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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Gerda Kellermann öffnete weit die Balkontür ihres Wohnzimmers. Es war Sonntag und noch nicht einmal sieben Uhr, dennoch hatte sie sich schon vollkommen angekleidet. Sie war Frühaufsteherin und auch als Berufstätige gewohnt, um diese Zeit zu frühstücken. Sie wollte gerade in die Küche gehen, um sich ihr Frühstück zu richten, als sie auf das Weinen aufmerksam wurde, das von der nebenliegenden Wohnung zu ihr herüberdrang. Sie hatte eigentlich vorgehabt, es sich im Wohnzimmer gemütlich zu machen, aber das Kindergeschrei zerrte wieder einmal an ihren Nerven. Ihr taten die beiden Kinder leid, die ihrer Meinung nach kein richtiges Zuhause hatten, weil ihre Mutter sie viel zuviel allein ließ oder sie irgendwelche Bekannten für kürzere oder längere Zeit übergab. »Wie ein Gepäckstück, das im Wege steht«, murmelte Frau Kellermann ärgerlich vor sich hin, während sie den Kaffee aufbrühte. Auch sie hatte schon mehrmals das fragwürdige Vergnügen gehabt, die Kinder bei sich aufnehmen zu dürfen. Flora Lechner hatte immer triftige Gründe zur Hand, weshalb sie die lieben Kleinen leider nicht mitnehmen konnte. Einmal hatte sie ihr erzählt, daß besonders Peter an ihr hing. Aber inzwischen hatte sie erfahren, daß Flora Lechner es mit der Wahrheit genauso hielt wie ihr Sohn Peter, der das Blaue vom Himmel herunterlog. Lustlos begann Gerda Kellermann zu essen. Sie konnte ihre Gedanken nicht von den beiden Kindern losreißen. Die zweijährige Susanne war zwar ein süßes und liebes Kind mit ihren lockigen braunen Haaren und den runden braunen Kulleraugen, aber der Junge war unmöglich, und es war zu befürchten, daß auch die Kleine so werden würde wie er. Gerda Kellermann stand auf und stellte das gebrauchte Geschirr in das Abwaschbecken. Während sie abspülte, fiel ihr ein, daß Frau Lechner trotz ihrer diesmaligen Absage am Samstagvormittag, die Kinder übers Wochenende bei sich aufzunehmen, eine Stunde später das Haus verlassen hatte. Sie hatte gerade Fenster geputzt, als die junge Frau aus dem Haus gekommen war. Unwillkürlich hatte sie ihr nachgesehen. Flora war bis zur übernächsten Straßenecke gegangen und dort in ein Auto gestiegen.
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Seitenzahl: 152
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Gerda Kellermann öffnete weit die Balkontür ihres Wohnzimmers. Es war Sonntag und noch nicht einmal sieben Uhr, dennoch hatte sie sich schon vollkommen angekleidet. Sie war Frühaufsteherin und auch als Berufstätige gewohnt, um diese Zeit zu frühstücken.
Sie wollte gerade in die Küche gehen, um sich ihr Frühstück zu richten, als sie auf das Weinen aufmerksam wurde, das von der nebenliegenden Wohnung zu ihr herüberdrang. Sie hatte eigentlich vorgehabt, es sich im Wohnzimmer gemütlich zu machen, aber das Kindergeschrei zerrte wieder einmal an ihren Nerven. Ihr taten die beiden Kinder leid, die ihrer Meinung nach kein richtiges Zuhause hatten, weil ihre Mutter sie viel zuviel allein ließ oder sie irgendwelche Bekannten für kürzere oder längere Zeit übergab.
»Wie ein Gepäckstück, das im Wege steht«, murmelte Frau Kellermann ärgerlich vor sich hin, während sie den Kaffee aufbrühte.
Auch sie hatte schon mehrmals das fragwürdige Vergnügen gehabt, die Kinder bei sich aufnehmen zu dürfen. Flora Lechner hatte immer triftige Gründe zur Hand, weshalb sie die lieben Kleinen leider nicht mitnehmen konnte. Einmal hatte sie ihr erzählt, daß besonders Peter an ihr hing. Aber inzwischen hatte sie erfahren, daß Flora Lechner es mit der Wahrheit genauso hielt wie ihr Sohn Peter, der das Blaue vom Himmel herunterlog.
