Gerücht vom Ende der Welt - Walter Kaufmann - E-Book

Gerücht vom Ende der Welt E-Book

Walter Kaufmann

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Beschreibung

Schüsse in Harlem und Rauch in Washington. Im unteren Manhattan steht ein Mann auf dem Fenstersims und springt in den Tod. DerTon einer Violine erstickt im Neon-Dschungel des Times Square – Johann Sebastian Bach um Mitternacht aus einem Schuhgeschäft. Ein Feuer in Ithaca, ein Schuppen, in dem Farmarbeiter hausen, brennt nieder: Wer ist der Mörder – und wer der Mörder von Andrew Mc Daniel und Charles E. Tate, die in Vietnam blieben? Verschwörung oder Untat eines Einzelgängers, dass der Pfarrer Martin Luther King sterben musste? Joe Mulloy, fünf Jahre Gefängnis – was hat er getan? Charles B. Crankshaw will sein Frühstück im Garten haben, weil er einen farbigen Gast erwartet. Menschenjagd in Georgia: Der Mann, der die Fotos in derTasche hat, kann entkommen, aber am Ende ist das Schweigen der Leichenhalle. Das Schicksal der Marie Lou und Suzie Anne im Negergetto von Chicago ist ungewiss, doch ihre Mutter ist eine nordamerikanische Carolina Maria de Jesus. Auf dem Pflaster von Greenwich Village welkt die Blume des Träumers, und in der letzten Wette des Jahres steht der Gewinn auf der Zahl 111 – doch nicht für den alten Lou Roberts … Zwanzig Vignetten aus den USA der Sechzigerjahre, Eindrücke des Autors, Kenner des Landes seit langem; sie erweisen sich als stark und erregend, sie geben Aufschluss über die krisenhaften Zustände eines großen Landes, das so reich ist an Menschen.

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Impressum

Walter Kaufmann

Gerücht vom Ende der Welt

Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Wilhelm Vietinghoff

ISBN 978-3-96521-292-3 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto des Autors: Barbara Meffert

Das Buch erschien erstmals 1969 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

www.edition-digital.de

Für Carl und Anne Braden, Kentucky, USA

Gerücht vom Ende der Welt

Aus Hotelhallen, Restaurants und Bars und New Yorker U-Bahnstationen; aus einer Eisengießerei in Peoria, einer Gefängniszelle in Louisville, einem Pastorenhaus in Washington; aus der wilden, hemmungslosen Peppermint-Lounge in Chikago und aus dem Armenghetto dieser Stadt; aus zahllosen Rasthäusern an zahllosen Autostraßen in Kentucky und Tennessee; aus dem Saal einer Kirche in Indianapolis und einem Friseurladen in Memphis – hallen mir Stimmen entgegen. Sie hallen mir entgegen aus den Wolkenkratzerschluchten der Städte, vom Himmel herunter und aus den weiten Ebenen des Landes. Ich höre die Stimme eines Taxichauffeurs und eines Kernphysikers, einer Flugstewardess und einer Millionärstochter, jetzt Geliebte eines Schwarzen; ich höre einen Kommunisten reden und einen Industriemanager. Eine Million Stimmen Farbiger finden ein einstimmiges Echo, die einsame weiße Stimme verhallt ungehört, wird übertönt vom Lärm des Verkehrs. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner, keinen Mann auf der Straße, nur Widersprüche: Ein radikaler Farbiger will nichts mit mir zu tun haben, weil ich ihm nicht radikal genug bin; ein Universitätsprofessor gewährt mir nur deshalb ein Interview, weil ich aus einem sozialistischen Land komme; ein farbiger Boxer beschimpft schwarze Frauen, weil sie sich weißen Männern hingeben, und nicht weit von ihm verführt ein schwarzes Mädchen einen weißen Mann und lockt ihn auf ihr Motelzimmer; ein weißer Gewerkschaftsführer rühmt die kämpferische Einheit schwarzer Arbeiter, und ein farbiger Intellektueller beklagt den Mangel an Aktionseinheit, durch den 23 Millionen Farbige zersplittert und einander feindlich sind. Zwei junge Studenten liegen bewusstlos auf dem Fußboden, taub gegen den entnervenden Jazzlärm eines Plattenspielers, berauscht von LSD; erst einen Tag zuvor waren beide aus der Haft entlassen worden, die sie der Widerstand gegen den Krieg in Vietnam gekostet hatte. Langhaarige Hippies von der love generation treten den Bayonetten der Nationalgarde mit Blumen entgegen, und unten im Hafen von New York verladen Schauerleute Waffen für Vietnam. USA – zerrissenes Land, Land der unüberbrückbaren Gegensätze, verwundetes Land, am gefährlichsten, wenn am schwersten verwundet wie die Bestie im Dschungel.

