Am Kai der Hoffnung - Walter Kaufmann - E-Book

Am Kai der Hoffnung E-Book

Walter Kaufmann

4,8

Beschreibung

In diesem Buch voller Stories, voller Shortstories erzählt Walter Kaufmann wenn auch häufig in exotischem Gewand von Menschenschicksalen, von Menschen, die um ihre Liebe und um ihre Existenz kämpfen müssen. Kaufmann erzählt abenteuerlich und ernst, bitter und sozial genau. Da ist zum Beispiel die Geschichte von dem Seemann Keith Forrest, der in Sydney Frau und zwei Kinder hat. Alle auf der „Rosa“ kannten Caroline aus Suva und wussten, dass sie Keith Forrest gehörte: „Sie war nicht wie die anderen Töchter der Fidschi-Inseln, nicht so redselig, ruhiger, zierlicher aber auch nicht so schön. Im Vergleich zu ihnen war sie mager, hatte eine viel dunklere, fast schwarze Haut, und ihr Gesicht war auf Stirn und Wangen von Blatternarben entstellt. Doch ihre Augen, die Augen ihrer Mutter, waren groß und leuchtend wie zwei stille Weiher in einer rauen Landschaft, und ihre Stimme, die Stimme ihres Vaters, war leise und sanft wie das Raunen des Windes in den Blättern der Palmen.“ Forrest bittet den Ersten Offizier um Ausgang und geht noch einmal zu ihr, weil er noch etwas zu erledigen hat … INHALT: Ruf der Inseln Kein Platz auf dieser Welt Die Heimkehr des Eingeborenen Feuer am Suvastrand Und was wirst du morgen tun? Der Fluch von Maralinga Die Patrioten Der Witz des Jahres Eva Die Erschaffung des Richard Hamilton Unter grausamer Sonne Der Mann im Zug Der Inspektor Billy McCreas Zukunft Die Botschaft Bert Currigans Weg nach oben Wo ist Tommy? Das Schlachthaus Mitternachtsfahrt Anonymes Bekenntnis Home, sweet home Die rote Rose Der lange Weg nach Hause Die Zähmung des Patrick Mulligan Vertrauensprobe Dilemma Mädchen von Neapel El Dorado Handel in Imbituba Das Zaubermesser Fernfahrten Steckbrief eines Seemanns Jenseits der Erfüllung Punkt ohne Wiederkehr Landgang in Cárdenas Nacht ohne Morgen Kapitulation

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 505

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Walter Kaufmann

Am Kai der Hoffnung

Stories

ISBN 978-3-86394-569-5 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1974 im Verlag der Nation, Berlin.

Übersetzung aus dem Englischen von: Elga Abramowitz (Die Botschaft, Bert Currigans Weg nach oben, Anonymes Bekenntnis, Der lange Weg nach Hause, El Dorado, Jenseits der Erfüllung, Punkt ohne Wiederkehr, Landgang in Cárdenas),

Heide Lipecky (Und was wirst du morgen tun?),

Hans Petersen (Vertrauensprobe),

Hannelore Sanguinette (Die Heimkehr des Eingeborenen),

Johannes Schellenberger (Die Patrioten, Der Mann im Zug, Billy McCreas Zukunft) und

Helga Zimnik (Ruf der Inseln, Kein Platz auf dieser Welt, Feuer am Suvastrand, Der Fluch von Maralinga, Der Witz des Jahres, Eva, Die Erschaffung des Richard Hamilton, Unter grausamer Sonne, Der Inspektor, Wo ist Tommy?, Mitternachtsfahrt, Die rote Rose, Home, sweet home, Die Zähmung des Patrick Mulligan, Dilemma, Handel in Imbituba, Nacht ohne Morgen, Kapitulation).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto: Barbara Meffert

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Ruf der Inseln

Sie war nicht wie die anderen Töchter der Fidschi-Inseln, nicht so redselig, ruhiger, zierlicher aber auch nicht so schön. Im Vergleich zu ihnen war sie mager, hatte eine viel dunklere, fast schwarze Haut, und ihr Gesicht war auf Stirn und Wangen von Blatternarben entstellt. Doch ihre Augen, die Augen ihrer Mutter, waren groß und leuchtend wie zwei stille Weiher in einer rauen Landschaft, und ihre Stimme, die Stimme ihres Vaters, war leise und sanft wie das Raunen des Windes in den Blättern der Palmen. Die Besatzung der „Rosa“ kannte Caroline aus Suva und wusste, dass sie dem Seemann Keith Forrest gehörte, der in Sydney Frau und zwei Kinder hatte.

Keith Forrest ging nach mittschiffs und klopfte an die Kajütentür.

„Herein!“, rief der Erste Offizier.

„Kann ich heut nachmittag freihaben, Mister?“

Der Offizier blickte auf, zögerte. „Meinetwegen“, antwortete er dann. „Seien Sie morgen früh zurück.“

„Es ist schwer, einem so guten Matrosen etwas abzuschlagen“, erklärte er dem Zweiten, als Forrest außer Hörweite war, „Außerdem ...“ Er machte eine Eintragung in den Arbeitsplan und ließ das übrige, das allgemein bekannt war, unausgesprochen.

Keith Forrest zog das Hemd und die verdreckte Arbeitshose aus und duschte sich. Das Wasser war lauwarm und nicht erfrischend; den ganzen Vormittag über hatte die Tropensonne auf die Wassertanks herabgebrannt. Während er übers Deck zu seiner Kajüte ging, ließ er sich von der Seebrise trocknen und abkühlen. Aus seiner Seemannskiste nahm er ein frisches Hemd und eine saubere Drillichhose und kleidete sich langsam an. Er stieg, ohne ein Wort mit jemandem zu sprechen, die Gangway hinunter und lief den Kai entlang zu den Toren. Eingeborene Händler umringten ihn, sobald er heraustrat. „Schönes Armband für Mädchen, schöne Muscheln, schöne Kette ...“

Sie hielten ihm die aufgereihten Muscheln lockend vors Gesicht, so nahe, dass Keith Forrest den Geruch ihrer dunklen Haut wahrnehmen konnte. Er blickte sich um. Und dann hörte er ihre sanfte Stimme - wie immer sprach sie seinen Namen falsch aus.

„Kei, o Kei!“

Der Matrose lächelte. Die Spannung in ihm löste sich, der suchende Ausdruck wich aus seinen Augen. „Caroline“, sagte er leise.

„Kei, o Kei !“

Das schienen die einzigen Worte zu sein, die sie kannte. Er berührte ihren Arm. Sie stand reglos, wie gebannt, nur ihre Augen umfassten ihn mit verzehrendem Feuer.

„Komm, Caroline!“

Hand in Hand schlenderten sie über den belebten Marktplatz. Ein Zollbeamter musterte sie scharf, spuckte aus und wandte sich ab. Die Einheimischen sahen ihnen nach, als sie hinter den Verkaufsständen verschwanden und den Weg entlanggingen, wo Palmen in langer Reihe den Strand säumten und das dahinter liegende Grashüttendorf abgrenzten.

„Sa tabu“, sagte ein Fidschi, „sa tabu, tabu ...“

Keith Forrest war ein hochgewachsener, ruhiger, gut aussehender Mann, dem die Frauen nachschauten, doch er hielt sich von ihnen fern. Er war fünfunddreißig Jahre alt und zwanzig davon auf Schiffen um die Welt gefahren. Vor zehn Jahren hatte er in Sydney eine Verkäuferin geheiratet, hatte um ihretwillen als Decksmann auf einem Schlepper angemustert und von der Reling aus zugesehen, wie die großen Überseedampfer den Hafen verließen und an den Riffen vorbei Kurs aufs offene Meer nahmen. Ein ganzes Jahr lang war er tagtäglich, die Arbeitstasche unterm Arm, mit einer holpernden Straßenbahn zum Hafen gefahren, und ein ganzes Jahr lang hatten der Verkehrslärm, die Neonlichter, die fieberhafte Unrast des Großstadtgetriebes ebenso an seinen Nerven gezerrt wie das eintönige Leben in seinem Häuschen mit den Küchengerüchen und der rostigen Badewanne und dem großen eisernen Bett, in dem er mit Agnes schlief. Und als das Jahr um war, hatte er gesagt: „Ich such mir wieder ein Schiff.“

„Aber bei unserer Heirat hast du versprochen ...“

„Ich hab's versprochen, ich weiß“, hatte er erwidert. „Aber ich kann nicht anders, Agnes!“ Damit war er gegangen und hatte sich auf dem ersten Frachter anheuern lassen, der Mannschaft suchte.

Jetzt lag Keith Forrest in der kühlen Grashütte auf einer Matte und sah zu, wie die Brecher regelmäßig an den gelben Strand schlugen. Fein wie Spitze schimmerte der Schaum im Sonnenlicht. Zwei nackte Fischer, dunkelbraun vor dem hellen Sand, rannten lachend am Wasser entlang, die Speere zum Fischfang in den erhobenen Händen.

„Na-i-yai-ya-na-ei ...“

Ihre Stimmen waren noch zu hören, als sie bereits außer Sichtweite waren. Einmal klang Lachen herüber, hell und triumphierend wie eine Glocke, und Keith Forrest sah im Geiste einen silbrig glänzenden Fisch am Speer zucken.

Er wandte sich zu Caroline: „Frau ...“

„Kei, ja.“

„Komm her, ich will mit dir reden.“

Er redete zu ihr, die alles und nichts verstand, sprach von all den Dingen, die ihm im Kopf herumgingen: von Schiffen und Seeleuten, von Streiks und Schulden und Agnes' leerem Leben, von trostlosen Straßen mit dicht aneinandergezwängten Häusern, die sich nur durch ihre Nummern unterscheiden, vom Ruß, der von den Gaswerken kommt und in jede Spalte dringt, und von dem Husten, den sein Jüngster nicht los wird, weil das Haus immer feucht ist, besonders im Winter.

„Was hältst du von einem Mann, der seine Frau im Stich lässt?“, fragte er plötzlich. „Keinen Dreck wert, eh?“

Caroline versuchte aus seinem Gesicht zu lesen, was für eine Antwort er hören wollte. Schließlich schüttelte sie ganz leicht den Kopf.

