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Franz Joseph, der einsame Monarch in der Hofburg, erwartet den Besuch des Thronfolgers Franz Ferdinand. Er hofft, dass das jugendliche, aufbrausende Temperament seines Neffen diesmal keine Missstimmung zwischen ihnen aufkommen lassen wird. Die Vorzeichen stehen schlecht, denn auch diesmal steht ein konfliktreiches Thema an, die Heirat des Thronfolgers …
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Seitenzahl: 244
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MARIELUISE VON INGENHEIM
Sissy
Csárdás und Zigeunergeigen
Autorin: Marieluise von Ingenheim
Illustration Überzug: M. Pleesz
Copyright der E-Book-Ausgabe von hiStory Publications:© Copyright 2016 by Verlagsbuchhandlung Julius Breitschopf GmbH,A-3420 Klosterneuburg bei WienAlle Rechte vorbehalten.Das Werk ist weltweit urheberrechtlich geschützt.All rights reserved throughout the world.
ISBN: 978-3-7004-4442-8EAN: 9783700444428
Prolog
01 - Der unglückliche Bräutigam
02 - Das Kaiserforum
03 - Die neue Burg
04 - Bilder im Dunkeln
05 - Der einsame Kaiser
06 - Die Flucht vor dem Ich
07 - Ein seltsamer Traum
08 - Zwischen Traum und Wirklichkeit
09 - 1854
10 - Die Retterin Erszebeth
11 - Andrassy, Kossuth und der Kaiser
12 - Das Jahr 1858
13 - Der Patriot
14 - Die Begegnung
15 - Die Hofdamen
16 - Die Stiftsoberin
17 - 1866
18 - Die Villa Kochmeister
19 - Stunden der Versuchung
20 - Csárdásklänge
21 - Die Entscheidung
22 - Der Ischler Sommer
23 - Die Krönung
24 - Das Spiegelbild
25 - Ritter Gyula
26 - Die Duellanten
27 - Das Gesicht verlieren
28 - Der Nachfolger
29 - Gräfin Katharina
30 - Der Kampf der Mächte
31 - Das tragische Jahr
32 - Abschied in Zemplin
33 - Verwehte Geigenklänge
34 - Der Mann im Nebel
Franz Joseph, der einsame Monarch in der Hofburg, erwartet den Besuch des Thronfolgers Franz Ferdinand. Er hofft, dass das jugendliche, aufbrausende Temperament seines Neffen diesmal keine Missstimmung zwischen ihnen aufkommen lassen wird. Die Vorzeichen stehen schlecht, denn auch diesmal steht ein konfliktreiches Thema an, die Heirat des Thronfolgers...
Der Atlantik bot um diese Jahreszeit keinen einladenden Anblick. Es war Winter, das Meer schäumte dunkel und drohend an den menschenleeren Stränden, die Hotels lagen wie ausgestorben, und die Kronen der Palmen zerzauste ein unfreundlicher, nasskalter Wind.
Die Kaiserin war eben von einem ihrer langen Spaziergänge ins Hotel zurückgekehrt. Die Gräfin Festetics, die sie begleitet hatte, war bis auf die Knochen durchfroren. Nur die nimmermüde Sissy schritt leichtfüßig über die Teppiche in der Hotelhalle zum Fahrstuhl, der sie und ihre Hofdame nach oben in ihr Appartement bringen sollte.
Als der Page die Lifttür geschlossen hatte, konnte sich Marie nicht enthalten, erleichtert aufzuatmen. Sissy warf ihr einen spöttischen Blick zu.
„Es ist ja durchgestanden. Nun können Sie sich an den Kamin setzen, sich aufwärmen und mir die Post vorlesen.”
„Vor zwanzig Jahren fielen mir solche Spaziergänge leichter”, seufzte die Gräfin. „Aber ich bin eben nicht mehr die Jüngste, und wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf - der Arzt hat auch schon den Kopf geschüttelt.”
„Soll das heißen, dass Sie mir Ihren Dienst aufkündigen und in Pension gehen wollen?” fragte Sissy stirnrunzelnd, als der Lift eben den ersten Stock erreichte und mit einem Ruck hielt, worauf der Page diensteifrig die Tür öffnete.
„Wie können Majestät nur so etwas von mir denken”, wehrte die treue Gräfin ab. „Nein, natürlich nicht! Ich bleibe bei Euer Majestät, solange mich meine Beine tragen.”
„Danke, Marie”, sagte Sissy weich, „das habe ich nicht anders erwartet. Ich brauche Sie. Ich brauche jemand, der ehrlich zu mir hält und auf den ich mich verlassen kann.”
Solche Worte rührten die Gräfin wie immer zutiefst. Sie wäre für ihre Kaiserin durchs Feuer gegangen, wenn Sissy es verlangt hätte, obwohl ihr der Dienst als Hofdame schon reichlich schwer fiel. Dazu kam noch, dass Sissy noch immer fast drei Viertel des Jahres über ruhelos unterwegs war.
Auch heuer wieder, im Jänner des Jahres 1898, war man am Golf von Biskaya, und es sollte im Frühjahr in die Schweiz gehen. Vorher war aber noch eine Reise nach Frankreich und vielleicht auch nach Deutschland geplant. Sissy hatte verlauten lassen, sie wolle ihre bayrische Heimat wieder besuchen.
