Und wo bleibt mein Wunder? - Elfi Sinn - E-Book

Und wo bleibt mein Wunder? E-Book

Elfi Sinn

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Beschreibung

Und wo bleibt mein Wunder? Wer hat sich das nicht auch schon gefragt, wenn sich das eigene Leben hoffnungslos festgefahren zeigt, wenn plötzlich alles verloren ist oder der sehnlichste Wunsch sich nie erfüllt. Immer dann hofft man auf etwas, das alle Missverständnisse auflöst, das Leben wieder in Fluss bringt und wirklich zum gewünschten Ziel führt. Da könnte doch eigentlich auch mal etwas Außergewöhnliches passieren, hoffen Mara, die sich gegen eine dominante Mutter durchsetzen muss oder Steffi, die nach der Scheidung einen neuen Partner sucht oder Julia, die gerne Kinder hätte. Und wenn das eigene Bemühen von zauberhaften Einflüssen ergänzt wird, wie in diesen sieben Geschichten, dann klappt es auch.

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Inhaltsverzeichnis

Die Legende vom kleinen Wunder

Der nächste Bus kommt bestimmt

Was wiegt schwerer?

Es geht alles vorüber

Oma ehrenhalber

Die ganze Bande

Herzkirschen im November

Die Legende vom kleinen Wunder

Gespannt öffnete Mara Berger das flache Paket, das gerade ein Bote gebracht hatte und zog die Blätter eines Manuskript hervor, das ihre Freundin Elva geschickt hatte, verbunden mit der dringenden Bitte ihr zu helfen. Aus Gewohnheit sah sie sich vorsichtig um, bevor sie sich dem Entwurf widmete, aber heute war sie alleine im Büro. Also gab es keine Gefahr, dass jemand sie beim Lesen stören würde.

Irgendwo und irgendwann, vor sehr langer Zeit, wachte eine junge Göttin an einem schönen, leuchtenden Frühlingsmorgen aus ihrem erholsamen Schlaf auf. Sie hatte wunderbare Dinge geträumt und fühlte sich auch nach dem Erwachen noch sehr glücklich. Das traf sich gut, denn für Glück fühlte sie sich sowieso zuständig, so wie es ihr Name Fortuna auch zum Ausdruck brachte. Eigentlich sollte sie nach dem Willen der alten Weisen, eher die Schicksale der Menschen lenken, aber das erschien ihr nicht so erfüllend, wie das Glück mit vollen Händen zu verschenken.

Also nahm sie an diesem wundervollen Morgen, als sich der Himmel zartblau färbte und nur einige federleichte, weiche Wölkchen darüber schwebten, das größte Füllhorn, das sie besaß und goss es freigiebig über die Menschen aus. Aus einigen Blumen und Früchten, die zur Erde schwebten, wurden auf dem langen Weg zierliche Fragmente, winzige Kristalle, glitzernde Tropfen und fruchtbare Körnchen, die ihren vorgesehenen Platz fanden. Das konnte auf einer besonders duftende Blume, aber auch auf einem hässliches Gestrüpp sein, eine besonders wohlschmeckende Frucht treffen oder eine, die schon lange am Baum ausharrte, weil niemand sie essen wollte. Danach waren sie alle gleich schön und begehrt. Alles was aus dem Füllhorn floss wählte nicht. Es kam zu mutigen und tapferen Menschen genauso wie zu Feiglingen, die sich vor dem Leben versteckten, es kam zu Gesunden und zu Kranken, zu Glücklichen und Unglücklichen, es kam zu Menschen und zu Tieren. Und jedes Wesen, das ein Geschenk aus dem glücklich machenden Füllhorn traf, erlebte an diesem Tag sein eigenes kleines Wunder.

„Was für eine schöne Idee“, murmelte Mara und legte das Manuskript zur Seite, „aber leider nur der Beginn einer Geschichte.“ Obwohl ich mir genau so etwas wünsche würde! Dieser Gedanke zog ihr nicht das erste Mal durch den Kopf. Etwas, was mein Leben über Nacht total verändert. Sehnsüchtig sah sie wieder zu den Seiten. „Und das hätte ich auch verdient, schließlich warte ich schon sehr lange auf mein persönliches Wunder“, murmelte sie leise, obwohl sie keiner hören konnte.

