört, nicht klar bei Sinnen? Litt sie etwa an einem anderen geheimnisvollen Leiden? Und wie sah sie aus, war sie immer noch so schön, wie man sie in Erinnerung hatte?
Man fieberte den Tagen entgegen, an denen sie sich öffentlich zeigen würde. Denn es hieß, sie würde kommen! Endlich wieder, zusammen mit ihrem Mann, dem König, in ihre Residenz.
Auf den Kaffeehausterrassen und an den Tischen in den Lokalen und im Freien saßen gutgekleidete Leute und sprachen eifrig über Elisabeth. Sie war seltsam, ein Geheimnis, gut für Gesprächsstoff zu jeder Jahreszeit. Seit dem Tode ihres einzigen Sohnes, des Kronprinzen Rudolf, ging sie nur noch in Schwarz und fand offensichtlich keine Ruhe mehr. Sie kam immer seltener zu ihrem Schloss Gödöllö bei Budapest, das ihr die Ungarn geschenkt hatten und das, wie es hieß, ihr liebster Aufenthalt gewesen sei, bis - ja, bis jenes schreckliche und geheimnisvolle Ereignis in Mayerling eintrat, das ihr Leben veränderte.
Das Volk hatte sich mehr oder weniger mit dem Tod des Kronprinzen abgefunden, die Königin aber offenbar nicht. Sie floh aus Wien, obwohl ihr der König und Kaiser die herrliche Hermesvilla erbauen ließ, um seine Frau in seiner Nähe zu halten. Vergeblich! Auf der fernen Insel Korfu hatte sie sich ein Schloss errichtet, das Achilleion, in dessen Park ein Denkmal des Dichters Heinrich Heine und eines des Kronprinzen Rudolf stand. Doch nun - das war durchgesickert - gefiel es ihr auch dort nicht mehr. Sie wollte das Achilleion verkaufen, für dessen Bau Franz Joseph aus seiner Privatschatulle so große Geldmittel aufgewendet hatte.
Er tröstete sich für die nun schon fast permanente Abwesenheit seiner Gattin, hieß es, mit der Burgschauspielerin Katharina Schratt. Sissy selbst hatte sie ihm zugeführt. Damit ihm die Einsamkeit in seinem privaten Dasein leichter fiele. Bei der schweren Last, die sein Amt ihm Tag für Tag und Stunde für Stunde auferlegte, brauchte er einen Menschen, dem er sein Herz ausschütten konnte. Sissy, seine geliebte Sissy, sah er aber nur selten. Sie floh auch ihn.
Dabei erinnerten sich die älteren Leute noch genau: Es war eine echte Liebesheirat, denn eine große, tiefe Zuneigung verband die beiden. Doch seither war viel Wasser die Donau hinabgeflossen - in Wien wie auch in Budapest...
Je geheimnisvoller und rätselhafter das Wesen der Königin ihnen erschien, umso mehr weckte sie ihre Neugierde. Triumphbögen und Girlanden schmückten und überspannten die Straßen, durch die sie fahren würde. Überall wehten schon die Fahnen und Farben Ungarns und Habsburgs, des Herrscherhauses. Und erwartungsvolle Freude glänzte auf allen Gesichtern, strahlte aus jedem Augenpaar, lachte von jedem Mund.
Am 2. Mai war es dann soweit. Die Stadt erbebte unter den brausenden „Eljen”-Rufen, und die Tauben flatterten erschreckt über die Dächer. Schneidige Märsche und der Paradeschritt des Militärs in seinen schmucken Uniformen, die donnernden Geschützsalven des Salutschießens von der Buda- er Burg - dies alles verschmolz zu einem festlichen Lärm, als die Prunkkarosse, begleitet von einem prächtigen Gefolge, durch die in einem Blumenregen fast ertrinkenden Straßen fuhr, während von den Kirchtürmen die Glocken läuteten.
Es ging zur Eröffnung der Millenniumsausstellung. Das war eine der vielen Gelegenheiten, an denen sich die Majestäten dem Volk zu zeigen hatten. Die Budapester hatten schon sehnsüchtig darauf gewartet; endlich sah man die geliebte Königin wieder!
Sissy winkte der wogenden Menschenmauer, welche die Straßenzüge säumte, zu. Sie wirkte blass, schmal, wie abwesend. Sie gab sich Mühe zu lächeln, doch es gelang ihr schlecht. Franzl hingegen saß gerade neben ihr, wenn auch ein wenig steif. Auch er grüßte in die Menge.
„Mehr Haltung, Sissy”, forderte er leise. „Du hast es ja bald durchgestanden! Wenn alles vorbei ist, kannst du dich in unseren Zimmern in der Burg entspannen. Du hättest vielleicht doch eines von den Beruhigungsmitteln nehmen sollen, die dir Kerzl empfohlen hat!”
„Ich bin keine Spur aufgeregt”, versicherte sie, „ich mag nur nicht angestarrt werden.”
„ Es sind ja deine Ungarn, die dich anstarren”, meinte er, „deine geliebten Ungarn, mein Schatz.”
„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?”
Jetzt lächelte sie wirklich. Hier rangierte sie in der Volksgunst deutlich vor ihm, und es mochte sein, dass ihn dies verletzte.
„Ich erfülle meine Amtspflicht”, versetzte er jedoch. „So wie überall, wo es von mir verlangt wird. Und dabei spielt es keine Rolle, was ich selbst darüber denke und dabei empfinde.”
„Siehst du”, nickte sie und lächelte wieder schmerzlich in die Menge, „das spüren die Leute, mein Löwe! Du erfüllst deine Pflicht. Wo aber ist dabei dein Herz?”
„Bei dir”, antwortete er einfach. „Und ich sorge mich sehr um dich.”
„Wohl auch wegen des Briefes, den dir meine Nichte geschrieben hat? Meine Familie macht dir Kummer. Marie ist gemein und niederträchtig.”
„Ja”, nickte er. „Das hat uns gerade noch gefehlt, dass sie mich erpresst! Schäbig erpresst! Wie soll man es sonst nennen?”