Lustlos begann Gerda Kellermann zu essen. Sie konnte ihre Gedanken nicht von den beiden Kindern losreißen. Die zweijährige Susanne war zwar ein süßes und liebes Kind mit ihren lockigen braunen Haaren und den runden braunen Kulleraugen, aber der Junge war unmöglich, und es war zu befürchten, daß auch die Kleine so werden würde wie er.
Gerda Kellermann stand auf und stellte das gebrauchte Geschirr in das Abwaschbecken. Während sie abspülte, fiel ihr ein, daß Frau Lechner trotz ihrer diesmaligen Absage am Samstagvormittag, die Kinder übers Wochenende bei sich aufzunehmen, eine Stunde später das Haus verlassen hatte. Sie hatte gerade Fenster geputzt, als die junge Frau aus dem Haus gekommen war. Unwillkürlich hatte sie ihr nachgesehen. Flora war bis zur übernächsten Straßenecke gegangen und dort in ein Auto gestiegen.
Unruhig geworden trocknete sich Gerda die Hände ab. Die Lechner hatte also ihre Kinder allein gelassen! Für wie lange? Wann war sie in der Nacht zurückgekehrt, wenn überhaupt? Es konnte ja etwas passiert sein! Sie sah auf die Uhr, es war jetzt kurz nach neun.
Sie lief durchs Wohnzimmer auf den Balkon hinaus. Das Weinen hatte aufgehört, aber sie wurde trotzdem das komische Gefühl nicht los. Sie beugte sich weit über den angrenzenden Balkon.
»Peter!« rief sie, und als keine Antwort erfolgte, noch einmal lauter: »Peter!«
Aus dem auf den Balkon zeigenden Schlafzimmerfenster beugte sich ein Kopf mit einer blonden, ungekämmten Mähne heraus. »Frau Kellermann!« schrie das Kind, und es klang erleichtert. »Ich komme auf den Balkon.«
Kurz darauf stand der Sechsjährige vor Frau Kellermann, nur getrennt durch das Balkongitter. Aber wie sah er aus! Er trug noch den Pyjama, der alles andere als sauber aussah. Gesicht und Hände waren schmutzig, und an seinen Augen merkte sie, daß er geweint hatte.
All seine Frechheit schien vergangen zu sein, als er die Nachbarin flehend ansah und stotterte. »Bitte helfen Sie uns. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
»Wo ist deine Mutter?« fragte Frau Kellermann entsetzt. Sie hatte das Kind noch nie in einem derartigen Zustand gesehen.
»Weiß nicht. Mama meinte, sie könne uns schon mal allein lassen. Susi würde durchschlafen und mittags käme Tante Steffi. Aber Susi hat die ganze Nacht geweint. Dann hab ich ihr das Fläschchen geben wollen, aber sie hat wie wild um sich geschlagen und alles verspritzt. Ihre Stirn ist ganz heiß, jetzt rührt sie sich kaum noch, und ihre Augen sind so komisch. Ich hab solche Angst.«
»Mach mir bitte sofort eure Tür auf, ich komme rüber«, sagte Gerda Kellermann hastig und ging schon ins Wohnzimmer zurück, als ihr Peter kläglich nachrief:
»Geht nicht, Mama hat sie doch abgeschlossen.«
Auch das noch, dachte die Nachbarin wütend. Läßt die Kinder nachts allein und sperrt sie noch ein! Wenn nun ein Brand ausgebrochen wäre?
»Warte, ich lauf zum Hauswirt runter«, rief sie zurück. »Der hat einen Ersatzschlüssel.«
Sie rannte in den Flur und riß in aller Eile ihren Wohnungsschlüssel vom Schlüsselbrett und eilte die Treppe zum ersten Stock hinunter, wo der Hauseigentümer wohnte.
Bruno Seeger war Witwer und lebte schon seit Jahren allein, da seine Kinder längst verheiratet waren. Dennoch sah man seiner Wohnung nicht an, daß es hier keine ordnende Frauenhand gab. Alles war blitzblank und sauber.
Als er zusammen mit Gerda Kellermann die Wohnung seiner Mieterin Lechner betrat, blieb er erst einmal befremdet stehen. Es war nicht seine Art, in den Wohnungen seiner Mieter herumzuschnüffeln, und seit dem Einzug Flora Lechners hatte er diese Wohnung nicht mehr betreten. Er erkannte die Räume kaum wieder, so verwahrlost sahen sie aus.