Sie schob eine Strähne ihrer hellblonden Haare, die sich aus dem Nackenknoten gelöst hatte, wieder in die strenge Frisur und stöhnte über sich selbst. Ihre Freundin Elva schrieb oft solche poetischen Geschichten, die zwar immer in irgendeiner Fantasiewelt spielten, aber drängende reale Bezüge hatten und sie immer über sich selber nachdenken ließen.

Trotzdem las sie die Geschichten gerne und wünschte sich, irgendwann und völlig überraschend in einer solchen Parallelwelt aufzuwachen, die sie sich immer in den schönsten Farben vorstellte, so wie heute. Schon als sie die ersten Sätze gelesen hatte, begann diese Welt in zarten filigranen Zügen vor ihren inneren Augen zu entstehen und es drängte sie mehr und mehr, sie auch aus ihren Fingern fließen zu lassen. Sie hatte schon immer gerne gezeichnet oder zarte Aquarelle gemalt.

Aber das war natürlich nichts, was den strengen Ansprüchen ihrer Mutter genügt hätte. Entweder große Kunst, die Millionen brachte oder gar keine. Vor diese Alternative hatte sie Mara gestellt, aber auch nur weil sie vorher fassungslos bei einer Auktion die Höhe der Gebote für Bilder von Gerhard Richter verfolgt hatte. Für brotlose Kunst hatte sie natürlich kein Verständnis.

Deshalb war Mara natürlich Steuerfachangestellte geworden und hatte dann das komplizierte Steuerberaterexamen absolviert, wie ihre Eltern auch und arbeitete mit Dreißig immer noch im Steuerberatungsbüro der Familie, obwohl sie dieser Arbeit wirklich nichts abgewinnen konnte.

Aber alle Bemühungen etwas anderes zu machen, scheiterten an der Dominanz von Henriette, wie Mara ihre Mutter nannte, wenn sie alleine und unbeobachtet war, so wie heute. Sie wusste, dass ihre Mutter sie sehr geschickt emotional manipulierte und kam dennoch nicht dagegen an.

Immer wenn sie allen Mut zusammengenommen hatte und ausgebrochen war, holte Henriette sie wieder zurück. Damals nach dem tödlichen Unfall ihres Vaters, der sie immer unterstützt hatte, war sie einfach geflohen. Sie wollte mit ihrer Trauer alleine sein und konnte sich eine Zusammenarbeit nur mit der Mutter, ohne den Ausgleich des Vaters, einfach nicht vorstellen. Aber Henriette war ihr gefolgt und hatte ihr ständig schlimmere Schuldgefühle gemacht. „Wie kannst du so kaltherzig sein und mich ausgerechnet jetzt in meiner Trauer und meinem Schmerz alleine lassen?“

Solange Mara unschlüssig war, hatte ihre Mutter mit tränenerstickter Stimme geflüstert, als sie dann jedoch wider besserem Wissen eingewilligt hatte zurück zu kommen, klang Henriettes Stimme befehlsgewohnt wie immer.

„Was bist du doch für eine undankbare Tochter! Andere würden sich freuen, wenn sie so einen soliden Arbeitsplatz hätten und eine Mutter, die alles für sie tut.“

Mit Mitte Zwanzig hatte Mara Adrian kennen und lieben gelernt.

Er war als Maler schon ziemlich erfolgreich und ihre Mutter schien von ihm recht angetan zu sein. Das änderte sich sehr schnell, als sie bemerkte, dass er Maras Potential erkannte und sie gezielt in ihrer künstlerischen Entwicklung förderte. Erst störte sie nur ihre Treffen mit Adrian, indem sie die Termine absichtlich durcheinander brachte, dann setzte sie Gerüchte in die Welt, Adrian würde als Fälscher verdächtigt und irgendwann war der junge Maler einfach verschwunden. Mara war am Boden zerstört und weinte sich wochenlang in den Schlaf. Mit ihm war sie zum ersten Mal glücklich gewesen und sie konnte sich sein Verschwinden einfach nicht erklären, bis sie bei den Buchhaltungsbelegen die Überweisungen entdeckte.