Und doch:

„Wir werden hochgetragen unter Gefahren und in Finsternis, die wir selbst geschaffen haben. Wir haben keine Garantie vom Universum, dass wir überleben werden. Wir leben für das Wachsen des menschlichen Geistes, und allem zum Trotz streben wir nach jenem Wachsen bis zum letzten möglichen Augenblick.“

Und dann wieder:

„Konzentration auf die politische Erziehung des Arbeiters würde nicht nur die Politik der Arbeiterklasse auf hohem Niveau halten, sondern auch das politische Leben Amerikas revolutionieren, weil Millionen Wähler lernen würden, dass Politik ein Kampf von Ideen und Idealen ist und nicht ein Streit um Etikette, Gesichter, Namen und Vorurteile.“

Und weiter:

„Amerikas Experiment mit einer Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk hängt nicht nur von der verfassungsmäßigen Struktur und Organisation ab, sondern auch von der persönlichen Verpflichtung, die jeder von uns für den anderen empfindet.“

Und schließlich:

„Wir müssen weitersuchen nach Wissen, aber Wissen ohne Weisheit hat uns, wie wir jetzt sehen, an den Rand der Vernichtung gebracht und kann uns jeden Moment hinabstürzen.“

Ja, meine Notizbücher sind voll, Amerikas Intellektuelle sind freimütig in ihren Äußerungen und erwarten, zitiert zu werden. Aber gab es nicht Gelegenheiten, viele Gelegenheiten, wo man nicht notieren konnte?

Ich höre noch, wie der Taxichauffeur Konzentrationslager für Demonstranten fordert; der Kernphysiker klagt seinen Stand an, dass er die Hölle auf Erden losgelassen hat; die Flugstewardess preist lächelnd die Pille; von Schuldgefühl zerrissen, verflucht die Millionärstochter ihres Vaters Reichtum; der Kommunist spricht vom Krebsgeschwür der Uneinigkeit, das Amerika bedroht; und der Industriemanager äußert sich befriedigt über die Gleichgültigkeit, die die Gewerkschaftsbewegung ergriffen hat. Eine Million Stimmen Schwarzer finden ihr Echo in einem einzigen Schrei: Freiheit jetzt! Und die einsame Stimme klagt, verhallend im Lärm des Verkehrs, weil sie nicht weiß, wie sie sich in der Welt entscheiden soll – entscheiden, und so viele Möglichkeiten! Ja, Amerika, aber wohin führt dein Weg?

„Und wir hatten geglaubt“, sagt er, Eldridge Cleaver, dessen Stimme ich als letzte höre, „und wir hatten geglaubt, dass unser mühseliger Aufstieg aus diesem finsteren Tal zu einem kühlen, grünen, friedlichen und sonnenbeschienenen Ort führen würde – aber hier gibt es nur Dschungel, eine grausame, barbarische Wildnis, und überall Ruinen.“

Hört diese Stimme, ihr Erbauer der Neuen Stadt, hört sie und schart euch zusammen!