„Aber hat sie denn Grund, dich zu erpressen? Was weiß sie über Rudolfs Tod, das niemand erfahren darf?”
„Ach”, knurrte Franzl, „Rudolf! Sie behauptet, über dich Dinge veröffentlichen zu können, Dinge, die dein und mein Privatleben betreffen!”
„Unmöglich!” rief Sissy empört.
„Alles natürlich Erfindungen, Verleumdungen, Entstellungen, was weiß ich! Ebenso wie ihr angebliches Wissen über Rudolf. Aber wir können nicht riskieren, dass sie damit an die Öffentlichkeit geht. Es würde nicht nur für uns, sondern für Österreich-Ungarn im In- und Ausland gefährlich sein.”
Niemand ahnte, was in ihnen vorging, welche Probleme sie beschäftigten, welche Gefühle sie beherrschten. Man sah sie im vergoldeten Prunkwagen sitzen, der von prächtig geschmückten Lipizzanern gezogen wurde - und manche Leute meinten wohl, dieses Paar wäre zu beneiden . . .
Die Nichte der Kaiserin, Gräfin Larisch-Wallersee, hatte geschrieben. Nachdem bekannt geworden war, dass sie in der Affäre um den Tod des Kronprinzen eine nicht eben erfreuliche Rolle gespielt hatte, war sie von dem Grafen geschieden worden, nach München gegangen und hatte dort einen Tenor der Königlich Bayrischen Oper geheiratet.
Für den Sänger war es eine Renommierehe, denn nicht jeder in seinem Fach konnte sich so hoher Verwandtschaft rühmen. Für die einstige Gräfin aber war es der Beginn eines unaufhaltsamen Abstiegs; auch ihre Stunde hatte in Mayerling geschlagen.
Nun ging diese Verbindung in Brüche. Und die Gräfin brauchte Geld. Sie suchte es sich zu beschaffen, indem sie Memoiren schrieb, für die sich angeblich schon sehr viele interessierten. Darunter Zeitungen in den USA, die für solche Schandgeschichten eine Menge Dollars boten.
Aber, schrieb sie, sie wolle in Anbetracht ihrer Familienzugehörigkeit und ungebrochenen Treue zu Onkel und Tante und im Interesse der Reputation des Kaiserhauses schweren Herzens darauf verzichten, ihr Geschreibe zu verkaufen. Doch müsse sie dann natürlich auf andere Weise finanziell über Wasser gehalten werden, bis sie ihre Verhältnisse wieder geordnet habe.
Während ringsum eitel Wonne und Freude herrschten, befanden sich Franzl und Sissy unter dem Eindruck einer ungeheuerlichen Drohung, von der niemand etwas wissen, die niemand erfahren durfte - und aus der es zunächst offenbar auch gar keinen Ausweg gab.
Die Ausstellungseröffnung mit all ihren Reden und der anschließenden Führung durch das Gelände erlebte Sissy halb abwesend. Das fiel auf. Und so erschien sie denen, die sie so sahen, nur noch rätselhafter und - interessanter...
Die endlos scheinende Führung durch die Ausstellung, das anschließende nochmalige Redenhalten und Verabschieden war ermüdend. Und war doch nur einer der vielen Programmpunkte, die im Laufe der Millenniumsfeiern zu absolvieren waren. Sissy sehnte deren Ende herbei. Aber noch war sie eingezwängt in eine wunderschöne, aber tiefschwarze Festtoilette, „im Geschirr”, wie sie es zu nennen pflegte.
Sehr bleich sah sie darin aus, für jeden erkennbar, dem es vergönnt war, einen Blick auf ihr Antlitz zu werfen, wenn sie den Schleier lüftete, der von der barettartigen Kopfbedeckung niederfiel und ihr Gesicht bis zum Kinn verdeckte. Das kleine Barett thronte auf der Fülle des noch immer reichen, natürlichen Schmucks ihres Kopfhaars.
Jedes Haar, das an den Bürsten und Kämmen der Friseuse Feifal hängenblieb, verschaffte Sissy Depressionen. Deshalb hatte sich die Friseuse zahlreiche Tricks zugelegt, um solches zu verheimlichen. Auch Sissys Gewicht war ein Problem. Sie wog nur knapp fünfzig Kilo, und Franzl schob - wohl mit Recht - einen guten Teil ihrer Nervosität und schlechten Laune den ständigen strengen Kuren zu, denen sich seine Frau unterwarf und gegen die auch die Leibärzte Bedenken äußerten.
Franzl wusste um diese Opfer, konnte sie aber nicht recht schätzen. Tatsächlich waren ihm die nun schon nicht mehr ganz so sanften Rundungen der stets mollig gewesenen Kathi Schratt lieber als die noch immer gertenschlanke Figur seiner Sissy, die oft nur von Milch und Orangen lebte. Und schließlich gab es bei Kathi einen gut gezuckerten, mit Rosinen gefüllten Gugelhupf und dazu jeden Morgen ein Schalerl Kaffee mit Schlagobers, wenn er sie an so manchem frühen Morgen in der Gloriettegasse besuchte.
Sollte er Kathi von dem Münchner Brief erzählen? Was hielt wohl Sissy von dieser Idee?
Die Zeitungen überschlugen sich in Berichten. Doch Sissy gab keine Interviews, die Journalisten wurden an ihr Sekretariat verwiesen, wo Frau von Sztaray die Flut neugieriger Fragen zu beantworten versuchte.
Nein, die Kaiserin sei nicht ernstlich krank, doch ihrer zarten Natur wegen angegriffen und schonungsbedürftig. Aber die Liebe zur ungarischen Nation sei so tief in ihr Herz gegraben, dass sie dennoch gekommen sei. Wie, bitte? Die Kaiserin sei völlig klaren Sinnes! O ja, natürlich, Verzeihung, es handle sich hier nicht nur um die Kaiserin, sondern vor allem um die Königin. Jawohl, die Königin werde dem Tedeum beiwohnen, doch zu Festvorstellungen in die Theater und zu Bällen gehe sie nicht. Ob sie noch Gedichte schreibe? - Nein, schon lange nicht mehr.