Die Höhe der Summe, die Henriette an Adrian gezahlt hatte, ließ ihr den Atem stocken. Als sie ihre Mutter darauf ansprach, erklärte die ihr nur verächtlich lächelnd. „Wie konntest du nur glauben, dass ein solcher Mann bei dir bleibt? Du siehst nur durchschnittlich aus, bist viel zu dünn, hast keine Kurven und kein Feuer. Natürlich hat er lieber das Geld genommen, mehr konnte er ja nicht erwarten.“

Mara hatte nicht die Kraft gehabt zu antworten, sie hatte nur still geschluckt. Als sie anschließend in den Spiegel gesehen hatte, schien ihr das, eine Bestätigung dessen zu sein, was ihre Mutter ständig sagte. An ihr war wirklich nichts Besonderes, nur langweilige graue Augen und dünnes blondes Haar.

Damals hatte dieser Ausschlag begonnen. Nachdem ihre Mutter den Raum verlassen hatte, breitete sich der brennende, juckende Ausschlag über ihre Arme, die Brust und den Hals aus. Nach einigen ungestörten Stunden war alles wieder verschwunden, so als wäre nichts gewesen. Nach zwei Tagen gab es erneut eine Auseinandersetzung, in der Henriette einen Fehler in der Bilanz eines Mandanten kritisierte, den sie selbst gemacht hatte, aber Mara zuschob. Die rechtfertigte sich nicht, sondern korrigierte still den Fehler, aber ihr Körper reagierte.

Diesmal war der Ausschlag noch etwas unangenehmer und blieb auch einen ganzen Tag lang. Natürlich störte der Juckreiz ihre Konzentration, die Arbeit dauerte länger und die Angriffe von Henriette nahmen zu. Mara wäre gerne zu einem Hautarzt gegangen, aber dort zu erzählen, wann oder wodurch die Bläschen auftauchten, war ihr einfach zu peinlich. Dann aber musste sie doch gehen, weil der Ausschlag schon begann, wenn Henriette nur das Büro betrat und auch tagelang anhielt. Nachdem sie vier Ärzte konsultiert hatte, die ihr mehr als vier unterschiedliche Salben verordneten und bedauerlicherweise absolut nichts bewirkten, unternahm sie einen letzten Versuch.

Sie fand eine Ärztin, die ihre Großmutter hätte sein können und auch in ihrer freundlichen Art so wirkte. Sie musterte den Ausschlag und lächelte dann. „Hier geht es ganz offensichtlich um eine allergische Reaktion. Wenn es etwas Herkömmliches betreffen würde, wie Chemikalien oder Kontaktallergene, hätten das meine Kollegen schon herausgefunden. Also wen haben Sie in Ihrer Umgebung, der Ihnen nicht gut tut?“

Das öffnete sämtliche Schleusen bei Mara, sie weinte und redete sich allen Frust von der Seele. Die Ärztin hörte ihr zunächst geduldig zu, forderte sie aber dann zum Handeln auf.

„Sie brauchen keine weitere Salbe, denn Ihr Problem wird keine Salbe lösen können, das können nur sie selbst tun. Sie haben alles viel zu lange geschluckt. Und irgendwann war der letzte Tropfen einfach einer zu viel. Die Haut ist der Spiegel der Seele, sie reagiert, weil wir nicht bemerken, wenn uns die Seele etwas sagen will.“ Sie schüttelte tadelnd den Kopf. „Unter uns Heilenden gibt es deshalb den Spruch: Geh du voran, sagt die Seele zum Körper! Auf mich hören sie nicht. Und der Körper macht uns dann Schmerzen, schränkt unsere Bewegungsfähigkeit ein oder macht Ausschlag.“

„Das leuchtet mir ein, aber was soll ich denn machen?“ fragte Mara verzweifelt. „Wir arbeiten nun mal in der gleichen Firma.“

Aber die Ärztin lächelte nur aufmunternd.

„Sie müssen genau das tun, was jeder Allergiker tun muss. Halten sie sich vom Auslöser fern! Das ist nicht einfach, aber wichtig, wenn Sie überleben wollen.“

Dieses Gespräch war vor zwei Tagen gewesen. Seitdem grübelte Mara, wie sie das bewältigen könnte, ohne selbst unterzugehen.

