Vom Leid verfolgt - Anne Alexander - E-Book

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Anne Alexander

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »So, das wäre mal wieder die Post!« Das Hausmädchen Ulla stellte ein Körbchen mit Briefen, Postkarten und Zeitungen auf den Schreibtisch von Frau Rennert. »Danke, Ulla!« Frau Rennert, die Leiterin des Kinderheims Sophienlust, begann sofort die Post zu sortieren. Es waren verschiedene Briefe und Karten für die Kinder dabei. Die kleine Susanne, die seit vier Wochen in Sophienlust lebte, bekam gleich drei Karten auf einmal, einige der anderen Kinder dagegen gingen wie gewöhnlich leer aus. Vor allem Pünktchen und Heidi bekamen nur sehr selten Post. Sie hatten keine Angehörigen, so daß ihnen höchstens einmal ein Kind schrieb, das Sophienlust nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen hatte. »Guten Morgen, Frau Rennert!« Denise von Schoenecker, die Verwalterin des Kinderheims Sophienlust, trat in das büroähnliche Empfangszimmer. »Es ist heute etwas später geworden. Gerade als ich gehen wollte, bekam ich noch einen Anruf.« »Guten Morgen, Frau von Schoen­ecker«, grüßte Frau Rennert. Sie wies auf den Briefstapel. »Wie Sie sehen, haben wir wieder jede Menge Post.« »Hat sich Herr Clausen schon gemeldet?« fragte Denise und griff nach den Briefen. »Er wollte gegen zehn Uhr anrufen.« »Bis jetzt noch nicht.«

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Sophienlust – 326 –

Vom Leid verfolgt

Warum hat mich niemand lieb?

Anne Alexander

»So, das wäre mal wieder die Post!« Das Hausmädchen Ulla stellte ein Körbchen mit Briefen, Postkarten und Zeitungen auf den Schreibtisch von Frau Rennert.

»Danke, Ulla!« Frau Rennert, die Leiterin des Kinderheims Sophienlust, begann sofort die Post zu sortieren. Es waren verschiedene Briefe und Karten für die Kinder dabei. Die kleine Susanne, die seit vier Wochen in Sophienlust lebte, bekam gleich drei Karten auf einmal, einige der anderen Kinder dagegen gingen wie gewöhnlich leer aus. Vor allem Pünktchen und Heidi bekamen nur sehr selten Post. Sie hatten keine Angehörigen, so daß ihnen höchstens einmal ein Kind schrieb, das Sophienlust nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen hatte.

»Guten Morgen, Frau Rennert!« Denise von Schoenecker, die Verwalterin des Kinderheims Sophienlust, trat in das büroähnliche Empfangszimmer. »Es ist heute etwas später geworden. Gerade als ich gehen wollte, bekam ich noch einen Anruf.«

»Guten Morgen, Frau von Schoen­ecker«, grüßte Frau Rennert. Sie wies auf den Briefstapel. »Wie Sie sehen, haben wir wieder jede Menge Post.«

»Hat sich Herr Clausen schon gemeldet?« fragte Denise und griff nach den Briefen. »Er wollte gegen zehn Uhr anrufen.«

»Bis jetzt noch nicht.« Frau Rennert schlitzte ein Kuvert auf und entnahm ihm einen lilafarbenen Briefbogen. Stirnrunzelnd begann sie zu lesen. »Da fragt eine Frau Schöller an, ob wir ein zehnjähriges Mädchen in Dauerpflege nehmen könnten«, sagte sie und reichte Denise den Brief.