Irrtum! – Es ist ein Irrtum, dass wir bei gewissen Vorstellungen alle das gleiche ungute Gefühl haben müssen: Was für den einen die Hölle ist, kann dem anderen als Mekka erscheinen. Jedenfalls für diesen jungen Mann aus Norwegen – wie ich an Bord der Boeing auf dem Wege in die USA – war Dallas, Texas, ein Platz an der Sonne, die Chance seines Lebens, eine rosige Zukunft. Wie es schien, hatte er all seine sechsundzwanzig Jahre nur ein Ziel verfolgt: Flieger zu werden und dann über den großen Teich zu gehen. Jetzt war er auf der letzten Etappe vor dem Ziel, und er konnte eine Geschichte erzählen von den Umwegen, die er hatte machen müssen. Keine bittere Geschichte übrigens, denn alle Hausfrauen, junge wie alte, hatten ihn ins Herz geschlossen, wenn er von Tür zu Tür ging, um Staubsauger, Waschmaschinen oder Kühlschränke zu verkaufen; und die kleinen Geschäftsleute, denen er die Notwendigkeit eines Inserates in der Zeitung eingeredet hatte, waren nach seinen Worten gar nicht zu zählen. Er war ihnen allen als das Muster eines ehrlichen jungen Mannes erschienen, der es zu etwas bringen will in der Welt. Zudem sah er gut aus: hellblaue Augen, strohblondes Haar und ein sicheres Auftreten. Wer kann dem widerstehen? Kein Wunder, dass er schließlich – wie gesagt, durch den Verkauf von Elektrogeräten und Reklameinseraten – umgerechnet etwa sechshundert Dollar für die Auswanderung zusammengebracht hatte, nicht mitgerechnet, was er für die Ausbildung als Flugzeugführer hatte bezahlen müssen.

Diese Summe und den Pilotenschein trug er jetzt in der Tasche seiner blauen Klubjacke, und da der Name Dallas, Texas, für ihn keine Assoziationen von Mordschützen oder Erinnerungen an einen toten Präsidenten heraufbeschwor, sondern nur die Hoffnung auf wohlwollende Ölmillionäre mit Privatflugzeugen, fühlte er sich natürlich dort hingezogen. Der Schein hatte ihn beträchtliche Opfer gekostet, ein erstklassiger Wagen wäre billiger gewesen, und er war fest entschlossen, dass sie sich auszahlen sollten.

„Wissen Sie dafür einen besseren Ort als Dallas?“ Aus seiner Stimme klang der Wunsch nach Bestätigung. „Und schließlich ist Amerika noch immer das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“

Ich sagte ja und hätte es dabei bewenden lassen, wenn er sich in seinen Erwartungen nicht so hoch verstiegen hätte, dass ich ihm doch sagen musste, Amerika sei auch ein Land, wo ihm alles mögliche passieren könnte. „Besonders in Dallas, Texas.“

„Sie waren also schon mal da.“ Seine Stimme wurde lebhaft: „Kennen Sie jemanden dort, haben Sie irgendwelche Beziehungen?“

Ich schüttelte den Kopf. Wie kam ich eigentlich dazu, ihm eine Lektion zu erteilen, ihm seinen Traum zu zerstören? „Sie werden es schon schaffen“, versicherte ich ihm, und das war die Kehrseite der Medaille, eine etwas zu gönnerhafte Bemerkung. „Sie werden sehen, Sie fliegen über die Ölfelder von Texas, bevor Ihre sechshundert Dollar alle sind.“

„Und wenn ich dabei draufgehe“, sagte er, und aus seiner Stimme war ein Anflug von Verzweiflung herauszuhören.

„Sehen Sie mich an! Ich trinke nicht, ich rauche nicht, ich bemühe mich, in Form zu bleiben! Fragen Sie mich, was Sie wollen, über Flugzeuge, alle Typen, ich weiß Bescheid! Wozu habe ich die ganze Zeit Staubsauger, Kühlschränke und Inserate verkauft, wenn ich jetzt nicht zum Fliegen komme? Angenommen, Sie wären Millionär und hätten ein Flugzeug, würden Sie mir den Job geben!“

„Klar“, sagte ich und behielt den Rest für mich.