„Dazu brauchte ich nicht nur das kleine Wunder aus Elvas Geschichte, sondern eher ein viel größeres“, stöhnte sie und trat ans Fenster. Henriette war zu einem Fachkongress gefahren, deshalb war sie allein. Und nur deswegen war auch die Haut zurzeit fast in Ordnung, allerdings blieb die Stimmung gedrückt, da sich noch keine Lösung des Problems abzeichnete. Dabei war heute so ein schöner Tag, die Sonne schien und die japanischen Kirschbäume auf der Straße schienen um die Wette zu blühen.

Sie öffnete das Fenster und atmete tief ein. Im gleichen Moment stob ein leichter Wind durch die Blüten, ließ sie nach oben fliegen und langsam wieder herunter schweben, so als hätte Fortuna gerade ihr Füllhorn ausgeleert.

Mara musste lächeln, als eine zarte rosafarbene Kirschblüte auf ihrer Hand landete. Was für ein wunderbares Kunstwerk, so zart und dennoch so perfekt. Und ganz bestimmt auch leicht zu skizzieren, wenn…“

Maras Lächeln blieb nicht nur auf dem Gesicht, sondern schien plötzlich durch ihren gesamten Körper zu ziehen. Was tat sie eigentlich noch hier? Sie könnte in dem kleinen Wintergarten ihrer Wohnung sitzen und Elvas Geschichte Gestalt annehmen lassen.

Es drängte sie regelrecht, die Skizzen, die ihr durch den Kopf zogen auf das Papier zu bringen. Wieso eigentlich nicht?

Ohne weitere Überlegungen fuhr sie ihren Computer herunter und verließ das Büro, ohne zurückzublicken.

Zuhause erschien es ihr, als würde sie von den Farben, den Stiften und den Skizzenblocks regelrecht willkommen geheißen. Ohne die Geschichte zu Ende zu lesen, malte sie in zarten Farben alles, was nach ihrer Vorstellung von Fortunas glückbringendem Überfluss gestreift worden war. Sie zeichnete und kolorierte wie im Rausch und hielt erst nach einigen Stunden überrascht inne.

Dann betrachtete sie völlig erstaunt, was sie fast unbewusst gestaltet hatte, das alte Bauernhaus, das mit seinem Fachwerk so einladend wirkte, die bockige Ziege, die plötzlich zu lächeln schien, als ein Blüte auf ihrem Kopf landete, die Bäume, die sich glitzernden Wassertropfen entgegen reckten und die dunkle Erde, aus der bereits die ersten Pflanzen keimten. Oder die guten Feen mit wundervollen blumengeschmückten Hüten, die Menschen anleiteten, ihr Glück zu finden. Woher kam das?

Darüber hatte sie garantiert nichts gelesen, denn bis jetzt wusste sie gar nicht, wie Elvas Geschichte weiter ging. Sie beschloss, sie über Facetime anzurufen.

Elva saß wie immer um diese Zeit an ihrem zierlichen Schreibtisch, schrieb aber nicht, sondern träumte die Handlung voraus.

Mara erkannt sofort, dass es um die Schwierigkeiten einer Prinzessin gehen musste, denn Elva trug ein weißes, langes Kleid mit Rüschen und einen Blumenkranz in ihren honigbraunen Haaren. Bestimmt war sie wie immer barfuß, hatte aber die Füße unter das weite Kleid gezogen.

Als sie Mara auf dem Monitor ihres Smartphones erkannte, funkelten ihre haselnussbraunen Augen vergnügt. „Du traust dich, mich in der Arbeitszeit anzurufen? Das ist kühn! Oder ist Ihre Hoheit nicht zuhause?“

„Beides“, lachte Mara. „Aber du wirst es nicht glauben, ich habe mir einfach frei genommen, um zu Papier zu bringen, was mir zu deiner Geschichte eingefallen ist. Aber jetzt bin ich etwas unsicher, weil ich ja eigentlich nur den Einstieg gelesen habe.“