»Für einen Notfall hätten wir schon noch Platz«, meinte Denise und überflog den Brief ebenfalls. »Wie Frau Schöller schreibt, handelt es sich um ihre Nichte Dinah Bamberger. Aus dem Schreiben geht hervor, daß sie nur wenig Liebe für das Kind empfindet. Wahrscheinlich wäre es für Dinah ein Segen, wenn sie von ihrer Tante fortkäme.«

»Denselben Eindruck habe ich auch«, gab Frau Rennert zu. »Es muß schrecklich für ein Kind sein, wenn man ihm zeigt, daß es im Wege ist. Gut, Frau Schöller will heiraten, aber wie es aussieht, fällt es ihr nicht schwer, auf Dinah zu verzichten.«

»Ich werde Frau Schöller schreiben, daß wir grundsätzlich bereit sind, Dinah bei uns aufzunehmen, daß ich aber noch mit ihr persönlich sprechen möchte«, sagte Denise von Schoenecker. »Sie soll mir einen Termin nennen, an dem ich sie aufsuchen kann.«

»Warum wollen Sie sich die Mühe machen, nach Frankfurt zu fahren?« fragte die Heimleiterin. »Lassen Sie diese Frau doch nach Sophienlust kommen.«

Denise lächelte. »Ich möchte mir selbst ein Bild von Dinahs jetzigem Zuhause machen. Vermutlich wird es uns dann leichter fallen, dem Kind zu helfen. Und ich bin überzeugt, daß Dinah Hilfe braucht. Jedes Kind, das Ablehnung und Gleichgültigkeit zu spüren bekommt, braucht Hilfe.

Ich...«

»Da bist du ja endlich, Tante Isi!« Heidi Holsten, das jüngste Dauerkind von Sophienlust, stürmte ins Empfangszimmer. »Kommst du mit spielen?« Die Kleine kletterte auf De­nises Schoß. »Bitte, Tante Isi!«

»Jetzt habe ich noch zu tun, du kleiner Quälgeist«, antwortete Denise und schloß Heidi in die Arme. »Aber nachher werde ich bestimmt etwas Zeit finden, um mit euch zu spielen.«

»Wann nachher?« fragte die Fünfjährige.

Denise schaute auf ihre Uhr. »Sagen wir, um halb zwölf«, schlug sie vor.

»Wie lange ist das noch?« Heidi wollte wie immer alles genau wissen.

»Noch etwa eineinhalb Stunden«, sagte Denise.

Heidi zog eine Schnute. »Das ist noch ewig«, beschwerte sie sich. »Es reicht auch, wenn du nur eine Stunde arbeitest. Spielen ist viel schöner!«

»Ich glaube dir gern, daß Spielen schöner ist, aber erwachsene Leute müssen nun einmal ab und zu auch arbeiten«, meinte Denise lächelnd. Sie löste Heidis rechtes Rattenschwänzchen und band es etwas fester zusammen.

»Das andere auch«, verlangte Heidi.

»Aber es ist doch noch ordentlich«, meinte Denise von Schoen­ecker.

»Ich mag es, wenn du mir die Haare machst!« Heidi sah Denise strahlend an. »Am schönsten wäre es, wenn du mich jeden Morgen kämmen würdest.«

»Na dann wollen wir auch dein linkes Rattenschwänzchen noch einmal binden.« Geschickt öffnete Denise die Zopfspange, fuhr mit den Fingern durch Heidis Haare und band sie neu. »So, fertig!«

»Weißt du, was mir heute morgen passiert ist, Tante Isi?« fragte Heidi geheimnisvoll. »Ich...«

»Heidi, je länger du mich jetzt von der Arbeit abhältst, um so später wird es mit dem Spielen«, unterbrach Denise die Kleine. Sie wußte, daß Heidi nur möglichst lange bei ihr bleiben wollte.

Heidi nickte. »Stimmt auch!« gab sie zu. »Aber um halb zwölf mußt du zum Spielen kommen!« Sie gab De­nise noch rasch einen Kuß und verschwand dann aus dem Empfangszimmer.

Denise von Schoenecker griff erneut nach dem Brief von Frau Schöller. Zeile für Zeile las sie ihn noch einmal. Mit einem Aufseufzen legte sie ihn schließlich beiseite.

»Sie hat mit keinem Wort erwähnt, warum Dinah bei ihr lebt«, sagte sie zu Frau Rennert. »Das Kind scheint sie ja wohl überhaupt nicht zu interessieren.«

*

»Dinah, hörst du nicht, daß es läutet?« fragte Gudrun Schöller ihre zehnjährige Nichte. »Willst du nicht öffnen?« Kritisch begutachtete sie ihre frisch lackierten Fingernägel. »Na, mach schon!« fuhr sie das Kind an, als Dinah ohne jede Begeisterung das Buch weglegte, in dem sie bis jetzt gelesen hatte.