Ob die Kaiserin bessere Informationen über die Vorfälle in Mayerling habe, wollte ein vorwitziger Auslandskorrespondent wissen. Die Sztaray konterte: Alles, was über die Geschehnisse in jener Nacht bekannt sei, habe das Pressebüro des Hofes in Wien zur Kenntnis gebracht. Aber es hieße doch, der angebliche Selbstmord des Kronprinzen sei gar keiner gewesen? - Ihr, Irma von Sztaray, der engsten Vertrauten und Hofdame der Kaiserin und Königin, sei hierüber auch nicht mehr bekannt als allen anderen Leuten und was aus den Bulletins des Hofes zu entnehmen sei. Im Übrigen liege das traurige Ereignis nun schon Jahre zurück, und es gehe jetzt um die Tausendjahrfeiern der Stephanskrone.
Während Frau von Sztaray sich in Gegenwart des offiziellen Pressesprechers in der Burg mit den Journalisten plagte, fuhr Sissy in „kleiner Equipage” zu einem Privatbesuch. Sie konnte nicht umhin, in Budapest zu sein, ohne an ihre Pflicht als Urgroßmutter zu denken. Denn in Budapest lebte ja Erzherzog Joseph mit seiner Familie, und vor etwas mehr als einem Jahr, im März, war dessen kleiner Stammhalter Joseph Franz zur Welt gekommen. Auf der Fahrt von und zum erzherzoglichen Wohnsitz verdeckte sie stets ihr Gesicht mit dem Fächer; den Schleier hatte sie der drückenden Hitze wegen in der Kutsche zurückgeschlagen.
Der Kleine war ihr erster männlicher Urenkel, und sie hob ihn mit gemischten Gefühlen an ihr Herz und drückte ihn an ihre blassen Lippen. Als sie so dieses Bündel Leben in ihren Armen hielt, wurde ihr mit drückender Deutlichkeit bewusst, wie die Jahre dahinschwanden, wie sie unaufhaltsam durch die Sanduhr des Lebens strömten, so dass nur noch eine kleine, allzu rasch vergängliche Neige übrigblieb. Wie lange noch? - Wer mochte es wissen!
Früher als geplant beendete sie diesen Besuch; sie hatte geahnt, dass sie wieder tiefe Depressionen empfinden würde, und so war es auch gekommen. Von ihrem fröhlichen Mädchensinn von einst blieb nicht mehr viel über. Wo waren die Tage der Kindheit im bayrischen Possenhofen hin? An ihre Eltern erinnerte sie sich nur noch wie an ferne Schemen. Selbst Rudolfs Gesicht vermochte sie sich oft nur mit Mühe ins Gedächtnis zu rufen, und dann erschien es seltsam und unheimlich verzerrt - eher als eine Anklage. Woher kam dieses grausame Schuldgefühl, das ihr Dasein zerstörte?!
Dann kam das feierliche Tedeum in der Krönungskirche. Kaum hörte sie die Ansprache des Kardinalfürstprimas, die von gerührtem Schluchzen der Zuhörer begleitet war. Er sprach von Sissys „mütterlich-zarter Hand”, die so segensreich über die ungarische Nation gebreitet war und die einst ein unzertrennbares Band zwischen Ungarn und dem Hause Habsburg geknüpft hatte. Ja, sie hatte die Herzen der ritterlich empfindenden Ungarn erobert. Der „Ausgleich” war ihr und Andrassys Werk gewesen. Andrassy - auch das lag lange zurück… Sissy war, als wandle sie inmitten von Schatten einer Vergangenheit, von der sie heftig wünschte, sie ginge sie nichts an. Doch es gab kein Entrinnen vor ihnen.
Der achte Juni war ein besonderer Tag. An ihm fand der feierliche Staatsakt im Thronsaal der Burg von Buda statt.
In feierlicher Prozession waren die Throninsignien von der Krönungskirche nach dem Parlament überführt worden. Ganz Budapest war auf den Beinen, um dieses prächtige Schauspiel mitzuerleben. Dann dauerte im Parlament die Festsitzung des Ungarischen Reichstages stundenlang: Stehend musste Franzl der Rede des Reichstagspräsidenten Szilagyi zuhören. Sissy saß neben ihm und glich einer „Mater dolorosa”, wie man anderentags in den Zeitungen lesen konnte.
Bei der darauffolgenden Huldigung im Thronsaal der Burg war sie tatsächlich fast am Ende ihrer Kräfte. Aber als Szilagyi Dankesworte an die Königin richtete und ein brausendes „Eljen!” erscholl, schluchzte sie gerührt und dankbar lächelnd auf.
Die Illustriertenleser verschlangen die Journalistenberichte. In denen konnte man lesen, was Sissy bei diesem Anlass trug: festliche ungarische Nationaltracht aus prächtig schimmernder Seide - in Schwarz! Schwarz war auch die Perlenkette um ihren Hals. Sie trug kein Diadem; ihr Haar war zu einer Krone geflochten.
Wie von einer Last befreit atmete sie auf, als dieser Tag sich neigte. Franzl kam in ihr Ankleidezimmer, um sich besorgt nach ihrem Befinden zu erkundigen.
„Wie geht's, mein Engel?”
„Danke, es muss. Es ist durchgestanden.”
„Du siehst fabelhaft aus”, stellte er anerkennend fest.
„Ja, Madame Fuchs ist wieder einmal ihrem Ruf als Hofschneiderin gerecht geworden.”
„Nicht das Kleid, sondern die königliche Trägerin meine ich.”
„Die Rechnungen von Madame Fuchs sind gleichfalls königlich.”
„Sag das nicht laut, sonst schreiben die Zeitungen noch, du hättest deswegen so traurig dreingesehen”, scherzte er.