Als sie mit der Kamera über die einzelnen Blätter glitt, jubelte Elva sofort. „Das passt wunderbar! Mara, du bist wirklich meine Rettung. Du hast sogar Grazian, den Ziegenbock, wunderbar erfasst und die Feen und das Bauernhaus sehen genauso aus, wie in meiner Fantasie. Diese Skizzen brauche ich unbedingt und so schnell wie möglich. Ich wusste, du würdest es schaffen.“

Mara war so verblüfft, dass sie zweimal zum Sprechen ansetzen musste. „Dein Hilferuf war wirklich echt? Du meinst, du willst tatsächlich meine Zeichnungen verwenden? Für dein Buch?“

„Ja, natürlich“, kicherte Elva. „Ich hatte schon einige Entwürfe, die haben mich aber nicht überzeugt. Deine Bilder sind so, als hättest du in meinen Kopf geschaut und alles sichtbar gemacht, was ich mir vorstelle. Morgen kommt meine Lektorin, deshalb bräuchte ich die Zeichnungen ganz schnell. Sie wird genauso begeistert sein.

Bestimmt kann sie ein Kurierdienst pünktlich hierher bringen.“

Ehe Mara auch nur darüber nachdenken konnte, hatte sie schon lächelnd den Kopf geschüttelt. „Das ist nicht nötig, ich bringe sie selbst vorbei.“

„Juhu, da wird Ihre Hoheit aber staunen. Kannst du auch etwas länger bleiben? Eine der Ferienwohnungen ist einen ganzen Monat frei und danach habe ich immer noch ein Gästebett. Ich freue mich wie verrückt!“

Als sie aufgelegt hatte, holte Mara tief Luft, um sich etwas zu beruhigen. Irgendwie ging jetzt alles ein wenig zu schnell. Aber wenn ein Zug erst einmal Fahrt aufgenommen hat, dachte sie etwas schnoddrig, dann werde ich ihn ganz bestimmt nicht anhalten!

Also rief sie im Steuerberatungsbüro an.

„Frau Koch, stornieren Sie bitte alle meine Termine. Was davon möglich ist, soll meine Mutter übernehmen. Ich bin für unbestimmte Zeit verreist.“

Ihre Sachen hatte sie schnell gepackt, auf dem Land würde sie kaum etwas Aufregenderes brauchen als Jeans, Shirts und die Leinenbluse, die sie zum Kolorieren trug. Mehr Gepäck hätte sie sowieso nicht verstauen können, denn um zu Elvas Haus zu gelangen, brauchte sie nicht nur die Regionalbahn, sondern auch ihr Fahrrad.

Das war wieder so etwas, das ständig Henriettes Unmut hervorgerufen hatte. Radfahren erschien ihr für eine Steuerberaterin nicht seriös genug.

Aber Mara machte es vielleicht gerade deswegen großen Spaß.

Sie schaute sich noch einmal prüfend um, aber sie hatte nichts vergessen. Also band sie ihre Haare noch rasch zu einem frechen Pferdeschwanz und dann konnte es losgehen. Ein letzter Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie sich bereits anders fühlte. Ihre Augen funkelten wie schon lange nicht mehr: Das Abenteuer konnte beginnen! Die Skizzen, das Wichtigste, hatte sie in einer Umhänge-Mappe verstaut und würde sie sicher über der Brust tragen.

Der Regional-Express war um diese Zeit erstaunlich leer, nur ein einzelner Mann saß im Fahrradabteil. Mara hatte nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen und volles silbergraues Haar und einen ebensolchen Vollbart wahrgenommen, da sie noch versuchte, ihr Rad so zu parken, dass es wegen des Gepäcks nicht umkippte.

Als sie das endlich geschafft hatte und die Mappe von den Schultern streifte, nahm der Zug gerade eine Kurve etwas zu rasant.

Mara taumelte zur Seite und wurde von dem Fremden aufgefangen, der gleichzeitig auch die Mappe sicherte, ehe sie zu Boden fiel.

„Mit soviel Entgegenkommen hätte ich heute nicht mehr gerechnet“, lachte er. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“

Mara presste die Hand auf ihr Herz, das plötzlich viel zu schnell schlug. Diese Stimme! Sie hatte etwas ganz Besonderes, sie klang wie Samt. Nein, sie klang tiefer, eher so wie dunkle Schokolade klingen würde, vorausgesetzt die könnte wirklich sprechen.