Peter hatte im Flur auf sie gewartet und führte sie jetzt ins Kinderschlafzimmer. Eine unbeschreibliche Luft schlug ihnen entgegen. Im ersten Impuls wollte Gerda das Fenster aufreißen, dann aber fiel ihr ein, daß sie erst nach dem kleinen Mädchen sehen mußte. So ließ sie nur die Tür auf und eilte zum Bett der Kleinen.
Susi war wach, aber sie erkannte die Nachbarin nicht. Ihre Stirn fühlte sich tatsächlich unnatürlich heiß an, das Gesichtchen war von Tränen und Nasenschleim verschmiert.
Gerda schlug die Bettdecke zurück, die auf der Unterseite feucht war, während die Schlafhose und die Windeln vor Nässe trieften. Darunter lag ein Bündel trockener Windeln, die natürlich durch die obere Nässe auch schon feucht geworden waren. »Warst du das, Peter?«
Der Junge nickte. Mit weinerlicher Stimme verteidigte er sich: »Ich wollte ihr die Windeln wechseln, aber sie strampelte so, da schob ich sie ihr einfach unter.«
»Hast es gut gemeint«, sagte Gerda besänftigend und strich ihm über seinen blonden Haarschopf. »Das hier ist nicht deine Schuld. Holst du für deine Schwester bitte ein paar saubere Sachen?« Sarkastisch setzte sie hinzu: »Falls überhaupt welche da sein sollten. Ich bringe Susi ins Wohnzimmer. Und bitte, Herr Seeger«, wandte sie sich an den Hauswirt, »rufen Sie doch im Krankenhaus an, das Kind hat hohes Fieber.«
»Aber können wir das, so ohne die Mutter...«, erwiderte der Mann unschlüssig.
»Nach den Worten Peters wird sie kaum in den nächsten Stunden zurück sein, das Kind aber muß sofort in Behandlung.«
»Ich verstehe nicht, wie man eine Zweijährige so lange allein lassen kann«, sagte der Hauswirt kopfschüttelnd. »Meine Johanna hätte das nie gemacht.« Dann ging er hinunter in seine Wohnung, um zu telefonieren.
*
Else Rennert, die Heimleiterin des Kinderheims Sophienlust, stand am Fenster ihres Arbeits- und Empfangszimmers und blickte den Kindern nach, die lustig schwatzend die Auffahrt zum großen schmiedeeisernen Tor, das die hohe dichte Hecke unterbrach, hinunterzog, um den Vormittag im Wald zu verbringen.
Die Kinder- und Krankenschwester Regine Nielsen führte den Zug an. In der Mitte schob die zwölfjährige Angelika den Kinderwagen mit der dreijährigen Sonja, die nur vorübergehend in Sophienlust war, vor sich her.
Plötzlich mußte die Heimleiterin hell auflachen. Die ersten des Trupps waren schon um die Hecke gebogen, als die fünfjährige Heidi Holsten die Freitreppe hinunterstürzte und mit auf- und niederwippenden Rattenschwänzchen den Kindern nachstürmte.
»Warum habt ihr denn nicht auf mich gewartet?« schrie sie. »Ich mußte erst meine Hanni holen, die will doch auch mit. So wartet doch!« Die Puppe fest an sich gedrückt, verschwand dann auch Heidi mit den letzten Kindern hinter der Hecke.
Schmunzelnd wandte sich Frau Rennert ihrer Schwiegertochter Carola zu, die hinter ihr stand. »Ein Wunder, daß Heidi nicht auch noch ihre beiden Zwergkaninchen Schneeweißchen und Rosenrot mitgenommen hat«, sagte sie.
Carola, die Frau ihres bei den Kindern als Musik- und Zeichenlehrer sehr beliebten Sohnes Wolfgang, war eine attraktive Frau mit braunem Haar und braunen Augen. Sie war ausgebildete Kunstmalerin, aber als Mutter des Zwillingspärchens Andreas und Alexandra kam ihr Beruf natürlich jetzt erst an zweiter Stelle.