Es gab keine fixen Reisepläne mehr, so wie einst, als jedes derartige Unternehmen im Voraus genau geplant wurde. Jetzt musste oft auf eine recht konfuse Art improvisiert werden, denn die Launen der Kaiserin waren stets für Überraschungen gut. Das führte zu Spannungen nicht nur innerhalb der Suite von Sissy. Vor allem in Wien, im Sekretariat und in der k. u. k. Hofkanzlei, war man über diese improvisierten Reisen mehr als beunruhigt. Auch Franz Joseph drängte immer wieder, dass Sissy endlich ihre ruhelosen Wanderungen aufgäbe. Doch es half nichts. Nicht einmal die Hermesvilla, die letzten Endes Franzl nur deshalb erbauen ließ, um Sissy in Wien zu halten.
In Sissys Zimmern angekommen, wartete bereits Dr. Kromar mit der Post.
„Ein Brief von Seiner Majestät und einer von Seiner Kaiserlichen Hoheit, Erzherzog Franz Ferdinand”, meldete er, um sich danach diskret zu entfernen.
Sissy legte Hut und Mantel ab und übergab beides der Gräfin.
„Benötigen mich Majestät noch?” erkundigte sich die Festetics.
„Nein, danke, Marie”, antwortete Sissy, brachte kurz vor einem Spiegel ihr vom Wind zerzaustes Haar in Ordnung und gab der Hofdame das Entlassungszeichen. Die atmete heimlich erleichtert auf, denn sie spürte nach diesem Spaziergang ein dringendes Bedürfnis nach Glühwein.
Der Kaiser schrieb Sissy täglich mit schöner Regelmäßigkeit und erzählte ihr auch heute wieder von seinen Sorgen und seiner Arbeit. Der Brief begann wie stets mit „Mein geliebter Engel” und endete auch diesmal mit „Dein armer, einsamer Franzl”. Er hatte Sehnsucht nach ihr, und wie immer war Sissy darüber gerührt. Dabei empfand sie auch den Wunsch, bei ihm zu sein, und wusste doch zugleich, dass sie es in Wien ja doch nicht aushalten würde.
Der zweite Brief kam aus Konopischt. Der „ewige Bräutigam” Franz Ferdinand war in Bezug auf seine geplante Heirat mit der Komtesse Sophie Chotek wieder einmal am Ende seiner Geduld. Er und die sympathische böhmische Grafentochter fanden in dem Habsburger Hausgesetz ein scheinbar unüberwindbares Hindernis für die geplante Eheschließung. Die Choteks waren zwar alter, böhmischer Adel und um die Monarchie verdient, doch keine der privilegierten Familien, die Anspruch auf Thron und Regentschaft hatten. Und der Thronfolger sollte daher seiner Liebe entsagen und eine für ihn „standesgemäße” Ehe eingehen.
Doch Franz Ferdinand dachte nicht daran. Er wollte weder auf den Thron, den er dem Erbfolgerecht nach beanspruchen konnte, noch auf die Frau, die er liebte, verzichten. Sein Kampf währte nun schon Jahre. Sophie wartete ergeben, er voller Zorn und Ungeduld. Überall witterte er Intrigen gegen seine Person und Hoffnung. Nur Sissy vertraute er, von ihr erwartete er Hilfe.
„...Ich kann es meiner geliebten Sophie nicht länger antun, auch wenn ich mich zu ihr bekenne. Ich dürfte dies ja gar nicht ohne das väterliche Einverständnis. Es ist ein unmöglicher Zustand in den Augen der Öffentlichkeit, ein Schatten, der auf Sophies Ehre und Ansehen fällt. Auf die Ehre und das Ansehen der Frau, die ich zu der meinen machen will und werde, allem zum Trotz. Verehrte Tante, ich weiß mir keinen Rat. Zumal sich in Sachen der Rechtsgutachter wieder einmal nichts weiterzubewegen und alles zu unserem Nachteil zum Stillstand zu kommen scheint . . .”
Seufzend und stirnrunzelnd legte Sissy den Brief zur Seite. Die Rechtsgutachter, von denen Franz Ferdinand schrieb, sollten auf seinen und des Kaisers Wunsch einen Ausweg aus dem Dilemma finden. Doch Sissy wusste nur zu gut, dass Franzl ihnen keine besondere Eile befohlen hatte. Er hoffte wohl insgeheim, dass das Liebespaar vielleicht eines Tages doch aufgeben würde. Denn er sah im Falle einer solchen Heirat große Probleme: In der ungarischen Reichshälfte wäre Sophie der Verfassung nach Königin, während sie diesseits der Leitha bloß den Rang einer Hofdame einnehmen würde. Warum, um alles in der Welt, musste sich der Thronfolger ausgerechnet auf diese Heirat versteifen!
Das, was der sachlich denkende Franzl nicht akzeptieren wollte, hatte bei Sissy eindeutig Vorrang: Es war das Herz, das hier sprach und nach seinem Recht verlangte. Dabei hatten doch Franzl und Sissy einst auch aus Liebe geheiratet. Und wer weiß, ob Franzl nicht auch seinen Willen durchgesetzt hätte, wäre Sissy keine „ebenbürtige Partie”, keine Wittelsbacher Prinzessin gewesen . . .