Hilfe, was waren denn das für Gedanken! Irgendwie brachte dieser Mann sie völlig durcheinander. Er war deutlich jünger als die grauen Haare vermuten ließen und hatte faszinierende graublaue Augen, die sie interessiert betrachteten. Hatte er nicht etwas gefragt?

Oh, ja.

„Ja, ich bin in Ordnung. Hauptsache, die Mappe ist unbeschädigt.“

Sie ließ sich endlich mit weichen Knien auf den etwas unbequemen Sitz fallen. Er nahm seinen Platz ebenfalls wieder ein, blieb aber ihr zugewandt. „Wenn Sie sich fast dafür geopfert hätten, scheint die Mappe sehr wichtig zu sein, oder?“

Er klang so interessiert, dass Mara ihre übliche Schüchternheit ablegte und ganz begeistert von Elvas Buch und ihren spontanen Illustrationen erzählte.

Er lächelte erfreut. „Ich kenne alle Bücher von Elva, wusste aber nicht, dass sie hier in der Nähe lebt. Ich bin ein großer Fan ihrer Fantasy-Geschichten, fand aber die Illustrationen bisher immer ein wenig zu sparsam.“

Mit klopfendem Herzen zeigte sie ihm dann einige Beispiele ihrer Skizzen auf ihrem Smartphone, die er gebührend bewunderte, bis auf eines, das er länger und etwas irritiert betrachtete.

Mara sah ihn fragend an. „Stimmt irgendetwas mit diesem alten Bauernhaus nicht? Ich finde es wunderschön.“

Er sah sie mit einem eigenartigen Blick an, den sie nicht einordnen konnte und schüttelte dann leicht den Kopf. „Ich finde es auch wunderschön. Und sie haben dieses Haus nie gesehen und erst vor einigen Stunden nach Elvas Ideen gezeichnet?“ Mara nickte stumm.

„Das ist wirklich erstaunlich! Ich würde Ihnen gerne das Original zeigen, wenn es Ihre Zeit erlaubt. Ich bin Florian Berg und leite eine kleine Künstlerkolonie in einem Dorf etwa 10 km entfernt.

Eigentlich ist sie noch im Aufbau. Zurzeit sind wir sieben Leute, eine Malerin, eine Frau, die webt, ein Metallgestalter, ein Glasbläser, ein Mann, der mit Fundstücken tolle Sachen macht, eine Goldschmiedin und ich. Bei mir kommt je nach Objekt von allen Tätigkeiten etwas zusammen, aber meistens arbeite ich mit Holz. Sie würden gut zu uns passen, falls Sie auf der Suche sind. Ich muss leider gleich aussteigen, würde Ihnen aber gerne unsere Visitenkarte hinterlassen, melden Sie sich ruhig, wenn Sie Interesse haben. “

Zwei Wochen später hätte Mara nicht mehr sagen können, wie sich ihr bisher so genau vorgeplantes Leben mit einem Schlag gravierend verändert hatte und wie schnell das alles zustande gekommen war. Jahrelang hatte sie von einem anderen Leben, von einem erfüllten Leben geträumt und darauf gehofft, dass irgendetwas passieren würde, aber diese rasanten Änderungen hätte sie sich einfach nicht vorstellen können. Sie sah aus dem Fenster der kleinen Ferienwohnung und schaute träumerisch über die sanften grünen Hügel. Es war einfach fantastisch hier zu sitzen, sich in eine neue Geschichte zu vertiefen und mit Stift, Pinsel und Farbe alles sichtbar werden zu lassen, was Elva vorschwebte und das mit Bildern, die jedes Herz erwärmten und jeden der sie sah, wieder zum Kind werden ließ.

Und ihre Haut war so klar, als hätte es den hässlichen Ausschlag nie gegeben. So könnte es eigentlich weitergehen, aber manchmal meldeten sich auch zweifelnde Gedanken. Sie konnte sich hier doch nicht ewig vor der Welt verstecken, so schön die Vorstellung auch war. Sicher, sie hatte zwei Verträge mit dem Verlag, der Elvas Bücher verlegte. Schon als sie angekommen war und ihre Freundin die Skizzen im Großformat gesehen hatte, wusste Mara, dass sich hier eine neue Tür öffnen könnte.