„Du hässliches, pockennarbiges kleines Ding“, sagte er mit weicher Stimme. „Du glaubst nicht, dass ich sie verlassen habe, eh, vielleicht hast du recht.“

Für ihre Ohren war jedes seiner Worte eine Zärtlichkeit. Sie lachte leise, glücklich. Er zauste ihr hartes, krauses Haar. Sie presste die Brüste an ihn, schob die schmale braune Hand unter sein Hemd und streichelte ihn.

„Sag meinen Namen“, murmelte er.

„Kei ...“

„Nein, Keith!“

„Kei“, wiederholte sie.

„Was ist das?“

„Hand.“

„Und das?“

„Augen.“

„Und das?“

Sie zuckte die Achseln. „Kei - nein.“

„Das ist ein Brief“, erklärte er,. „von Agnes.“

Auf einmal war es kein Spiel mehr. Er wandte sich ab, ohne sie jedoch loszulassen, und sah zu, wie der glutrote Sonnenball ins Meer versank.

Mit dem Abend kam Leben ins Dorf. Fischer gingen an der Hütte vorbei, die Frauen machten sich an ihre Arbeit, man hörte ihr Schwatzen und die Schritte ihrer nackten Füße, wenn sie das Gras streiften. Von fern wehte der Geruch eines röstenden Wildschweines heran.

„Wenn die ‚Rosa' das nächste Mal in Suva anlegt, wirst du einen eigenen Mann haben, Caroline, eh?“

„Kei?“

„Du wirst einen eigenen Mann haben.“

„Ich bring dir zu essen. Du mein Mann!“, sagte sie.

Sie glaubte es, sie, die Unansehnliche im Dorf, sie, die Junge, die Tochter eines Negers, eines Matrosen, der ein Fidschimädchen geschwängert hatte und dann wieder verschwunden war, niemand wusste, wohin. Sie glaubte es wirklich in ihrer grenzen- und bedingungslosen Hingabe an diesen Seemann, der über das weite Meer aus einem Land der Weißen zu ihr gekommen war, nicht einmal, sondern so oft, dass er jetzt ihr Mann war. Jeder wusste, dass sie Kei gehörte. Keiner der Männer im Dorf rührte sie an, und die Frauen musterten ihren Leib. Auch wenn er fern von ihr war, sah sie ihn stets, sie sah sein Schiff und wusste immer genau, wo es gerade war, sodass sie ihn niemals, nicht ein einziges Mal in achtzehn Monaten, unten im Hafen von Suva verfehlt hatte.

Die Nacht war noch jung, als Keith Forrest die Hafenkneipe betrat. Er hörte lautes Gelächter, raue Männerstimmen und das Kreischen von Frauen, doch er konnte kaum etwas sehen in der dicken Luft. Von den Tischen stieg Rauch auf und sammelte sich zu Schwaden vor dem träge rotierenden Ventilator an der Bambusdecke. Die fette dunkle Frau, die allein unter der Lampe neben der Tür saß, stellte ihr Glas ab und wandte ihm das Gesicht zu.

„Wie geht's, Keith?“, lallte sie.

„Sind die Jungs hier?“

„Aber ja, dort hinten.“ Sie deutete unbestimmt in die Richtung des Lärms.

Keith Forrest ging zu einem großen runden Tisch in der dunkelsten Ecke des Raumes, wo ein paar Seeleute mit Halbblutfrauen tranken. Zahlreiche leere Flaschen standen auf und unter dem Tisch.

„Setz dich“, forderte ein Matrose ihn auf und schob ihm mit dem Fuß einen freien Stuhl hin.

„Heute nicht“, antwortete Forrest, „ich hab was zu erledigen.“

Der Matrose blies eine Rauchspirale an die Decke. „Caroline?“, fragte er sachlich.

Keith Forrest verschloss seine Gedanken an Caroline, alles, was er an diesem Nachmittag in der Grashütte erlebt und gefühlt hatte, fest in sich.

„Ich hab was zu erledigen.“

„Schon gut, Keith“, sagte der Matrose. „Hier, stärk dich erst mal.“

Forrest nahm das angebotene Bier, dann sah er sich suchend im Raum um. „Weißt du, wo Carlson steckt?“

„Der hat sich den ganzen Abend noch nicht blicken lassen“, entgegnete der Matrose. Er winkte Forrest näher zu sich heran. „Hör mal“, fügte er hinzu, „du bist doch nicht sauer, weil ich mich in deine Angelegenheiten gemischt habe?“

„Ach was, Tim.“

„Keinen von uns interessiert es, was du in deiner freien Zeit tust.“

„Ist schon gut, Tim“, sagte Forrest leise.

Der Matrose drehte sich auf seinem Stuhl herum. „Ruhe mal!“, rief er. „Hat einer von euch den Bootsmann gesehen?“

Alle Augen waren jetzt auf Keith Forrest gerichtet, die Frauen betrachteten ihn wohlgefällig, die Männer etwas beunruhigt. Keiner wusste, wo der Bootsmann war.

„Wir bringen das schon in Ordnung, wenn du morgen fehlst“, bot ihm einer der Seeleute an.

„Danke, Jungs.“ Forrest wünschte, er könnte ihnen besser danken. Er wandte sich um und trat aus der Kneipe, hinaus in die warme, tropische Nacht.

„Caroline!“, rief er, und als er ihre Gestalt zwischen den Palmen auftauchen sah, spürte er auch schon ihre Hand in der seinen. „Komm!“

Jetzt ging er diese stille Straße in Suva entlang, der Lärm aus der Kneipe hinter ihm verlor sich in der schwülen Luft. Er musste an Agnes denken und an das Leben, dem er den Rücken zu kehren versucht hatte. Mit dem Scharfblick eines Menschen, der die Dinge klarer erkennt, wenn er sie aus einem gewissen Abstand betrachtet, sah er jetzt jede Einzelheit seines Heims in Sydney deutlich vor sich, begriff plötzlich, woher die Falten in Agnes' Gesicht kamen, wie die Sorge um das Geld ihr Leben zermürbte, und auf einmal wusste er, dass es so nicht weitergehen konnte. Dies würde seine letzte Nacht mit ihr sein, mit seiner Caroline, die sich so oft jeder seiner Launen unterworfen hatte, die jeder Bewegung von ihm gefolgt war, die mit ihm entflammt und mit ihm erloschen war. Er hatte kein Recht, sich treiben zu lassen, während Agnes ...

„Caroline“, sagte er und fühlte, wie der Druck ihrer Hand sich verstärkte.

„Kei ...“

„Man sagt, wer einmal auf den Inseln gewesen ist, kommt immer wieder.“

Sie lachte weich, seine Stimme hatte gütig und zärtlich geklungen.

„Nein, Caroline, lach nicht!“

Sofort war sie so still, dass er sie nur noch neben sich spürte.

„Ich komme nicht wieder“, sagte er.

Von fern konnten sie Gitarrenklänge und den Gesang vieler Stimmen hören.

„Hast du mich verstanden, Caroline?“

„Tralala, ja. Komm, Kei“, antwortete sie und versuchte ihn zu der Musik hinzuführen, die vom Dorf her durch die Nacht klang.

„Heute Nacht bleibe ich bei dir“, erklärte Keith Forrest. „Und morgen den ganzen Tag, und dann - nie wieder.“

„Nie wieder, tralala?“, fragte sie, plötzlich ängstlich geworden. Aber noch erfasste sie nicht die volle Bedeutung seiner Worte.

„Nie wieder“, wiederholte er.

Er beschleunigte seine Schritte. Bald eilten sie zwischen den Palmen hindurch und über das Grasland vor dem Dorf am Meer.

„Isa Lei ...“, sangen die Fidschi, und die Gitarrenmusik war jetzt stark und klar.

„Kei, o Kei“, sagte Caroline glücklich.

Der Seemann nahm sie auf die Arme, genau wie an dem Tage, da er sie gefunden hatte, und trug sie zu den Grashütten, die sich als dunkle Umrisse undeutlich gegen die Nacht abhoben. Der Mond war schmal, aber die Sterne leuchteten hell, wie reines Kristall, und die Wellen des Meeres warfen einen silbernen Glanz auf den Strand von Suva.

Kein Platz auf dieser Welt

Ma Baker, viel beleibter und dunkelhäutiger als die meisten Halbblutfrauen auf den Fidschi-Inseln, klatschte in die dicken Hände und rief mit kindlich hoher Stimme wie jeden Abend: „Los, ihr Matrosen, es ist Nacht - zurück an Bord, an Bord!“

Eine Stunde oder länger hatte sie mit königlicher UnbewegIichkeit in dem Rohrsessel am offenen Fenster gethront. Die ganze Zeit schien sie überhaupt nicht auf das zu achten, was rings um sie geschah - in dem gedrängt vollen, verrauchten Raum wurde getanzt und kräftig gesungen -, schien sie nichts zu interessieren als die Kawaschale mit dem Geld auf dem Tisch vor ihr. Endlich hatte sie mit einer schnellen, gierigen Bewegung die Schale in ihrem Schoß ausgeleert und in den ausländischen Silbermünzen und Geldscheinen herumgepickt wie ein Huhn im Korn, bevor sie alles in einen Lederbeutel stopfte, der ihr an einer Schnur um den Hals hing.

Die Münzen hatten matt geschimmert im gelblichen Licht der schweren Sturmlaterne im Fensterrahmen. Ma Bakers Augen waren gierig und hart gewesen, als sie mit festen weißen Zähnen in das Metall biss, um es auf seine Echtheit zu prüfen. Als sie ihre Beute eingesteckt hatte, legte sich ein versonnener Ausdruck über ihre Züge.

Sie verharrte in ihrem Sessel, ganz unberührt von dem herrschenden Lärm, bis schließlich ein befriedigtes Lächeln ihr Gesicht belebte.

„Gute Nacht euch allen“, wiederholte sie, „zurück an Bord, an Bord!“

„Hat sich's gelohnt heut abend, Ma?“, erkundigte sich einer der Seeleute und spuckte einen Zigarettenstummel auf den Fußboden.

„Ja, ja, und schönen Dank euch allen!“, entgegnete Ma Baker.