„Ach, ich habe während der vielen Reden an so manches gedacht... und mir war, als drückten die tausend Jahre, die man so festlich begeht, auf meine Schultern. Ich war oft in Gedanken weit fort - bei Marie-Valerie. Nun hat Gisela, ihre älteste Tochter, schon den Titel ,Schwiegermama', seit Sophiens Heirat mit Joseph. Und ich habe gestern den Buben von Sophie und Joseph getragen und geküsst. Ich - als Urgroßmama!”
„Das darf dich nicht bedrücken, Sissy!” Er küsste sie zart auf den Nacken und ging. Und sie musste sich für das abendliche Festbankett umkleiden lassen.
Sie saß dann wieder an Franzls Seite in dem festlich geschmückten Saal an der langen Tafel und hatte den gleichen abwesenden Ausdruck in den Augen wie bei der Huldigung am Nachmittag.
Und in Gedanken war sie tatsächlich weit fort: in Possi, in ihrer stillen, kleinen Mädchenkammer.
Durch das Gemurmel an der Tafel, die Geräusche, welche die servierenden Lakaien verursachten, und das Gläserklingen glaubte sie den vertrauten Schlag der alten Kuckucksuhr zu hören, die auch jetzt noch in Possi in stetem Gleichmaß tickte wie einst vor langen Jahren, als sie die hoffnungsvollen Stunden von Sissys Kindheit schlug.
Damals hatte sie nicht im Traum daran gedacht, einmal der „Engel der Magyaren” zu werden. Ein Mädel wie viele andere war sie gewesen, hatte am Ufer des Starnberger Sees getollt und sich von Papa, dem Herzog Max in Bayern, die Gartenschaukel schwingen lassen. Und herzhaft gelacht, wenn es hoch, immer höher hinauf ging. Hoch, immer höher... Als sie zum Mädchen erblühte, tauchte ein seltsamer Mann in ihrem Leben auf: Ludwig, König von Bayern. Er warb um die Hand ihrer Schwester und meinte dabei doch sie. Die seltsame Spannung zwischen ihnen blieb bis zu seinem sehr geheimnisvollen Tod im Starnberger See.
Damals, als sie einander zum letzten Mal auf der Roseninsel begegnet waren, hatte sie schon Marie-Valerie an den Händen gehalten. Danach hatten sie einander nur noch in jener dramatischen Nacht in Neuschwanstein gesehen, in der Sissy vergeblich versucht hatte, den König seinen Häschern zu entreißen. Auch Franzl hatte ihm nicht helfen können.
Nené, die ihm als Gattin zugedacht war, war auch schon längere Zeit tot. Sissy dachte an Ischl, an Franzls Brautschau, bei der alles so anders gekommen war, als es Mama Ludovika und Franzls Mutter, Erzherzogin Sophie, geplant hatten. Da hatte die Liebe Schicksal gespielt. ..
So war es denn gekommen, dass das Prinzesslein aus Possenhofen fortan Krone und Purpur tragen musste. Doch genau dies hatte sie nie gewollt!
Sie war ein Kind vom Lande und liebte die Freiheit und die Natur. Wie wohl hatte sie sich doch stets auf dem Rücken der Pferde gefühlt! Mit den besten Reitern Europas hatte sie es aufgenommen. Mit Diana hatte man sie verglichen, der Göttin der Jagd.
Doch wie fern war dies alles. Fünfzig Kilo und dreißig Dekagramm hatte die Waage heute Morgen angezeigt, und das Korsett drückte unbarmherzig. Sie lächelte gezwungen, wenn ihr die Lakaien Speisen reichten, nippte wie ein Vögelchen vom Sekt und aß kaum einen Bissen.
In den ersten Jahren ihrer jungen Ehe hatte Franzls Mutter den „bayrischen Wildfang” an die Kandare nehmen wollen. Daran zerbrach ihre Ehe fast. Sissy war kein Geschöpf, dessen Nacken man unter ein ungeliebtes Joch beugen konnte. Das Zeremoniell am Wiener Hof wurde ihr verhasst, und nach dem Tod der Schwiegermutter war Sissy eine emanzipierte Frau, die über vieles anders dachte, als sie es als Trägerin der Krone sollte.
In diesen Jahren sahen ihre Kinder die Mutter selten. Die Ehe ihres Sohnes Rudolf mit Stephanie, der Tochter des Königs Leopold von Belgien - von Sissy eingefädelt —, ging entsetzlich schief.
Was habe ich falsch gemacht? Diese Frage stellte sich Sissy immer wieder, selbst an diesem Abend regte sich ihr Gewissen. Rudi war ein schwieriger Sohn. Ich habe mich zu wenig um ihn gekümmert. . .
„Es ist überstanden, mein Engel!”
Ja, der Abend war vorbei, die Turmuhr der Budaer Burg schlug bereits die erste Morgenstunde.
„Ich fürchte, ich werde kein Auge zu tun können, Franz”, gestand sie ihm.
„Und ich werde schlafen wie ein Murmeltier”, prophezeite er. „Aber Ketterl muss mich um halb vier Uhr wecken; ich erwarte eine Menge Post aus Wien.”
Franzl gab Sissy einen Gutenachtkuss und verschwand in sein Schlafzimmer, wo ihn genauso ein eisernes Feldbett erwartete, wie eines in Wien in der Hofburg stand. Er schlief darin weit besser als Sissy in ihrem barocken Prunkbett; auch heute lag sie lang wach und sann Vergangenem nach.
Und nun kam auch noch dies über sie, der schamlose Erpressungsversuch ihrer eigenen, blutsverwandten Nichte Marie...
Sie hatte sich nicht an Sissy gewandt, sondern an Franzl. Franzl aber behauptete, Marie drohte mit Enthüllungen über ihre Tante. Mit welchen Enthüllungen? Sissy hatte sich nichts vorzuwerfen. In ihrem Dasein gab es keine dunklen Flecke, die für sensationslüsterne Presseleute von Interesse sein konnten. Sie, die man den „Engel Ungarns” nannte, war ein waidwunder Vogel, dessen Flügel längst angesengt waren. Wie jene des Ikarus, der sich der Sonne zu sehr nähern wollte. Der Sonne, welche den Namen „Freiheit” trug.