»Es wird ja doch nur Herr Körber sein«, maulte Dinah und ging in den Korridor.

»Das will ich nicht gehört haben!« rief Gudrun Schöller ihr ärgerlich nach. »Und daß du dich ja ordentlich benimmst, verstanden?«

Es klingelte zum zweitenmal, diesmal länger. Dinah schlich fast lautlos zur Wohnungstür. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte durch den Spion. Wie sie vermutet hatte, war es Herr Körber. Mit einem riesigen Blumenstrauß stand er auf dem Fußabstreifer. Ungeduldig wippte er mit den Füßen.

Dinah trat vom Spion zurück und streckte dem Mann hinter der geschlossenen Tür die Zunge heraus. Es tat ihr leid, daß er es nicht sehen konnte.

»Dinah, was machst du denn so lange?« ertönte die Stimme ihrer Tante aus dem Wohnzimmer.

Das Mädchen klinkte die Kette aus und öffnete die Tür. »Guten Abend, Herr Körber«, sagte es und deutete sogar einen Knicks an, wie Gudrun Schöller es ihr beigebracht hatte.

»Das hat ja ewig gedauert!« Ohne Dinahs Gruß zu erwidern, trat Werner Körber in die Wohnung. Im letzten Oktober war er sechzig geworden, aber er wirkte um etliche Jahre jünger. Wie immer war er tadellos gekleidet. Seine schwarzen Lackschuhe waren poliert, daß man sich beinahe darin spiegeln konnte. In der Brusttasche seines Jacketts steckte ein weißes Spitzentaschentuch.

Geräuschvoll warf Dinah die Tür hinter ihm ins Schloß.

»Dinah, was ist denn in dich gefahren!« Gudrun Schöller stand plötzlich in der Tür zum Wohnzimmer. »Kannst du nicht wenigstens ab und zu auf meine Nerven Rücksicht nehmen?« Sie ging Werner Körber entgegen. »Fein, daß du schon da bist, Werner«, sagte sie mit völlig veränderter Stimme. »Mit dem Kind ist es wirklich manchmal ein Kreuz.«

»Ich hatte heute über eine Stunde früher Geschäftsschluß.« Werner Körber nahm Gudrun in seiner etwas steifen Art in die Arme und drückte sie an sich. »Ich hoffe, du bist nicht böse, daß ich schon jetzt gekommen bin«, sagte er.

»Natürlich nicht, ich freue mich!« Gudrun sah über die Schulter ihres Verlobten hinweg Dinah noch immer an der Tür stehen. Unwillig verzog sich ihr Gesicht. Daß das Kind auch nie wußte, wann es störte! »Dinah, decke im Eßzimmer den Tisch für das Abendessen, und stelle den Backofen auf hundertfünfzig Grad«, befahl sie. »Und dann geh auf dein Zimmer. Ich rufe dich schon, wenn das Essen fertig ist.«

»Gut, Tante Gudrun!« Dinah warf Herrn Körber einen haßerfüllten Blick zu, bevor sie den Korridor verließ.

»Ich begreife nicht, daß Dinah noch immer bei dir ist.« Werner Körber drückte seiner Verlobten die Blumen in die Hand. »Wir haben doch schon vor Wochen davon gesprochen, daß sie weg muß.«

»Ich habe mich bereits nach einem Heimplatz für sie umgesehen«, erwiderte Gudrun Schöller und sog genußvoll den Duft der Nelken ein. »Sie sind wunderschön. Danke, Werner!«

»Es reicht nicht, sich umzusehen. Man muß schon etwas mehr tun.« Werner Körber ging mit elastischen Schritten ins Wohnzimmer. Er steuerte geradewegs auf den Tisch zu. »Überall liegt Kinderkram!« Mit spitzen Fingern nahm er das Buch auf, das Dinah auf den Tisch gelegt hatte. Mit dem Buch in den Händen drehte er sich zu seiner Verlobten um. »Ich habe dir klar und deutlich gesagt, daß das Kind aus dem Haus muß, bevor wir heiraten.«