Er klopfte auf die Tasche seiner Klubjacke. „Die sechshundert Dollar werden mich schon eine Weile über Wasser halten“, sagte er abschließend, „wenigstens so lange, bis ich einen von den Millionären in Texas rumgekriegt habe. Irgend jemand muss doch ihre Flugzeuge fliegen – warum nicht ich? Ich habe mal gelesen, dass es in Texas mehr Privatflugzeuge gibt als irgendwo sonst in der Welt. Wie könnte es also schiefgehen – in einer Stadt wie Dallas?“

Verglichen mit dem, was sich später ereignete, war die Verwirrung am Anfang geradezu harmlos: Ein Expresslift hatte ihn ganze dreißig Stockwerke höher abgesetzt, als er eigentlich wollte; es kam ihm vor, als wäre er in einer fremden Stadt gelandet, wo keiner eine Ahnung hatte, wie man vom sechzigsten Stockwerk zum siebenundzwanzigsten hinuntergelangte. Es gab scheinbar keine andere Möglichkeit, als wieder ganz hinunterzufahren und dort den Aufstieg zum siebenundzwanzigsten Stock von neuem zu versuchen.

Er kam zu spät. Aber er hätte sich nicht zu beunruhigen brauchen, denn Hochhuth, der Dramatiker, zu dessen Ehren diese Cocktail-Party veranstaltet wurde, war noch nicht eingetroffen. Die illustre Versammlung ausdrucksstarker Männer und Frauen, die sich über die drei Büroräume der literarischen Agentur verteilt hatte, fieberte vor Unruhe, dass er womöglich gar nicht kommen würde. Man hatte schon über den Atlantik telefoniert, sogar mit Zürich, hatte sich eindringlich nach den Flugplänen der Luftlinien erkundigt; nach letzten Ermittlungen war der Dramatiker offenbar irgendwo im Labyrinth der Passagen des Kennedy-Flughafens abhandengekommen.

Diese Nachricht kümmerte ihn nicht sonderlich – er selbst war nicht so berühmt, das mochte seine Abneigung gegen Begegnungen mit Prominenten erklären. Er stellte sich die höfliche Zurückhaltung des Dramatikers vor, hörte ihn ein paar unverbindliche Freundlichkeiten von sich geben, bevor er seine Aufmerksamkeit nützlicheren Leuten zuwenden würde. Es war natürlich möglich, dass er dem Mann unrecht tat; jedenfalls war er nicht bereit, es darauf ankommen zu lassen.

Dazu war auch keine Gelegenheit, denn – wie viele Stunden später war das, zwei oder drei? – durch die Menge, die Hochhuth sofort umringte, als er dann schließlich kam, erwischte er gerade einen Blick auf den Hinterkopf des Mannes. Man hatte dem reichlich angebotenen Alkohol ungeniert zugesprochen, die appetitlichen Brote waren verspeist, und der heiße, überfüllte Raum lag unter einer Wolke von Pfeifen- und Zigarettenqualm. Bei dem ständigen Lärm und dem Durcheinander der Stimmen kam ihm plötzlich der Gedanke, dass alle diese Leute, die hier den Dramatiker belagerten, in der Hauptsache sich selbst reden hören wollten. Was ihn kaum überraschte. Die ganze Zeit hatte er bei seinem Rundgang niemanden entdeckt (Hochhuths literarischen Agenten ausgenommen), der mehr als eine oberflächliche Ahnung hatte, worum es in dem neuen Stück „Soldaten“ eigentlich ging. Nicht dass diese Leute überhaupt ohne Ideen gewesen wären, im Gegenteil, sie platzten vor Ideen, sowohl literarischen als auch politischen, und wenn man ihnen zuhörte, war man unwiderstehlich geneigt zu glauben, dass aus ihrer Feder ein breiter Strom unsterblicher Lyrik und Prosa geflossen war. O ja, das literarische Leben Amerikas war enorm bereichert worden durch die Anstrengungen all dieser bärtigen Männer, all dieser langhaarigen Frauengestalten in exotischen Kleidern …