»Was würdest du nur ohne deine vielen Kinder anfangen«, erwiderte sie scherzend. »Ich habe schon genug mit meinen beiden zu tun, und du wirst spielend mit so vielen fertig.«
»Na, so spielend wohl auch nicht«, meinte Else Rennert. »Manche unserer Zöglinge waren schon rechte Sorgenkinder, mit...«
»Mit denen du aber bisher immer fertig geworden bist«, führte Carola den Satz lachend zu Ende.
»Es ist nicht mein Verdienst allein, wenn bei uns seelisch geschädigte Kinder wieder gesunden«, widersprach die Heimleiterin ihrer Schwiegertochter. »Frau von Schoenecker versteht es meisterhaft, das Vertrauen gerade dieser Außenseiter zu erringen und sie wieder zu glücklichen Kindern zu machen. Auch Frau Doktor Frey trägt ihr Bestes dazu bei, sowie Schwester Regine und im großen und ganzen auch unsere Kinder, die es wie niemand sonst beherrschen, so ein Kind aus seiner inneren Isolierung herauszureißen.«
Sie sah ihre Schwiegertochter liebevoll an. »Auch du, Carola, hast uns darin schon viel geholfen. Es ist doch eine wundervolle Aufgabe für uns alle, ja, eine große Freude, wenn wir miterleben können, wie so ein milieugeschädigtes Kind bei uns aufblüht. Aber gleichzeitig hat man Angst, daß das Kind wieder in sein altes Zuhause zurück muß und all unsere Mühe umsonst gewesen war.«
»Das kommt zum Glück nicht sehr oft vor«, meinte Carola.
»Aber immerhin«, erwiderte ihre Schwiegermutter. »Es gibt viele Mütter, die es verstehen, allen, auch den Behörden, Sand in die Augen zu streuen.«
»Zur Zeit gibt es hier aber keine Problemkinder«, stellte Carola fest.
»Nein«, erwiderte Else Rennert, »aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.«
»Sei nicht so pessimistisch, Mutter, zumal heute Sonntag ist. Was soll da noch kommen? Doch jetzt muß ich zurück, sonst denkt Wolfgang noch, daß ich das Weite gesucht habe. Ich bin eigentlich nur gekommen, um dich für heute nachmittag zum Kaffee einzuladen.«
»Ich komme sehr gern, Carola, schon meiner Enkel wegen. Also, hoffen wir, daß du recht behältst und es ein ruhiger Tag wird.«
»Bestimmt, Mutter. Also, dann tschüs bis heute nachmittag!«
Nachdem die junge Frau das Zimmer verlassen hatte, ging Else Rennert zum Schreibtisch, um noch vor der Rückkehr der Kinder und vor dem Mittagessen einigen Schriftwechsel zu erledigen. Eine halbe Stunde war vergangen, als das Telefon klingelte. Die Heimleiterin schob den gerade beendeten Privatbrief beiseite und hob den Hörer ab.
»Guten Morgen, Frau Rennert!« rief eine ziemlich aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Mein Name ist Gerda Kellermann, ich wohne in Rimstein. Bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie heute am Sonntag störe, aber ich wußte nicht, an wen ich mich sonst wenden soll, da ja alle Ämter geschlossen sind.«
Die fremde Anruferin stockte, um wieder Atem zu schöpfen, und diese Pause benutzte die Heimleiterin, um etwas ärgerlich zu fragen: »Na, so eilig kann die Sache doch wohl nicht sein, daß sie nicht bis zum Montag Zeit hätte.«
»Eben nicht«, verteidigte sich die Anruferin. »Ich bin ledig, alleinstehend und muß Montag früh ins Geschäft. Wo soll ich den Jungen aber lassen, wenn die Mutter auch heute nacht nicht zurückkommt? Ich hätte zwar bis zum Abend warten können, aber dann wären Sie sicherlich nicht mehr zu erreichen gewesen. Mein Hauswirt, Herr Seeger, gab mir Ihre Adresse. Es kann ja auch mit der Mutter was passiert sein, nicht wahr? Aber im Krankenhaus liegt sie nicht. Danach habe ich mich gleich erkundigt, als wir das Mädchen dorthin brachten. Den Peter kann ich nicht behalten! Nicht nur, weil ich arbeiten muß. Er ist ein sehr schwieriges Kind, wenn er sich auch jetzt zur Zeit wegen dem Schock mit seiner Schwester lammfromm gibt. Ich...«
»Bitte, Frau Keller, tun Sie mir einen Gefallen und erzählen Sie mir der Reihe nach, was passiert ist«, unterbrach Else Rennert den Wortschwall der anderen. Sie hatte schon mehrmals erfolglos versucht, sich Gehör zu verschaffen.