Ihre Kissen mit Tränen benetzend, schlief sie endlich ein.
Franzl wurde in der Tat schon am frühen Morgen auf seinem Schreibtisch von einem wahren Berg von Kurierpost erwartet.
„Die meinen es aber gut mit mir, die lieben Leut'“, brummte er, zündete sich seine Zigarre an und machte sich an die Arbeit.
Obenauf lag ein Lagebericht der österreichischen Gesandtschaft in Bern. In dieser Dienststelle liefen zahlreiche offizielle und auch inoffizielle Fäden zusammen. Auch die in der Schweiz tätigen Agenten des österreichischen Geheimdienstes berichteten per Kurierpost über diese Stelle, welche diplomatische Immunität genoss.
In der letzten Zeit sind im Bereich Chamonix, aber auch im Kanton Zürich verschiedentlich Treffen subversiver Elemente beobachtet worden. Es handelt sich um anarchistische Verschwörer, die vom sicheren Boden der Schweiz aus Unternehmungen planen, die vornehmlich auf auswärtigem Territorium zur Durchführung gelangen und eine Destabilisierung der politischen Lage in Europa zum Ziele haben sollen.
Obwohl die Schweizer Kantone selbst schon aus Gründen einer ungestörten Vorbereitung kaum als Schauplätze derartiger verbrecherischer Anschläge ausersehen sind, scheint doch Anlass vorzuliegen, insbesondere bei den Reisen Ihrer Majestät innerhalb der Schweiz gesteigerte Vorsicht angebracht erscheinen zu lassen.
„Da haben wir's”, brummte Franzl. „Das muss ich Sissy lesen lassen!”
Sissy erwachte gegen sieben Uhr morgens mit Kopfweh. Sie hatte zu wenig geschlafen und fühlte sich kaum ausgeruht. Und was ihr Franzl beim Frühstück vorlas, stimmte sie auch nicht heiterer.
„Aber wir sind doch in Ungarn und nicht in der Schweiz”, wehrte sie ab. „Im Übrigen bin ich alt genug, um auf mich aufzupassen!”
Nach den wunderschönen, sonnigen Maitagen folgte ein verregneter, kühler Frühsommer. Die Tage des Millenniums in Budapest hatten Sissy sehr angestrengt. Oft bis zum Umfallen erschöpft war sie in der Budapester Burg in ihrem Schlafzimmer aufs Bett gefallen; nur mit Mühe hatte man sie auskleiden können. Mit letzter Kraft schleppte sie sich noch ins Bad und kniete dann vor ihrem Hausaltar; doch schon beim Beten fielen ihr mitunter die Augen zu.
Nun war sie wieder in Lainz, in der Hermesvilla, und fühlte sich erleichtert. Das Millennium war vorbei und gehörte der Geschichte an. Doch ein neues Ereignis stand bevor, diesmal in Wien: der Besuch des jungen russischen Zarenpaares, Nikolaus II. und seiner Frau Alexandra.
Alexandra war eine Deutsche, eine Prinzessin von Hessen- Darmstadt. Nikolaus, so hieß es, sei schrecklich verliebt in sie, wie auch sie in ihn - zwei Königskinder, die einander liebten und um die Erfüllung dieser Liebe nicht einmal hatten kämpfen müssen. Das einzige, was ihrem Glück hinderlich war, war der Thron, von dem aus Nikolaus das riesige Russenreich regieren musste.
Nikolaus und Alexandra hatten dem zu entgehen versucht. An allen Höfen Europas redete man und spöttelte über die beiden, die doch tatsächlich gehofft hatten, durch einen kühnen Fluchtversuch nach Paris der Krönung zu entkommen. Nikolaus wollte nichts als Privatmann sein und als solcher für seine Familie leben. War er, ein Romanoff, nicht reich genug, um sich und seiner Familie den Himmel auf Erden bieten zu können? Und hätte nicht sein Bruder, Großfürst Dimitri, zum Zaren gekrönt werden können?
Der Fluchtversuch misslang, die Schranzen schleppten den armen Nikolaus zur Krönung. So wurde er Zar wider Willen, ohne Lust und Neigung für sein Amt, das er mehr schlecht als recht nach den Vorschlägen seiner Ratgeber versah. Zarin Alexandra hingegen fügte sich in ihr Schicksal. Sie sei, so hieß es, der wahre Kopf der Familie, und mit ihr könne man nicht machen, was man wolle.
Auch zwei arme, in goldenen Käfigen gefangene Vögel, dachte Sissy und schaute durch die Fenster ihres Arbeitszimmers in der Hermesvilla hinab auf den verregneten Lainzer Tierpark, der sich grün und blätternass vor ihren Blicken ausbreitete. Der Wind pfiff böig über die Dächer, und Sissy fröstelte.
Sie hatte sich aus Budapest eine neue Hofdame mitgebracht, die Baronin Sennyey, die sich bemühte, etwas Abwechslung in ihr Leben zu bringen. Auch Barker war wieder da, und Sissy nahm wieder bei ihm Fremdsprachenunterricht, obwohl sie nicht die Absicht hatte, so bald wieder nach Korfu zu reisen.
„Dort steige ich erst wieder ab, wenn man aus dem Achilleion ein anständiges Hotel gemacht hat”, versicherte sie dem kopfschüttelnden Franzl, der ihr vorhielt, wie viel Geld in den Bau investiert worden sei, der ihr nun schon nicht mehr gefiele.
„Sei doch froh, Franzl”, hielt sie ihm entgegen. „Nun hast du mich ja, wo du mich haben willst - hier in Wien, in der Hermes villa.”
Doch so, wie sie das sagte, freute es ihn nicht. Es klang zu sehr nach Resignation. Sissy sah wirklich angegriffen aus. Franzl sah es deutlich genug, und es machte ihm große Sorge.
„Hab keine Angst, Löwe”, tröstete sie ihn. „Mit mir ist nicht mehr viel los, wie du siehst, aber bis das Zarenpaar kommt, bin ich schon wieder gehorsamst auf den Beinen.”