»Himmel, Werner, schließlich ist Dinah meine Nichte!« Gudrun Schöller legte die Blumen achtlos auf die Vitrine. Mit ihrer guten Laune war es vorbei. »Ich kann das Kind doch nicht einfach fortschicken, egal, wohin. Immerhin habe ich für Dinah eine gewisse Verantwortung. Ich bin es einfach meinem Bruder schuldig, mich um sie zu kümmern.«

»Um mal eines klarzustellen, Gudrun. Dina ist nicht deine Nichte«, sagte Werner Körber. »Dein Bruder und deine Schwägerin haben sie adoptiert. Dinah ist also nicht mit dir verwandt.«

»Ob sie mit mir verwandt ist oder nicht, durch die Adoption ist sie gesetzlich zu meiner Nichte geworden«, entgegnete Gudrun jetzt etwas gereizt. »Ich...«

»Ob sie gesetzlich zu deiner Nichte geworden ist oder nicht, steht hier nicht zur Debatte! Hier handelt es sich ausschließlich darum, daß sie nicht dein Fleisch und Blut ist«, fiel Werner Körber ihr ins Wort. »Und nicht nur das, Gudrun. Du bist immerhin fünfzig. Kein Mensch kann dir zumuten, noch einmal mit Kindern anzufangen.«

»Aber Dinah...«, begann Gudrun Schöller, wurde aber sogleich wieder von Werner Körber unterbrochen.

»Wenn Dinah dein eigenes Kind wäre, dann würde ich sie in Kauf nehmen, aber ich bin nicht bereit, ein fremdes Kind großzuziehen. Was weißt du überhaupt von ihren Eltern?«

»Ihre Mutter war ledig. Soviel hat mein Bruder damals erfahren können.«

»Na bitte!«

»Wie ich dir schon sagte, habe ich mich bereits nach einem Heimplatz für sie umgesehen«, erklärte Gudrun Schöller. Sie hatte das ewige Streiten um Dinah satt. Sie wollte endlich wieder ihren Frieden haben. »Ich habe vor einigen Tagen nach Sophienlust geschrieben. Das ist ein privates Heim in Baden-Württemberg, in der Nähe von Maibach.«

»Wird das nicht eine Unsumme kosten?« wandte Werner Körber mißbilligend ein. »Nicht, daß ich dich kritisieren möchte, Gudrun, aber Dinah dürfte in einem staatlichen Kinderheim genausogut untergebracht sein.«

»Es wird uns keinen Pfennig kosten«, erwiderte Gudrun. »Du vergißt die Lebensversicherung meines Bruders. Die Heimkosten werden davon beglichen. Dinah...«

Lautlos schloß Dinah die Küchentür. Sie hatte genug gehört. Es war immer dasselbe, wenn ihre Tante von ihrem Verlobten Besuch bekam. Sie haßte Werner Körber. Für sie war er der furchtbarste Mensch auf der ganzen Welt. Sie wünschte sich, ihre Tante hätte ihn nie kennengelernt.

Mißmutig schaltete Dinah den Backofen ein. Ihre Tante hatte für das Abendessen eine Fleischpastete vorbereitet. Dazu sollte es frisches französisches Weißbrot geben. Einen Augenblick überlegte Dinah, ob sie den Backofen auf zweihundertfünzig Grad stellen sollte. Schon berührten ihre Finger den Schalter, doch dann ließ sie die Hand wieder sinken. Es war kein Vergnügen, ohne Abendessen ins Bett geschickt zu werden, und genau das würde ihr blühen, falls sie die Fleischpastete verbrennen lassen würde.

Dinah ging an den Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Fruchtsaft heraus. Mit einem Glas und der Flasche verließ sie die Küche.

Die Wohnzimmertür war inzwischen geschlossen worden. Die Stimmen von Gudrun Schöller und Werner Körber drangen nur gedämpft in den Korridor. Das Mädchen blieb stehen und zog erbittert eine lange Nase, bevor es die Kammer betrat, die es seit vier Monaten bewohnte.