„Aber jetzt ist Schluss mit dem Tralala.“

Sie erhob sich schwerfällig und watschelte durch den Raum, um ihre Gäste zum Aufbruch anzutreiben, während ihre älteste Tochter, ein schlankes, attraktives, hellhäutiges Geschöpf von neunzehn Jahren, die fast den ganzen Abend lang einem alten Klavier in der Ecke bunte Melodien entlockt hatte, das Abschiedslied der Maori anstimmte. Sie spielte falsch und zu schnell, als wollte sie es hinter sich bringen.

„Genug jetzt, Marcelle!“, rief Ma Baker, und das Mädchen klappte heftig den Deckel zu, hob das fein geschnittene Gesicht und warf einen kurzen Blick auf den australischen Heizer, einen Mischling, der am Klavier lehnte und sie den ganzen Abend mit unverhohlener Bewunderung angesehen hatte.

„Was guckst du so, Jacky?“, fragte sie. „Nenn mich nicht so, nur dumme Weiße nennen mich Jacky.“

„Ich bin selbst fast eine Weiße“, behauptete das Mädchen. „Du bist schön, das stimmt, aber du bist nicht weißer als ich.“

„Mein Großvater war ein Weißer, mein Vater war ein Weißer - was bin dann ich?“, zischte sie ihn an und stieß seine Hand weg, als er sie anfassen wollte.

„Ich könnte dich lieben, Marcelle“, sagte der Seemann mit rauer, flüsternder Stimme.

„Mich lieben!“, höhnte sie, lachte hellauf und schlüpfte durch den Vorhang in ein Hinterzimmer, in das ihre beiden jüngeren Schwestern bereits vor einer Weile verschwunden waren.

Einen Augenblick lang stand der Seemann unschlüssig in dem leeren Raum, dann steuerte auch er auf den Ausgang zu, wo Ma Baker ihn zurückhielt. „Hast du schon bezahlt, Jack?“

„Was hab ich denn zu bezahlen, Ma? Ich hab nichts getrunken.“

„Jeder bezahlt, Jack.“

Er schob eine Hand in die Hosentasche und zog die erste Banknote heraus, die ihm in die Finger kam - eine Fünfpfundnote. „Hier, Ma, und danke.“

„Ahl“, rief die Frau aus. „So viel Geld!“

„Schon gut.“ Er wandte sich zum Gehen.

„Wir mögen dich, Jack“, sagte Ma Baker mit gieriger Leidenschaft zu ihm, „Marcelle auch. Komm in einer halben Stunde wieder, dann schick ich sie zu dir raus.“

Jack Davis warf der Frau einen argwöhnischen Blick zu. An den drei Abenden, die er in ihrem Hause gewesen war, hatte sie sich kaum herabgelassen, ihn zu bemerken.

„Ich meine es ehrlich, wirklich!“, versicherte Ma Baker.

„Okay. Ich komme wieder“, antwortete er, dann drehte er sich schnell um und stürzte sich ins Dunkel der Nacht.

Heute schien der Mond nicht über der Insel. Der Himmel war bedeckt, aber die Jasminblüten dufteten stark, und über das Rascheln der Palmblätter im Wind hinweg konnte er weit vor sich die Stimmen seiner Kameraden hören, die an Bord des Dampfers „Rosa“ zurückkehrten.

„Frank!“, rief er. „Warte, Frank!“

Als der Heizer Frank Farrell seinen Namen hörte, trennte er sich von den anderen und wartete auf seinen Wachkameraden.

„Was ist los, Jack?“

„Ich wollte dir bloß sagen“, stieß Jack Davis hervor, „dass ihr ohne mich auslaufen müsst. Ich komme nicht zurück.“

„Was soll denn das heißen?“

„Frag mich nicht. Ich kann es nicht erklären.“

„Nimm Vernunft an. Du musst beim Auslaufen an Bord sein“, erwiderte Farrell ruhig. „Hast du verstanden?“ Er hob seine Armbanduhr an die Augen und sog an seiner Zigarette, dass die Spitze hell aufglühte und das Zifferblatt und für einen Augenblick auch sein hageres Gesicht beleuchtete. „Es ist jetzt kurz vor drei, Jack, du hast fünf Stunden, um zu tun, was du zu tun hast - fünf Stunden! Dann musst du an Bord sein, oder die Gewerkschaft schließt dich aus.“

„Sag dem Obmann, ich liege auf der Schnauze, oder was du sonst willst. Sag ihm, ich kann mich nicht rühren.“

„Nein“, entgegnete Farrell, „das geht nicht, du weißt das.“

„Ich weiß es, aber ich kann's nicht ändern.“

„Hör mal“, sagte Farrell, „den Köder hat man uns allen schon hingeworfen, aber keiner von uns hat das Mädchen gehabt, und du wirst auch nicht der erste sein. Glaub mir, Jack, Ma Baker führt dich an der Nase herum!“

„Ich will Marcelle nicht bloß haben, ich will sie heiraten.“

„Ach, so ist das! Dann geh zurück und frag sie“, entschied Farrell, seine Stimme klang jetzt hart und schneidend. „Frag sie nur!“

„Bring du das den Jungens bei. Und sag es dem Obmann.“

„Gar nichts werde ich sagen“, antwortete Farrell und wandte sich zum Gehen. „Wir sehen uns zum Auslaufen an Bord.“

„Du verstehst nicht.“

„Fünf Stunden werden dir zeigen, dass ich recht habe, Jack.“

Langsam ging Jack Davis zu Ma Bakers Haus zurück, dem Lichtfleck entgegen, der in der stillen Dunkelheit vor ihm schwebte. Er wünschte, er hätte sich Frank Farrell besser verständlich machen können. Keiner verdiente sein Vertrauen mehr als Frank. Aber er hatte nicht die richtigen Worte gefunden. Das beunruhigte ihn, denn gerade Farrell sollte wissen, dass er das Schiff nicht verließ, bloß weil er ein Mädchen „haben“ wollte. In Fitzroy, zu Hause in Melbourne, gab es mehr als genug dunkle Frauen, die sich bereitwillig mit ihm hinlegen würden. Nein, er brach mit der Vergangenheit, weil er dieses Mädchen erobern und heiraten wollte. Sie war seinesgleichen - Marcelle Baker! Er war jetzt achtundzwanzig Jahre alt und sehnte sich danach, endlich wirklich zu leben. Das hätte er Farrell sagen müssen. In den sechs Wochen, die er mit seinem Wachkameraden auf See gewesen war, hatte er ihm kaum etwas verschwiegen, was für ihn Bedeutung hatte. Warum also dies?

Das Licht in Ma Bakers Fenster verschwand für einen Augenblick, dann erhellte es wieder die Tiefe des Raumes und ließ ihn größer erscheinen, wie eine Halle in der Dunkelheit. Er konnte die Umrisse eines Menschen erkennen, der am Tisch saß, Umrisse eines Menschen, die teilweise von dem tief hängenden Palmblatt vor dem Fenster verdeckt wurden. Die schwarze Dunkelheit der Nacht hüllte das Haus, die Bäume und das Gras ein wie Samt. Nichts rührte sich, nur das Licht der Sturmlaterne am Haken im Fensterrahmen flackerte und warf lange Schatten durch den Raum, der so ganz anders war als die Behausungen, in denen er bisher gewohnt hatte.

Den größten Teil seines Lebens hatte er nichts anderes gekannt als die enge, lichtlose Mansarde einer überfüllten Mietskaserne, Räume mit nackten Fenstern über schmutzigen Hinterhöfen mit verfallenen Zäunen, Räume, zu denen ständig der Lärm aus einer billigen Weinstube an der Straßenecke heraufklang, Räume mit schäbigen Möbeln und eisernen Bettstellen, auf deren abgenutzten Matratzen er zusammen mit seiner Mutter, seinen Schwestern und seinem Bruder und manchmal - bis er achtzehn war - auch mit seinem Vater geschlafen hatte. Als er noch klein war, hatten die unförmigen Wasserflecke an der grauen, feuchten Zimmerdecke in seiner Fantasie gespenstische Bilder heraufbeschworen, Bilder, vor denen er sich fürchtete. Doch er hatte früh gelernt, niemals zu klagen, alle seine Ängste zu unterdrücken : die Angst vor der Dunkelheit, die Angst vor dem Ungeziefer und später auch die Angst vor seinem Vater, der die Mutter über den Mund schlug oder sie auf die eiserne Bettstelle warf und sich an ihr austobte, wenn er betrunken war.

Auch andere Ängste hatte er bald unterdrücken gelernt, als er größer wurde: die Angst, mit weißen Kindern in der Schule zu sitzen, und die Angst vor den Lehrern, die ihn verprügelten, wenn er nicht lernte - warum sollte er lernen, wenn ihn nach Ablauf der Schulzeit doch nur die niedrigsten Arbeiten erwarteten?

All diese Ängste hatte er abzutöten gelernt auf der Schattenseite des Lebens, und noch mehr: die Angst vor dem Hunger und vor der Jagd nach Arbeit, die Angst vor kleinen Diebstählen und vor Richtern und Gefängnissen, alle Ängste außer der einen - zu enden wie sein Vater, den das Leben in einer Stadt der Weißen schließlich zugrunde richtete. Eine ganze Winternacht lang hatte sein Vater betrunken in einer Seitengasse von Fitzroy gelegen, betrunken von Methylalkohol, einen höhnischen Refrain vor sich hin lallend, den ihm jemand beigebracht hatte:

„Nigger hier und Nigger da, das dreckigste Pack, das ich jemals sah ...“

Drei Tage später war er im Krankensaal eines Gefängnisses an Lungenentzündung gestorben.

Die Erinnerung daran ließ Jack Davis niemals los, obwohl er auf verschiedene Weise versuchte sie abzutöten. Eine Zeit lang arbeitete er auf dem Lande, aber er stellte schnell fest, dass der Weiße dort einen Farbigen noch schlechter behandelte als jeder Stadtbewohner. Ernüchtert kehrte er nach Fitzroy zurück. Seine Angst war unvermindert, sie quälte ihn wie ein Albtraum, und so war er schließlich aufs Meer geflüchtet. Unter den Seeleuten, die weniger Vorurteile besaßen als die anderen Weißen, hatte er für kurze Zeit aufatmen können.

Doch kein Schiff bleibt ewig auf See, und der Dampfer „Rosa“ sollte am Morgen nach Melbourne auslaufen - ohne ihn, denn er wollte jetzt keine Stadt mehr sehen und auf keinem Schiff mehr fahren, er wollte sich hier ein neues Leben aufbauen, hier auf dieser Insel, weit, weit weg von Fitzroy.