Die Lektorin war genauso so begeistert, dass sie sofort einen Vorvertrag für das nächste Buch bekam, an dem sie gerade noch arbeitete. Aber das reichte doch nicht aus, für ein völlig neues Leben!

Oder doch? Sie schüttelte den Kopf. Dachte sie schon so pessimistisch wie Henriette, obwohl sie zum ersten Mal seit langer Zeit richtig glücklich war?

Jeden Morgen joggte sie mit Elva und dem Hund Ajax einmal um den kleinen Ort, entlang an Wiesen mit wilden Blumen, die noch vom Tau glitzerten, an Hecken, in denen die Vögel zwitscherten und einem kleinen plätschernden Bach.

Was für eine idyllische Gegend! Mit Grauen erinnerte sie sich zurück an die laute, stressige Stadt. Nach dem Frühstück arbeiteten sie und Elva intensiv an ihren Aufgaben und am späten Nachmittag streiften sie durch die Gegend, besuchten Trödelmärkte oder kleine Museen oder kochten gemeinsam in Elvas großer Küche.

Könnte das auch ihr neues Leben sein oder wartete noch etwas anderes auf sie? Manchmal dachte sie an den geheimnisvollen Mann im Zug, so als sei diese Angelegenheit noch nicht abgeschlossen.

Sie hatte ja seine Visitenkarte, aber wäre sie auch mutig genug, den ersten Schritt zu machen?

Am Abend zeigte sie Elva die Visitenkarte und fragte nach der Künstlerkolonie. Elva zog kurz die Stirn kraus. „Das klingt interessant, aber ich war noch nie dort. Allerdings habe ich einiges über Florian Berg gelesen, er hat eine ganze Weile die Regenbogenpresse beherrscht.“

Als Mara sie nur fragend ansah, schüttelte sie tadelnd den Kopf.

„Wir normalen Mädchen lesen auch mal Klatschgeschichten, vor allem die fürs Herz und von ihm gab es eine, die leider ganz böse ausging. Er war vor vier oder fünf Jahren einer der bekanntesten und erfolgreichsten Investmentbanker und hatte ein Verhältnis mit einer Umweltaktivistin, einer bildschönen, sehr kämpferischen Frau. Sie haben sich Auseinandersetzungen und Rededuelle in der Öffentlichkeit geliefert, die waren heißer als heiß. Aber dann sind beide bei irgendeiner Erfindung, die ausgerechnet von seiner Fondsgesellschaft finanziert wurde, in eine Explosion geraten und sie ist tödlich verunglückt. Das war für ihn ein Schock, der unwahrscheinlich tief gegangen sein muss, denn an dem Tag ist sein Haar grau geworden und er aus dieser Firma ausgeschieden.

So erzählt man jedenfalls. Und woher kennst du ihn?“

„Genau genommen bin ich ihm in die Arme gefallen“, lachte Mara.

Als sie aber an Elvas Lächeln erkannte, dass die jetzt auf eine Romanze wartete, wehrte sie sofort ab. „Natürlich nur, weil der Regional-Express so rasant gefahren ist. Und dann hat er von deinen Büchern geschwärmt und ich habe ihm die Skizzen gezeigt. Er arbeitet mit Holz, außer ihm gibt es noch sechs Künstler, die in anderen Techniken arbeiten. Sie haben noch Plätze frei und deshalb hat er mich eingeladen.“

„Und wieso warst du noch nicht dort? Das ist nicht weit, eine gute Fahrradstrecke. Ich würde dich ja begleiten, aber ich habe momentan ein wenig aufzuholen.“

„Ist es nicht aufdringlich, wenn ich einfach so erscheine?“

„Jetzt wo du das sagst, sehe ich das auch so.“ Elva schüttelte tadelnd den Kopf. „Wer eingeladen wird, muss natürlich damit rechnen, dass man ihn nicht erwartet!“ Mara schaute einen Moment irritiert, dann lachte sie. „Ein einfaches Nein hätte auch genügt. Aber du hast recht. Ich fahre gleich heute.“