Dinah stellte Flasche und Glas auf ihren winzigen Schreibtisch und nahm das Foto zur Hand, das in einem roten Lederrahmen neben der Bleistiftschale stand. Es zeigte ein älteres Ehepaar mit einem rotblonden, etwa zehnjährigen Mädchen. Eine dicke Locke der kurzen Haare fiel dem Mädchen weit in die Stirn.

In Gedanken strich sich Dinah die Haare zurück. Es war eine Bewegung, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Tränen traten in ihre grünen Augen, als sie daran dachte, wie glücklich sie noch gewesen war, als dieses Foto aufgenommen worden war. Fünf Monate war es erst her. Vier Wochen später waren ihre Adoptiveltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Mit dem Foto in der Hand setzte sich Dinah auf die schmale Schlafcouch. »Warum mußtet ihr sterben?« fragte sie leise. »Wenn ich wenigstens bei euch gewesen wäre, als der Unfall passierte, dann wäre ich jetzt auch tot. Dann müßte ich nicht bei Tante Gudrun sein, und dann würde ich auch nicht in ein Kinderheim geschickt werden.«

Das Foto entfiel Dinahs Händen und rutschte über ihre Knie auf den Linoleumboden. Aufschluchzend vergrub das Mädchen sein Gesicht in den Händen.

*

»Da wären wir also!« Mit einer weit ausholenden Geste wies Jörg Bamberger von der Gangway der Pan Am-Maschine, mit der er und seine Familie von New York nach Frankfurt geflogen waren, über den Flugplatz. »Ich hoffe, es wird dir hier gefallen, Shirley!«

»Mir gefällt es überall, wo du bist.« Shirley Bamberger, eine hübsche junge Frau von achtundzwanzig Jahren mit halblangen blonden Haaren und blauen Augen, sah ihren Mann zärtlich an. »Ich werde nie bereuen, mit dir nach Deutschland gegangen zu sein.«

»Unser Kleiner schläft schon wieder!« Jörg drückte den vierjährigen Edward, den er auf dem rechten Arm trug, etwas fester an sich. Es war ihm ein Rätsel, woher Edward den vielen Schlaf nahm. Er war fast ständig müde.

»So ein weiter Flug ist alles andere als ein Vergnügen für einen kleinen Jungen«, meinte Shirley. Sie ging vor Jörg die Gangway hinab. »Soll ich ihn nehmen?« fragte sie, als Jörg mit Edward neben ihr angekommen war.

»Nein, laß nur!« Jörg berührte die blasse, kalte Wange seines Sohnes. Er wollte Shirley nicht beunruhigen, aber seiner Meinung nach stimmte etwas mit dem Kleinen nicht. Sie waren zwar einige Tage vor dem Abflug nach Deutschland mit Eddy noch einmal beim Arzt gewesen, aber er war nicht sicher, ob er sich auf das Urteil von Dr. Forster verlassen konnte. Gut, Dr. Forster behandelte Shirleys Familie seit über vier Jahrzehnten, aber er ging immerhin bereits auf die Zweiundsiebzig zu. Edward war noch vor einigen Wochen kaum zu bändigen gewesen. Es konnte also nicht nur am Wachstum liegen, daß aus einem stets zu Streichen aufgelegten Vierjährigen plötzlich ein stilles, leicht zu lenkendes Kind geworden war.

Eine halbe Stunde später saßen sie im Fond eines Taxis und fuhren durch Frankfurt. Von New York aus hatte Jörg im Hotel Hessenhof zwei Zimmer bestellt. Dort wollten sie wohnen, bis sie ein Haus gefunden haben würden.

Edward schlug die Augen auf. Den Kopf an die Schulter seines Vaters gelegt, blickte er aus dem Fenster.

»Sind wir da, Daddy?« fragte er.

»Ja, jetzt sind wir in Deutschland«, bestätigte Jörg.