Lautlos näherte er sich dem Haus, blieb einen Augenblick stehen, dann hob er das Palmblatt vor dem Fenster. Nicht Marcelle saß drinnen am Tisch, sondern Ma Baker. Sie hatte das Gesicht in die Hände vergraben und schien zu schlafen in dem nun schwachen Lampenlicht. Ihr üppiger Busen hob und senkte sich unter dem Baumwollkleid, und der Geldbeutel, der ihr um den Hals hing, wogte mit. Als Jack aufs Fensterbrett klopfte, schrak sie auf und starrte ihn mit glasigen Augen an.

„Ah“, murmelte sie, „ich dachte, du kommst nicht mehr.“

„Ich hab doch gesagt, dass ich komme“, entgegnete er. „Wo ist Marcelle?“

„Die schläft schon.“

„Dann ruf sie her, Ma. Du hast es mir versprochen.“

„Es ist dunkel draußen, und der Mond scheint nicht. Lass sie schlafen bis morgen.“

„Ich will jetzt mit ihr sprechen. Nur einen Augenblick. Weck sie auf. Ich habe mit ihr zu sprechen.“

Er tappte an der Hauswand entlang und trat durch die Tür ein. Hinter dem Vorhang zum Hinterzimmer hörte er leises Geflüster und die Geräusche vorsichtiger Bewegungen.

„Mir scheint, sie ist noch wach.“

„Unterhalte dich ein Weilchen mit mir“, forderte Ma Baker ihn freundlich auf und packte ihn beim Arm, um ihn zurückzuhalten.

Er zog sich einen Stuhl an den Tisch.

„Es ist kein Schnaps mehr im Haus“, sagte sie, „aber genug frisches Kawa. Magst du Kawa?“

„Es schmeckt nach nichts.“

„Aber Kawa ist gut“, verhieß sie, „viel besser als ein Mädchen. Ich werd dir was holen.“

„Ruf Marcelle her, wie du es versprochen hast“, beharrte er.

„Einmal, da lag die ,Rosa' auch im Hafen, da kam ein junger Seemann wie du nachts hierher“, erzählte Ma Baker. „Hatte eine Menge Kawa getrunken. Fühlte sich so wohl danach, so wohl. Hat Marcelle nie wieder angesehen. Am Morgen, bevor er wieder an Bord ging, hat er mir viel Geld geschenkt.“

„Ich hab dir Geld gegeben, obwohl ich nichts getrunken habe.“

„Ja, ja, das hast du“, räumte sie ein und befühlte liebevoll ihren Lederbeutel. „Hast wohl keins mehr übrig, was, Jack?“

„Etwas - für Marcelle!“

„Dir gefällt Marcelle, wie? Hast du was für Marcelle?“

„Sie kann von mir haben, was sie will.“

„Gib es mir“, verlangte Ma Baker. „Gib her, gib mir das Geld. Ich heb's für sie auf. Sie ist zu jung, kann mit Geld nicht umgehen, würde es nur verschwenden.“

„Soll sie.“

„Nein, gib es mir.“

„Ich möchte es ihr selbst geben“, entgegnete er. „Begreifst du denn nicht, ich will mit ihr allein sein.“

„Als ich jung und hübsch war wie sie“, sagte Ma Baker, „haben mir die Männer immer Geld gegeben. Willst du nicht ...“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts zu machen, Ma!“ Seine Stimme hatte jetzt einen härteren Klang.

„Du willst mir's nicht geben?“

„Nein!“

„Oh!“, stöhnte Ma Baker. „Ich bin dick und tauge zu nichts mehr.“ Sie klatschte in die Hände, Tränen der Enttäuschung in den Augen. „Marcelle!“, rief sie schrill. „Marcelle, komm mal einen Moment raus, ja?“

Wie sie barfuß in den Raum trat, in einem weiten Hemd, das lange dunkle Haar zerzaust und strähnig auf der feuchten Haut von Gesicht und Nacken, erschien ihm Marcelle begehrenswerter denn je. Sie sah jetzt zart und mädchenhaft aus, an ihr war nichts mehr von der Strenge, mit der sie ihn bisher in Schranken gehalten hatte. Den verschwörerischen Blick, den sie ihrer Mutter sofort in heimlichem Einverständnis zuwarf, bemerkte er nicht. Er hatte nur Augen für ihre Schönheit, für den leicht geöffneten, weichen Mund, für die leuchtenden dunklen Augen unter langen Wimpern und für ihre Brüste, deren Spitzen gegen den dünnen Stoff des Hemdes drängten. Als sie an ihm vorbeihuschte und ihn flüchtig berührte, erregte ihn der Geruch ihres Körpers wie nichts zuvor und brachte ihn fast um den Verstand. Ja, er liebte sie. Er begehrte sie.

„Jacky“, fragte sie, es klang jetzt zärtlich in seinen Ohren und nicht spöttisch, was führt dich so spät zu uns zurück?“

„Er hat was für dich, Marcelle“, erklärte Ma Baker.

„Für mich?“, rief das Mädchen aus.

„Ich möchte mit dir allein sprechen, Marcelle“, bat Jack Davis, „über etwas, was für dich und für mich wichtig ist.“

Sie lachte leise, und als ihre Mutter durch den Raum watschelte und hinter dem Vorhang verschwand, glitt sie auf seinen Schoß wie ein dunkles, geschmeidiges Kätzchen und legte die Arme um seinen Hals. Er verharrte regungslos, rührte sie nicht an. Es war, als hätte diese unerwartete, ersehnte Vertraulichkeit sein Verlangen eher gedämpft als entflammt. Sie schmiegte sich enger an ihn, seufzte und gähnte.

„Sprechen können wir morgen früh, Jacky-Jacky“, sagte sie. „Aber gib mir jetzt, was du für mich hast.“

„Bin ich immer noch nichts anderes für dich?“, fragte er, gequält von zahllosen Erinnerungen, die bei der Entstellung seines Namens auf ihn eindrangen. „Nur Jacky-Jacky?“

„Ich hab's nicht böse gemeint“, entgegnete sie.

„Die Weißen, die uns alle Jacky-Jacky nennen, sind keine guten Weißen, das weißt du doch, Marcelle!“

„Aber Jacky passt besser zu dir als Jack“, beharrte sie. „Du hast schönes dunkles Haar, eine schöne dunkle Haut, schöne dunkle Augen - du siehst gut aus, Jacky, und du bist stark!“

„Das sagst du nur, weil ich was für dich habe.“

„Aber nein, Jacky!“ protestierte sie. „Du bist wirklich ein schöner Mann. Ich mag dicht“

„Aber ich, ich könnte dich lieben, Marcelle. Ich würde dir alles geben, würde alles für dich tun. Ich würde für dich arbeiten, damit du es gut hast.“

Erregt drückte er sie an sich, presste seinen Mund auf den ihren, legte die Hände auf ihre warmen Brüste und atmete wieder den berauschenden Geruch ihres Körpers ein.

„Marcelle“, flüsterte er, „du sollst es bei mir so gut haben wie eine Weiße.“

Er spürte, wie sie sich versteifte, wie sich ihre Lippen den seinen verschlossen, dann drängten ihn ihre Fäuste weg. „Ich bin eine Weiße!“ stieß sie hervor. „Fast eine Weiße, hörst du? Ich hab's dir schon mal gesagt!“

Und sie schlug ihm ins Gesicht, hart und wild.

„Marcelle!“, schrie er auf, nicht vor Schmerz, sondern in seelischer Qual. „Ich will dich heiraten. Ich werde wieder auf See gehen und für dich arbeiten. Ich will dich heiraten. Deswegen habe ich mein Schiff und meine Kameraden verlassen, nur deswegen! Ich werde gut zu dir sein. Willst du mich heiraten?“

„Niemals!“ Sie glitt von seinem Schoß herunter und sah ihm wütend ins Gesicht. „Dich heiraten! Du bist doch bloß ein dreckiger Heizer auf einem Trampdampfer. Und ein Mischling obendrein! Aber ich bin eine Weiße und werde einen Weißen heiraten.“ Sie lachte schrill. „Jacky-Jacky!“ höhnte sie. „Bei mir nicht!“

Wie ein vielfaches Echo aus der Vergangenheit traf ihn dieses zweite „Jacky-Jacky“ aus Marcelles Mund, die doch selbst ein Halbblut war, traf ihn wie ein Peitschenschlag. Mit einem unmenschlichen Aufschrei, in dem alle Ängste und der Hass seines ganzen Lebens zusammengedrängt waren, sprang er auf, riss die Sturmlaterne vom Haken und schlug den schweren Metallfuß dem Mädchen an den Kopf - einmal, zweimal, bis das Glas in seiner Hand zersplitterte, der Rahmen sich verbog und eine Flamme über den herauslaufenden Brennstoff züngelte, sodass sein Arm zu einer lodernden Fackel wurde, die ein unheimliches Licht über die am Boden liegende Marcelle warf.

Er ließ die Lampe fallen. Einen Augenblick lang stand er wie erstarrt da, spürte nicht das Brennen auf seiner Haut. Im Schein der Flammen sah er. wie der Vorhang zum Hinterzimmer aufgerissen wurde und Ma Baker aus dem Dunkel auftauchte. Er hörte sie kreischen, drehte sich um, stürzte zum Fenster und schwang sich hinaus. Das Palmblatt peitschte ihm ins Gesicht. Er merkte es nicht. Er floh in die Nacht.

Über Bug und Vorschiff der „Rosa“ lag das Licht des anbrechenden Morgens, als Jack Davis an Bord stieg. Die Matrosen machten das Schiff schon seeklar, und aus dem Schornstein wallte schwarzer Rauch zum hellen Himmel empor. Auf die Reling gestützt, ging er taumelnd und schwankend übers Deck, sein rechter Arm hing schlaff herab, eine Seite seines dunkelhäutigen Gesichts war geschwollen wie nach einem Schlag. Feuchte Haarsträhnen klebten ihm auf der Stirn.