Der Whisky war ihm zu Kopf gestiegen – den amerikanischen hatte er nie so recht vertragen –, und vielleicht wurden seine Antipathie und sein Zynismus durch den Alkohol noch galliger. Er war schweigsam geworden, obwohl in ihm eine besondere, merkwürdige Art von Wut tobte. Seit Tagen kam er nicht von dieser schwelenden Wut los; sie hing irgendwie zusammen mit dem Eindruck, den New York diesmal auf ihn gemacht hatte. Wie hatte er doch zu einem Freund gesagt: Die explosive Atmosphäre dieser Stadt bringt unsere niedrigsten Instinkte an die Oberfläche.

Eine prophetische Feststellung! Denn nur Augenblicke später tat er etwas, das er nicht ein zweites Mal in seinem Leben würde tun wollen. Es war absolut irrsinnig, und wenn ihn diese Wut nicht im letzten Augenblick verlassen hätte, wäre es bestimmt zu einem tragischen Ende gekommen.

Schwankend, ein halb volles Whiskyglas in der Hand, verließ er die Party, schloss die Bürotür hinter sich, wanderte einen Korridor hinunter, stieß die Tür zur Herrentoilette auf. Niemand war in dem dunklen Raum. Er fand den Lichtschalter nicht; trotzdem konnte er sich orientieren, denn der neonerleuchtete Himmel über New York schimmerte durch das Milchglasfenster vor ihm. Er verriegelte die Tür, und dann überkam ihn plötzlich das unwiderstehliche Verlangen, das Fenster aufzustoßen – was Kraft erforderte – und auf das Fensterbrett zu steigen. Er hielt sich am Rahmen fest und blickte hinunter, siebenundzwanzig Stockwerke hinunter, in die Madison Avenue. Tief unter ihm, unendlich tief unter ihm, schien sich der Verkehr immer mehr zusammenzuballen; aus der Schlucht der Wolkenkratzer schwoll ihm der Lärm dieses Verkehrs entgegen, laut, immer lauter, beängstigend laut, und dann drehten sich die nächtlichen Autos vor seinen Augen, die Scheinwerfer flackerten durch die Nacht wie Flammen. Als müsste er sein Leben retten, sich an das letzte bisschen Leben klammern, packte er den Fensterrahmen fester; die Beine wurden ihm schwach, drohten ihm einzuknicken, aber die Entschlossenheit verließ ihn nicht, diese unheimliche Entschlossenheit, auf dem Fensterbrett zu bleiben, bis er das Whiskyglas, das er noch immer in der Hand hielt, hinuntergeschleudert hatte in den Abgrund der Schlucht …

Der Krach war fürchterlich! Glas splitterte auf Fliesen. Plötzlich ernüchtert, blickte er sich um. Die Scherben Glas auf dem Fußboden der Toilette reflektierten das Leuchten des Neonhimmels. Langsam, vorsichtig stieg er hinunter, schloss das Fenster und ging auf die Tür zu, wobei das Glas unter seinen Sohlen zerknirschte. Er kehrte ins Büro zurück, vermied den großen Empfangsraum, ließ sich in einem der kleinen Zimmer in einen Sessel fallen. Der Raum war jetzt leer bis auf eine Sekretärin, die telefonierte. Er saß im Sessel, die Augen geschlossen, und brachte keinen Sinn in das, was das Mädchen sagte. Ein Babel von Stimmen erreichte ihn durch die offene Tür, und es schien ihm, als ob die da draußen jetzt alle auf einmal den unglücklichen Dramatiker bestürmten.