Was soll ich Franz Ferdinand bloß antworten, fragte sich Sissy. Welchen Rat soll ich ihm geben? Er möchte den Grafen Chotek um Sophies Hand bitten. Tut er das, handelt er nicht nur gegen das Hausgesetz, sondern auch gegen Franzls ausdrücklichen Befehl. Das könnte üble Folgen haben. Franzl lässt in diesem Punkt nicht mit sich spaßen . . . Andererseits verstehe ich Franz Ferdinand sehr gut: Es ist eine unmögliche Situation. Immerhin ist Sophie längst volljährig - selbst wenn es auch in ihren Kreisen üblich ist, nicht ohne das väterliche Einverständnis vor den Altar zu treten. Und was passiert, wenn kein rechtlicher Weg gefunden wird, diese Eheschließung zu ermöglichen? Eine sitzengelassene Braut wie meine arme Schwester Charlotte, als König Ludwig sich entschloss, lieber Junggeselle zu bleiben . . .
Sissy beantwortete Franzls tägliche Briefe nicht immer. Doch diesmal entschloss sie sich, ihm sofort zu schreiben. Dabei erwähnte sie Franz Ferdinands Brief mit keinem Wort, sondern tat so, als mache sie sich selbst Gedanken um ihn und seine Heiratspläne, und fragte, ob die Rechtsexperten endlich einen Ausweg gefunden hätten. Abschließend bemerkte sie noch, dass sie Schmerzen in den Schultern und im Kreuz hätte und daher den Doktor Metzker in Paris zu konsultieren wünsche.
Bevor sie Franzls Antwort erhalten hatte, wollte sie auf Franz Ferdinands Brief nicht antworten. Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich, denn einerseits wollte sie Franz Ferdinand helfen, doch andererseits wusste sie nur zu gut, dass ihre Hilfe Konflikte mit ihrem Franzl auslösen konnte.
„Da laufe ich doch lieber durch Sturm und Regen”, murmelte sie ärgerlich, „als in diesem Sumpf zu ersticken . . . Der Sumpf rund um den Thron wird ihn eines Tages noch verschlingen!”
Ob Sophie überhaupt an Franz Ferdinands Seite glücklich würde? Doch es war merkwürdig; aber in Sophies Gesellschaft war er ein ganz anderer, sie schien ihn zu verwandeln, ihr Einfluss auf ihn war höchst positiv. Und schließlich hatte er es ihr zu verdanken, dass er von dem ererbten Lungenleiden genas.
Sissy lächelte versonnen, als sie an das Paar dachte. Sie konnte nicht anders. Trotz aller Einwände Franzls wünschte sie den beiden Glück.
Wie jeden Morgen hatte sich der Kaiser um vier Uhr früh von seinem Kammerdiener Ketterl wecken lassen. Draußen war es noch tiefe Nacht, und im Schlafzimmer schien die Luft zu gefrieren. Das Schloss wurde während der Wintermonate nie richtig warm.
„Haben Majestät gut geruht?” erkundigte der Kammerdiener sich wie jeden Morgen in stereotypem Tonfall und erhielt wie immer die gleiche Antwort:
„Dank' schön, Ketterl, es geht. - Wie ist denn das Wetter heute?”
„Schneeregen, Majestät. Äußerst unfreundlich!”
„Oje, das auch noch. Na, ich spür's ja ohnehin schon seit ein paar Tagen in den Knochen.” Franzl erhob sich seufzend aus seinem Eisenbett, mit dem es an Komfort jede Schlafgelegenheit aus einer Mannschaftskaserne aufgenommen hätte.
Der „Badewaschl” war wieder einmal nicht ganz nüchtern. Die Diener, die die eiserne Sitzwanne hereinschleppten und in diese Wasser aus Krügen gössen, warfen sich vielsagende Blicke zu. Wotruba hatte einen über den Durst getrunken. Unter heftigem Bemühen, sein verdächtiges Rülpsen zu unterdrücken, tat er so, als wollte er Franzl in die Wanne helfen. Dabei stützte er sich mehr an ihn, als dieser sich an Wotruba. Franzl grinste bloß — die Alkoholfahne, die ihn umwehte, sagte mehr als genug.
„Wotruba, alter Säufer”, brummte er gutmütig, „den Rücken recht fest, bitt' schön!”
„Jawohl - hicks —, Majestät”, antwortete Wotruba und tastete nach dem Schwamm.
Während Franzl der Rücken geschrubbt wurde - das eher lauwarme Wasser machte ihn ein wenig munterer -, wanderten seine Gedanken nach Biarritz. Er hatte Sissys Brief erhalten. Sie war nicht so schlau, wie sie wohl dachte, sein Engel! Franzl hatte in all den Dienstjahren am Steuer seines Riesenreiches Österreich-Ungarn ein großes Maß an Menschenkenntnis erworben. Er erkannte aus Sissys Brief unschwer, dass dieser von einem Schreiben Franz Ferdinands inspiriert war, der zudem noch für heute zu einer Audienz angesagt war.
Wotruba nibbelte, schnaufte und rülpste.
„Dank' schön, es ist genug”, erlöste ihn Franzl. „Geben S' den Schwamm her, das übrige mach' ich selbst.”