Die Seeleute sahen ihn prüfend an, ließen ihn aber schweigend vorbei, nur der wachhabende Offizier wölbte die Hände vor den Mund und rief: „Davis! He, Davis! Melden Sie sich beim Chief, wenn Sie nüchtern sind!“

„Jawohl, Mister“, antwortete er und setzte seinen Weg zu den Mannschaftsquartieren fort. Im Gang stieß er mit Farrell zusammen, der in den Kesselraum wollte.

„Leg dich hin und schlaf dich aus“, sagte Farrell zu ihm. „Deine Wache unten werde ich übernehmen.“

„Ich bin nicht betrunken“, erklärte Jack Davis.

„Was ist dann los? Bist du in eine Keilerei geraten?“

„Frank“, flüsterte er, sein Kopf sank nach vorn gegen den Türrahmen, an dem er sich festhielt, „ich hab Marcelle umgebracht. Lauf an Land und hol die Polizei.“

„Was?“

„Du hast richtig gehört.“

Farrell zog Jack Davis durch die Tür und den Gang entlang bis zur letzten Kajüte achtern.

„Also, was soll das heißen?“, fragte er, nachdem er Jack Davis auf seine Koje gesetzt hatte.

„Wenn du mein Freund bist, holst du die Polizei, bevor das Schiff ausläuft. Ich wäre selbst zum Revier gegangen, aber ich weiß nicht, wo es ist. Geh, Frank. Das ist das einzige, worum ich dich bitte.“

Langsam drehte Farrell zwei Zigaretten. Weder seine Augen noch ein Muskel in seinem Gesicht verrieten, wie es in seinem Kopf arbeitete, als er beide anzündete und Davis eine reichte.

„Das müssen wir uns genau überlegen“, sagte er leise.

„Da gibt es nichts zu überlegen. Hol die Polizei. Ich bin erledigt.“

„Du bist erledigt, wenn ich das zulasse“, entgegnete Farrell. Er stand auf und tat einen Schritt auf die Tür zu. „Rühr dich nicht aus der Kammer heraus!“, befahl er.

„Nein. Ich werde warten“, versprach Jack Davis.

Als Farrell Minuten später zurückkam, heftete Jack seine dunklen Augen mit einem gehetzten, fragenden Blick auf ihn. „Hast du die Polizei geholt, Frank?“

Farrell schüttelte den Kopf. „Ich habe bloß die andern gebeten, die Kessel unter Druck zu halten, weiter nichts.“ Sein Gesicht sah grau aus in dem spärlichen Licht in der Kajüte, grau und erschöpft. „Allein bist du hier verraten und verkauft, hier gibt's für dich keine Gerechtigkeit. Deswegen werde ich dich im Bunker verstecken, bis wir aus dem Hafen raus sind.“

„Das mach ich nicht mit!“

„Jawohl, ich verstecke dich“, beharrte Farrell. „Ich hab noch nie die Polizei auf einen Menschen gehetzt. Ich werde es auch jetzt nicht tun. Wir werden dich nach Melbourne bringen, wo du die Gewerkschaft zur Seite hast.“

Jack Davis umfasste die Bettkante und zog sich auf die Beine. „Ich gehe“, sagte er tonlos.

„Nur über meine Leiche!“ Farrell versperrte den Durchgang. „Ich werde nicht zulassen, dass du dich hängen lässt für einen Mord, der in meinen Augen gar kein Mord ist.“

„Lass mich durch!“

Frank Farrell packte Davis bei den Schultern. „Hör mal. Jack“, bat er eindringlich, „tu einmal in deinem Leben, was ich dir sage. Komm mit nach unten und bleib dort!“

Seit etwa einer halben Stunde kauerte Jack Davis jetzt im Mittschiffsbunker zwischen einer Stütze und den Schotten, wo sie so viel Kohlen weggeschaufelt hatten, dass er Platz fand. Doch ihm kam die Zeit lang vor. Ihm war, als dehnte sich jede Minute zu einem ganzen Jahr seines bisherigen Lebens aus. Er hatte sich Frank Farrells Entscheidung unterworfen. Aber während er regungslos verharrte, entflohen seine Gedanken, drangen aus dem heißen, stickigen Dunkel ringsum hinaus, eilten zurück und immer weiter zurück durch alle Phasen seines Lebens.

Immer wieder sah er vor sich die niedergestreckte Gestalt von Marcelle, die er zu lieben begehrt hatte in unseliger Verzweiflung, die er zu lieben begehrt und doch getötet hatte. Seinen Bruder Tommy sah er, den Boxer, der bei seinem letzten Kampf in Hectors Zirkus im Sägemehl liegen geblieben war. Seinen betrunkenen Vater sah er liegen, auf einer Straße in Fitzroy. Und Marcelle und Tom und sein Vater wurden eins vor seinen Augen.

Er dachte an das erste Mal, als ihm, ein Schulkind noch, die Rassentrennung schmerzhaft zum Bewusstsein gebracht worden war, und an das letzte Mal - da war er Landarbeiter in der Riverina gewesen, und der Farmer, für den er schwer und willig schuftete, hatte angeordnet, dass er künftig auf dem Hof und nicht zusammen mit den Weißen im Haus zu essen habe. Er dachte an zahllose große und kleine Demütigungen in den Jahren dazwischen: Keinen Tanzsaal durfte er betreten, in keiner Kneipe bekam er etwas zu trinken, in keiner Pension der Stadt war für ihn ein Zimmer frei.

Durch alles das hindurch bohrte in ihm, schmerzhaft wie ein Messerstich, das Wissen, dass sein Traum zerstört war, sein Traum von einem Leben auf der Insel mit einer, die er umsorgen wollte und die ihn verschmäht hatte. Wie von fern hörte er durch die stählernen Schotten die Stimmen seiner Kameraden droben auf Deck, aber er hatte nicht mehr das Gefühl, einer von ihnen zu sein. Auch dieses Kapitel seines Lebens, das beste und freieste, das er erlebt hatte, diese kurze Zeit, in der Jack Davis Mitglied einer Gewerkschaft und ein Mann unter Männern sein durfte, war nun zu Ende, zu Ende trotz Frank Farrell und anderer.

„Frank!“, rief er, „Frank, lass mich hier raus!“

Er stand auf und stemmte den Rücken gegen die hölzernen Planken vor der Öffnung zu der Rutsche, die in den Kesselraum führte. Die Planken gaben nach und polterten die Rutsche hinunter. Ein wenig Tageslicht drang herein. Er hörte das Scharren der Schaufeln und Stimmen, fremde und bekannte Stimmen.

„Wir haben ihn nicht gesehen. Er kann nicht an Bord sein!“

Er zögerte nicht. „Hier unten!“, schrie er. „Polizei! Hört ihr mich? Ich bin Jack Davis. Kommt und holt mich!“

Und dann, nachdem die beiden Sergeanten der Fidschipolizei ihn entdeckt und gefesselt hatten und ihn über das Deck der „Rosa“ führten, wandte er sich oben auf der Gangway noch einmal um und sah seinen Freund Frank Farrell an.

„Es ist schon richtig so, Frank“, sagte er ruhig. „Es hatte keinen Zweck. Für mich gibt es keinen Platz auf dieser Welt.“

Die Heimkehr des Eingeborenen

Der Heizer Hal Smith stieg müde aus dem heißen Kesselraum des alten Südseefrachters „Rosa“ herauf. Er rieb sich das hagere Gesicht und den Nacken mit einem Lappen ab, wischte den Ruß zwischen seinen Fingern weg und steckte den Lappen wieder unter den Gürtel, der eng seinen mageren Leib umschloss. Flammende Spätnachmittagssonne überflutete das Deck. Ihr Widerschein in der ruhigen, spiegelglatten See. die der Frachter längs einer fernen, kaum erkennbaren Küste gleichmäßig durchpflügte, blendete heftiger als das Feuer in den Kesseln.

Die von Kohlenstaub entzündeten Augen des Heizers schmerzten in der plötzlichen strahlenden Helle. Alle Umrisse verwischten sich und flossen ineinander, bis er den Schirm seiner rußigen Mütze in die Stirn zog.

Jetzt kamen ihm die Konturen der Küste bekannt vor, anscheinend hielt das Schiff den Zeitplan ein. Noch zwei Wachen, und dann würden sie den Hafen von Labasa anlaufen. Gott sei Dank! Er war es satt, diesen Schrotthaufen von Tramp durch hohe Kesseltüren mit schlechter Kohle zu füttern, bei jeder Wache einen Berg Asche zu ziehen, ohne dass seit Suva auch nur ein frischer Hauch durch den Luftschacht gekommen wäre.

Als Smith sich über das unsaubere Stahldeck zum Logis schleppte, beneidete er beinahe die zwölf Fidschi, die auf der Persenning über der Mittschiffsluke herumhockten. Für die gibt's keinen verdammten Kesselraum, dachte er, immer nur frische Luft, Sonnenschein und eine Menge Kokosnüsse. Munter wie Fohlen sind die alle und sorglos wie ein Haufen Halbwüchsiger.

Er hustete, dass es ihn fast zerriss, und spie kohledurchsetzten Schleim über die Reling. Er fluchte. Der Ton seiner Stimme schien die Eingeborenen aufzuschrecken. Sie bückten ihn fragend an, dann lächelten sie schüchtern, ein breites, offenes Lächeln, das weiße, gleichmäßige Zähne in ihren dunklen Gesichtern aufblitzen ließ. Einer, ein großer, breitschultriger Mann, löste sich von der Gruppe und kam dem Heizer bloßfüßig entgegen, unaufhörlich lächelnd wie ein großes Kind. Smith erwiderte das Lächeln nicht. Er blieb stehen.

„Arbeit für mich, Boss?“, fragte der Fidschi; er sprach leise und melodisch und hob die Vokale hervor wie in seiner Muttersprache.

„Ich bin nicht dein Boss!“, sagte Smith schroff. „Merk dir das!“

Aber noch immer spielte das vertrauensvolle Lächeln um den Mund des Farbigen. Demütig stand er da und überragte den Seemann, sein nackter Oberkörper glänzte in der Sonne, sein farbenfrohes Lendentuch umschloss eng Hüften und Schenkel. Er machte Gebärden des Essens, schlug sich mit der flachen Hand auf den Magen. „Ich wasche Sachen für dich“, bot er sich an.