»Dort, wo dein Daddy und deine Mummy sind?« Edward sah zu seinem Vater empor. »Gehen wir zu ihnen?«

»Nein, wir gehen nicht zu ihnen, Eddy«, erwiderte Jörg. Er wies aus dem Fenster. »Schau mal, das schöne rote Auto!« versuchte er sein Söhnchen abzulenken. »Soll Daddy sich so ein Auto kaufen?«

»Hm«, machte Edward. Er schloß die Augen. »Mein Kopf tut weh«, klagte er.

»Wir sind bald da, Eddy!« Shirley faßte besorgt nach der Stirn des Kleinen. Er schien leichtes Fieber zu haben. Sie warf ihrem Mann einen erschreckten Blick zu. »Ob er sich erkältet hat?« fragte sie.

»Möglich ist es.« Jörg strich Edward durch die schwarzen Locken. Leise begann er ihm von Wu, dem Bären, zu erzählen. Das war eine Geschichte, die Edward besonders liebte und von der er nicht genug hören konnte.

Das Taxi hielt vor dem Hotel. Wenig später fuhren sie mit dem Aufzug in den dritten Stock hinauf. Edward war wieder eingeschlafen. Er merkte nicht, daß seine Mutter ihn auszog und in das Kinderbett legte, das im Schlafzimmer der Suite aufgestellt worden war.

»Wie hoch ist das Fieber?« fragte Jörg, nachdem seine Frau dem Kleinen das Fieber gemessen hatte.

»Siebenunddreißig acht«, erwiderte Shirley und hielt das Thermometer unter das kalte Wasser. »Es ist nur

erhöhte Temperatur. Einige Tage Ruhe, und Edward ist wieder in Ordnung.«

»Sollten wir nicht einen Arzt rufen?«

»Man würde uns auslachen!« Shirley legte das Thermometer in den Koffer zurück und trat zu ihrem Mann, der an Edwards Bett stand. »Du kennst doch unseren Sohn, Jörg«, meinte sie. »Er hat schnell einmal eine Erkältung. Dr. Forster meinte, daß Eddys Mandeln bei Gelegenheit herausgenommen werden müßten. Und wenn ich an die vielen Mandelentzündungen denke, mit denen Eddy in den letzten Monaten geplagt war, muß ich ihm recht geben.«

»Sobald wir uns eingerichtet haben, werden wir Eddy von Kopf bis Fuß von einem guten Arzt untersuchen lassen«, bestimmte Jörg. Er strich mit zwei Fingern durch seine dichten schwarzen Haare. »Mir gefällt seine ständige Müdigkeit nicht. Vielleicht brütet er irgendeine Krankheit aus.«

»Dr. Forster meint, seine Müdigkeit liegt am Wachsen«, gab Shirley zu bedenken. »Solange ich Dr. Forster kenne, hat er sich noch nie geirrt.«

»Das mag sein, Liebling, aber ich möchte Eddy trotzdem gründlich untersuchen lassen«, sagte Jörg und zog seine Frau in seine Arme. »Gehen wir nach nebenan, damit wir ihn nicht stören.«

Sie ließen sich das Mittagessen aufs Zimmer bringen. Edward sollte etwas bekommen, wenn er aufwachte. Sie wollten ihn nicht extra wecken.

»Eddy hat nach deinen Eltern gefragt, Jörg. Erinnerst du dich?« Shirley wischte sich die Finger an der Serviette ab. »Rufe sie wenigstens einmal an.«

»Ich denke nicht daran!« Jörg Bambergers Gesicht verschloß sich. »Als ich Deutschland vor zwölf Jahren verließ, wußte ich noch nicht, daß dies einen endgültigen Bruch mit meinen Eltern bedeutete. Ich schrieb ihnen, aber alle meine Briefe kamen nach Wochen unbeantwortet zurück. Es tut mir leid, Shirley, aber mit meinen Eltern verbindet mich heute nichts mehr.«

»Nach allem, was du mir erzählt hast, ist dein Vater ein sehr stolzer Mann. Er hat den Streit zwischen euch nicht verwinden können. Aber wer sagt, daß er heute noch genauso denkt? Vielleicht sehnt er sich nach dir.«

Jörg schüttelte den Kopf. »Er hat mich aus seinem Leben gestrichen. Ich bin überzeugt, er denkt nicht einmal mehr an mich«. behauptete er.