„Bitte sehr, Majestät”, keuchte Wotruba, reichte Franzl den Schwamm und wankte erleichtert hinaus. Den strafenden Blick Ketterls erwiderte er kaum.
Nach diesem kurzen Morgenbad kam der Friseur in das kaiserliche Schlafgemach. Im Schein einer Petroleumlampe schliff er sein Rasiermesser an einem Lederriemen, der an einem Nagel hing, den er selbst vor etwa 30 Jahren an einer unauffälligen Stelle in den weißgoldenen Türrahmen gehämmert hatte.
Wie alle Friseure wusste er stets von Neuigkeiten zu berichten. Herrn Schindlers Geplapper machte Franzl zwar vollends wach, doch er hörte nur mit halbem Ohr hin. Das von Sissy wieder aufs Tapet gebrachte Eheproblem des Thronfolgers beschäftigte auch ihn. Und um genau zu sein: Es beschäftigte ihn mehr, als ihm lieb war. Dabei war er bei weitem nicht der einzige, der sich damit auseinandersetzte. Die Affäre war längst kein Geheimnis mehr, denn erstaunlicherweise interessierten sich die in Wien akkreditierten ausländischen Diplomaten für den Fortgang der Dinge. Der Klerus - er war seinerzeit sogar eingeschaltet gewesen, um Sophie zur Aufgabe ihres Verlöbnisses zu überreden - glaubte, sich das Wohlwollen des Mannes verscherzt zu haben, der eines Tages auf dem Thron sitzen würde. Das konnte prekäre Folgen haben, selbst für eine Macht wie die Kirche.
Während Schinderl ungeniert dahinplauderte, dass sich die Wiener darüber aufregten, die Ringstraße würde wohl bis zum Jahr 1900 eine permanente Baustelle darstellen, überlegte Franzl, wie er die kurze Zeitspanne, die ihm für das Gespräch mit Franz Ferdinand zur Verfügung stand, nützen könne. Die Einteilung des „Zeremonialprotokolls” war Sache seines Generaladjutanten. Der war um acht Uhr fünfzehn zum Vortrag bestellt. Vielleicht ließ sich dann hinsichtlich des „Protokolls” noch etwas machen, um die vorgesehene Zeitspanne für die Unterredung mit seinem Neffen doch zu verlängern.
Schinderl schabte, kratzte und stutzte mit voller Hingabe an den nun schon faltigen und geröteten Wangen und am Backenbart. Endlich zeigte er sich befriedigt, das Bestäuben mit einem lindernden Puder war seine letzte Tat, ein Vorgang, den Franzl geradezu hasste.
„Ich bin kein Frauenzimmer”, pflegte er zu knurren. Schinderl grinste wie immer unverschämt.
„Es gehört dazu, Majestät”, versicherte er. „Majestät wirken dadurch sehr gepflegt. Und dafür bin ich schließlich verantwortlich!”
Danach hörte Franzl um fünf Uhr früh die Messe in der Schlosskapelle. Dann ging er wieder auf sein Zimmer, um dort sein Frühstück - ein Glas heißer Milch und ein Kipferl mit Butter - einzunehmen. Mit Wehmut dachte er dabei an den Kaffee und den Rosinengugelhupf bei der Kathi, den er sonst um diese Stunde in der Villa in der Gloriettegasse genossen hatte. Doch damit war es seit dem Krach mit ihr vorbei. Sie hatte auch immer alle Tageszeitungen für ihn vorbereitet, und er konnte lesen, was ihm beliebte. Nicht nur jene ausgeschnittenen Artikel, die ihm in der Hofburg zur Lektüre vorgelegt wurden, so dass er immer nur das erfuhr, was er nach den Vorstellungen gewisser Leute erfahren sollte.
Franzl setzte sich an seinen Schreibtisch und schraubte die Leuchte hoch. Die dicken Vorhänge waren zugezogen, denn der Park vor dem Schloss lag noch im Dunkeln. Nachdenklich sortierte er die Akten, die er in die Hofburg mitnehmen wollte und die er am vergangenen Abend vor dem Schlafengehen noch einmal studiert hatte.
„Dieses Kaiserforum - als ob sie nicht ohnehin schon genug verdienen würden, die Herren Architekten”, brummte er. „Ich brauch' das Forum nicht. Aber vielleicht möcht's der Franz Ferdinand?”
Und in diesem Augenblick fiel ihm die Lösung seines Problems ein.
„Natürlich, ich werd' ihn einfach zu der Modellbeschau mitnehmen. Vorausgesetzt, dass er sich's einrichten kann.”
Denn auch der Thronfolger war ja längst nicht mehr Herr seiner Zeit. Schon gar nicht, seit er im Oberen Belvedere residierte.
Um Punkt acht Uhr früh rollte die Kutsche des Kaisers zwischen den Obelisken vor dem Schloss Schönbrunn in die Schlossallee und von da über die Mariahilfer Straße dem Stadtzentrum zu. Franzl brauchte von Schönbrunn bis zu seinen Amtsräumen in der Hofburg nur eine Viertelstunde. Der Generaladjutant Grünne wartete bereits in Franzls Arbeitszimmer und ging dort ungeduldig auf und ab. Kaum hatte Franzl das Zimmer betreten, begann Grünne bereits mit seinem Vortrag.