»Bitte, verzeihen Sie, Frau Rennert, aber ich bin noch immer ganz aufgeregt. Was man so alles mit der Nachbarschaft erleben kann! Also, es war so...«
Als Frau Kellermann ihren Bericht beendet hatte, seufzte die Heimleiterin innerlich auf. Ihre Schwiegertochter hatte leider nicht recht behalten. Die Aussicht auf einen geruhsamen Sonntag war vorbei. »Danke, Frau Kellermann«, sagte sie. »Sie haben vollkommen richtig gehandelt. Wir werden uns der Sache annehmen. Was hat das kleine Mädchen?«
»Bronchitis.«
»Sind Sie am Nachmittag zu Hause?«
»Selbstverständlich! Ich kann ja schon des Jungen wegen nicht weg. Er erzählte mir zwar, seine Mutter hätte gesagt, mittags würde eine gewisse Tante Steffi nach ihnen sehen, aber wenn nicht?«
»Auf jeden Fall kommen wir noch heute zu Ihnen. Wenn sich bis dahin niemand um den Jungen gekümmert hat, werden wir ihn nach Sophienlust mitnehmen. Es kann durchaus sein, daß die Mutter die Kinder nicht allein lassen wollte, sondern ihr etwas zugestoßen ist.«
»Soll ich die Polizei verständigen?« fragte Frau Kellermann unsicher.
»Nein, vorläufig lieber nicht. Wir werden sofort Erkundigungen einziehen. Vielen Dank für Ihre Benachrichtigung, wir sehen uns dann später.« Nach einem kurzen Gruß legte die Heimleiterin den Hörer auf, um ihn gleich darauf erneut hochzunehmen und zu wählen.
»Schoenecker«, meldete sich eine Männerstimme.
»Rennert! Guten Morgen, Herr von Schoenecker! Kann ich bitte Ihre Gattin sprechen?«
»Ungern, denn anscheinend haben Sie wieder Alarmstufe eins«, erklärte der Gutsherr offen. »Hat das nicht Zeit bis Montag?«
»Leider nicht, Herr von Schoenecker.«
»Na, da kann man nichts machen, ich bin ja Kummer gewöhnt. Einen Augenblick bitte, Frau Rennert, ich werde das Gespräch nach unten verlegen, meine Frau ist in der Halle.«
Kurz darauf meldete sich Denise von Schoenecker, die Verwalterin von Sophienlust. Aufmerksam lauschte sie dem Bericht Frau Rennerts, dann sagte sie: »Sie haben recht, wir müssen uns der Sache annehmen. Wenn es falscher Alarm gewesen war und die Mutter nur bedenkenlos ihre Kinder allein gelassen hat, ist das von ihr so unverantwortlich, daß es wohl besser wäre, wenn der Junge vorläufig bei uns bliebe, bis das Jugendamt die Angelegenheit geklärt hat. Das kleine Mädchen hätte ja sterben können!
Wenn die Mutter allerdings verunglückt sein sollte, werden wir Peter so lange hierbehalten, bis wir den Vater oder Verwandte ausfindig gemacht haben. Ich komme dann am Nachmittag bei Ihnen vorbei. Inzwischen kann Dominik sich in den umliegenden Krankenhäusern erkundigen.«
»Und Carola hat vorhin noch gemeint, heute, am Sonntag, würde nichts mehr passieren«, seufzte Frau Rennert. »Ich habe ihr versprochen, zum Kaffee zu kommen.«
»Dann enttäuschen Sie sie bitte nicht. Ihre Enkelchen freuen sich bestimmt schon darauf. Es genügt, wenn ich allein nach Rimstein fahre. Wenn es stimmt, daß der Junge etwas schwierig ist, werden Sie mit ihm noch genug zu tun haben.«
»Bei uns wird’s jetzt laut«, sagte Else Rennert. »Die Kinder sind vom Waldspaziergang zurück und stürmen die Halle. Wann sind Sie ungefähr hier, Frau von Schoenecker?«
»Da Sie mich nicht zu begleiten brauchen, werde ich direkt nach Rimstein fahren«, erwiderte Denise. »Geben Sie mir bitte die Adresse durch.« Sie nahm den Notizblock, der stets neben dem Telefon lag, und notierte sich die Anschrift der Familie Lechner.