„Nix, Bob“, antwortete Smith. Er nannte ihn bei diesem Namen, da er ihm wegen der mächtigen krausen Haarschöpfe der Inselbewohner und ihrem schwingenden Gang auf den Fersen zu jedem Fidschi zu passen schien. Dann setzte er seinen Weg zum Logis im Vorschiff fort. Ihm sollte kein betrunken gemachter und dann als Matrose auf ein Schiff verschleppter Eingeborener das Arbeitszeug schrubben, sagte er sich, er würde es, verflucht noch mal allein waschen, wie immer! Nie war er für jemand der Boss gewesen, und jetzt würde er damit auch nicht anfangen, schon gar nicht gegenüber einem Farbigen, der weniger Lohn an einem Tag herausholte, als er, Smith, in einer Stunde beim Kesselheizen verdiente. Arme Hunde, dachte er, als er den Waschraum der Heizer betrat, arme ausgebeutete Hunde!

Er schleuderte die Stiefel von den Füßen, unter der Dusche streifte er Hemd und Hose ab, ließ sie fallen und begann sie auf dem gekachelten Fußboden mit einer harten Bürste zu bearbeiten, während das laue Wasser den Kohlendreck von seinem mageren Körper wusch. Als er fertig war, wickelte er sich ein Handtuch um den Bauch, ging an Deck, um die Sachen aufzuhängen, und kehrte ins Logis zurück. Bald kam er mit einer Flasche Bier für sich und einer großen Blechschüssel voll Essen für den Eingeborenen wieder. Einige von ihnen standen jetzt an der Steuerbordreling und wiesen beunruhigt aufs Meer. Er warf einen gleichgültigen Blick über die Reling und fluchte, als er die Rückenflosse eines Haies erkannte, die wie eine Klinge die glatte Fläche der See durchschnitt.

„Zum Teufel mit diesen Menschenfressern!“, sagte er zu dem Eingeborenen, der ihn um Essen gebeten hatte. „Hier, Bob, schlag dir den Bauch voll.“

Er reichte dem Farbigen die Schüssel. Er wartete nicht auf Dank, er verlangte keinen. Eilig wandte er sich ab und suchte sich einen schattigen Fleck, ließ sich auf eine Planke nieder und begann sein Bier zu trinken. Er genoss jeden Schluck, wie ihn nur ein Heizer nach heißer, staubiger Wache genießen kann.

Das Schiff rollte sacht, das Stampfen der Maschinen klang hier, wo er saß, dumpf und fern, es lullte seine Sinne ein, sodass das Gespräch der Eingeborenen in seinen Ohren wie ein Echo schwand, und er schlief ein.

Nichts anderes als der Albtraum, dass ihn ein dunkelhäutiger Sklave bedrohte, schreckte Smith aus dem Schlaf. Es mochte eine Stunde vergangen sein, vielleicht waren es auch nur wenige Minuten, er wusste es nicht. Merkwürdig, sein beklemmender Traum setzte sich in der Wirklichkeit fort, denn als er aufblickte, sah er in das erregte Gesicht des kräftigen Fidschi, dem er das Essen gegeben hatte.

„Was ist los, Bob?“, fragte er mürrisch und wischte mit dem Handrücken Speichel von seinem stoppligen Kinn.

„Sehen! Du sehen!“, rief der Eingeborene und zeigte über die Reling auf die inzwischen näher gerückte Inselküste: Entlang einem weißen Strand von Korallensand zeichneten sich schlanke Kokospalmen vor einem glutroten Himmel ab.

„Komm“, drängte der Fidschi mit seiner tiefen, klangvollen Stimme. „Jetzt du sehen. Du komm!“

„Riesiger Fisch, was?“, fragte Smith grob.

„Nein, nein! Jetzt sehen!“, beharrte der Eingeborene und fasste den Weißen an der Schulter.

Widerstrebend stand Smith auf und folgte dem Fidschi an die Reling. Von dort konnte er eine Gruppe Grashütten zwischen den Kokospalmen erkennen. Hinter diesen, landeinwärts, erstreckte sich dichter grüner Dschungel bis zum Horizont, den von der untergehenden Sonne violett gefärbte Felsengruppen zerrissen. Es war ein schönes Bild, aber für Smith nicht neu, und es konnte kaum so ungewöhnlich sein, dass es dem Fidschi neben ihm solch einen Redeschwall entlockte, der immer heftiger wurde, je mehr sich das Schiff der Küste näherte.

„Na ja, Bob. Aber was soll das alles?“

„Da ich geboren“, verkündete der Fidschi mit wilder Sehnsucht im Blick. „Da lebe ich viele Jahre. Da sind meine Leute.“

„Ich verstehe“, erwiderte der Heizer, „da bist du zu Hause.“

„Ja, Freund. ja!“ Der Fidschi klatschte in die Hände wie ein Kind und fügte noch etwas in seiner Sprache hinzu, das Smith nicht verstand.

„Gut, Bob“, sagte der Heizer und kehrte zurück auf seinen Platz im Schatten einer Winde. Aber es war ihm nicht möglich, wieder einzuschlafen. Er stellte sich die Eingeborenendörfer vor, die er auf seinen Reisen gesehen hatte, und fühlte so etwas wie Mitleid für den dunkelhäutigen Mann an der Reling, der voll Heimweh über das Wasser sah. Was für Hoffnungen hatten diesen Mann von seiner Insel in den Hafen von Suva getrieben, seine Arbeitskraft den weißen Bossen zu verkaufen? Wie lange war es her, dass er in einer der Grashütten dort am Strand gesessen hatte und mit seinen Brüdern aus Kokosnussschalen Kawa getrunken, ihren Erzählungen und ihrer Musik gelauscht, mit ihnen gesungen und getanzt hatte, ein natürliches Leben geführt hatte, das groß und frei war, nicht wie das Leben im Hafen von Suva, wo die Aufseher, meist Mischlinge, den Schauerleuten Befehle zuschrien: „He, du, Boy! Hierher, Boy! Schneller, Boy!“ Zwölf Stunden dauert eine Schicht auf den Kais, den ganzen Tag oder die ganze Nacht schuften, und wofür? Für einen heimlichen Grog auf einem stinkenden Hinterhof, für die käufliche Liebe armer Huren auf schmutzigen Betten in überfüllten Behausungen, wo die Lieder der Eingeborenen wie schmerzliche Klagen klingen. Armer Sklave, dachte er, weshalb, zum Teufel, hat er sein Dorf verlassen?

Da Smith sich bisher nie sehr mit diesem Problem beschäftigt hatte, wurde er allmählich misstrauisch gegen seine plötzlichen Gefühlsregungen, er empfand beinahe Zorn auf jeden Eingeborenen, der den Weißen in die Falle gegangen war. Warum, verdammt, haben sie es getan? fragte er sich, und weil er nicht imstande war, die Antwort zu geben, nahm er seine Bierflasche und goss den Rest, der noch darin war, seine ausgetrocknete Kehle hinunter. Er schluckte kräftig, seufzte und stellte dann die Flasche unvermittelt so hart auf das Stahldeck, dass sie zersprang. Er starrte zu dem dunkelhäutigen Mann dort hinüber, der den anderen Fidschis mittschiffs etwas zugerufen hatte, jetzt sein Lendentuch fallen ließ und sich auf die Reling schwang. Einen Augenblick stand er dort regungslos, nackt vor dem Abendhimmel, dann stürzte er sich kopfüber in die See.

Smith sprang auf und rief etwas; seine Worte gingen unter im gellenden Ton der Schiffssirene, in dem Lärm, den die durcheinanderredenden, gestikulierenden Eingeborenen machten, die an die Reling gelaufen waren. Er hörte die schrille Glocke des Maschinentelegrafen, als er einen Blick zur Brücke warf, sah er den Rudergänger mit aller Kraft das Rad nach Steuerbord drehen. Er merkte, wie bei der abrupten Kursänderung ein Zittern das Schiff durchlief, er spürte die Schraube schneller und härter mahlen, bevor sie langsamer wurde. Dann stand auch er an der Reling und folgte mit dem Blick dem flüchtenden Eingeborenen, der durch das tiefe Blau der ruhigen See mit kräftigen Stößen schnell und gleichmäßig der Küste zuschwamm, sich dem tiefroten Saum des Wassers näherte, der den nahen Strand berührte.

Die „Rosa“ machte jetzt keine Fahrt mehr, und die Hälfte der Mannschaft hatte sich auf dem heißen Deck versammelt: Offiziere, Schiffsjungen, Smutjes, Stewards, wachfreie Heizer und Matrosen, eine bunte Menge von Seeleuten, denen die Flucht des Eingeborenen anfangs nichts weiter als eine willkommene Unterbrechung des eintönigen Tagesablaufs bedeutete. Smith war der einzige unter ihnen, der vom ersten Moment an den Sinn dieser Flucht begriff. Er beobachtete den Schwimmer schweigend, nicht ein Muskel regte sich in seinem knochigen Gesicht, es verriet nichts von dem Aufruhr in ihm, der sein Herz schneller schlagen und sein Blut in den Adern pochen ließ.

Der Eingeborene hatte bereits eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, aber man nahm noch deutlich den gleichmäßigen Schlag seiner Arme wahr und seinen dunklen Krauskopf, der bei jedem Stoß nach vorn im Wasser verschwand und wieder auftauchte. Verfolgung wäre nur in einem Rettungsboot möglich gewesen, das zwischen den gefährlich nahen Korallenriffen hindurchgesteuert werden konnte. Aber der Befehl, ein solches Boot auszusetzen, wurde nicht gegeben, keiner rührte sich, nicht einmal gesprochen wurde. Es war, als ahnten nun alle, angefangen beim Kapitän, was dieser verzweifelte Vorstoß in die Freiheit bedeutete.

Plötzlich flog ein Schrei auf aus dem Knäuel der erregten Fidschi, ein so durchdringender Schrei, dass die weißen Seeleute blass wurden. Smiths Finger umklammerten die Reling wie ein Schraubstock. Mit lähmendem Entsetzen sah er die dreieckige Rückenflosse eines Haies mit großer Geschwindigkeit die glatte Fläche der See durchschneiden und einen mächtigen Unterwasserschatten sich schnell dem noch ahnungslosen Schwimmer nähern.