Sie liebte doch Franzl! Niemand konnte das verstehen, sie selbst konnte es kaum fassen, wie es dennoch immer wieder zwischen ihnen zu einem großen Schweigen gekommen war.
„Mein armer Engel”, sagte Franzl zärtlich und strich ihr übers Haar. „Ich bitte dich, unterlass für eine Weile deine ewigen Kuren und iss wie ein vernünftiger Mensch”, bat er. „Das wird deine Nerven beruhigen und dir bei deiner Wiederherstellung behilflich sein.”
„Ich sagte dir schon, dass du nichts zu fürchten hast”, erklärte sie beinahe ärgerlich. „Ich werde Nikolaus und Alexandra empfangen, wie es meine Pflicht ist.”
„Aber”, brummte er betroffen, „so war das doch nicht gemeint! Ich sorge mich um dich und nicht um diesen Empfang.”
„Mag sein, dass du dich um mich sorgst, alter Löwe. Aber um den Empfang sorgst du dich auch; ich kenne dich doch, du brauchst mir nichts vorzumachen.”
Er schwieg gekränkt und sah sie traurig an. Und plötzlich überkam ihn unaussprechliche Wehmut.
„Hast du denn alles vergessen, mein Engel”, murmelte er, „all die schönen Stunden, die Tage und Nächte unserer Liebe? Der Herrgott hat uns beide zusammengeführt. Wir sollten, ja, wir konnten nicht immer glücklich sein. Aber wer weiß, wie lange noch... . Niemand kennt das Morgen, weiß, was ihm bestimmt ist. Das ist gut so und Gottes Wille. Aber man sollte auch danach leben! Nicht eine Stunde sollte man ungenutzt verstreichen lassen, ohne zu lieben. Zu lieben, was man nur lieben kann. Uns einander, vor allem...”
„In mir glimmt kaum noch ein Funke, Franz”, antwortete sie bitter. „Das Feuer von einst ist erloschen. Zu viele haben es zum Erlöschen gebracht. Man hat mit Fleiß daran gearbeitet. Nun ist es soweit!”
„Aber es ist nie zu spät”, drängte er. „Nie, Sissy, mein Engel!”
„Franz, das Leben hat mich gezeichnet. Was meinst du, weshalb ich dich hier, in diesem halbdunklen Zimmer, empfange?”
„Weil du dich krank fühlst, denke ich”, antwortete er etwas unsicher.
Und sah sie lächeln: „Weil ich eitel bin! Dazu, siehst du, bin ich noch nicht zu alt, Löwe. Ich möchte nicht, dass du mich siehst, wie ich wirklich bin. Du kamst unangemeldet, und ich hatte keine Zeit, mich auf dich vorzubereiten. Man sagt, ich hätte die ewige Jugend gepachtet. Aber das ist eine Lüge, so wie vieles andere, was über mich verbreitet wird. Wären in diesem Zimmer nicht die Jalousien herabgelassen, dann würdest du es sehen.”
Ungläubig schüttelte er den Kopf: „Was sagst du da?”
„Die Wahrheit”, bekannte sie trocken. „Nichts als die Wahrheit, Löwe. Und wenn du selbst in deinen Spiegel schaust, wirst du feststellen müssen, dass du auch nicht mehr der fesche Prinz bist, der mir einst in Ischl so feurig den Hof gemacht hat.”
„Das ist nun einmal der Lauf der Dinge”, meinte er betreten, „dagegen kommt niemand an.”
„Und deine Freundin Kathi wird auch von Tag zu Tag dicker”, stellte Sissy spöttisch fest. „Ich glaube, im Burgtheater muss man's bis ins Parkett hinunter hören, wie die Nähte von ihrem Mieder krachen.”
„Du bist unleidlich, Sissy”, bemerkte er ärgerlich.
„Verzeih”, bat sie, schnell versöhnlich.
Ihre Sprunghaftigkeit irritierte ihn. Sie läutete nach der Sennyey und befahl ihr, im Teesalon die Jause auftragen zu lassen - für Seine Majestät und sie selbst.
„Geh nur schon hinüber”, sagte sie danach zu Franzl, „ich komme gleich nach.”
Er erhob sich gehorsam und suchte den Teesalon auf. Noch immer war sie für ihn das gleiche reizvolle Rätsel wie einst, auch wenn es ihr nun, wie er meinte, gefiel, die „alte Frau” zu spielen.
Kurze Zeit später folgte sie ihm in den Teesalon, wo der Kaiser sie bereits erwartete. Seine Blicke umfingen sie liebevoll. Sie war schlank wie ein junges Mädchen und hatte noch immer denselben schwebenden Gang, den er an ihr stets bewundert hatte. Sie war zart, und ihr schmales Gesicht war von fast durchsichtiger Schönheit. Ihr Haar - nun, es hatte nicht mehr das satte Dunkel von einst, aber hing von ihrem Nacken noch immer in reicher, gebändigter Fülle.
„Was redest du von ,alt”', sagte er verweisend.
„Manche Leute haben Augen und sehen nicht”, entgegnete sie schnippisch. „Darf ich zur Jause bitten, mein Herr Gemahl?”
* * *
Nikolaus und Alexandra hatten noch keine Sorgen, was ihr Alter betraf. Aber dafür eine Menge anderer. Der Knabe, den Alexandra geboren hatte und welcher der Zarewitsch - der Thronfolger - war, war zum Entsetzen seiner Eltern und der Ärzte ein Bluter. Selbst die geringste Schramme, die er sich beim Spielen holte, wurde für ihn zum lebensgefährdenden Problem. Er war in Petersburg in der Obhut der Zarenmutter geblieben, und Nikolaus und Alexandra hatten seinetwegen keine ruhige Minute.