*
In der Küche eines kleinen Hauses in Roggendorf stand Flora Lechner und briet vier Schnitzel auf dem kleinen Elektroherd, während ihr Freund Gerd Wagner den Tisch deckte. Beide wollten gleich in der Küche das Mittagessen einnehmen, da das weniger Arbeit machte. Deshalb hatte Flora auch keine Kartoffeln gekocht, obwohl davon noch ein kleiner Vorrat im Keller des kleinen Hauses vorhanden war, das Gerd von seiner vor einem Monat verstorbenen Großmutter geerbt hatte.
Der Mann drückte das mitgebrachte Brot an seine Brust und schnitt dicke Scheiben von ihm ab, die er auf den Tisch legte, zusammen mit dem übriggebliebenen Laib Brot.
Flora kam mit der Bratpfanne zum Tisch und legte jedem zwei Schnitzel auf den Eßteller.
Gerd stand auf, um das Bier zu holen. Sie hatten gleich einen ganzen Kasten mitgebracht. Er nahm zwei Flaschen davon raus und stellte sie auf den Tisch.
»Wo sind die Gläser?« fragte Flora.
»Wozu? Bier schmeckt direkt aus der Flasche besser«, meinte Gerd, entfernte mit Hilfe eines Öffners den Krondeckel und genehmigte sich einen kräftigen Schluck.
»Hast recht.« Flora lachte und tat es ihm gleich.
Der Mann steckte sich einen großen Bissen in den Mund, und noch kauend fragte er: »Wie gefällt dir das Häuschen?«
»Ich weiß nicht recht«, erwiderte Flora Lechner. »Die Räume würden ja reichen, aber hier in diesem Nest ist doch nichts los.«
»Ich verstehe dich nicht.« Ärgerlich lehnte sich der Mann in seinem Stuhl zurück und spielte mit dem Messer. »Wir kennen uns schon seit sechs Wochen, aber ich durfte bisher nie in deine Wohnung kommen, da du Angst vor deinen Nachbarn hast. Durch sie könnte dein Mann erfahren, daß du mit einem anderen zusammenlebst und dann Anspruch auf deine Tochter erheben. Das kann er doch gar nicht, denn erstens bist du längst geschieden, zweitens ist dir die Kleine zugesprochen worden und drittens ist es heute an der Tagesordnung, daß man zusammenzieht, auch wenn man nicht verheiratet ist. Aber ganz abgesehen davon, hier könnten wir zusammenleben, ohne daß uns ein Nachbar in die Suppe spuckt.«
Verdrossen schob Flora ihren leergegessenen Teller von sich. »Ich habe genug von Rimstein«, sagte sie. »Ich kann mir selbst nicht mehr erklären, warum ich nach der Scheidung dorthin gezogen bin. Aber damals kam es mir sehr gelegen, in die Wohnung meiner verstorbenen Tante ziehen zu können. Maibach war schon zu klein für mich, aber Rimstein erdrückt mich regelrecht, und nun willst du mich hierher verfrachten, wo ich mich noch mehr langweilen würde.«
»Wie kann eine Frau von Langeweile sprechen«, erwiderte Gerd ärgerlich, »wenn sie zwei Kinder hat?«
»Soll ich deshalb auf die Annehmlichkeiten verzichten?« brauste Flora auf. »Du bist doch nicht etwa wie mein Geschiedener, der mir vorwarf, ich würde mich nicht genug um das Baby kümmern. Dabei hatten wir immer genügend Personal im Haus.«
»Du bist kein Muttertyp«, meinte Gerd und betrachtete die Frau. Sie war sehr stattlich gebaut, während er schlank, etwas kleiner und auch fünf Jahre jünger war. Auch im Charakter zeigten sich starke Gegensätze, aber er liebte sie. Er war mit einer egoistischen, lieblosen Frau verheiratet gewesen und sehnte sich nach einem richtigen Zuhause mit einer Frau, die ihn ebenso liebte. Auch seine Zuneigung zu Kindern war groß. Deshalb wollte er trotz seines geringen Einkommens auch die Kinder seiner Geliebten in Kauf nehmen.