Nach einer Weile legte die Sekretärin den Hörer auf, und in Erwartung einer Anrede öffnete er die Augen. „Soll ich Sie mit Hochhuth bekannt machen?“, fragte sie. „Er ist schon eine ganze Weile hier – und wo waren Sie?“

„Ich bin gerade über die Schwelle von meinem Land in das Ihrige gekommen“, sagte er zu ihr, „und das war keine Kleinigkeit.“

Nichts an dem Mann deutete auf Gefahr. Wenn etwas gefährlich schien, dann war es die Stunde, denn Mitternacht war schon vorbei. Man hatte dich von verschiedenen Seiten gewarnt, dass dies nicht die Zeit wäre, sich allein auf den Straßen von Spanisch-Harlem herumzutreiben. Aber schließlich warst du jetzt auf dem Broadway, Autos fuhren vorbei, und es waren genug Leute unterwegs, dir ein Gefühl von Sicherheit zu geben.

Nein, nichts an dem Mann deutete auf Gefahr. Gelassen kam er aus dem dunklen Torweg, dann drei Stufen herunter ins Licht – ein großer, massiger Dunkelhäutiger mit breitem Lächeln und blitzenden Zähnen, und er lächelte auch, als er dich ansprach. Hello, Baby! sagte er, nichts weiter, zwei Worte, weich und gedehnt und ohne eine Spur von Drohung. Es gab keine Veranlassung, darauf zu antworten, ein Kopfnicken genügte, eine bloße Geste, dass man gehört hatte.

Warum gingst du denn plötzlich schneller, aus welchen Tiefen des Unbewussten tauchte diese Angst auf, diese plötzliche Angst? Du hörtest Lachen hinter dir, das Lachen des Mannes, und die Angst wuchs. Und plötzlich, kurz hintereinander, knallten vier Schüsse hinter dir. Die Kugeln schmetterten auf den Beton des Bürgersteiges links und rechts neben deinen Füßen und prallten weg. Seltsam, du fuhrst nicht zusammen, drehtest dich nicht um, du gingst weiter, dein Verstand weigerte sich, die Schüsse auf dich zu beziehen.

Vielleicht rettete dich das, diese instinktive Ablehnung, beteiligt zu sein. Geh weiter, dreh dich nicht um, zeig keine Angst! Noch nie in deinem Leben hattest du deinem Instinkt so prompt gehorcht. Da war keine Pause zwischen Entschluss und Ausführung. Es war, als ob du nur aus instinktiven Reaktionen bestündest. Zwei weich gesprochene Worte hatten Angst erzeugt, die Schüsse hatten die Angst weggewischt, dass du um jene Ecke biegen, die Schwingtür der Bar aufstoßen und dahinter Zuflucht suchen konntest.

Die Bar war nicht voll, sie war trübselig, und drinnen war es dämmrig, fast finster. Hier und dort an den Tischen saßen einsame Männer in der Dunkelheit – Schwarze, Puertorikaner, und keiner sprach, und keiner wäre zu hören gewesen neben Ray Charles, dessen Stimme mit wilder Intensität aus versteckten Lautsprechern strömte – Schreie der Seele, durchdringende Schreie der Seele, und Ray Charles sang: In the heat of the night … Und die Männer an den Tischen rauchten, tranken, bewegten sich kaum. Sie schienen nicht zuzuhören, nicht berührt zu sein, und doch lauschten sie, aufgewühlt hinter stoischen, nach innen gekehrten Gesichtem, wie Ray Charles ihnen die Qual eines blinden Mannes in die Seele zwang. In the heat of the night – was für eine Nacht war das? Samstagnacht in Spanisch-Harlem, in einer finsteren, freudlosen Bar, wo ein Dutzend schwarzer und brauner Männer ohne Frauen, ja, ohne Frauen, saß und der Qual des blinden Sängers ausgeliefert war, einer Qual, die Hass und Aufbäumen schon hinter sich gelassen hatte. Und so schien er sicher hier, sicherer als auf dem Broadway unter den harten und grausamen Lichtern. Du setztest dich auf einen Barhocker und winktest dem Mann hinter der Bar, und als du deinen Whisky vor dir hattest, schienen die Ereignisse auf der Straße noch weniger mit dir zu tun haben. Hello, Baby! – Wer war da eigentlich gemeint? Für wen die vier Kugeln in der Nacht?