„Bob!“, rief Smith gellend. „Bob!“ - Oder vielmehr glaubte er, dass er das rief, doch nur ein verzerrter Schrei entwich seiner Kehle. Zwei Arme schlugen durch die Luft, der dunkle Körper des Eingeborenen bäumte sich aus dem Wasser hoch, als versuchte er noch immer zu fliehen, und wurde plötzlich in einem purpurnen Strudel hinabgezogen, in dem Kopf, Arme und Schultern tief unter den Spiegel der See verschwanden.

Wäre Smith imstande gewesen, er hätte sich abgewandt. Aber er vermochte es nicht. Seine Arme waren steif, seine Hände schienen mit der Reling verwachsen; erst als ihn ein Seemann mit festem Griff an der Schulter packte, löste sich seine Erstarrung. Bei der Berührung zuckte er zurück wie ein Blinder vor einem Zwang von außen. Mit rauer Stimme verlangte er, in Ruhe gelassen zu werden.

„Komm schon, Smithy“. drängte der andere.

Smith streifte die Hand des Mannes von seiner Schulter und blickte wieder auf die See hinaus. Die Adern an seinen Schläfen pochten sichtbar. Ein Schauder überlief ihn, als ihn die Erkenntnis durchzuckte: Die Bestie, die den Eingeborenen getötet hat, war nicht ein Tier des Ozeans, sondern ein Mensch, einer, dessen Name, in Kupferplatten graviert, in den Ruderhäusern vieler Handelsschiffe zu lesen ist, einer, dessen Name über meinen monatlichen Lohnabrechnungen steht!

Als Smith sich umdrehte, war der andere schon gegangen. Noch einmal kehrte er sich der Reling zu; seine Fäuste ballten sich. Die Küstenlinie schien ihm jetzt näher, alles schien deutlicher umrissen, als hätte sich mit seiner Einsicht auch seine Sehkraft geschärft. Er nahm das Schattenspiel der schlanken, sich wiegenden Palmen auf dem Korallenstrand wahr und winzige Gestalten, die zwischen den strohgedeckten Glashütten hin und her liefen.

„Armer Teufel“, sagte er sich. „Wollte nach Haus, nichts weiter. Nur nach Haus.“

Er hob den Blick. Die Sonne war bereits hinter dem grünen Dschungel und den violetten Felsengruppen verschwunden, aber den Himmel überzog noch rote Glut - rot, nicht purpurn wie das Menschenblut in der blauen See.

Feuer am Suvastrand

Diese Reise zu den Inseln war stürmischer als jede andere in den zehn Jahren, die ich als Heizer zur See fahre. Drei Tage lang warf ein Hurrikan den Dampfer „Rosa“ im brodelnden Pazifik hin und her wie Treibgut. Wir schufteten wie Sklaven, um die Kessel unter Druck zu halten; durch die engen Gänge, die von den Bunkern zum Heizraum führen, mussten wir uns mit den Kohlenkarren buchstäblich durchkämpfen. Wenn die Wache zu Ende war, fielen wir in unsere Kojen. Wir aßen kaum, wuschen uns kaum, sprachen kaum, wir fluchten nur. Tag und Nacht schlingerte der Frachter wie ein ruderloses Boot, sackte ab wie ein Stein, kam wieder hoch wie ein Korken, und der Sturm heulte in den Windhuzen. Als wir endlich im Hafen von Suva festmachten, waren wir fertig wie nach einer wilden, endlos langen Schlägerei. Mein Freund Curly Lynch lag mit gebrochenem Schlüsselbein in der Krankenkajüte, Archie Mills hatte einen zerschmetterten Fuß, und meine linke Hüfte fühlte sich an, als hätte ein Lastwagen sie gestreift. Dabei war es nur ein Kohlenkarren gewesen, der von einer Seite des Kesselraums auf die andere geschleudert worden war.

Eine Stunde, nachdem die „Rosa“ angelegt hatte, teilte der Zweite Ingenieur einigen von uns mit, dass wir diesen und auch den nächsten Tag freinehmen könnten. Keiner dankte ihm, wir nickten bloß. Wir hatten diese Reise überlebt, etwas anderes interessierte uns nicht mehr. Die Schönheit der Fidschi-Inseln, die wir alle zu schätzen wussten, Sonnenschein, Strand und Berge, nichts berührte uns diesmal. Auch an der Gesellschaft der Halbblutfrauen, die am Hafen auf uns warten würden, lag uns nichts. Einzeln verließen wir das Schiff, jeder für sich, wie Fremde.

Ich ging durch das Docktor, verscheuchte die eingeborenen Händler, die mir Ketten, Muscheln und Früchte aufschwatzen wollten, und steuerte, nichts anderes im Sinn als einen doppelten Whisky mit Soda, auf das nächste Lokal zu, ein langes niedriges Gebäude im Schatten von Palmen auf der anderen Seite des Marktes. Es war heiß und dunstig. Die Hüfte tat mir weh, und mir dröhnte der Kopf. Ich stieß die Tür auf, bahnte mir durch den gedrängt vollen Raum einen Weg zur Theke, vorbei an Indern und Mischlingen und weißen Arbeitern von den Schiffen, bestellte Whisky und trank, trank - einen, zwei, ich weiß nicht, wie viele. Nach einer Weile verdünnte ich ihn nicht mehr mit Soda, sondern trank ihn pur. Hätte ich das nicht getan, wäre Hugh Mason vielleicht noch am Leben!

Ich muss etwa eine Stunde in dem Lokal gewesen sein und wollte gerade gehen, um meinen Rausch im Schatten einer Palme auszuschlafen, als er eintrat. Bei seinem Anblick hielt ich inne. Nie hatte ich ihn anders in der Stadt gesehen als frisch und gepflegt, ein Zollbeamter in tadellos weißer Uniform. Jetzt war sein Hemd schmutzig, die Hose zerknittert, er trug keine Mütze. Die Haare klebten ihm in dünnen Strähnen an der schweißnassen Stirn. In seinen blauen Augen lag ein dumpfer Ausdruck - der Blick eines Menschen im Trance. Er ging nicht, er schwankte vorwärts wie ein Betrunkener. Als jemand ihn anstieß, fiel er beinahe hin. Endlich war er an der Theke und hielt sich an ihr fest.

„Einen doppelten Scotch“, bestellte er mit kaum vernehmbarer Stimme bei dem eingeborenen Barkellner.

„Ja, Sir.“

Ich beobachtete Mason eine ganze Weile, dann leerte ich mein Glas, schob mich zu ihm hin und nannte ihn beim Namen. Langsam drehte er sich um. Er bewegte den Kopf wie eine Marionette, die von einem unsichtbaren Draht gezogen wurde.

„Sie?“, sagte er tonlos.

Ich war nicht einmal sicher, ob er mich erkannt hatte. „Mir scheint, wir haben beide ein paar zu viel getrunken“, erklärte ich.

„Ein paar zu viel?“, wiederholte er ganz nüchtern. „Nein, Jim. Aber wenn Sie das glauben, mein Freund, bitte!“

Er wandte sich ab und trank seinen Whisky aus. Im Spiegel hinter der Bar konnte ich sein Gesicht sehen, leblos wie eine Maske, unrasiert, mit tief eingesunkenen Augen, Als er schluckte, zitterte sein Adamsapfel. Bald existierte ich nicht mehr für ihn. Er bestellte sich noch einen Whisky, doch der Ausdruck von Verzweiflung schwand nicht aus seinen Zügen. Ich legte die Hand auf seinen Arm.

„Was ist los, Hughie?“, fragte ich. „Stimmt's zu Hause nicht?“

„Jetzt ist alles vorbei“, antwortete er.

Ich bemerkte, wie der Barkellner mich ansah, und drang nicht weiter in Mason. Ich hatte genug eigene Sorgen. Meine Hüfte tat höllisch weh. Obwohl es sich in meinem Kopf schon drehte, verlangte ich noch einen Drink.

„Ich hau mich ein bisschen hin“, sagte ich dann zu Mason. „Hab eine stürmische Reise hinter mir.“

„Ist gut, mein Freund“, entgegnete er, noch immer nüchtern. Er sprach jedes Wort betont sorgfältig aus, als rezitiere er. „Leben Sie wohl, Jim!“

„Sie auch“, erwiderte ich verdrossen, griff mein Glas und setzte mich in der Nähe hin.

Kurz darauf kam er zu mir und streckte mir die Hand hin. „Leben Sie wohl!“, wiederholte er ernst.

„Machen Sie's gut“, sagte ich, „wir sehen uns morgen.“

Er schüttelte den Kopf. „Kaum.“

„Okay, Hughie, wie Sie meinen.“

Ich sah ihm nach, wie er zur Tür ging, eine Whiskyflasche in der Hand, mit festen Schritten jetzt. Von hinten wirkte er durchaus so, wie ich ihn kannte. Er stieß die Tür auf und trat in das grelle Sonnenlicht hinaus. Die Tür fiel hinter ihm zu. Damals wusste ich noch nicht, dass er für immer gegangen war. Ich machte mir keine weiteren Gedanken, bis die Stimme des Barkellners wie von fern an mein Ohr drang. „Sie kennen Mister Mason gut, Sir?“

„Ziemlich gut.“

„Viel Kummer hat Mister Mason gehabt.“

„Warum?“

„Seine Frau Kind geboren, beide gestorben letzte Nacht, vor seinen Augen. Mister Mason seine marama sehr lieben.“

Ich versuchte aufzustehn, doch ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Ganz benommen fiel ich zurück auf meinen Stuhl. „Noch einen Whisky“, sagte ich zu dem Barkellner.

Während ich an dem Drink nippte, der an diesem Tag mein letzter sein sollte, kreisten meine Gedanken um Hugh Mason und um das, was ich von ihm wusste.

Ich war ihm bisher nur zweimal in meinem Leben begegnet, vor einem Jahr und dann noch einmal fünf Monate später. Man kann daher nicht behaupten, wir wären enge Freunde gewesen. Seeleute finden nicht leicht eine starke Bindung zu Menschen an Land. Trotzdem weiß ich wahrscheinlich mehr über diesen Mann als andere. Aber auch das ist wenig genug und schnell erzählt.