„Majestät geruhen um acht Uhr fünfundzwanzig den Herrn Feldzeugmeister zu empfangen. Um neun Uhr fünfzehn den Herrn Sektionschef von Kainitz. Um zehn Uhr fünfundzwanzig Seine Kaiserliche Hoheit, Erzherzog Franz Ferdinand. Und um zehn Uhr dreißig erwarten die Herren Architekten Semper und Hasenauer Seine Majestät zwecks Vorführung des Modells eines Kaiserforums im Billardzimmer.”
„Im Billardzimmer?” wunderte sich Franzl.
„Die Herren haben das Modell auf einem der großen Spieltische aufgebaut”, erläuterte der Generaladjutant. „Danach, um elf Uhr fünfundvierzig, nehmen Majestät das Dejeuner ein, um anschließend von zwöfl bis eins gnädigst zu geruhen, dem Maler Kövesy zu seinem Bilde zu sitzen.”
„In der Zeit, in der andere Leut' gemütlich essen dürfen, muss ich mich malen lassen”, brummte Franzl ärgerlich.
„Es war keine andere Einteilung möglich, Majestät”, rechtfertigte sich der Generaladjutant.
„Schon recht, Grünne, Sie können ja nichts dafür, dass ich nicht einmal Zeit zum Schneuzen hab'!”
„Um ein Uhr ist der Minister des Äußeren zum Vortrag da, Majestät”, fuhr Graf Grünne fort, „und um ein Uhr fünfzig der Herr Kabinettssekretär von Schiel. Um ein Uhr fünfundfünfzig Seine Kaiserliche Hoheit, Erzherzog Franz Salvator. Um zwei Uhr fünfzehn der Herr Obersthofmeister Fürst Montenuovo. Von zwei Uhr dreißig bis vier geruhen Majestät, die Audienzwerber zu empfangen.”
„Was - heut nur anderthalb Stunden?” zeigte sich Franzl angenehm überrascht. „Und dann darf ich wieder nach Schönbrunn?”
„Glücklicherweise liegen diesmal nicht mehr Anmeldungen vor. Majestät verstehen - es ist Fasching; die Bälle, die Theater ...”
„Ja, ja, da verschieben die Leut' lieber alles auf die Fastenzeit”, nickte Franzl schmunzelnd. „Na, dann komm' ich wenigstens dazu, meinen Berg von Akten aufzuarbeiten, den ich in Schönbrunn liegen hab'.”
Und er ließ den Feldzeugmeister Graf Rannersberg eintreten.
„Majestät, ich komme mit einer Beschwerde! Die Militärkanzlei Seiner Kaiserlichen Hoheit maßt sich Eingriffe in meinen Kompetenzen an!”
„Inwiefern, Graf?” runzelte Franzl die Stirn.
„Es werden Erhebungen durchgeführt über Bestände an Ausrüstung und Munition.”
„Dazu ist die Militärkanzlei doch wohl da, oder?”
Graf Rannersberg erblasste.
„Majestät - bisher haben doch nur Majestät selbst als oberster Befehlshaber –“
„Der oberste Befehlshaber kann sich nicht um alles kümmern, Graf”, versetzte Franzl.
Um zehn Uhr wartete Franz Ferdinand schon ungeduldig im Audienzsaal auf sein Gespräch mit dem Onkel, für das ihm ganze fünf Minuten eingeräumt worden waren. Schon das erfüllte ihn mit Zorn. Dazu kam, dass er auch wegen Sophie auf seinen Onkel nicht gut zu sprechen war.
Doch die Tür zum Arbeitszimmer des Kaisers öffnete sich auch für ihn nicht um eine Minute früher. Der Thronfolger schlug stramm die Hacken zusammen, während die Lakaien die Flügeltür hinter ihm schlossen. Er stand jetzt nicht seinem Onkel, sondern seinem höchsten Vorgesetzten, dem Kaiser, gegenüber. Doch dieser war anscheinend nicht in der Laune zu einem formellen und vielleicht auch heftigen Wortwechsel.
„Steh bequem”, sprach er ihn familiär an. „Du kommst vermutlich wegen Rannersberg. Ich hab' ihm gesagt, dass deine Kanzlei befugt ist, Kontrollen durchzuführen.”
„Majestät”, stieß Franz Ferdinand überrascht hervor. „Ist das wahr? Darf ich also durchgreifen?”
„Durchgreifen?” runzelte Franzl die Stirn. „Auf was bist' denn draufgekommen?”
„Es ist ein Skandal, Majestät! Heeresaufträge sind vergeben worden, die unglaublich sind. Das Schuhwerk für die Infanterie, Majestät. Sohlen aus minderwertigem Leder! Damit kann kein Soldat auch nur fünfzig Kilometer marschieren! Ich muss das aufdecken, Majestät! Es ist schließlich das Geld der Monarchie, das Geld der Steuerzahler!”
„Du hast recht - das dürfen wir uns nicht gefallen lassen”, nickte Franzl. „Du handelst mit meinem vollen Einverständnis. Mach, was du für richtig hältst. - Im Übrigen: Brauchst du ein Kaiserforum?”
„Ein Kaiserforum?” zeigte sich der Thronfolger überrascht. „Ich hab' schon davon gehört, aber -”
Franzl schaute auf die Uhr: „Wir haben nur noch zwei Minuten. Und ich möcht' gern mit dir reden, auch wegen des Briefes, den du meiner Frau geschrieben hast ...”