Dieser Besuch war eine hochoffizielle und politisch recht ernste Angelegenheit. Die Petersburger Regierung sah Russland als Schutzmacht der slawischen Völkerfamilie. Dadurch ergaben sich für die Stellung Österreichs auf dem Balkan, dem „Pulverfass Europas”, Probleme, die zu ernsten Spannungen zwischen den beiden Großmächten führen konnten. Weder Nikolaus noch Franz Joseph wollten solche. Er und sein Gast aus Russland verstanden sich privat recht gut; und auch die beiden gekrönten Frauen, die ihr offizielles Programm - den Besuch der kaiserlichen Sammlungen, der Hofreitschule und eines Armeespitals - zu absolvieren hatten. Bei dieser Gelegenheit wechselten sie kein Wort über Politik, sondern sprachen vielmehr über die Möglichkeiten, den Zarewitsch zu heilen.
Während die beiden Außenminister einander am Ballhausplatz mit lächelnden Diplomatenmienen harte Bandagen verpassten, ging es beim abschließenden Galaempfang der Monarchen in Schloss Schönbrunn äußerst friedlich und gelöst zu. Aus den Trinksprüchen Franz Josephs und Zar Nikolaus' war von einer gespannten Lage nichts herauszuhören; dagegen wurde der Wunsch nach Freundschaft und guten Beziehungen glaubhaft bekräftigt, und als Nikolaus und Alexandra, von den Wienern scharenweise bestaunt, in Begleitung von Sissy und Franz Joseph zum Ostbahnhof fuhren, um wiederabzureisen, sah es auch bloß nach einer Visite unter Freunden aus, die eben zum Wohl der von ihnen vertretenen Völker erfolgreich beendet worden war.
Die Ehrensalven waren verhallt, der letzte Händedruck gewechselt, und Franzl versprach, zum Gegenbesuch nach Petersburg zu kommen. Dann dampfte der Sonderzug aus der dekorierten Halle, der rote Teppich wurde eingerollt, und Kaiser und Kaiserin fuhren heim in die Hofburg.
„Die beiden sind recht umgänglich”, fand Franzl zu Sissy. „Und ich denke, es ließe sich gut mit ihnen auskommen. Aber ihre Berater... die sind es letztendlich, die regieren. Nikolaus aber hat die Verantwortung. Ich hoffe bloß, dass wir nicht eines Tages gegen ihn Krieg führen werden müssen.”
„Krieg?” fragte Sissy gedehnt. „Glaubst du wirklich?”
„Na, er will keinen Krieg, ich auch nicht. Aber andere wollen ihn. Hätten den Balkan bis hinunter nach Konstantinopel lieber heute als morgen sich einverleibt. Das sieht nicht gerade rosig aus für die Zukunft...”
„Die Zarin tut mir leid, wegen des Buben”, erzählte Sissy. „Der arme Kleine . .. was müssen die beiden seinetwegen für Ängste ausstehen! - Ob man ihn wohl wird heilen können?”
„Nikolaus kann sich die besten Ärzte leisten. Und überdies ist der Zarewitsch ja der Thronfolger. Diese Krankheit ist keine Privatsache; sie ist ein Regentschaftsproblem. Sie müssen den Zarewitsch einfach über die Runden bringen.”
„Sie ist jetzt gar nicht vernünftig ansprechbar, sie macht schon wieder eine ihrer wahnsinnigen Abmagerungskuren”, sagte er beim Frühstückskaffee in der Gloriettegasse und fand in seinem tiefsten Inneren, dass es hier, in der kleinen Villa, die er der Schauspielerin und Freundin Kathi zum Geschenk gemacht hatte, doch wirklich weit angenehmer und gemütlicher war als in dem prächtigen, schlossartigen Sommersitz, den er für seine Frau im Lainzer Tiergarten errichtet hatte.
„Tja”, brummte Kathi Schratt und wiegte bedenklich den Kopf, „wie ich Ihre Majestät kenne, würde jetzt alles bloß ihren Widerspruchsgeist wecken. Das Vernünftigste ist, sie gewähren zu lassen. Ich kann sie aufsuchen, kann mit ihr reden - das heißt, wenn sie mich überhaupt empfängt.”
„Oh, das tut sie sicher”, meinte der Kaiser.
„Majestät, in diesem Zustand - nämlich während der Kur, meine ich - ist man als Frau nicht gern fremden Blicken ausgesetzt.”
„Aber Sie sind nicht fremd”, widersprach der Kaiser.
„Nun, schön”, meinte Kathi, „ich will es versuchen. Aber ob es Erfolg hat, kann ich nicht versprechen. Sie wird wahrscheinlich erst wieder in Ischl zugänglicher und aufgeschlossener sein.”
Ihm lag noch manches auf der Zunge - der Brief aus München vor allem, der von ihm noch nicht beantwortet worden war. Doch ein Blick auf seine Uhr mahnte ihn, dass es Zeit war, ins Schloss zurückzukehren, wo die Minister zum Vortrag bestellt waren.
Er erhob sich, lebhaft bedauernd, gehen zu müssen, und küsste der Schauspielerin mit ritterlicher Galanterie die Hand.
„Auf morgen, beste Freundin”, verabschiedete er sich.
Kathi stand auf und knickste.
„Auf morgen, Majestät, zur gewohnten Stunde, wie immer”, lächelte sie.
Er tat ihr leid. Sie blickte ihm nach, wie er mit eiligen Schritten geschäftig dem Gittertor zuschritt, welches das kleine Anwesen von der Gloriettegasse trennte. In wenigen Minuten würde er an der Mauer zum Schönbrunnerpark sein. Dort gab es eine kleine Pforte, durch die er immer durchging.
Während dieses Gesprächs saß Sissy an ihrem Schreibtisch und starrte auf Papiere, die vor ihr ausgebreitet lagen. Sie hatte soeben den Masseur fortgeschickt und wünschte von niemandem gestört zu werden - absolut von niemandem, Seine Majestät ausgenommen, wenn er etwa unerwarteter Weise kommen sollte.
Doch das war nicht zu befürchten. Sissy wusste, wo er zu dieser Stunde anzutreffen war. Und deshalb hatte sie diese frühe Morgenstunde gewählt, um mit einer Arbeit zu Rande zu kommen, die sie in Gedanken schon begonnen hatte, als der Morgen graute.