Hugh Mason war der Sohn eines Maklers aus Melbourne und hatte eine sorglose Jugend. In dem Alter, als ich bereits auf Trampdampfern Kohlen schaufelte, hörte Hugh an der Universität Vorlesungen über Ökonomie, fuhr einen kleinen Morris und spielte Tennis mit Studentinnen. Er sollte der Nachfolger seines Vaters im Geschäft werden. Unter normalen Umständen hätte es zwischen ihm und mir keinen Berührungspunkt gegeben, ja, ich bezweifle sogar, dass er imstande gewesen wäre, meine Sprache zu sprechen. Doch da brach der Krieg aus, und bei der Armee steckte man ihn mit Arbeitern zusammen. Er war ein schlechter Soldat, wie er mir erzählte, er wurde auch niemals befördert, obwohl er studiert hatte und am College auch militärisch ausgebildet worden war. Für ihn wäre ein Posten in der Etappe gewiss das Richtige gewesen, doch er kam als Schütze nach Neuguinea. Wie sich herausstellte, war die Belastung des Krieges für ihn zu schwer; seine behütete Jugend hatte ihn nicht gestählt, und was er an der Front erlebte, trieb ihn bis an die Grenze des Wahnsinns. Mit zwanzig Jahren begegnete er barbarischer Grausamkeit auf beiden Seiten - bei den Japanern wie bei den Australiern. „Danach war ich nicht mehr fähig, ein normales Leben zu beginnen“, hatte er mir einmal gesagt. „Was ich dort gesehen habe, hat mich impotent gemacht, physisch und seelisch. Ich musste weg von zu Hause, weg aus Melbourne, weg von allem, was wir Zivilisation nennen. Ich träumte von Flucht, schließlich war ich geradezu besessen von der Idee, mich auf eine Insel im Pazifik zurückzuziehen.“

Die australische Einheit, zu der Mason gehörte, hatte wochenlang eine kleine Abteilung japanischer Soldaten belagert; die Japaner waren vollkommen abgeschnitten und mussten entweder verhungern oder sich ergeben. Schließlich sandten die Australier einen Spähtrupp in den dichten, trügerischen Dschungel, vier Mann, von denen keiner wiederkehrte. Mason und ein anderer Soldat wurden auf die Suche nach ihnen geschickt. Sie fanden ihre Kameraden, geschlachtet wie Vieh - aus ihren Hinterteilen waren Stücke abgetrennt, man hatte ihnen die Herzen aus der Brust gerissen, die Geschlechtsteile abgeschnitten und in die verzerrten Münder gesteckt. Halb irre kehrten die beiden Männer zurück und berichteten, was sie vorgefunden hatten. Ihr Bericht löste eine solche Lawine maßloser Rachbegierde aus, dass binnen vierundzwanzig Stunden nicht einer der eingekreisten Japaner mehr am Leben war.

„Wir jagten sie wie wilde Tiere“, hatte mir Mason gestanden, „und bei der Jagd wurden wir selbst zu Tieren. Wir fanden und fingen sie, wir haben sie nicht erschossen. Wir schnitten ihnen die Köpfe ab und steckten sie auf Pfähle. Ja, Jim, das haben wir getan, vor zehn Jahren im Dschungel. Krieg. Krieg, grauenvoller Krieg!“

Im Sommer 1950, keine fünf Jahre nach Mason's Entlassung aus der Armee, drohte der Koreakonflikt die Welt in eine neue Katastrophe zu stürzen. Wieder stachen australische Truppen in australischen Häfen in See. Mason war entsetzt bei dem Gedanken, das, was er erlebt hatte, noch einmal erleben zu müssen.

Er verwirklichte seinen Traum, riss sich von allem los und floh - floh nach Tonga und später auf die Fidschi-Inseln.

Wenn ich anfangs einiges über unsere gefährliche Reise sagte, wenn ich davon sprach, wie wir gegen den Sturm ankämpften und wie ich mich hinterher im nächsten Lokal betrank. so geschah das, um meine verhängnisvolle Trägheit an diesem Tage zu erklären. Jetzt weiß ich, dass ich Hugh Mason schon lange vorher im Stich gelassen hatte, von dem Augenblick an, da ich ihn kennenlernte.

Meine erste Reise zu den Inseln war glatt verlaufen, die „Rosa“ brauchte weniger als sechs Tage bis Suva. Unterwegs hatte es keinerlei Schwierigkeiten gegeben, und die Mannschaft war zu allem bereit, als wir anlegten. Wir kauften mehr Bananen, mehr Kokosnüsse, als wir jemals aufessen konnten, wir zahlten gute Preise für Souvenirs, die uns die Fidschi anboten, erstanden bei den indischen Händlern vor dem Docktor seidene Hemden in leuchtend bunten Farben und streiften, so gekleidet, durch die Stadt. Bald hatte sich jeder mit einer der Frauen zusammengetan, die man am Hafen findet, zugängliche Frauen, natürlich und großzügig, genau das, was Seeleute brauchen. Nur ich war leer ausgegangen, nicht, weil ich prüde bin oder gar unempfänglich für die Schönheiten dieser Insel, sondern hauptsächlich deswegen, weil Hugh Mason mich mit Beschlag belegte. Er hatte mich in einer Kneipe angesprochen und fragte mich über Melbourne aus. Wie er mir erklärte, hatte er seine Heimatstadt vor zwei Jahren verlassen und gedachte, sie nie wieder zu betreten. Er wirkte selbstsicher, zufrieden und ruhig. Die Tatsache, dass kein Weißer von der Insel etwas mit ihm zu tun haben wollte, schien ihn nicht im geringsten zu bedrücken.

„Ich muss mir einen Seemann suchen, wenn ich das Bedürfnis habe, mit einem Landsmann zu reden“, bekannte er freimütig.

„Warum schneiden die Australier Sie?“, fragte ich unverblümt,

„Weil ich eine Einheimische geheiratet habe, mein Freund, eine Frau aus Tonga, mit der ich hier lebe.“

„Und Sie bedauern es nicht?“

„Dass ich Hashata geheiratet habe, ist eine der wenigen Taten in meinem Leben, die ich nicht bereue“, antwortete er sehr ernst. „Und auch, dass ich hierher auf diese Insel gekommen bin, bereue ich nicht.“

„Ihre Frau muss sehr schön sein!“

„Schön? Schönheit, mein Freund, ist vergänglich“, entgegnete er. „Darauf kommt es überhaupt nicht an. Nur auf die Liebe kommt es an, auf die wahre und selbstlose Liebe, in ihr findet der Mensch Zuflucht und Sicherheit. Ich habe eine solche Zuflucht gefunden.“

Dieser Mann hatte sich bewusst in eine Traumwelt zurückgezogen, das erkannte ich damals schon. Ich hätte versuchen sollen, ihn da herauszureißen. Er erklärte mir, jeder Mensch müsse sein Schicksal selbst gestalten, ohne Hilfe, ohne Rücksicht auf andere, das wahre Glück sei nur in vollkommener Abgeschiedenheit zu finden. Doch ich machte mir keine Gedanken darüber.

Jetzt weiß ich, dass ich zu gleichgültig gewesen war, zu schnell mit meinem Urteil. Hätte ich damals mit ihm gesprochen, hätte ich auch später noch versucht, Mason begreiflich zu machen, wie viel Kraft ein Mann nicht nur aus dem harmonischen Gleichklang mit einer Frau, sondern auch aus einem echten Verhältnis zu anderen Menschen schöpfen kann, vielleicht wäre es nicht zu der Tragödie gekommen.

Und doch, da war noch etwas anderes. Als ich am ersten Tag unserer Bekanntschaft mit ihm zu seiner schilfgedeckten Hütte aus Gras und Bambus ging, einer Hütte, wie sie die Eingeborenen dort am weißen Strand von Suva unter den Palmen bauen, als ich sah, wie er lebte, einfach, losgelöst von seiner Vergangenheit, da wurde ich schwankend in meiner Meinung über seine bewusste Isolierung, ja, ich verspürte sogar so etwas wie Neid. In mancher Hinsicht hatte er es leichter als ich. Hatte er vielleicht doch recht daran getan, sich abzusondern? Seine dunkelhäutige Frau war wirklich nicht schön, sie war groß, füllig und mütterlich, doch begann ich zu verstehen, was er gemeint hatte, als er sagte, Schönheit sei bedeutungslos im Verhältnis zur Gewissheit in der Liebe: aus ihren Augen sprach schrankenlose Hingabe, sodass selbst ich, der Außenstehende, die darin liegende Kraft empfand.

Welches Recht hatte ich, ihm meine Maßstäbe anzulegen, welches Recht, mich einzumischen?

Ich blieb zum Abendessen, das Hashata über einem offenen Feuer bereitete, es gab gebratenes Wildschwein und Gemüse und eine Art Kartoffeln. Während wir aßen, sahen wir zu, wie hinter den Korallenriffen der rote Sonnenball langsam im Meer versank. Die Wellen des Ozeans schlugen an den Strand. Als die Nacht hereinbrach und die Sterne am Himmel erschienen, lauschten wir den melodischen Gesängen und der Gitarrenmusik der Eingeborenen, die aus einem nahe gelegenen Dorf klar zu uns herüberhallten. Wir redeten kaum, denn Hashata konnte nicht Englisch und Mason nur wenig Tongaisch. Aber sie schienen sich vollkommen zu verstehen, ich hatte keinen Augenblick den Eindruck, dass sie von unserem Gespräch ausgeschlossen sei. Schließlich kniete sie neben ihm hin, küsste seine Hände, verbeugte sich mit großer Würde vor mir und zog sich in die unbeleuchtete Hütte zurück, die leer war bis auf einen Koffer mit Masons wenigen Habseligkeiten und die Grasmatten auf dem Boden. Bald verriet ihr gleichmäßiger Atem, dass sie schlief. Wir unterhielten uns mit gedämpften Stimmen, um sie nicht zu stören.

Fünf Monate später war die „Rosa“ wieder in Suva, und auch diese Überfahrt war ruhig verlaufen. Nachdem wir fast den ganzen Tag in der stillen Bucht vor Anker gelegen hatten, machten wir spätabends am Kai fest. Im Zollbüro erfuhr ich, dass Hugh Mason bis zum Morgen dienstfrei hatte, und beschloss, ihn in seiner Hütte am Strand zu besuchen. Ich hatte ihm Briefe von seiner Familie zu bringen und allerhand Neuigkeiten vom Festland, Nachrichten aus Melbourne, die ihn, wie ich glaubte, interessieren würden.