Der „ewige Bräutigam” wirkte verlegen. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, winkte Franzl auch schon ab.
„Ich muss jetzt gleich ins Billardzimmer”, erklärte er. „Kommst' mit mir das Forum anschauen, das die Herren Architekten unbedingt bauen wollen? Ich brauch's nicht, das sag' ich dir gleich. Aber es könnte ja sein, dass du anderer Meinung bist. Auf jeden Fall können wir bei der Gelegenheit noch ein paar Worte miteinander reden. Das geht schneller, als bis die Antwort von Sissy aus Biarritz kommt . . . Und ich kann ihr schreiben, dass wir uns schon ausgesprochen haben. Vorausgesetzt, dass mich die Herren Architekten überhaupt zu Wort kommen lassen!”
Die Wiener Hofburg, von der aus das Riesenreich der österreichisch-ungarischen Monarchie regiert wurde, ist von verschiedenen Habsburger Herrschern in deren Regierungszeit umgebaut, erweitert und vergrößert worden. Mit dem Bau des Michaelertraktes, dessen Kuppelwölbung von den Wienern bestaunt und bewundert wurde, hatte Franzl alte Pläne Fischer von Erlachs realisiert. Die Kuppel mit ihren 24 Metern Durchmesser und 35 Metern Höhe war das Sorgenkind des Burghauptmanns Ferdinand Kirschner. Unter seiner Bauleitung im Jahr 1890 erbaut, war das Michaelertor jetzt das repräsentative Entree zur Reichskanzlei und zu den Appartements der Angehörigen des Erzhauses.
Doch die Herren Semper und Hasenauer wollten die im Bau befindliche neue Burg durch ein Pendant jenseits des Heldenplatzes und zwei Triumphbögen über die Ringstraße als Verbindungsglieder zu den Hofmuseen als einheitliches Bauensemble gestalten. Natürlich hätte dann auch der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts errichtete Leopoldinische Trakt mit den Räumen der Kaiserin Maria Theresia, die noch genauso ausschauten wie zu ihren Lebzeiten, völlig verändert werden müssen.
Das plastisch ausgeführte Modell wirkte nicht übel. Nicht übel jedoch erschienen Franzl auch die Kosten, die seine Realisierung verschlungen hätte.
Die Herren vom Rathaus, die man zur Besichtigung mit eingeladen hatte, wiesen außerdem darauf hin, dass die beiden Triumphbögen sich zwar bei einer Parade gut ausnehmen, ansonsten aber den Verkehrsfluss beträchtlich behindern würden. Dem praktisch denkenden Franzl leuchtete dieses Argument sofort ein. Franz Ferdinand hingegen lief rot an. Er flüsterte seinem Onkel zu, das Rathaus wolle wieder einmal bloß die Popularität und Reputation des Kaisers beeinträchtigen. Man wolle offensichtlich neben dem Herrn Doktor Lueger in Wien nichts und niemanden gelten lassen.
Franzl schüttelte insgeheim den Kopf über diese Eifersüchteleien zwischen Rathaus und Hofburg, die zum Großteil in den Gehirnen subalterner Politiker und Beamter ihre Brutstätte hatten. Und es gefiel ihm gar nicht, dass sein Thronfolger daran teilhaben wollte.
„Aber, aber”, meinte er leicht verärgert, „ich sehe diesen Bau doch nicht als Politikum.”
„Seit den Tagen der Gotik bis zur Gegenwart ist mit diesem Bau Politik verbunden”, knurrte Franz Ferdinand. „Die ältesten Steine und die neuen Ziegel, die der Baron Dräsche liefert - hier werden und wurden sie seit jeher Politik. Dies hier ist das Zentrum, die Herzkammer des Reiches, mein Herr Onkel!”
„Dank' schön für die Belehrung”, brummte Franzl säuerlich. „Mit einem Wort - du möchtest das Forum. Na, dann lass es nur bauen, wenn du Kaiser bist. Ich brauch' keine Schulden. Und was deine Heirat angeht - du kannst in deinem Forum auf dem Thron sitzen, aber ohne Kaiserin, falls deine künftige Frau Sophie Chotek heißt.”
„Wie soll ich das verstehen?” zischte Franz Ferdinand in steigender Erregung.
Während Herr Semper eben erläuterte, wie der Heldenplatz durch die teilweise Verbauung des Volksgartens zum prächtigen Mittelpunkt werden würde, flüsterte Franzl seinem Neffen eine kurze Erläuterung zu:
„Deine Sophie stammt aus keiner regierenden Familie und kann aufgrund der Gesetzeslage auch nicht in eine solche einheiraten, es sei denn, sie verzichtet auf alle Rechte und Ansprüche, die ihr durch die Heirat erwachsen würden.”
„Und die Kinder?” schluckte Franz Ferdinand. „Sophie und ich wollen Kinder haben. Nichts bedeutet mir mehr als Heim und Familie. Sie wird mein Hafen sein, mein Rückhalt, mein Ankerplatz, denn ich weiß, der Thron ist eine schwere Last und Aufgabe.”