MEIN LETZTER WILLE
stand auf einem der Blätter zu lesen; Sissy hatte es eigenhändig geschrieben. Wenn alles fertig war, würde sie das Testament noch der Gültigkeit halber von zwei Zeugen unterschreiben lassen; doch es war noch nicht soweit.
Sissy hatte bereits einmal ein Testament gemacht; damals hatte Rudi noch gelebt. Im Winter des Jahres 1887 hatte sie sich hingesetzt und verfügt, dass ihr Liebling Marie-Valerie alles erben solle, was sie besaß. Doch nun empfand sie dies ungerecht jenen gegenüber, die mit ihr so viel Freud und Leid geteilt hatten.
Und dann war ja auch noch ihre Enkelin, Rudis Tochter Elisabeth. Sie durfte nicht übergangen werden, im Gegenteil!
Sissy überschlug ihren Besitz und entschied sich schließlich dafür, eine Fünftelteilung vorzunehmen. Valerie, Gisela und Rudis Tochter sollten je ein Fünftel erhalten.
Und dann stellte Sissy eine lange Liste aller ihrer Getreuen zusammen, angefangen von Ida von Ferenczy über die Sztaray und Sarolta von Majlrath, bis - nun bis zu Katharina Schratt, der Sissy einen goldenen Georgstaler als Brosche vermachte. Sozusagen als Erinnerung. Ida und Marie aber, die ihr so viele Jahre hindurch treu zur Seite gestanden waren, erhielten Pensionen und Geschenke. Sie wurden nicht eben kleinlich bedacht.
Ida aber sollte nach Sissys Tod noch etwas tun: ihre geheimen Aufzeichnungen dem Kaiser übergeben.
Ja, und da waren auch die vielen Gedichte, die Sissy in Stunden der Muße verfasst hatte! Sissy entschied sich nun doch, dass sie veröffentlicht werden sollten.
Aber erst lange, lange Zeit danach... Früher versteht mich ja doch keiner. Es könnte bloß Ärger geben, Ärger für Franzl oder, falls er nicht mehr lebt, dann für andere, die den Namen „Habsburg” tragen. Denn in meinen Gedichten enthülle ich meine geheimsten Gedanken - und sie sind nicht gerade die einer Kaiserin, die den Monarchismus zu vertreten hat.
Mag sein, dass ich mich deshalb in der Schweiz wohler fühle. Wäre ich doch schon wieder in der Schweiz, in der klaren Luft dieser Berge! Es wäre schön, könnte ich dort die letzte Zeit verbringen, die mir der Himmel noch gönnt.
Sissy fragte sich, woher es kam, dass sie jetzt so oft ans Sterben dachte. Und dabei stets das Gefühl hatte, sie würde vor ihrem lieben Franzl „hinübergehen”. Sie dachte an den Tod ohne Furcht. Sie empfand bloß Neugier. Ja, sie war neugierig auf das, was nach dem Sterben kommen würde. Das Sterben selbst, das Sterben freilich .. .
Sie hatte jedenfalls ein neues Testament gemacht und war vorbereitet. Sie kam ja nun auch in die Jahre, in denen man alles bedenken musste. Der Körper, der nicht mehr so funktionierte wie früher, erinnerte sie daran. Nichts war mehr so wie einst. ..
Kathi hatte an diesem Tag Probe im Burgtheater, kam gegen Mittag heim, nahm einen Imbiss zu sich - auch sie hatte sich notgedrungenermaßen auf Diät gesetzt, dachte aber nicht im entferntesten daran, sich zu kasteien, wie es Sissy tat - und fuhr dann hinaus nach Lainz, in die Hermesvilla.
Die frische Luft tat ihr gut. Den ganzen Vormittag überhatte sie den Leimfarben- und Kleistergeruch von Kulissen in der Nase gehabt und dazu noch den Staub der Hinterbühne geschluckt, auf der Bühnenarbeiter werkten. Nun sog sie die würzige Luft des Wienerwaldes ein.
Die Kaiserin, dachte sie bei sich, weiß offenbar gar nicht, wie schön sie es hier hat. Sonst bliebe sie öfter und länger hier und würde es genießen. Und dabei hat ihr der Kaiser dieses Haus mit so viel Liebe erbaut und zum Geschenk gemacht.
Sie fuhr bei der Villa vor und ließ sich bei Frau von Ferenczy melden, um zu erfragen, ob die Kaiserin sie empfangen würde.
„Ihre Majestät nimmt gerade Griechischunterricht bei Herrn Barker”, antwortete die Hofdame bereitwillig. „Sind gnädige Frau bei Ihrer Majestät angekündigt?”
„Nein”, schüttelte Frau Kathi den Kopf. „Aber Seine Majestät hat mich heute Morgen gebeten, Ihre Majestät zu besuchen - er ist sehr um sie besorgt, aber heute leider unabkömmlich.”
Die Ferenczy nickte verständnisvoll.
„Ich werde sofort nachfragen. Wenn Sie sich ein wenig gedulden.”
Sie verständigte Sissy persönlich von dem Besuch, und Sissy brach ihre Griechischstunde sofort ab und ließ Kathi in den Teesalon bitten.
Sie dachte wieder an die Brosche, die sie Kathi vererbt hatte. Doch da fiel ihr etwas anderes ein. Es fragte sich nur, wie Franzl es aufnehmen würde.
Möglicherweise könnte Kathi während eines Gastspiels in München Kontakt mit ihrer Nichte Marie aufnehmen. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass Kathi mit ihrer rhetorischen Begabung Marie so weit beeinflussen konnte, dass sie das Schändliche ihres Verhaltens begriff und davon Abstand nahm, sich mit dem Mittel der Erpressung Geld zu beschaffen.
Daher sah Kathi im Teesalon einen erwartungsvollen, prüfenden Blick auf sich gerichtet, den sie sich nicht erklären konnte. Aber nicht das war es, was sie so sehr verwirrte, dass sie kaum die richtigen Worte zur Begrüßung fand, sondern das erschreckende Aussehen der Kaiserin.