„Das ist er wohl, mein Herr Neffe”, nickte Franzl ernst. „Und Kinder könnt ihr haben, so viele ihr wollt. Aber es werden keine Prinzen und Prinzessinnen sein. Keiner deiner Söhne wird einst Thronfolger. Keine deiner Töchter wird je in ein regierendes Haus einheiraten können. Sehr ungewöhnlich für die Kinder eines Monarchen, bedenke das! Wenn du in dem neuen Thronsaal sitzt, der hier gebaut werden soll, dann wird dir bewusst werden, dass deine Sophie zu einem offiziellen Anlass nicht einmal an deiner Seite eine Treppe hinabsteigen darf, sondern sich im Gefolge bewegen muss. Wie wollt ihr, wie willst vor allem du das durchstehen, Franz Ferdinand? Du, bei deinem Stolz, mit deinem Ehrbegriff und deiner Liebe zu ihr!”
Franz Ferdinand biss sich auf die Lippen.
„Es muss eine andere Lösung geben”, knurrte er finster.
„Es gibt keine”, erklärte Franzl trocken. „Zumindest ist mir bis jetzt von den Hofjuristen keine andere angeboten worden.”
„Das - das kann ich so nicht akzeptieren”, weigerte sich Franz Ferdinand, und sein Blick verdunkelte sich. Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich, sein Nacken versteifte sich. „Niemals, mein Herr Onkel, niemals!”
Franzl zuckte bedauernd mit den Schultern.
„Dann sind wir keinen Schritt weitergekommen”, seufzte er leise auf.
Und da in diesem Augenblick auch die Herren Architekten mit ihrem Referat fertig waren, wandte er sich wieder dem Modell zu und meinte, es wäre sehr schön und der Vortrag der beiden Herren sehr vielversprechend und erfreulich gewesen. Er nickte gnädig nach allen Seiten und gab das Entlassungszeichen. Wenig später waren er und sein Neffe allein. In den Korridoren wurde noch heftig diskutiert, denn die Herren Hasenauer und Semper versuchten dahinterzukommen, ob der Kaiser ihr Forum nun bauen lassen werde oder nicht.
Franz Ferdinand und der Kaiser standen noch immer vor dem Modell, doch sie sahen es kaum. Zu verbittert war die Stimmung zwischen ihnen. Und nach einer Minute gespannten Schweigens drehte sich Franz Ferdinand plötzlich um und verließ gegen jede Etikette das Billardzimmer.
„Meine liebste, hochverehrte Tante . . .”
Sissy hielt den Brief in Händen, der sie wenige Tage nach diesem Gespräch in Biarritz erreichte. Und der Brief zeugte von Franz Ferdinands inneren Qualen und Stürmen, die in ihm tobten. Man wolle ihn durch solche unerfüllbare Forderungen in die Knie zwingen, schrieb er. Doch er werde weiterkämpfen für sein Recht auf seine Liebe, für die Rechte der Frau, mit der er sein Dasein teilen wolle, und für die Rechte ihrer zukünftigen Kinder.
Sissy ließ den Brief sinken. Sie fühlte mit Franz Ferdinand und begriff zugleich, dass Franzl ihm Zugeständnisse gemacht hatte und dabei bis zum Äußersten gegangen war. Aber natürlich war das keine gute Lösung. Sie würde bedeuten, dass immer wieder unmögliche Situationen entstehen würden, die für Franz Ferdinand und Sophie kaum zu ertragen wären. Und wie sich die Kinder wohl damit abfinden würden, war dabei überhaupt noch gar nicht abzusehen.
„Dabei”, meinte Frau von Sztaray wenig später beim Tee, „gäbe es doch einen so einfachen und noch dazu gar nicht ungewöhnlichen Weg. Die übliche bequeme Lösung, Majestät.”
„Ich weiß, was Sie meinen, Sztaray”, antwortete Sissy stirnrunzelnd. „Sie meinen, mein Neffe solle eine Vernunftehe eingehen - mit einer den Interessen Österreichs und der Familie genehmen Prinzessin aus einem anderen Herrscherhaus. Und sich nebenbei die Komtesse Chotek fürs Herz als Mätresse halten.”
„Es wäre doch wirklich kein Sonderfall, Majestät”, verteidigte die Sztaray ihren Ratschlag. „Damit wären doch alle Probleme mit einem Schlag gelöst, und niemand würde sich darüber aufregen!”
„Niemand außer Franz Ferdinand. Und Sophie! Diese beiden Menschen sind für solche ,bequemen Lösungen' nicht geschaffen. Sie leben lieber unbequem, aber anständig.”
„Diese Haltung ist ja Seiner Kaiserlichen Hoheit hoch anzurechnen, aber er kann doch nicht mit dem Kopf durch die Wand!”
„Vielleicht doch”, meinte Sissy versonnen und brach das Thema abrupt ab.
Es wird noch in einer Katastrophe enden, überlegte Sissy im Stillen, wenn der Himmel kein Einsehen hat. Im Augenblick erschien jedoch der Karren wieder einmal festgefahren. Die Lösung, die der Kaiser ihm angedeutet hatte, fand der Thronfolger unannehmbar. Eine befriedigende Lösung aber schien es weit und breit nicht zu geben. Der „ewige Bräutigam” würde also weiterhin zuwarten müssen. Und in Prag wartete - gleichfalls vergeblich und enttäuscht - Franz Ferdinands geduldige und tapfere Sophie.
Die immer wieder genährte Hoffnung, dass sich doch alles zum Guten wenden würde, war auch diesmal trügerisch gewesen. Franz Ferdinand wollte Sophie so schonend wie möglich beibringen, was der Kaiser ihm gesagt hatte, und reiste nach Böhmen - mit der Freude im Herzen, sie wiederzusehen und zu umarmen, und zugleich dem Schmerz, ihr wehtun zu müssen. Je mehr sich sein Zug der Hauptstadt Böhmens näherte, desto trüber wurde seine Stimmung.
„Tante Sissy”, murmelte er aus dem Fenster blickend, ohne die vorbeifliegenden Häuser der Prager Vorstädte zu sehen. „Du hast es gut gemeint, ich weiß ... Aber alles war vergebens. Wie kann ich Sophie zumuten, was der Kaiser von ihr verlangt. Wie könnte ich jemals Sophies und meine Kinder um den Anspruch auf ihr Erbe bringen! Nein, das wäre zu grausam. Würde ich auf den Thron verzichten, könnte ich Sophie heiraten, und es gäbe keine wirklichen Probleme. Vielleicht wollen sie dies. Und sie können nicht begreifen, warum auch das für mich ganz unmöglich ist. Tante Sissy, es war Rudolf, dein Sohn, dem ich das Versprechen gegeben habe, einst seine Pläne zu verwirklichen! Und dieses Versprechen, mein Wort, will und kann ich nicht brechen, denn es geht um die Zukunft der Monarchie.”
Sie trafen einander in dem kleinen Kinematographenladen in Smichow. Der war einmal eine Schneiderwerkstatt gewesen, und es war noch gar nicht lange her, dass die Mamsellen hier Tisch an Tisch saßen und mit Nadel und Zwirn damit beschäftigt waren, Kleider für die Damen der Prager Gesellschaft anzufertigen. Doch inzwischen hatte sich einiges verändert. Es gab Bänke, auf denen Leute saßen, die den Blick wie gebannt auf eine Projektionsleinwand gerichtet hatten. Die Fenster waren verdunkelt, so dass bis auf den Widerschein der zappelnden Bilder auf der Leinwand und dem projizierenden Lichtstrahl, der aus einem Mauerdurchbruch fiel, nichts zu sehen war.
Das ehemalige Schaufenster der Schneiderei enthielt jetzt Szenenbilder und Ankündigungen. Gleich dahinter saß ein Fräulein, von dem Franz Ferdinand in Zivil eine Karte für einen Logensitz verlangte. Es gab drei solcher hölzerner Verschlüge, die als Logen verkauft wurden, mit je zwei Stühlen darin. Sie hatten Vorhänge zu beiden Seiten und den großen Vorteil, dass man hier - noch dazu im Dunkeln - gewiss unerkannt blieb. Ein Bursche führte den ihm unbekannten Herrn durch einen engen Korridor zu der Loge und schlug den Vorhang beiseite.
„Die Dame sitzt da drin”, erklärte er in einem Tonfall, der erkennen ließ, dass derartige Rendezvous keine Seltenheit waren.
„Verschwinde”, knurrte Franz Ferdinand den Burschen an, der sich erschrocken schnell aus dem Staub machte.
Doch dann sah der Kronprinz ihre Silhouette vor sich, die Konturen ihres Kopfes und ihrer Schultern im Widerschein des ablaufenden Films.
„Sophie”, flüsterte er halblaut.
Jäh wandte sie sich um.
„Franz”, hauchte sie, „endlich!”
Die schrillen Töne des unbarmherzig gehämmerten Pianinos, dessen Gewimmer den Film untermalte, übertönten ihre zärtliche Begrüßung. Und der Vorhang zum Zuschauerraum, den Franz Ferdinand mit einer heftigen Bewegung zuwarf, entzog sie nun gänzlich allen fremden Blicken. Sie küssten und umarmten einander wie zwei Menschen, die sich vor Sehnsucht nacheinander verzehrt hatten und hungrig nach Liebe waren.
„Komm, lass uns fortgehen von hier”, bat er.
„Zu dir, in den Hradschin?”
„Nein, Sophie . . . Nicht in den Hradschin, wo uns jeder sieht und erkennt. Sophie, komm mit mir . . . Ich habe eine Wohnung gemietet, draußen in den Weinbergen.”
Sie schwankte, schüttelte dann jedoch den Kopf mit einer ihn überraschenden Heftigkeit und löste sich von ihm.
„Nein, Franz”, erklärte sie bestimmt, „das wäre nicht gut.”
„Aber, Sophie, wir lieben uns doch!”
„Ebendeswegen”, entgegnete sie. „Franz, ich möchte nicht die heimliche Geliebte werden, die sich nur im Verborgenen mit dir treffen kann. Ich möchte mit dir leben und zu dir stehen in guten wie in schlechten Zeiten.”
Und damit schlug sie den Vorhang wieder zurück und öffnete die Loge fremden Blicken. Doch niemand kümmerte sich um sie. Vielmehr belachte man Max Lindners ulkige Streiche.
„Sophie! Was sind das doch in Wien für Idioten! Was wärest du für eine großartige Kaiserin ... Und sie wollen dich nicht haben, gerade dich nicht! Diese verdammten Idioten!”